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Vierzehn

Sommerwichtel '11
von

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Das Pfirsichmädchen

Birdie schlief bereits seit zwei Stunden und Josh fand endlich die Zeit, die Wiese unter den Pfirsichbäumen von den verrottenden Früchten zu säubern. Er wollte damit fertig sein, so lange es draußen noch hell war.

Mit der Harke in einer Hand ging er vorsichtig über die Wiese und gab dabei sorgsam acht, nicht auf den glitschigen Pfirsichen auszurutschen. Er tat das nicht alleine wegen des faulenden Gestanks, den die Früchte von sich gaben oder wegen den Insekten, die es bevölkerten und von denen die meisten gnadenlos zustachen, wenn man sich ihnen näherte, sondern vor allem wegen dieser grauenvollen Farbe, die die Pfirsiche selbst in ihrem verrotteten Zustand noch hatten und die an allem haften blieb, was mit ihr in Kontakt kam. Blutrot.

Von Außen sahen die Früchte aus, wie jede andere Pfirsichsorte auch. Die Farbe ihrer behaarten Schale reichte von Honiggelb bis hin zu einem satten Rot, das dem der untergehenden Sonne glich. Und auch ihr Geschmack war ohne Zweifel fantastisch. Süß, ohne dass das Fleisch zu weich wäre. Doch die meisten Leute, die einen Pfirsich probieren wollten, kamen erst gar nicht dazu, den Geschmack zu testen, denn sobald man eine der Früchte aufschnitt, begann sie zu 'bluten'.

Josh hatte keine Ahnung, wie es ausgerechnet bei ihren Pfirsichen zu so einem unerklärlichen Phänomen kommen konnte. Die Bäume waren von keiner besonders exotischen Sorte. Seine Ur-Ur-Ur-Großeltern hatten sie einst hier gepflanzt, weil damals Pfirsiche in ihrer Gegend noch etwas besonderes waren und man die Farm statt nur mit Vieh und Getreide auch mit etwas Ungewöhnlichem bewirtschaften wollte, mit dem man zusätzlich Geld verdienen konnte. Und das waren zu jener Zeit eben diese Pfirsiche gewesen. Ein Drittel des Farmlandes hatte man mit Pfirsichbäumen bepflanzt, die dank des warmen Klimas auch recht schnell reichlich Früchte trugen.

Nur zu gut konnte sich Josh vorstellen, wie man die erste Ernte voller Vorfreude auf die vielen Früchte begangen haben musste. So ging es schließlich jedem, der das erste Mal sah, wie sich die Äste der Pfirsichbäume am Ende des Sommers unter ihrer schweren Last gen Erde beugten. Alleine die Pfirsichblüte im Frühjahr war schon eine Sensation, die die Leute aus den Städten ringsum zu ihrer Farm lockten. Das satte Pink der Blüten leuchtete gut sichtbar über alle anderen Felder hinweg, so dass man sie einfach nicht übersehen konnte. Wenn sich dann auch noch die grüne Wiese darunter in einen Teppich aus gelben und blauen Blumen verwandelte, war der Anblick schier überwältigend.

Josh hatte schon ein paar schöne Fotografien der Pfirsichblüte auf Postkarten gesehen, die es in den umliegenden Souvenir-Shops zu kaufen gab, und auch in ihrem Haus hingen einige Ölgemälde, die Gäste und Bekannte ihrer Familie vor über hundert Jahren gemalt und ihnen als Geschenke überlassen hatten. Ob sie überhaupt einen Wert hatten, wusste Josh nicht. Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätte Abby sie schon längst zu Geld gemacht.

Und jetzt?

Jetzt musste man nur eins und eins zusammenzählen, und man wusste, was aus all der einstigen Pracht der Farm geworden war. Von den vielen Pfirsichbäumen waren nur noch vierzehn übrig geblieben. Alle anderen hatte man nach einigen Jahren, in denen man immer noch gehofft hatte, dass das Phänomen der blutenden Pfirsiche lediglich eine Ausnahme gewesen war, schließlich gefällt und an ihrer Stelle wieder Getreide angebaut.

