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Briefe von Feliks

Briefsammlung
von

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Liebesbrief

Sowjetunion, 19XX

Lieber Alfred.

Wie geht es dir? Ich hoffe, du bist wohlauf. Bei dir ist es jetzt Sommer geworden, nicht wahr? Doch, natürlich weiß ich, welche Jahreszeit bei dir gerade ist. Was glaubst du, womit ich mir die Zeit vertreibe, wenn ich Langeweile habe? Wenn alle Böden sauber geputzt, alles Silber poliert und alle Berichte für Ivans Boss geschrieben sind? Wenn alle Bücher gelesen sind und Eduard mich zum dritten Mal im Schach geschlagen hat? Ich schließe die Augen und träume ein wenig vor mich hin.

Ich träume von Grillfesten hinter deinem Haus in den langen, schwülen Sommern. Von dem endlosen Himmel über dem ebenso endlos scheinenden Land und dem Wind, der über das Gras weht. Von dem Jubel nach einem Punkt beim Baseball, ein Spiel, das du mir unzählige Male zu erklären versucht hast und das ich bis heute nicht verstehe. Ich träume von den Festlichkeiten am Independence Day, von den zahllosen Flaggen und den glücklichen Menschen auf den Straßen. Glückliche Menschen, Alfred, und dazwischen du. Mit dem breitesten Grinsen von allen.

Ich bin mir nicht sicher, was ich am meisten vermisse. Wenn es kalt ist, denke ich, es ist der lange Sommer. Der Sommer hier ist zu kurz und dafür unbarmherzig heiß, anders als bei dir, wo die Wärme einen unendlichen Trost verkörpert. Wenn es schneit, denke ich, es ist der blaue Himmel, den ich vermisse. Wenn wir gemeinsam zu Mittag essen und diese Stille über uns liegt, diese unangenehme, angespannte Stille, die Ivan mit allen Kräften zu durchbrechen versucht (er scheitert jedes Mal ungeschickt), dann denke ich, es sind die glücklichen Menschen. Die lachenden Gesichter und das Gefühl, für einen Tag einfach hinaus zu gehen und irgendetwas zu feiern, obwohl der Grund dafür schon Jahrhunderte zurück liegt. Und wenn ich (wie jetzt) allein bin, wenn es dunkel ist, Raivis schon schläft und Eduard noch nicht ins Bett gekommen ist, weil er noch irgendwelchen Papierkram zu erledigen hat... was denkst du, Alfred? Was denkst du, was ich dann vermisse?

Ich weiß, dass es bei dir Sommer geworden ist. Heute waren es 27 Grad, aber für die nächsten Tage sind steigende Temperaturen angesagt. Bei dir ist es jetzt etwa fünf Uhr am Nachmittag, während ich hier sitze und diesen Brief schreibe. Von dir selbst habe ich seit Ewigkeiten nichts mehr gehört, also musste ich mir diese Informationen aus anderen Quellen beschaffen. Gut, dass Ivan gute Spione hat. Gut für mich. Du solltest dich allerdings in Acht nehmen, Alfred, denn sicher können sie auch brisantere Informationen an mich und damit an Ivan weiterleiten als den Wetterbericht.

Aber warum warne ich dich hier – ich stehe gleich da wie der Klassenfeind, und das kann ich mir nicht leisten. Ich habe ohnehin das Gefühl, dass wir alle bis zu Ivan hinauf unter Generalverdacht stehen. Das letzte Mal, dass ich mich nicht bedroht gefühlt habe, dürfte der letzte Tag gewesen sein, den ich mit dir verbracht habe. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, Alfred. Vielleicht schon in ein paar Wochen. Ivan ist diesmal entschlossen, zur Weltkonferenz zu gehen, und wenn ich mich gut genug benehme (ein braves Hündchen bin), nimmt er mich vielleicht mit. Natürlich wird es nicht für mehr reichen als für ein paar heimliche Worte auf der Toilette, wenn überhaupt. Aber das wäre es mir schon Wert, Alfred. Selbst, wenn wir keine Gelegenheit zum Reden finden sollten – einfach dein Gesicht wieder zu sehen, würde mir schon reichen. Dein glückliches Gesicht.

