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Der Himmel muss warten

von

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Zerrissen

XLV) Zerrissen
 

Sam versuchte sich zu drehen. Sein Unterbewusstsein registrierte, dass er es nicht konnte und er erwachte.

Etwas hatte sich wie eine Boa um ihn geschlungen und es dauerte eine Weile, bis er dieses Knäuel als seinen Bruder identifiziert hatte.

Dean lag halb auf ihm. Sein Bein hatte sich mit seinen verknotet, sein Arm lag auf seiner Brust und die Finger hatten sich in seinem Shirt verflochten.

Langsam kam ihm der gestrige Tag wieder ins Gedächtnis.

Vorsichtig hob er seinen Kopf, um Dean ansehen zu können. Sein Bruder schlief noch fest, aber er sah dabei nicht entspannt aus.

‚Warum nur Dean? Warum machen wir immer einen Schritt vor und fünf zurück?’ Zärtlich strich er über Deans Wange und hoffte, dass sein Bruder jetzt nicht aufwachte. So wie er gestern reagiert hatte, würde er wohl selbst vor dieser Berührung flüchten.

Immerhin schien sein Körper ihn noch zu wollen, oder wie sollte er diese Schlingpflanze sonst deuten?

Er hoffte so sehr, dass sie ihre Probleme möglichst bald wieder in den Griff bekamen. Die Tage, als sie hierher gekommen waren, waren wunderschön gewesen und er wollte sie wieder erleben. Er wünschte sich nichts lieber, als mit Dean zusammen sein zu können.

‚Warum war Castiel plötzlich da gewesen? Was sollte dieses „Es ist nicht dein Kampf“ bedeuten? Von welchem Kampf hatte der überhaupt gesprochen?’, überlegte er.

Er holte tief Luft.

Diese Fragen würde er ohne Deans Mithilfe nicht klären können.

Er drehte seinen Kopf so, dass er seine Nase in den Haaren seines Bruders vergraben konnte, und schloss die Augen.

Noch im Einschlafen schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass er die Geduld aufbringen würde, die er für Deans Liebe brauchte und dass er dessen Gefühle besser lesen und einordnen könnte, damit so etwas wie gestern nie wieder passieren würde.

Seinen Bruder zu lieben, stellte ihn wirklich vor ein hartes Stück Arbeit.
 

Dean erwachte langsam. Er hatte seinen Kleinen fast wie eine Boa umschlungen. Tief inhalierte er dessen Geruch. So wollte er immer wach werden. Es fühlte sich verboten gut an seinem kleinen Bruder so nah zu sein. Am liebsten würde er mit Sam verschmelzen wollen. Dann wäre er immer bei ihm, immer in ihm! Dann könnte er ihn nie verlassen!

Doch dann drängte sich der gestrige Tag mit aller Macht wieder in sein Bewusstsein und er musste ein ersticktes Keuchen unterdrücken, so schmerzhaft zog sich seine Brust zusammen.

Er wollte für immer hier liegen bleiben. Alles in ihm schrie danach, dass er sich einfach fallen lassen sollte und darauf vertrauen, dass Sam ihn auffing. Doch wie konnte sein Kleiner ihn lieben, wenn er sich selbst noch nicht einmal akzeptieren konnte? Mit dieser Hellseherei hatte er einen weiteren Schritt in Richtung unmenschliches Ding gemacht, dass er nie werden wollte. Er war eine Missgeburt mit Flügeln. Ein Engel steckte in ihm und wenn er noch eine Weile warten würde, wenn noch ein paar Eigenschaften dieser Flatterviecher bei ihm durchbrechen würden, dann wäre er genauso gefühlskalt und verlogen wie die Engel, die er bis jetzt kennengelernt hatte und dann würde er Sam von sich stoßen. Er würde ihn verlachen und verhöhnen für das was er war. Er sollte, er musste gehen, bevor er seinem Kleinen das Leben aus der Brust reißen würde. Sam hatte Jessicas Verlust überwunden, er würde es auch überwinden, wenn er verschwinden würde.

Er selbst hatte damit leben lernen müssen von diesen sogenannten Lichtgestalten benutzt und belogen worden zu sein und das wollte, das konnte er Sam nicht antun. Er musste hier verschwinden, bevor er sich weiter verwandelte. Lieber wollte er seinem Kleinen diesen Trennungsschmerz zumuten, als ihn langsam immer weiter zu zerstören.

Mit einem bedauernden Seufzen rutschte er vorsichtig von Sam und aus dem Bett.

Er zog sich an und ging nach hinten auf die Heckterrasse. Am liebsten würde er sofort verschwinden, doch das wollte er Sam nicht antun. Er wollte ihm wenigstens noch „Lebe wohl“ sagen. Also holte er die Angel hervor und versuchte die richtigen Worte für seinen Abschied zu finden.

Warum nur klang alles was er sich zurechtlegte so falsch, so banal?

Lautlos verfluchte er seine Unentschlossenheit und Anna, die einen winzigen Funken Hoffnung in seinem Inneren gesät hatte. Das machte alles nur unnötig kompliziert!

