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Black Rose

von

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„Danke schön Frau Robinson“, hörte ich meine Nichte in ihrem Zimmer sagen. Sie spielte mal wieder mit ihrem Puppenhaus. Ich versuchte leise vorbei zugehen, jedoch ohne Erfolg.

Die Kleine öffnete die Tür und sah mich an.

„Spielst du mit mir?“, fragte sie.

„Nein, Luisa, ich habe dafür jetzt keine Zeit.“, erwiderte ich.

Ihr Blick wurde traurig und sie verschwand in ihr Zimmer. Leise hörte ich sie „Nie spielt jemand mit mir“ sagen.

Sie tat mir ja auch irgendwie Leid. Ihre Eltern waren vor einem Jahr bei einem Autounfall umgekommen, als sie versucht hatten, einem Mann, der plötzlich auf die Straße gerannt war, auszuweichen.

Ich hatte damals nur meine ältere Schwester verloren, Luisa aber war Waise geworden.

Meine Eltern nahmen sie zwar gerne auf, hatten aber kaum Zeit für sie und waren ein wenig überfordert mit ihr. Sie waren froh gewesen, dass ich und meine Schwester schon selbstständig genug waren, um auch mal allein bleiben zu können.

Aber nun gab es auch wieder eine Fünfjährige in unserem Haus.
 

Ich seufzte und setzte mein Weg in Richtung Badezimmer fort. Es war wieder Zeit.

Sorgsam verschloss ich die Tür. Ich wollte nicht, dass jemand das Bad in der nächsten halben Stunde betrat.

Dann begann ich mich zu entblößen. Weißliche Narben zierten meine Oberschenkel. Rötlich und verkrustet waren die an meinen Armen.

Als meine Eltern herausgefunden hatten, dass ich mich ritzte hatten sie laut Terror gemacht und wollten mich zum Psychiater schleppen. Ich konnte ihnen aber weiß machen, dass ich das nicht mehr tun würde und sie ließen mich damit in Ruhe.

Das war vor gut drei Wochen gewesen. Seitdem trug ich nur noch langärmlige Oberteile, damit niemand die Wunden sah.

Aber für mich gab es einfach keine bessere Methode um mit dieser Welt klar zu kommen. Außer vielleicht eine Freifahrt über den Jordan.

Mit diesem Gedanken fuhr ich mit der Klinge, welche ich in meinen Kosmetikkoffer aufbewahrte, um sie vor der Neugier meiner Eltern zu schützen, über meinen arm.

Blut trat langsam hervor und ich lächelte.

Der Schmerz hatte etwas Befriedigendes.
 

Nachdem die Blutung gestoppt hatte, wusch ich das restliche Blut weg und machte mich bereit um in die Schule zu gehen.

Ich hasste die Schule.

Ich hasste alle Menschen dieser Stadt, mit Ausnahme meiner Familie.

Und vor allem ich hasste diese Stadt.

Wenn ich durch die schmierigen Straßenbahnfenster sah, waren da immer die gleichen Gesichter:

Blutjunge Mädchen, die sich schminken und stylten, als seinen sie schon junge Frauen;

Junge Halbstarke, die meist nur in Gruppen auftraten und sich für die Coolsten und Größten hielten;

Die Generation U10, die morgens schon vergleichen mussten, wessen Eltern die coolsten und modernsten Handy, IPods und was weiß ich für Sachen kauften;

Und natürlich die Generation 40+, die über die Jugend von heute schimpfte, aber sich früher selbst nicht besser gewesen war, und die sich über fast alles aufregte, aber kaum was versuchte zu ändern.
 

Endlich im Unterrichtsraum angekommen, pflanzte ich mich auf meinen Platz und legte die Arme und den Kopf auf dem Tisch. Ich hörte meine Mitschüler sich gegenseitig beleidigen. Erst auf Deutsch, dann in ihrer Muttersprache.