Den Gnadenstoß aber hatten sein Vater und Abby, die beide weder Talent noch Interesse an der Farm gehabt hatten, eben jener versetzt, als sie das große Haus verkauft und selbst in das weitaus kleinere Wirtschaftsgebäude umgezogen waren. Es schien, als hätten sie damit das Schicksal der Farm endgültig besiegelt, denn von da an ging alles schief, was sie angepackt hatten. Und so sehr sich seine Eltern auch weiter bemüht hatten, nicht alles Land an ihre Gläubiger zu verlieren, war doch der wirtschaftlichste Teil davon unwiederbringlich fort.

Geblieben waren am Ende nur noch das kleine Haus, die paar nutzlosen Pfirsichbäume und sie Drei – die damals noch winzige Birdie, Josh und Abby, die begann, ihre Sorgen im Alkohol zu konservieren, statt sie anzupacken.

Josh streckte sein schmerzendes Kreuz und besah zufrieden das Ergebnis seiner Arbeit. Am Rande der Wiese befanden sich nun ein halbes Dutzend aufgehäufte Hügel, deren blutrote Farbe in der untergehenden Sonne zum Glück nicht zu erkennen war.

Den Rest würde er morgen machen, dachte Josh müde und verließ die Wiese, auf der nur noch ein paar Zikaden zwischen den gärenden Früchten zirpten.

 

٭

 

"Kann ich Ihnen helfen?", sprach Josh die Frau an, die bereits seit zehn Minuten vor dem Regal mit den Vitaminen stand und sich wohl nicht entscheiden konnte, welche sie denn nun nehmen sollte.

Die Frau drehte sich zu Josh um, der sich zusammenreißen musste, damit ihm nicht das überraschte 'Oh' über die Lippen kam, das sich bei dem Anblick der Frau unwillkürlich aufdrängte. Josh hatte sie zwar noch nie zuvor gesehen, aber ihr weit nach vorne gewölbter Bauch, der unbestritten der Bauch einer Hochschwangeren war, ließ gleich ein paar Rädchen in seiner Erinnerung ineinander greifen.

"Gerne!" Die Frau lächelte freundlich und hielt Josh ein leeres Päckchen eines Vitaminpräparates entgegen, das sie offensichtlich mitgebracht hatte, um es mit dem Angebot hier zu vergleichen. "Ich suche die hier."

Schnell las Josh den Namen auf dem Päckchen. "Die führen wir leider nicht", erklärte er der Frau, die diese Nachricht mit einem bedauernden Seufzen entgegen nahm.

"Das konnte ich mir schon denken", sagte sie mit leiser melodischer Stimme. "Wissen Sie, wir wohnen erst seit zwei Tagen hier und normalerweise habe ich immer genug davon zu Hause, aber irgendwie läuft mit dem Umzug alles schief..."

"Ich könnte sie Ihnen natürlich bestellen, wenn Sie das möchten", bot Josh hilfsbereit an. "In etwa zwei Tagen wären sie hier."

"Das wäre perfekt."

"Sollen wir sie Ihnen auch liefern?" Josh konnte sich den Blick auf den Bauch der Frau nicht verkneifen.

Die Frau, der der etwas besorgte Blick des jungen Mannes nicht entgangen war, lachte auf. "Nein, das geht schon. Ich habe noch so viele Besorgungen zu machen, dass ich die nächste Zeit noch öfter hierher kaufen kommen werde."

"Gut, dann bestellen wir sie und informieren Sie, sobald sie bei uns im Laden sind." Josh ging zur Kasse und nahm einen Notizblock. "Auf welchen Namen läuft die Bestellung?"

"Auf-"

"Joshie-Josh!" Die Tür des Drugstore flog auf, dass das Glöckchen darüber panisch klingelte. Mit roten Wangen kam Birdie auf den Tresen zu gestürmt, hinter dem Josh gerade dabei gewesen war, die Bestellung der Frau aufzunehmen.

"Birdie, ich bediene gerade eine Kundin", versuchte er den Redestrom seiner kleinen Schwester zu unterbrechen, der unbeeindruckt von seinen Worten weiter auf ihn niederprasselte.

"Bitte, bitte hör mir zu, Joshie!" Birdie tanzte um Josh herum, der die Augen wegen des 'Joshie' verdrehte. Birdies Stimme überschlug sich fast und ihre Augen glänzten aufgeregt, als sie ihrem Bruder die große Neuigkeit verkündete. "Ich weiß, wer im alten Farmhaus wohnt!"

Josh legte den Finger auf seinen Mund. "Erzähl es mir doch später, ich bin gleich fertig."