Wie sollte es jetzt weiter gehen? Er musste hier verschwinden. Wenigstens seinen Kleinen wollte er glücklich wissen. Aber was, wenn Anna mit ihren Worten wirklich Recht gehabt hatte und Sam nur bei ihm glücklich sein konnte? Gab es dafür überhaupt noch eine Chance? Hatte er den Jüngeren nicht schon viel zu weit von sich gestoßen in der Hoffnung, dass er ... ja was eigentlich? Dass er ging? Ja, er wünschte sich für Sam ein friedliches Leben. Er wollte, dass der Kleine das Glück fand, das er verdient hatte, aber er wusste auch, dass das sein eigener Untergang wäre. Viel zu sehr war er dem Jüngeren verfallen. Erst weil der Kleine der einzige Mensch war, den er hatte und der ihn brauchte und später, weil er ihn schützen wollte. Irgendwann war daraus eine Liebe geworden, von der er immer geglaubt hatte, sie gar nicht empfinden zu können, und er hatte entdeckt, dass Sam genauso empfand.

Für eine Weile war er richtig glücklich gewesen.

Wenn Sam ihn verlassen würde, dann wäre er eine Hülle ohne Inhalt. Er würde sich ganz dem Engel in sich überlassen. Sein Körper würde funktionieren, bis ihn jemand so sehr zerstören würde, dass er selbst für den Engel nicht wieder zu reparieren wäre. Und dann würde er vielleicht endlich Frieden finden.

Wenn Sam aber bei ihm bliebe, was wäre er bereit dafür zu geben? Was konnte er geben? Wieviele Gefühle waren noch übrig? Was würde Sam brauchen, was erwarten? Wie weit konnte er sich verbiegen, um Sam zu geben, was er brauchte? Wie weit konnte er das was er war verleugnen oder verdrängen? Wie lange konnte er, wenn er erst einmal ganz dieser Engel geworden wäre, zu dem er sich augenscheinlich entwickelte, noch Gefühle für seinen Kleinen heucheln? Wäre Sam überhaupt bereit, seine Gefühlsschwankungen weiter zu ertragen? Er hasste sich, trotz Annas Versuch diesen Hass zu bekämpfen, noch immer viel zu sehr. Wie konnte er dann lieben?
 

Sam erwachte und drehte sich verschlafen blinzelnd auf die Seite. Etwas Essenzielles fehlte! Erschrocken und traurig riss er die Augen auf. Sein Bruder war nicht mehr da.

Sein Herz krampfte sich zusammen. War Dean verschwunden, für immer aus seinem Leben geflüchtet?

Etwas platschte ins Wasser.

Schnell war der Jüngere aus dem Bett und schaute sich um.

Erleichtert atmete er auf. Der Blonde stand an der Reling der Heckterrasse und angelte.

Sam ging nach hinten und machte einen Schritt durch die Tür auf den Blonden zu.

Dean verspannte sich reflexartig. Wenn Sam ihm jetzt zu nahe kommen würde, würde er seinen Vorsatz vergessen und alles tun, was sein Kleiner von ihm verlangen würde. Und er würde ihn immer weiter mit in diesen gähnenden Abgrund reißen, auf den er zusteuerte.

Sofort blieb Sam stehen und atmete tief durch. Deans Reaktion war für ihn wie ein Messer mitten ins Herz. Er schluckte und versuchte, seine Stimme so normal wie nur möglich klingen zu lassen, als er ein „Morgen“ nuschelte. Es gelang ihm nicht ganz.
 

Der Ältere nickte nur. Er war viel zu aufgewühlt, um ein vernünftiges Wort herauszubekommen.

„Hast du schon gefrühstückt?“, zerriss Sams Stimme seine wirren Gedanken.

Der Jüngere bekam ein kurzes Kopfschütteln zur Antwort.

„Dann mach ich uns mal was.“

Wieder schüttelte Dean den Kopf. Sein Magen hatte sich gestern Abend aus Ekel vor sich selbst verklumpt und zog sich schon allein bei dem Gedanken an Essen schmerzhaft zusammen. Er war sich sicher, dass er nichts runter bekommen würde.

Sam ließ diese Antwort nicht gelten und verschwand in der Küche.

‚Immerhin hat mich Dean nicht vollkommen ignoriert‘, versuchte er sich in Gedanken Mut zu machen und begann in der Küche zu hantieren. Er musste sich jetzt unbedingt beschäftigen. Und doch wanderte sein Blick immer wieder zu dem verspannten Rücken des Älteren.

Was war gestern nur mit ihnen geschehen?
 

Dean stand an der Reling. Er war hin und her gerissen zwischen den Bedürfnis Sam zu schützen und ihn in seine Arme zu reißen und nie wieder loszulassen. Er wusste genau was er tun müsste, doch er konnte es nicht! Er konnte nicht gehen. Er wollte nicht gehen.