Wie ich diese Klasse hasste.

Wir waren die schlimmste Klasse der ganzen Schule. Viele schwänzten sehr häufig oder redeten einfach mit anderen, obwohl der Lehrer vorne stand und unterrichten wollte.

Dementsprechend sah auch unser Notendurchschnitt aus.

Und wenn mal ein Lehrer tatsächlich einen Schüler des Unterrichtes verwies, so musste besagter Lehrer mit einem Elterngespräch rechnen, in dem der Schüler als Unschuldsengel hingestellt wurde.

Ein Lehrer hatte deshalb schon beantragt, eine andere Klasse zu bekommen. Das war vor einer Woche. Bisher hatten wir keinen Unterricht mehr mit ihm.

Aber wer auch immer unser neuer Lehrer wurde: Er würde niemals genug Durchsetzungsvermögen haben.

Daher war ich froh, dass meine Schulzeit bald vorbei war.
 

Freunde hatte ich keine, zumindest nicht in der Stadt.

Früher auf dem Land hatte ich viele Freunde gehabt und bin ich sehr gern zur Schule gegangen.

Ich vermisse sie immer noch sehr.

Aber mein Vater hatte einen besseren Job in der Stadt gefunden gehabt und so waren wir in eine Großstadt gezogen. Das war vor gut zwei Jahren.

Ich hasste diese stinkige Stadt. Sie war laut, dreckig und stickig.
 

Nach der Schule ging ich in den Park, um wenigstens etwas frische Luft zu bekommen.

Der Park war nicht sonderlich groß.

Es gab einen kleinen Ententeich um den eine Wiese war auf der ein paar Bäume standen.

Ich setzte mich auf eine Bank am Teich, stopfte mir meine Kopfhörer in die Ohren und schloss die Augen. Nur für einen Moment vergaß ich die Welt um mich herum.
 

„Warum tust du das?“, hörte ich eine männliche Stimme neben mir. Wahrscheinlich wieder ein Pärchen, dass sich stritt.

„Ich hab dich was gefragt.“, nun klang die Stimme etwas lauter. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass der Mann, der gesprochen hatte, mich anstarrte.

„Warum tust du dir das an?“, fragte er mich. Ich war verwirrt.

Wer war er und was wollte er von mir?

Ich begann ihn zu mustern. Er hatte kurze schwarze Haare, dunkelgrüne Augen und war blass. Er sah umwerfend aus.

„Äh… ich… was genau tue ich denn?“, erwiderte ich verwundert.

Er deutete auf meine Arme, die in meiner Jacke steckten.

„Warum verstümmelst du dich?“, fragte er eindringlich.

Er war wohl ein Psychiater-Pfuzi. Immer auf der Suche nach Leuten, die man therapieren kann.

„Was geht Sie das an?“, gab ich zornig von mir und stand auf. Ich wollte gehen.

„Nicht viel. Aber ich fand ne Zeit lang diese Welt genauso scheiße wie du.“, rief er mir hinterher. Ich hielt inne und drehte mich zu ihm.

„Wie meinen Sie das?“

„Bitte, lass doch das Sie, so alt bin ich nu auch wieder nicht. Ich bin Mike, Mike Hahn.“, erreichte mir seine Hand und ich nahm sie zögernd.

„Hannah“, erwiderte ich, „Was meintest du damit? Du fandest die Welt scheiße?“

Er nickte.