"Nein, nein, so lange kann ich nicht warten", Birdie plapperte einfach weiter. "Weißt du, dort wohnt jetzt ein Mädchen, das – das – das genauso groß ist, wie ich! Sie heißt-"

"Schluss, Birdie!"

Joshs scharfer Tonfall ließ das kleine Mädchen augenblicklich verstummen.

"Ich habe hier noch eine Kundin, und danach darfst du mir so viel erzählen, wie du möchtest, Okay?"

Birdie nickte stumm.

"Entschuldigen Sie bitte", wandte sich Josh an die Frau, die geduldig gewartet hatte.

"Macht doch nichts", entgegnete sie lächelnd. Sie sah zu Birdie hin, die sich schüchtern gegen Josh drückte. "Ich schätze, sie hat Mae kennengelernt."

"Ja, Mae heißt das Mädchen!", rief Birdie prompt, schwieg aber sofort wieder unter den strengen Blicken ihres Bruders.

"Mae ist meine Tochter", erklärte die junge Frau Josh, der sie staunend ansah. "Und sie hat Recht, wir wohnen oben in dem Farmhaus auf dem Hügel."

"Dann kenne ich Ihre Möbel", sagte Josh und errötete unwillkürlich unter dem Lachen der jungen Frau.

"Unsere Möbel?"

"Ja." Josh schob den Notizblock vor sich unnötigerweise gerade, um ihn gleich darauf wieder in die vorherige schiefe Position zu bringen. Er kam sich selten dämlich vor. "Sie wurden zu uns geliefert."

"Na, wenn Sie schon unsere Möbel kennen, sollten wir uns auch vorstellen, oder nicht?" Die Frau hielt Josh begrüßend die Hand hin. "Ich heiße Molly und das Mädchen, das irgendwo draußen herum flitzt, ist meine Tochter Mae. Sie wird demnächst große Schwester sein, wie man hoffentlich sieht."

Auf Joshs Gesicht breitete sich ein herzliches Lächeln aus. "Mein Name ist Josh und das hier ist meine kleine Schwester Birdie. Herzlich Willkommen."
 

Den Rest des Tages war Birdie kaum noch ruhig zu bekommen. Noch nicht einmal beim Essen stand ihr Mund still, so dass Josh unter dem andauernden Redestrom irgendwann einfach abschaltete und, von gelegentlichem Nicken abgesehen, seinen eigenen Gedanken nachhing.

Jetzt hatte das Haus auf dem Hügel also wieder den Besitzer gewechselt. Josh wusste nicht einmal, was mit den vorherigen passiert war. Waren sie ausgezogen oder sogar verstorben? Jedenfalls hatte es sie nicht lange hier gehalten.

Abwesend schippte Josh eine Schaufel mit verdorbenen Pfirsichen nach der anderen in eine Schubkarre. Birdie wuselte um ihn herum, sammelte mit spitzen Fingern irgendwelche Sachen vom Boden auf und kannte dabei nur ein Gesprächsthema: Mae.

Josh wünschte sich, es wäre heute heiß, denn dann hätte er zumindest bei dieser ungeliebten Arbeit seine Ruhe vor seiner plappernden Schwester gehabt, weil diese dann einen großen Bogen um die gärenden Früchte machen würde. Doch ausgerechnet heute hatte sich das Wetter anders entschieden. Es war recht kühl geworden und von einer Seite des Tals zogen bereits dunkle Unwetterwolken zu ihnen hinüber. Wenn er die ganzen Pfirsiche heute nicht noch vor dem Regen wegbekam, dann musste er sie morgen als eine ekelhafte rot-braune matschige Masse von der Wiese scharren, was noch schlimmer war, als es ohnehin schon war.

"Sie mag sie auch", erklärte Birdie Josh gerade.

Josh, der nicht zugehört hatte, hielt kurz inne. "Wer mag was?"

"Mae", Birdie blickte ihren unaufmerksamen Bruder strafend an. "Mae mag auch Käferflügel", fuhr sie fort und riss einem kleinen Mistkäfer, den sie in einer Hand hielt, die schwarz-blau schillernden Flügel aus.

"Oh, Birdie, hör auf damit!", schalt Josh das Mädchen vor sich, das ihn erschrocken ansah. Er nahm ihr den malträtierten Käfer aus der Hand. "Du kannst dem armen Tier doch nicht einfach so die Flügel ausreißen! Jetzt wird er sterben müssen."