Wenn wir uns nicht sehen, sehen wir uns wohl nicht. Ich weiß, ich bin nur irgendjemand, der einmal für dich gearbeitet hat, dem du geholfen hast wie so vielen vor und so vielen nach mir. Aber bitte – behalte mich in guter Erinnerung, Alfred. Mehr verlange ich gar nicht. Nur dass du dich manchmal an mich erinnerst und nicht denkst, „ach ja, irgendeiner von diesen Sowjets“, sondern lächelst und sagst, „ach ja, Toris“.
 

Behalte mich lieb, Alfred. Ich behalte dich auch lieb. Dein

Toris
 

Dieser Brief wurde nie abgeschickt.

Entschuldigungsbrief

Italien, 20XX

Caro Ludovico.

Du hast seit fast zwei Wochen nicht angerufen! Magst du mich nicht mehr? Bitte sag, dass du mich noch magst! Ich wollte dich wirklich nicht verletzen! Ich habe gar nicht verstanden, was ich falsch gemacht hatte, aber ich habe Romano alles erzählt, und nachdem er mit fluchen fertig war, hat er mir erklärt, was dich so wütend gemacht hat. Also, ich glaube, er hat es mir richtig erklärt. Und es tut mir Leid! Ich wollte dich wirklich nicht wütend machen, Ludovico, wirklich nicht.

Wir wollten doch einfach ein schönes Wochenende zusammen haben, nachdem wir uns so lange nicht gesehen hatten. Es tut mir Leid, wenn ich dir dein Wochenende verdorben habe, Ludovico, das wollte ich nicht! Ich meine, es fing schon an, als du mir die Tür geöffnet hast und ich dich geküsst habe. Das macht man doch so, Ludovico, und es war ja nicht einmal auf den Mund, nur auf die Wangen. Aber Romano sagte, das hättest du wohl seltsam gefunden. Warum findest du es seltsam? Das ist doch ganz normal, und bisher hast du ja auch nichts dagegen gesagt.

Aber von da an hast du dich ein bisschen seltsam benommen, Ludovico, obwohl ich da noch nicht wusste, warum. Wir haben hinter dem Haus ein bisschen Fußball gespielt, zu Abend gegessen und zusammen ferngesehen. Dass ich dich beim Fußball ein paar Mal umarmt habe, war nur, weil ich mich über das Tor gefreut habe, Ludovico. Es war wirklich nicht böse gemeint! Und dafür, dass ich deine Tischdecke mit Soße bespritzt habe, habe ich mich doch sofort entschuldigt. Das hast du auch ein bisschen seltsam aufgenommen. Hat es dich gestört, dass ich noch Soße am Mund hatte? Ich habe doch nur gesagt, wenn sie dich stört, kannst du sie gerne wegmachen – oder ich lecke sie selbst ab, und dann habe ich sie abgeleckt. Und du hast mich mit ganz großen Augen angesehen und nichts gesagt. Romano meinte, du hättest wohl dreckige Gedanken dabei gehabt. Das muss für einen Ordnungsfanatiker wie dich wirklich schlimm gewesen sein, Ludovico, und das tut mir Leid! Ich wollte nichts dreckig machen, deine Tischdecke nicht und deine Gedanken schon gar nicht.

Und dann bin ich abends in dein Bett gekrochen, ohne irgendetwas an. Ich konnte doch nicht ahnen, dass du das peinlich finden würdest, Ludovico. Das tut mir Leid! Es war wirklich nicht böse gemeint. Du hast mich sogar noch gefragt, was ich da tue. Das habe ich Romano alles ganz genau erklärt, aber an der Stelle konnte er mir auch nicht mehr weiterhelfen. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, Ludovico. Du hast gefragt, was willst du?, und ich habe geantwortet, mit dir schlafen. Das sagt man doch so, oder? Romano meinte, ich hätte wohl irgendetwas verwechselt und es wäre etwas furchtbar Unhöfliches gewesen, was ich gesagt habe. Ich meine, Deutsch ist schon ein bisschen kompliziert, und ich bin nicht so ein ganz helles Kerlchen, also kann es schon sein, dass ich etwas Unhöfliches gesagt habe. Aber ich wollte das nicht, Ludovico! Ich habe es sicher nicht böse gemeint!