„Es gab nichts Schlimmeres als zu leben für mich. Das war kurz nachdem meine Freundin gestorben ist.“, er zog einen Ärmel hoch, um lange blasse Narben zu zeigen, „Ich habe mir mehrfach die Pulsader versucht aufzuschneiden, jedes Mal ohne Erfolg. Irgendwann habe ich dann bemerkt, dass meine Freundin auch nicht glücklich machen würde, wenn ich mich ihretwegen umbrächte. Hätte ich es getan, wer hätte dann ihr Lebenswerk vollendet?“

„Lebenswerk?“

„Unser Haus war nicht besonders groß, aber im Hinterhof gibt es einen kleinen Garten. Sie hat Stunden damit verbracht sich dort um die Blumen zu kümmern. Und mittlerweile sind da bereits sehr viele Blumen nachgewachsen. Sie halten mich am Leben und ich möchte, dass sie es auch bei anderen Menschen tun. Daher schenke ich jeden Menschen, der traurig und einsam ist eine Blume seiner Wahl.“

Er hielt inne und holte eine Haarspange hervor, die eine schwarze rose zierte. Er gab sie mir.

„Ich wollte dir eine Blume mitbringen, aber ich wusste nicht, welche du magst, also hab ich dir erst einmal diese mitgebracht“

Ich nahm sie dankend entgegen.

„Verrätst du mir nun, welche Blume du dir wünscht?“

Ich überlegte und lächelte dann.

„Schenk mir doch jedes Mal eine schwarze Rose.“, meinte ich und ging nach Hause.
 

Als ich abends im Bett lag, dachte ich nach. Über Mike, über das was er gesagt hatte. Und darüber, dass er es geschafft hatte mich zum Lächeln zu bekommen.

Der nächste Morgen war der Erste seit langen, an dem ich mich nicht ritzte. Ich hatte auch keine Zeit dafür, da ich damit beschäftig war, die Spange ordentlich in mein Haar zu bekommen.

Ich wunderte mich darüber, wie schön ich war. Das war mir vorher nie aufgefallen.

„Hannah“, vernahm ich Luisas Stimme, „Bitte lass mich rein. Ich muss mal.“ Ich öffnete die Tür und die Kleine rannte rein. Behände schwang sie sich auf das Klo.

„Aber bitte geh nicht weg, Hannah. Ich bin doch so ungern allein.“

Ich seufzte.

„Ja, Ok, ich warte.“

Damit würde ich zwar meine Straßenbahn verpassen und zu spät kommen, aber wesentlich pünktlicher kamen die meisten anderen auch nicht.

„Du siehst schön aus“, meinte Luisa. Sie spülte, wusch sich die Hände und kam zu mir. Dann umarmte sie mich ganz fest und flüsterte leise:

„Ich hab dich ganz ganz ganz doll lieb“

Der letzte der das vor ihr zu mir gesagt hatte, war ihre Muter, meine Schwester gewesen. Ich unterdrückte meine Tränen.
 

Diesmal ging ich durch den Park zur Schule. Ein paar Jugendliche, die offensichtlich schwänzten, tranken und kifften dort.

Ich machte zwar einen großen Bogen um sie, aber trotzdem hörte ich einen von ihnen laut

„Hey Emomädchen, wohin so eilig? Wir haben hier auch ein paar Messer für dich und sind dir gern behilflich.“, grölen.

Ich ignorierte sie und eilte weiter.
 

Ich kam zu spät, obwohl ich mich stark beeilt hatte.

Der Lehrer, wohl der Neue für den, der getürmt war, schimpfte laut als ich eintrat.

Erstaunt starrte ich in die Klasse. Das erste Mal, dass alle pünktlich da waren.

„Hannah, Sie sind zu spät“, kritisierte der Lehrer.

„Entschuldigung, ich habe meine Bahn verpasst“, erwiderte ich und setzte mich.

„Dann fahren Sie gefälligst eine Bahn früher“, zeterte er weiter, „Aber morgen weht hier ein anderer Wind. Da werden solche Zuspätkommer wie Sie gar nicht mehr in den Unterricht gelassen. Das hat der Direktor und der Lehrerrat beschlossen, um dieser Klasse einmal Einhalt zu gebieten.“ Dann würde es aber verdammt leer in der Klasse sein, dachte ich und freute mich im Stillen.
 