"Aber-aber-aber-", begann Birdie schluchzend. "Er war doch schon to-ho-hoot..."

Zweifelnd sah Josh auf Birdie hinab, aus deren Augen die Tränen nur so strömten. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie noch immer den ausgerissenen Flügel. Josh öffnete seine Hand und besah sich das kleine Insekt, das mit angezogenen Beinchen in seiner Handfläche umher kullerte. Der Käfer war zweifelsohne tot.

"Tut mir leid", entschuldigte er sich geknickt bei seiner weinenden Schwester, die sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen wischte. Er nahm Birdie in den Arm und drückte ihr einen Kuss auf die erhitzte Stirn. Langsam verstummte Birdies Weinen und Josh kämpfte nun gegen seine eigenen Tränen an, die in seinen Augen brannten.

Er musste unbedingt wieder ruhiger werden, dachte er stumm bei sich. Birdie zuliebe. In der letzten Zeit passierte es ihm immer öfter, dass er sie so anfuhr wie eben und sei es auch nur wegen einer Kleinigkeit. Dabei hatte er selbst keine Ahnung, warum er das tat. Er schob es auf den Stress, den er hatte, oder: den Stress, den er sich machte. Irgendetwas musste sich ändern.

"Was hast du gesagt?", flüsterte Birdie mit tränenerstickter Stimme.

"Nichts, Kleines."

"Bist du noch böse auf mich?"

Josh biss sich auf die Lippe. Birdies, in sein Ohr geflüsterter Satz war wie eine heiß glühende Messerklinge, die sich tief in sein Herz hinein bohrte. Etwas musste sich schnellstens ändern.

 

 

 

"Ich hoffe, ihr habt genug Mineralwasser da, ich werde es nämlich bis auf die letzte Flasche aufkaufen."

Amüsiert sah Josh zu, wie Molly vier Flaschen Wasser vor ihn auf den Tresen stellte. "Keine Sorge, wir haben noch genug im Lager."

"Gut für euch." Molly zählte das Geld ab und gab es Josh. "Wir mussten uns ja ausgerechnet die heißeste Zeit im Sommer aussuchen, um umzuziehen und das Baby zu bekommen..."

"Wann ist es denn soweit?", erkundigte sich Josh und kam sich im ersten Moment komisch vor. Bis jetzt war es ihm noch nie in den Sinn gekommen, einer Schwangeren so eine Frage zu stellen, doch Molly machte es ihm mit ihrer freundschaftlichen Art einfach.

"In fünf langen Wochen", seufzte sie und legte noch einen Schokoriegel zu den Wasserflaschen.

"Und so lange sind Sie ganz alleine da oben?"

Molly zuckte mit den Schultern. "Warum denn nicht? So lange ich noch hinter's Lenkrad passe, um von Zeit zu Zeit hier in der Stadt unsere Vorräte aufzufrischen, ist alles in Ordnung."

Josh grinste. "Sind denn alle Möbel gut angekommen?"

Molly lachte trocken auf. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Hast du mal versucht, hochschwanger eine Wohnung und fünf Gästezimmer einzurichten?"

"Nein, bis jetzt noch nicht", entgegnete Josh wahrheitsgetreu. "Gästezimmer?"

"Hör nur auf, mich daran zu erinnern..." Molly verdrehte die Augen gen Decke. "Eigentlich wollten wir erst nächstes Jahr das Haus kaufen und dann die Pension in Ruhe planen, aber wie du vermutlich weißt, hapert es bei uns mit der Organisation. Außerdem war das Angebot für das Haus zu verlockend. Kennst du es?"

"Ja." Josh versuchte, nicht allzu bedrückt zu klingen. Natürlich kannte er das Haus. Jedes einzelne Zimmer darin kannte er bis in die letzte Ecke. Nahezu seine gesamte Kindheit hatte sich dort abgespielt, bis sein Vater und Abby es nicht mehr halten konnten. "Ist es überhaupt noch bewohnbar? So weit ich weiß, hat es zwischenzeitlich mal eine Weile leergestanden."