Der Schwimmer auf der Wasseroberfläche verschwamm vor seinen Augen. Lautlos liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Er machte sich nicht die Mühe sie wegzuwischen. Schon wieder ekelte er sich vor sich selbst wegen dieser offensichtlichen Schwäche und der altbekannte Selbsthass griff nur zu gerne wieder nach seinem Herzen.
 

Sam war es sichtlich schwer gefallen seine Gedanken auf das Frühstück zu konzentrieren und so kontrollierte er jetzt schon zum dritten Mal den Tisch. Er war schon zweimal an der Tür gewesen, um Dean Bescheid zu sagen, als ihm einfiel, das er etwas vergessen hatte.

Viel zu sehr hatten sich seine Gedanken mit seinem Bruder beschäftigt. Wo waren sie jetzt mit ihrer Beziehung? Was konnte er sich erlauben, was würde Dean zulassen, ohne sich wie eine Maus vor der Katze in ein Loch zu flüchten und sich dann tagelang nicht hervor zu trauen?

„Komm Dean, Frühstück ist fertig!“, sagte er leichthin, so als wäre nie etwas geschehen.

Der Blonde reagierte nicht. Mechanisch zog er einen Fisch aus dem Wasser, befreite ihn vom Haken und ließ ihn wieder in sein Element zurückfallen.

Sam holte die Tasse mit dem schwarzen Kaffee und trat neben seinen Bruder.

„Komm schon, du musst doch Hunger haben.“

Wieder keine Reaktion. Also hielt er ihm die Tasse hin: „Dann nimm wenigstens den Kaffee.“

Kurz drehte sich Dean zu seinem Bruder und griff zögernd nach der Tasse.

Sam erstarrte. Er hatte die Tränenspuren in Deans Gesicht gesehen und er zwang sich mit aller Kraft ihn nicht in seine Arme zu ziehen.

Der Blonde sah Sam noch immer neben sich stehen und nahm einen vorsichtigen Schluck.

Fast sofort zog sich sein Magen zusammen und er begann zu würgen.

Schnell griff Sam nach der Tasse und stellte sie auf das Deck. Dann nahm er dem Blonden die Angel ab.

Dean sackte in die Knie und würgte den Schluck wieder heraus. Sein Magen krampfte so stark, dass er kaum noch Luft bekam und die Magensäure brannte in seinem Hals.

Sam stürzte in die Küche und kam mit einer Flasche Wasser zurück. Er hockte sich hinter Dean und begann ihm beruhigend über den Rücken zu streichen.

Endlich beruhigte sich Deans Magen und er schnappte keuchend nach Luft.

Der Jüngere hielt ihm die Wasserflasche hin. „Nur den Mund ausspülen“, sagte er.

Dean gehorchte und als das widerliche, saure Brennen endlich erträglich wurde, ließ er sich fallen. Sam umfing ihn.

„Es tut mir leid, Dean. Ich wollte dich nicht überfallen“, begann Sam leise.

Der Blonde starrte ihn verwundert an.

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest“, krächzte er.

„Doch. Ich hab gestern nur an mich gedacht. Ich hab doch gesehen, wie angespannt du warst.“

„Wie?“, wollte Dean wissen.

„Was wie?“

„Wie hast du es geschafft mit dem Dämonenblut in dir und den Visionen klar zu kommen?“

„Du warst für mich da Dean und durch die Visionen konnten wir Gutes bewirken und Menschen helfen!“

„Aber meine Hellseherei war nur für mich! Dadurch ist nichts Gutes entstanden.“

„Jetzt vielleicht noch nicht, aber irgendwann vielleicht schon.“

„Ich will sie nicht!“

Sam biss sich auf die Zunge. Wenn er jetzt sagen würde, dass sie bestimmt zu dem Engel in Dean gehörte, dann würde der sich wieder vollkommen verschließen.

Vorsichtig strich er weiter mit seinen Händen über Deans Arme und Rücken.

„Warum?“, fragte Sam nach einer ganzen Weile.

„Warum was?“

„Warum hasst du dich so sehr?“, wollte wissen und fragte sich ob es wirklich nur Selbsthass war, der Dean so zerfraß.

„Ich bin schuld!“

„Bitte Dean! Du kannst dir nicht immer die Schuld an allem geben!“

„Aber ich ... wenn ich ... wenn das in mir ...“

„Dean, bitte! Was ist mit dir, was ist mit dem in dir? Was weißt du? Was verschweigst du mir?“

Mühsam stemmte sich der Blonde in die Höhe: „Du willst es wissen?“

„Ja!“ Irgendwo mussten sie ja anfangen, warum dann nicht damit, überlegte sich der Jüngere.

Der Blonde nickte. Er würde Sam die Wahrheit sagen und dann würde der ihn genauso hassen wie er selbst und ihn gehen lassen. Scheinbar war er, egal in welcher Form, dazu verdammt, seinen Bruder nicht beschützen zu können, sondern ihn nur immer weiter ins Unglück zu treiben. Aber wenn Sam endlich die Wahrheit kannte, dann würde er ihn nicht mehr in seiner Nähe haben wollen und dann wäre es für ihn leichter zu gehen.



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