Als ich nach Hause ging, fragte ich mich ob, der Kerl von gestern noch mal auftauchen würde. Doch er kam nicht. Wahrscheinlich hatte er sich durch ihren Wunsch nach schwarzen Rosen leicht verarscht gefühlt. Er würde mir jede Blume der Welt bringen und ich wollte unbedingt welche, die es nicht gab.
 

Zu Hause angekommen, empfing mich freudig ein kleiner Lockenkopf.

„Ich habe Oma heute beim Kuchen backen geholfen“, erzählte mir Luisa stolz.

„Das ist ja prima“, erwiderte ich und nahm sie in den Arm, „Dann bist du ja bald ein großes Mädchen.“ Ich ließ sie los und ging auf mein Zimmer.

Wenig später kam Luisa ins Zimmer hineingerannt und sah mich bittend an.

„Oma hat gesagt, ich soll dich fragen, ob du mit mir spielst. Spielst du mit mir bitte?“

Sie setzte einen süßen Blick auf und ich nickte.

„Na gut.“

Sie quiekte vergnügt und rannte in ihr Zimmer. Ich folgte ihr.

Erst bauten wir mit ihren Legobausteinen, dann spielten wir mit ihren Puppen und nach dem Abendessen las ich ihr vor, bis wir beide einschliefen.
 

Am nächsten Morgen schrak ich hoch. Es war schon spät, die Bahn hatte ich längst verpasst. Rasch zog ich mich an und rannte die Straße entlang. Mehrfach stolperte ich.

Gerade noch rechtzeitig erreichte ich die Schule, dachte ich zumindest.

Aber der Lehrer sah mich fragend an.

„Sie sind zu spät. Was machen Sie noch hier?“

„Ich bin nicht zu spät ich hab noch ne Minute“, sagte ich und zeigte ihm meine Uhr.

„Dann geht Ihre Uhr wohl falsch. Denn nach meiner haben wir bereits drei Minuten Unterricht. Und jetzt raus.“ Damit schob er mich aus dem Unterrichtsraum.

Somit schloss man mich, eine anständige und nicht auffällige Schülerin aus.

Und das, obwohl ich stets pünktlich gewesen bin. Nur halt heute Morgen und gestern nicht. Weil ich mich einmal um meine Nichte gekümmert hatte und dadurch verpennt hatte.

Missgelaunt schleppte ich mich in den Park. Meine Beine schmerzten, ich war wohl zu oft gefallen.
 

Der Jugendliche, der mir gestern hinterher gegrölt hatte, war da und anscheinend allein.

Er grinste sich einen als er mich sah.

„Hey Emogirl, bist du zurückgekommen. Heute bin ich zwar allein aber ich bin dir trotzdem gern behilflich.“ Er kam auf mich zu.

Ich drehte mich um und ignorierte ihn. Aber er kam mir hinterher und wurde schneller. Ich wollte davon rennen, ich stolperte, weil meine Beine nachgaben. Er holte mich ein.

„Nett von dir das du es mir einfach machst“, er begann an seiner Hose zu fummeln.

Das hatte er also vor. Scheiße!

„Lass sie in Ruhe!“, hörte ich eine mir vertraute Stimme. Mike war gekommen und zwischen mir und dem Kerl getreten. Dieser aber war nicht drauf aus sich zu prügeln, sondern steckte die Hände in die Taschen und meinte: „Chill mal, Mann. Wenn du die Bitch unbedingt willst nimm sie dir.“ Dann ging er.

„So ein arrogantes Arsch“, fluchte Mike und half mir auf, „Sag mal Hannah, wieso bist du nicht in der Schule?“

„Die haben mich rausgeschmissen, weil ich zu spät war.“

„Und was jetzt?“

„Ich werde hier bleiben bis meine Eltern arbeiten sind.“

„Und wie lange musst du warten?“

„Etwa ne Stunde.“

Er dachte kurz nach und nahm dann meine Hand.