"Das Renovieren war die wenigste Arbeit, die wir damit hatten. Das konnten wir alles schön der Reihe nach machen. Und ich muss auch zugeben, dass unsere Wohnung auch schon fast vollständig eingerichtet war, als Mae und ich herkamen, aber ausgerechnet gestern mussten die Möbel für die Gästezimmer drei Wochen zu früh geliefert werden, wo mein Mann noch nicht hier sein kann. Und jetzt stapelt sich alles, was man sich an Einrichtungsgegenständen so vorstellen kann, in jedem Winkel des Hauses. Und das Haus ist riesig. Ich komme mir vor, als lebe ich in einem Möbellager."

Geduldig hatte Josh gewartet, bis Molly ihm ihr Herz ausgeschüttet hatte. Sie war ja mindestens genauso beschäftigt wie er, wohingegen er nicht auch noch Rücksicht auf ein ungeborenes Kind nehmen musste.

"Ich könnte gerne helfen", bot Josh der verzweifelt aussehenden Molly an, deren Miene sich auf der Stelle erhellte.

"Ist das ein Witz? Wenn ja, dann bekommst du hoffentlich ein so schlechtes Gewissen, dass es noch deine Enkel verfolgen wird!" Molly sah Josh über die Wasserflaschen hinweg aufmerksam an, doch Josh schüttelte nur leicht den Kopf.

"Du wärst mein persönlicher Held, wenn du das wirklich schaffen könntest", rief Molly begeistert. Sie sah aus, als wollte sie Josh hinter dem Tresen hervorziehen, um ihn lachend durch die Luft zu wirbeln. So, wie sie sich freute, hätte sie es wahrscheinlich auch getan, oder zumindest versucht, wenn nicht ihr kugelrunder Bauch sie daran gehindert hätte. Aber so gab sie sich damit zufrieden, nach Joshs Hand zu greifen und diese fest zu drücken. "Wann hättest du denn Zeit?"

"Jeden Nachmittag ab Fünf." Josh musste nicht lange nachdenken. Es passt einfach alles so perfekt zusammen, dass er es kaum fassen konnte. Und auch wenn er sich wieder zusätzlich Arbeit aufgehalst hatte, hatte er zumindest das Problem mit Birdie gelöst, die sich mit Mae gut zu verstehen schien. Laut lachend tobten die beiden draußen vor dem Drugstore den Bürgersteig hoch und runter.

 

٭

 

"Na, ihr Beiden", begrüßte Molly Josh und Birdie fröhlich, als sie ihnen die Tür öffnete. "Mae ist im Garten und wartet schon auf dich, Birdie."

Ohne ein unnötiges Wort zu verlieren, flitzte Birdie in Richtung Garten los.

Molly lachte und ließ Josh ins Haus.

"Wow", entfuhr es Josh, als er die Berge von Möbeln sah, die sich am Rande des Eingangsbereichs stapelten. Molly hatte in der Tat nicht übertrieben, was ihr Gefühl anging, in einem Möbellager zu wohnen, und Josh konnte es ihr gut nachempfinden.

"Warte mal, bis du im ersten Stock warst." Molly lächelte schief.

"So schlimm kann's schon nicht werden", erwiderte Josh, wobei sein Satz ein klein wenig wie eine Frage klang, deren Antwort ihm Molly vorerst schuldig blieb.

Ganz so schlimm wie von Molly prophezeit, war es dann doch nicht. Die Möbelpacker hatten schon alles einigermaßen auf die Zimmer verteilt und Josh musste nur, von Molly angeleitet, die Möbel an ihre vorgesehenen Plätze schieben, was relativ schnell ging, da die meisten Schränke nur niedrige Kommoden waren. Die wenigen Möbel, die noch zusammengebaut werden mussten, schaffte Josh mit links.

Das einzige, das Joshs Arbeit verlangsamte, war die Tatsache, dass es sich hier um ihr ehemaliges Haus handelte und dass es sich nicht vermeiden ließ, dass ihm während der Arbeit immer mehr Details von früher einfielen. Das Zimmer, das Josh am meisten zu schaffen machen würde, hob er sich deshalb auch bis zum Schluss auf.

Josh war froh, dass die Räume bereits renoviert waren – ob von Molly und ihrer Familie oder von den Vorbesitzern. Er hätte es nur schwer ertragen können, seine alte Kinderzimmertapete hier wiederzufinden. Doch das Automotiv war zum Glück einem modernen Blumenmuster gewichen, das das Zimmer freundlich wirken ließ.

Josh setzte sich auf die niedrige gepolsterte Fensterbank und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er schloss die Augen und dachte wehmütig über die Vergangenheit nach.