Bitte verzeih mir, ja? Wenn du willst, kannst du jederzeit vorbeikommen und ich koche dir etwas Gutes, und dann stellen wir ein Zelt im Garten auf und campen, und das wird sicher ganz toll! Also bitte, bitte sei mir nicht mehr böse, weil ich es wirklich nicht so gemeint habe. Es tut mir Leid, Ludovico! Bitte sei nicht böse.
 

Dein

Feliciano.
 

Dieser Brief wurde vom Empfänger zögernd geöffnet, hastig gelesen und in seine Hosentasche gestopft, und so kehrte er zwei Tage später mitsamt dem Empfänger nach Italien zurück.

An einen Toten

Österreich, 18XX

Caro Sacro Imperio Romano,

ich bin es, Chibitalia. Erinnerst du dich noch? Ich bin das Hausmädchen von Herrn Roderich. Wir haben uns zum Abschied geküsst. Ich habe dir mein Höschen geschenkt, erinnerst du dich? Ich hoffe, das tust du.

Ich habe Erzsébet gefragt, ob du dich wohl an mich erinnerst, obwohl du tot bist. Sie hat gesagt, dass du dich natürlich erinnerst. Du sitzt jetzt nämlich oben auf einer Wolke und siehst auf mich hinunter und siehst zu, was ich mache. Erzsébet sagt, du passt auch auf, dass mir nichts passiert. Ob das stimmt, weiß ich nicht so genau. Neulich ist mir nämlich etwas passiert, da bin ich in den Fluss gefallen, als wir die Wäsche gewaschen haben, und Erzsébet musste mich wieder herausfischen. Das Wasser war noch sehr kalt, denn es ist ja Frühling, es hat gerade erst getaut. Ich musste ein paar Tage lang im Bett bleiben, weil ich mir eine Erkältung geholt hatte. Vielleicht hattest du da auch nur gerade nicht hingesehen, oder du hast geschlafen. Muss man noch schlafen, wenn man tot ist?

Aber mach dir bitte keine Sorgen um mich! Erzsébet hat sich sehr gut um mich gekümmert, als ich krank war. Herr Roderich hat auch ein paar Mal nach mir gesehen. Er war sehr still, noch stiller als sonst. Ich glaube, er hat sich Sorgen gemacht, ich könnte auch sterben, wie du. Ich habe Herrn Roderich gefragt, ob er weiß, warum du mir nicht geholfen hast, bevor ich ins Wasser gefallen bin, und er hat mich angesehen und seine Unterlippe hat gezittert.

„Weil er tot ist, ganz tot, und weil er nie wieder zurückkommt, um dir bei irgendetwas zu helfen“, hat er gesagt, und dann ist er aufgestanden und gegangen, ohne sich noch einmal zu mir umzusehen. Ein bisschen später habe ich gehört, wie er unten im Salon Klavier gespielt hat. Das Stück klang sehr tief und ein bisschen gruslig, aber auch sehr traurig.

Das hat mich dann nachdenklich gemacht, ich meine, dass du doch nicht zurückkommst. Ich habe mich gefragt, ob du nun auf mich aufpasst oder nicht. Als ich fast wieder gesund war, ist Bruder Francis zu Besuch gekommen, und ich habe ihn gefragt, was tot eigentlich bedeutet.