„Gut dann begleit ich dich ein wenig, wenn du durch den Park gehst. Um dich zu beschützen.“
 

Ein leicht mulmiges Gefühl stieg in mir auf. Ich kannte ihn kaum und er wollte mich begleiten. Morgens durch einen Park, wo kaum ein Arsch sich um diese Uhrzeit durch verirrte.

Er bemerkte mein Misstrauen.

„Du hast Angst, richtig?“, begann er und ich nickte, „Musst du aber nicht haben. Ich bin nicht einer dieser Menschen, die Spaß an der Vergewaltigung armer, hilfloser Mädchen hat. Aber ich will dich auch nicht alleine lassen. Das ist mir zu gefährlich. Ich will, dass es dir gut geht. Ich will, dass du dein Leben lebst und nicht wegwirfst. Denn ich weiß, es gibt da jemanden der es dir sehr danken würde.“
 

Dann schwieg er und ich begann über seine Worte nach zu denken. Wer würde es mir danken? Meine Eltern? Die wussten nichts davon und außerdem wären sie sicher glücklicher nur mit Luisa. Und Luisa? Sie war noch zu klein um so etwas zu verstehen.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er mich bis zu meiner Haustür gebracht hatte, bis ich plötzlich vor ihr stand.
 

„Du bist da“, sagte er und drückte mir eine Rose in die Hand. Sie war schwarz, wie ich es mir gewünscht hatte. „Auf Wiedersehen Hannah.“, sagte er ging davon. Ich wollte noch fragen wen er vorhin gemeint habe, doch er war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich seufzte und schloss die Tür auf. Wahrscheinlich war er einfach nur schnell davon geeilt, dachte ich als ich die Tür schloss.
 

Meine Mutter war noch zu Hause und sah mich skeptisch an.

„Na nu? Schon zu Hause?“, fragte sie.

„Äh… ja… Lehrerstreik, hab den Rest des Tages frei.“, log ich rasch.

„Streik? Na ja, was es nicht so gibt“, sagte sie und ging in die Küche.

Schnell eilte ich in mein Zimmer. Vorbei an Luisas Zimmer. Die Kleine lag in ihrem Bett. Sie war wohl krank, das würde zumindest erklären, warum meine Mutter noch daheim war.
 

In meinem Zimmer verschloss ich sorgfältig die Tür. Dann schaltete ich meine Anlage an und nahm meinen Skizzenblock hervor. Ich hatte begonnen gehabt einen alten Baum, in dessen Ästen sich der Mond verfangen hatte, zu zeichnen und wollte dies nun beenden. Ich musste plötzlich an Mike denken, als ~Dein letzter Tag~ von Letzter Instanz lief. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Da ich aber schneller fertig war als mir lieb war, ging ich hinunter in die Küche, um etwas zu essen.
 

Meine Mutter hing gerade am Telefon und sprach mit ihrer Freundin.

„Beide können wir nicht behalten.“, hörte ich sie sagen, während ich mir einen Teller rausholte. Wen kann wer nicht behalten? Ich stellte den Teller ab und lauschte.

„Es ist einfach zu wenig Platz. Ich habe es Harribert gesagt: Wenn die Große nicht wäre, dann könnten wir die Kleine behalten. Aber du weißt ja wie er an der Großen hängt. Die ist ja schon so lange hier, hat er gesagt.“ Sie schwieg und trat in die Küche.

„Lass gut sein, Schatz“, sagte sie zu mir, „Ich koch gleich Essen.“

Dann ging sie zurück in das Wohnzimmer.