Der Wind, der durch das leicht geöffnete Fenster wehte, trug bekannte Gerüche mit sich. Hier oben auf dem Hügel roch es nach blühenden Wiesen, die in der Sommersonne ihren angenehmen Duft ausatmeten, und nicht nach verrottenden Pfirsichen, wie den Weg runter bei ihrem Haus.

Einzig die Geräusche aus dem Garten unterschieden sich zu damals. Statt dem lauten Jungengebrüll von Josh und seinen lärmenden Freunden, sangen Birdie und Mae Kinderreime und schütteten sich dabei vor Lachen aus.

Immer mehr stürzte auf Josh ein. Manche der Erinnerungen waren noch so lebhaft, dass er darauf wartete, gleich seine Mutter von unten rufen zu hören, dass das Essen fertig sei und nicht die brüllende Abby, die ihm wegen eines falsch weggeräumten Tellers eine heftige Ohrfeige gab.

Wie von sehr weit entfernt drang Mollys Stimme, die den Mädchen im Garten etwas zurief, in sein Bewusstsein, doch Josh schaffte es, sie noch einen Moment auszublenden.

Er ließ seine Augen geschlossen in der Hoffnung, noch ein bisschen in der schönen Zeit bleiben zu können. Er wusste, dass alles wieder so war, wie es nun mal eben jetzt war, sobald er die Augen wieder öffnete.
 

"Das Haus gehörte früher deiner Familie?" Molly sah Josh mit großen Augen neugierig an.

Josh nickte langsam. Er hatte die Blicke an Molly vorbei dem Garten zugewandt und schwieg.

"Warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt? Jetzt komme ich mir richtig mies vor, dass ich dich dazu genötigt habe, mir hier zu helfen..." Die Eiswürfel in Mollys Glas klirrten leise vor sich hin, während sie mit dem Strohhalm Kreise in der Limonade zog.

"Es macht mir ja nichts aus, hier zu sein", versuchte Josh Mollys Bedenken wegzuschaffen. "Eigentlich war ich viel zu neugierig darauf, was aus dem Haus geworden ist." Er versuchte ein Lächeln, das Molly skeptisch betrachtete.

"Und Birdie? Weiß sie davon noch was?"

"Nein, nichts", verneinte Josh, "wir wohnten schon längst unten im Haus, als sie auf die Welt kam."

Molly trank einen Schluck Limonade, ehe sie weitersprach. "Wie kommt sie überhaupt zu diesem Namen?"

Joshs Mundwinkel bogen sich zu einem Lächeln. "Sie hatte, als sie geboren wurde, dunkles Haar, das ihr in sämtlichen Himmelsrichtungen vom Kopf abstand. Wie das Gefieder eines frisch geschlüpften Kükens eben."

Molly lachte wieder ihr heiteres helles Lachen, das sie um Jahre jünger wirken ließ und Josh sich wünschen ließ, eine ältere Schwester zu haben, die einen Teil der ganzen Verantwortung übernehmen könnte, die alleine auf ihm als einzigem älteren Bruder lastete.

"Was für eine niedliche Geschichte."

"Na ja, niedlich..." Josh trank das erste Mal von seiner Limonade. "Ich weiß ja nicht, wie sie sich fühlen wird, wenn sie ihren Führerschein unterschreiben muss, aber in ihrer Haut möchte ich nicht stecken, wenn sie ihren Namen jedes Mal erklären muss und dass er absolut nichts mit Golf zu tun hat..."

"Er ist doch hübsch!"

Das war er und das wusste Josh. Birdie war sowieso schon etwas Besonderes für ihn und wahrscheinlich auch für jeden, der sie kennenlernte, weil man einfach nicht anders konnte, als sie gern zu haben. Sie würde ihren Namen später sicher gerne jedem erklären, der dachte, sich verhört zu haben.
 

"Welchen Namen bekommt das Baby überhaupt?"

"Gute Frage." Molly füllte Joshs erst halbleeres Glas mit frischer Limonade auf. "Wenn es endlich mal zeigen würde, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, fiele uns das Aussuchen sicher leichter. Bis jetzt haben wir noch keine Ahnung. Wir entscheiden das wohl spontan, wenn es soweit ist."

"Das waren lange Wochen", sinnierte Josh gedankenverloren vor sich hin.