„Es bedeutet nur, dass der Junge jetzt nicht mehr hier ist, wo du ihn sehen kannst. Er ist jetzt an einem anderen Ort, und ihr könnt einander nicht erreichen. Aber ich bin sicher, er sieht dir noch immer zu, Chibitalia. Und ich bin auch sicher, er will, dass du glücklich bist.“

Das fand ich schön, dass er das gesagt. Findest du nicht auch? Ich denke, du sitzt jetzt irgendwo auf einer Wolke und siehst mir zu, was ich tue. Im Moment schreibe ich diesen Brief, wie du siehst, und ich versuche, so wenig Rechtschreibfehler wie möglich zu machen. Ich bin fast glücklich, siehst du? Nur manchmal weine ich noch ein bisschen, aber nur abends im Bett, wenn niemand es sieht oder hört. Denn ansonsten versuche ich, fröhlich zu sein. Das muntert Erzsébet nämlich auf, und Herrn Roderich auch. Er war ziemlich traurig, nachdem du gestorben warst, glaube ich. Aber keine Angst, ich passe schon auf Herrn Roderich auf. Auf Erzsébet auch.

Vielleicht ist es die Aufgabe der Lebenden, aufeinander aufzupassen. Und deine Aufgabe ist es nur, auf einer Wolke zu sitzen und zuzusehen. Ich hoffe, dir wird nicht langweilig, wenn du nur zusehen und nichts tun kannst. Deswegen werde ich jetzt gleich etwas Lustigeres tun, denn Briefe schreiben ist ja eigentlich nichts, wobei man jemandem gerne zusieht, oder?

Ich habe dich lieb, Sacro Imperio Romano. Bitte vergiss mich nicht und sieh mir weiter zu.
 

Dein

Chibitalia
 

Dieser Brief wurde auf dem Schreibtisch liegen gelassen und von Chibitalia sofort wieder vergessen. Erzsébet fand ihn kurze Zeit später und hob ihn auf, und nachdem Roderich ihn gelesen hatte, hatte er plötzlich etwas im Auge.

An den besten Freund

Polen, 17XX

Lieber Liet,

hier schreibt Feliks. Damit hast du nicht gerechnet, oder? Ha! Briefe an Tote schreiben, dass ich nicht lache! Das kann doch jeder. Sieh mich an, Liet: Ich bin ein Toter, der Briefe an Lebende schreibt! Das soll mir erst einmal einer nachmachen!

Wie komme ich jetzt darauf? Ach ja. Ich bin neulich morgens aufgewacht und habe die Leute darüber reden hören, ich wäre tot. Und das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, weil, ich bin überhaupt nicht tot und wer was anderes sagt, soll total mal herkommen! Dann sehen wir ja, wie tot ich bin.

Ich hoffe nur, du glaubst ihnen nicht, Liet. Wenn doch, enttäuschst du mich ziemlich. Ich meine, ich bin dein Freund, und du hast gefälligst dem zu glauben, was ich sage. Nicht die anderen. Schon gar nicht, wenn es um so etwas geht wie, dass ich tot sein soll. Bin ich übrigens nicht, habe ich das schon erwähnt?

Sicher willst du wissen, wieso ich überlebt habe. Nun... da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie haben mich auseinander gerissen, die einzelnen Teile verbrannt und die Asche in alle Winde verstreut. Ah, und das war ein großer Fehler! Du weißt doch, was passiert, wenn ein Phönix verbrennt, Liet? Er wird aus seiner eigenen Asche wiedergeboren. Und genau das habe ich getan, ich habe mich wiedergeboren, und deswegen bin ich wieder am Leben. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet, oder? Haha! Sie kennen mich schlecht.

Aber du kennst mich, Liet. Ich hoffe wirklich, es geht dir gut und Ivan ist nicht allzu fies zu dir. Du bist ja ein kluges Köpfchen und weißt sicher, wie man ihm aus dem Weg geht. Wenn nicht, wirst du es lernen. Nur den Kopf nicht hängen lassen, Liet. Kinn hoch, Brust raus! Habe ich auch so gemacht. Ich lebe jetzt hier in dieser kleinen Stadt, deren Namen ich dir nicht verraten will – nicht, dass ich dir nicht vertrauen würde! Aber, weißt du, wenn Ivan rausfindet, dass ich dir einen Brief geschrieben habe, wirst erst einmal du voll Ärger kriegen, und dann wird er den Namen der Stadt lesen und seine Soldaten schicken und sie werden die ganze Stadt niederbrennen, und dann kriege ich voll Ärger. Also lasse ich es lieber. Glaub mir trotzdem, Liet, wenn ich dir sage: Es geht mir gut. Ich habe mein Bett und es gibt fast genug zu Essen. Es geht mir gut.