„Bin wieder da“, fuhr sie ihr Gespräch fort, „Ja, das ist bereits beschlossen, dass Harri die Kleine übermorgen wegbringt. Wir haben auch schon nen Abnehmer.“
 

Ich hatte genug gehört. Es wurde Zeit zu handeln. Sie wollten Luisa wegbringen, weil zu wenig Platz war. Sie wollten sie in ein Heim stecken. Übereilig faste ich meinen Entschluss:

Sie hatte gesagt, dass sie die Kleine behalten könnten, wenn die Große, also ich, nicht da wäre. Dann würde ich einfach diesen Wunsch erfüllen und mich für meine Nichte opfern. Und so würde mein Ableben sogar noch einen Sinn haben.
 

Ich schnappte mir meine Jacke und ging. Um nach zu denken. Auf diese Art und Weise könnte ich meine und ihre Probleme lösen. Doch wie? Pulsadern aufschneiden? Das könnte schief laufen und nicht funktionieren. Mike war ja schließlich das lebende Beispiel. Erhängen? Woher sollte ich dann den Strick nehmen und was wäre wenn das daneben ging? Ich würde im Rollstuhl landen. Von einer Brücke springen? Das kam auch nicht in Frage. Die einzigen Brücken, bei denen ich ohne Hilfe rüber klettern konnte, waren solche die unter sich Wasser hatten und Ertrinken zählte für mich zu den unangenehmsten Sterbearten.
 

Ein Schrankenbaum unterbrach meine Gedanken. Das war es! Ich hatte oft genug in den Nachrichten gehört und gesehen, dass sich Selbstmörder gerne vor Züge schmissen. Der Zug konnte nämlich nicht ausweichen und war schwer zu bremsen. Ich sah den Schrankenbaum hinunter gehen und wartete bis der Zug vorbei gefahren war. Ab jetzt hatte ich eine Stunde bis der Nächste fuhr. Und um diese Uhrzeit befand sich auch keiner im Schrankenwärterhäuschen, der mich hätte aufhalten können. Ich wandte mich ab und in ging in den Park. Ich wollte mich noch von Mike verabschieden.
 

Wie ich erwartet hatte, stand er da auch schon, in seiner Hand einen Strauß Rosen, schwarze Rosen. Er sah aus als würde ihn etwas bedrücken.

„Du bist dabei einen sehr großen Fehler zu machen“, sagte er und gab mir den Strauß. Ich nahm diesen und sah ihn verwundert an. Wusste er es schon? Wusste er was ich vor hatte? Aber woher sollte er das wissen? Ich tat einfach unschuldig und log.

„Ach, echt? Welchen denn?“ Er warf mir einen finsteren Blick zu.

„Du willst dich umbringen.“, sagte er, „Aber du würdest damit nur deine Familie unglücklich machen. Und vor allem Luisa würdest du das Herz brechen.“ Empört erwiderte ich:

„Was erzählst du denn da?“, und ich wandte mich zum gehen, „Meine Eltern wollen sie meinetwegen weggeben. Ich wollte dir nur Lebewohl sagen.“ Ich warf ihm die Blumen vor die Füße und ging das letzte Mal die Strecke zum Bahnübergang.
 

Es war nicht schwer auf die Gleise zu gelangen. Mike war mir gefolgt und rief:

„Hannah, lass das bitte.“ Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um.

„Geh weg und lass mich in Ruhe. Es ist zu spät. Du kannst mich nicht retten.“

Ich hörte bereits die Schranken zu gehen und stellte mich dem Zug entgegen. Ich konnte ihn sehen, wie er schnell auf mich zu kam. Sekunden trennten ihn von mir. Er hatte das natürlich bemerkt, ließ ein lautes „Scheiße“ erklingen und stieß mich mit einem Schwung von dem Gleis ins stillgelegte Nachbargleis, wo ich mir dem Kopf hart an dem leeren, verwuchten Bahnsteig stieß. Ich sah nur noch den Zug vorbei donnern und spürte wie aus einer entstandenen Kopfwunde Blut trat, dann wurde ich bewusstlos.
 

Ich erwachte im Krankenhaus. Um meinen Kopf war ein Verband gewickelt. Ich öffnete vorsichtig die Augen und starrte in die erleichterten Blicke meiner Eltern. Luisa fehlte.