"Du sagst es. Und das Meiste davon geht zu Lasten dieses widerlich heißen Sommers." Mollys Augenbrauen hoben sich, als sie die Sonne über sich strafend anblickte, die unbeeindruckt von dieser Geste weiter schien. Und dann schien Molly etwas einzufallen, das sie Josh noch unbedingt fragen wollte, denn sie setzte sich gerade hin und lehnte ihren Oberkörper etwas weiter zu Josh hinüber, der ihr gegenüber saß. "Stehen hier irgendwo Obstbäume? Vielleicht ist es auch nur Wunschdenken, aber ich meine, Obst gerochen zu haben, als ich am ersten Tag hier hinauf fuhr. Ich hatte das Fenster am Auto offen und als ich den Weg hoch fuhr, roch es nach reifen Früchten. Josh, sag mir bitte, dass ich mich nicht irre."

"Ich wünschte, es wäre ein Irrtum, aber es stimmt." Josh wusste genau, auf was Molly anspielte. In den vergangenen Wochen war es mit einer Ausnahme immer recht heiß gewesen, was die Pfirsiche in diesem Jahr noch hatte schneller reifen lassen. "Der Duft kam wohl von den Pfirsichen in unserem Garten."

Die Frau schien Joshs ersten Satz nicht richtig gehört zu haben, oder sie wollte sich nicht einfach so abspeisen lassen. "Wo stehen denn die Bäume? Meinst du, ich kann mir ein paar Pfirsiche pflücken? Obst ist das, was ich im Moment noch am liebsten esse." Molly sah in der Tat aus, als könnte sie sich in der nächsten Sekunde auf den nächstbesten Pfirsichbaum stürzen und die Früchte alle auf einmal essen. Sie hatte keine Ahnung von deren Innenleben.

"Diese Pfirsiche möchte ungelogen niemand essen. Wirklich niemand."

Molly lächelte keck. "Du hast ja keine Ahnung, mein lieber Josh. Versuch mal, einer Schwangeren mit Heißhunger etwas auszureden. Daran sind schon Generationen von Männern vor dir gescheitert und du wirst auch keine Ausnahme sein..."

Ungewollt musste Josh über Mollys Ausführung lachen. "Die Pfirsiche sind ehrlich nicht dazu geeignet, gegessen zu werden."

"Warum nicht? Sag mir einen Grund. Aber ich warne dich", Mollys Zeigefinger richtete sich auf Josh, "lass es einen guten Grund sein - vielleicht, dass sie vergiftet sind -, ansonsten stehe ich auf und pflücke mir das Obst selbst."

Das belustigte Lächeln auf Joshs Gesicht, legte sich. "Vergiftet sind sie nicht direkt, aber – sie haben eine seltsame Eigenschaft an sich."

"Das war kein guter Grund!" Molly sah betont ernst aus. Sie tat, als stünde sie auf und Josh machte eine schnelle, aufhaltende Handbewegung. Siegessicher ließ sich Molly wieder auf ihrem Platz nieder. "Also, nächster Versuch. Und gib dir dieses Mal mehr Mühe."

Die Gedanken wirbelten in Joshs Kopf umher wie ein verwirrter Bienenschwarm, der den Ausgang aus dem Stock nicht finden konnte. Er konnte Molly doch nicht sagen, dass die Pfirsiche beim Aufschneiden bluteten. "Ihr Fruchtfleisch ist so rot, dass es nicht besonders appetitlich aussieht."

Irritiert sah Molly zu Josh, bis sie begriff, dass er es ernst meinte. "Verstehe ich nicht. Rote Bete ist auch rot. Und Kirschen auch. Was soll das ausgerechnet bei Pfirsichen noch einen Unterschied machen?"

Josh hob die Schultern. "Es sieht nicht schön aus, wenn der Fruchtsaft aus den Pfirsichen läuft. Die meisten Leute assoziieren damit-"

"Blut." Molly nickte langsam. Diese Information musste sie erst mal sacken lassen. Sie ließ Josh nicht aus den Augen, der etwas zusammengesackt vor ihr in dem hochlehnigen Verandastuhl saß.

Schließlich, als Josh schon die Hoffnung hatte, dass Molly das Thema rote Pfirsiche endlich ruhen lassen würde, fing sie wieder zu sprechen an.

"Bring mir bitte ein paar von den Pfirsichen, ich möchte das gerne selbst sehen."

 



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