Manchmal sitze ich abends am Feuer und geige ein bisschen vor mich hin. Es macht allein nicht so viel Spaß wie mit dir zusammen, Liet. Jetzt sag nichts, ich sage, du hast eine gute Stimme, und dann stimmt das auch. Ich traue mich nicht, allein zu singen. Das weißt du doch, oder? Nur mit dir. Es ist alles ein bisschen schwieriger ohne dich, Liet. Da sind so viele Sachen, die ich mich allein einfach nicht traue. Aber wie gesagt, eines Tages komme ich und rette dich. Dann sollst du mal sehen, was ich kann. Und Ivan soll es übrigens auch sehen.

Und wenn sie dir sagen, ich wäre tot, Liet – glaub ihnen kein Wort. Du bist mein bester Freund auf der Welt, Liet, und ich würde dich niemals anlügen. Wenn ich dir sage, ich lebe noch, dann tue ich das auch. Eines Tages komme ich und rette dich, oder so. Gib die Hoffnung nicht auf. Und bitte glaub ihnen kein Wort.
 

Dein

Feliks
 

Dieser Brief wurde nie geschrieben.

An Gott, oder wer auch immer da oben ist

Sowjetunion, 19XX

An den, der dort oben sitzt.

Ich schreibe diesen Brief, weil ich mich beschweren möchte. Leider weiß ich nicht genau, an wen ich mich wenden soll. An Gott? Ich bin mir nicht sicher, ob es Gott gibt. Toris sagt, es gibt ihn. Eduard sagt, es gibt ihn nicht. Eduard ist ziemlich schlau und weiß immer alles, aber Toris scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Und wenn ich Ivan frage, erzählt er mir etwas von Opium. Das finde ich komisch, weil ich das nicht verstehe. Naja. Aber ich schreibe jetzt an dich, ob du nun Gott heißt oder Opium oder wie auch immer.

Ach, richtig, ich wollte mich beschweren. Ja, zuallererst: Wenn Ivan mir etwas erklärt, verstehe ich ihn nie. Aber ich denke, daran kannst du da oben nicht viel ändern. Vielleicht könntest du ihm mal im Traum erscheinen und ihm sagen, er soll mir Dinge so erklären, dass ich sie verstehe. Aber verrat ihm bloß nicht, dass ich dich geschickt habe, ja? Dann bekomme ich bestimmt Ärger. Ivan mag es nicht, kritisiert zu werden.

Zweitens: Heute Morgen ist die Sonne nicht aufgegangen. Das finde ich unmöglich, und ich denke, wenigstens dagegen solltest du doch etwas tun können. Wir sind nämlich im letzten Jahr ein Stück weiter nach Norden gezogen, weil Ivans Boss das so wollte. Vorher haben wir in Sankt Petersburg gewohnt, Verzeihung, Leningrad meine ich. Es ist eine wirklich schöne Stadt, und es gibt nur ein paar Tage im Winter, an denen die Sonne nicht aufgeht. Aber jetzt sind wir weiter oben, und Ivan sagt, es bleibt noch mindestens zwei Wochen lang dunkel. Du hast keine Ahnung, wie sehr Dunkelheit mich traurig macht. Es ist wirklich ziemlich unschön. Und da wäre es wirklich gut, wenn du dafür sorgen könntest, dass die Sonne wieder aufgeht. Beschwer dich nicht, das wäre zu schwer, denn erstens bist du Gott (oder so), und zweitens ist das immer noch einfacher, als Ivan dazu zu überreden, wieder umzuziehen. Ivan zu etwas zu überreden ist ungefähr das schwerste auf der Welt.