„Kind, was machst du nur? Was ist los mit dir? Was haben wir falsch gemacht?“, begann meine Mutter.

„Du hattest doch immer gesagt, es wäre alles in Ordnung. Warum hast du nicht mit uns gesprochen?“, ergänzte mein Vater.

„Wo ist Luisa“, fragte ich trocken. In dem Moment öffnete eine Krankenschwester die Zimmertür und Luisa lief an ihr vorbei.

„Die wollten mich gar nicht zu dir lassen“, rief sie, „Weil ich ja noch krank sei. Aber ich hab doch gar kein Fieber mehr.“ Sie grinste und kam zu mir. Ich erwiderte ihr Lächeln und wandte mich dann der Schwester zu.

„Wie geht es Mike? Was ist mit ihm?“

Sie sah mich verwirrt an.

„Mike Hahn“, ergänzte ich, „Der, der mich davor bewahrt hat, überfahren zu werden.“

Die Schwester dachte kurz nach.

„Hier ist keiner mit diesen Namen eingeliefert worden. Und man fand auch niemanden außer dir am Unfallort. Wobei mich der Name Mike Hahn leicht verwundert. Der ist nämlich vor einem Jahr hier eingeliefert worden, aber über Nacht weggelaufen. Wenig später hat man seine Leiche in Gleisnähe gefunden.“
 

Ich stutzte. Wie konnte ich jemand begegnet sein, der seit einem Jahr tot war?

„Hannah“, Luisa zog an meiner Hand, „Warum wolltest du mich verlassen?“

Sie klang traurig. Ich streichelte über ihren Kopf. Dann sah ich meine Mutter ernst an.

„Weil sie dich weggeben wollten.“

„Waaas?!“, rief mein Vater empört.

„Ich habe es alles mitgehört.“, erzählte ich weiter, „Mom hat es ihrer Freundin am Telefon gesagt. Es sei kein Platz für beide. Wenn die Große nicht wäre, könntet ihr die Kleine behalten, das waren ihre Worte. Aber das ging nicht und deswegen wolltest du, Dad, Luisa wegbringen. Und das wollte ich verhindern.“

Meine Mutter seufzte.

„Wir hätten es euch früher sagen sollen.“, begann sie zu erklären, „Ja, das habe ich gesagt. Aber es ging in dem Gespräch nicht um dich oder Luisa. Es ging um die beiden Sofas, die im Wohnzimmer stehen. Die nehmen einfach zu viel Platz weg, deshalb wollten wir eine verkaufen und da noch so viele schöne Erinnerungen an der großen Coach hingen, sollte halt die Kleine verkauft werden. In dem gewonnenen Stauraum wollte ich meinen Arbeitsplatz unterbringen, damit du und Luisa ein Zimmer bekommen könntet in dem ihr gemeinsam spielen und eure Zeit verbringen könnt. Die Kleine strahlt nämlich immer so vor Freude, wenn du dich um sie gekümmert hast.“

Ich hatte es missverstanden. Total missverstanden.
 

„Hannah, du musst aber von jetzt an immer bei mir bleiben“, sagte Luisa.

„Ja, das verspreche ich dir, meine Kleine“, erwiderte ich und küsste sie sanft auf den Kopf.

Ich hatte es begriffen. Sie brauchte mich. Ich war zwar nicht ihre Mutter, aber ich ähnelte ihr. Kein Wunder, denn ich war die Schwester ihrer Mutter. Das hatte Mike gemeint gehabt. Seine Worte hallten in meiner Erinnerung.

„Denn ich weiß, es gibt da jemanden der es dir sehr danken würde.“

Luisa war dieser jemand. Und ich hatte ihr auch zu danken. Sie gab mir halt und einen Sinn im Leben.
 

Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, versuchte ich etwas über Mike herauszufinden. Aber es gab nichts. Ich fand keine Adresse, keine Telefonnummer, nichts.

Erschwerend kam hinzu, dass meine Eltern mit uns zurück aufs Land zogen. Das würde zwar die Fahrzeit von meinem Vater zur Arbeit verlängern, aber tat das mir und Luisa auch gut. So konnte ich endlich wieder meine innere Ruhe finden. Wir bauten hinten im Garten in den Apfelbaum ein Baumhäuschen und zwei Schaukeln. Ich genoss das Landleben und vergaß Mike sogar, bis ich ihn in einem Traum wiedersah.
 

„Komm“, hatte er mir zu geflüstert und war mit mir in den Garten zu den Schaukeln gegangen, „Ich will dir erzählen wer ich bin und war.“, er hatte sich auf die eine Schaukel gesetzt und ich auf die Andere, „Es fällt mir schwer dir zu gestehen was ich getan habe. Aber bevor ich für immer gehe, sollst du es wissen: Ich war vor einem Jahr in einem Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Ich hatte mich überfahren lassen wollen. Aber der Fahrer wich mir aus und raste samt Beifahrerin in den Gegenverkehr. Beide verstarben, weil ich nicht leben wollte.“ Ich sah ihn ernst an.
 

„Ja, Hannah, ich habe deine Schwester umgebracht. Ich habe Luisa zur Waise gemacht. Und weil ich es nicht ertragen konnte, was ich angerichtet hatte; weil ich schuldig am Tod zwei Unschuldiger war, stahl ich mich in der Nacht aus dem Krankenhaus, in das sie mich gebracht hatten und ging zu den alten Bahnübergang. Ich habe mich wie du dem Zug entgegen gestellt. Nur hat mich niemand beiseite geschubst.“

„Aber warum hast du mich dann gerettet?“, fragte ich.

„Luisa“, entgegnete er, „Ich hatte zwar meinen Tod bekommen, aber ich fand keinen Frieden. Ich hatte drei Morde begangen. Drei! Die Eltern deiner Nichte und mich. Ich musste etwas tun, um meine Seele reinzuwaschen. Ich versuchte wenigsten Luisa glücklich zu machen. Ich beschützte sie und beobachtete sie. Dann aber bedrückte sie immer etwas und meine Arbeit schien zu scheitern. Sie flehte, dass du damit aufhören solltest, dir weh zu tun. Das hat sie mir in ihren Träumen erzählt. Sie wusste, dass du dich ritztest. Doch sie schwieg und erzählte es mir, den sie für einen Fantasiefreund hielt. Sie hat dich oft genug beobachtet durch das Schlüsselloch, wenn du im Badezimmer warst. Sie wollte, dass du damit aufhörst. Dass du für sie da bist und bleibst, denn sie sieht in dir ihre Ersatzmutter. Und so half ich ihr, dir zu helfen. Meine Schuld ist damit beglichen und ich kann gehen. Wir werden uns vielleicht irgendwann wiedersehen, aber bis es so weit ist, wünsche ich dir alles Gute.“

Er küsste meine Hand und verschwand.
 

Ich erwachte, weil Luisa in mein Zimmer gelaufen kam. Sie hatte ein Buch in der Hand. Märchen.

„Liest du mir vor?“, bat sie mich lieb. Ich setzte mich auf und bot ihr an sich zu mir aufs Bett zu setzten.

„Ja, ich les dir sogar sehr gerne vor.“, sagte ich und nahm das Buch, „Welche Geschichte hättest du denn gern?“

„Die Goldene Gans.“, antwortete sie und lächelte. Ich musste auch lächeln und schlug das Märchen für sie auf. Sie war zwar nicht meine Tochter, aber ich liebte sie fast wie eine. Und das hatte ich benahe für immer aus den Augen verloren. Jetzt wusste ich wieder, was für mich das wichtigste im Leben war.



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