Ach ja, beschweren wollte ich mich auch noch darüber, dass ich seit ein paar Jahren nicht mehr nach Hause konnte. Und warum? Weil mein Haus nicht mehr da ist. Du musst dich erinnern, denn ich denke mal, du bist allwissend, oder? Es war ein kleines Häuschen aus Holz, ziemlich nah an der Ostsee, nur ein paar Meter bis zum Strand. Und vor ein paar Jahren gab es plötzlich einen großen Sturm, und das ganze Haus ist weggeflogen. An sich wäre das kein Problem, weil ich mir ein neues kaufen könnte, aber jetzt habe ich keinen Grund mehr, ans Meer zu fahren. Ivan sagt, wenn mein Haus sowieso weggeflogen ist, kann ich auch gleich bei ihm bleiben. Ich will aber nicht immer bei Ivan bleiben, und deshalb ist es sehr ungerecht, dass mein Haus weg ist. Hättest du es nicht einfach stehen lassen können?

So. Ich hoffe, dort oben sitzt jemand, der etwas mit meinen Beschwerden anzufangen weiß. Wenn nicht, dann weiß ich nämlich nicht mehr, was ich noch machen soll. Vielleicht werde ich dann aufhören, an Gott oder so zu glauben, und stattdessen Eduard bitten, mir den Logarithmus zu erklären. Und Logarithmen machen mir Angst, also bitte beweise mir, dass es irgendjemanden da oben gibt. Danke im Voraus.
 

Mit den freundlichsten Grüßen,

Raivis Galante.
 

Dieser Brief kam als „unzustellbar“ zurück und Raivis glaubte fortan an den Logarithmus.

An einen Feind

Weißrussland, 20XX

Zum Teufel nochmal, Toris, hör endlich auf, mir Briefe zu schicken!

Wenn ich je wieder einen Umschlag erhalten sollte, auf dem dein Absender steht, werde ich ihn verbrennen. Nein – ich werde ihn zerreißen, Stück für Stück ins Feuer werfen, danach die Asche zusammenkehren und sie über dem nächsten Fluss verstreuen. Nein, ich werde deine Liebesbriefe nicht mehr lesen.

Dieses Gedicht neulich war das allerletzte. Das Versmaß war diesmal in Ordnung, und wäre ich eine andere als die, um die es in dem Gedicht ging, hätte ich gesagt: Hübsch. Total kitschig, aber romantisch und voller echter Gefühle. Sehr hübsch, Toris. Aber leider weiß ich genau, dass ich das Mädchen bin, das du beschreibst. Die mit den Augen, wie Kornblumen so blau. Kornblumen? Ich hasse Kornblumen, nur damit du es weißt. Und außerdem hasse ich dich.

Nein, Toris. Du liebst mich, und das ist wirklich rührend. Aber darf ich dir einen Rat fürs Leben geben? Werde endlich erwachsen, werde ein Mann. Du bemühst dich mittlerweile seit guten sechshundert Jahren um mich, und du hast noch immer nicht verstanden, dass es schon vor spätestens fünfhundert Jahren Zeit war, aufzuhören. Ich verachte Männer, die nicht wissen, wann es genug ist. Und ja, Toris, es ist genug. Nachdem ich dich in Ivans Haus jahrelang ignoriert habe, nachdem ich dir unzählige Male einen Korb gegeben habe, ist es wirklich genug. Einmal hatte ich so viel Mitleid mit deiner erbärmlichen Existenz, dass ich mich auf ein Rendezvous mit dir eingelassen habe. Und nein, Toris, egal, was du im Nachhinein darüber sagst: Wenn sie ihm noch vor dem Essen alle Finger bricht, ist das kein gelungenes Date. Ich weiß ja nicht, wie du ein gelungenes Date definierst... alter Masochist.

Es ist längst vorbei, Toris, längst zu spät. Wenn du vor fünfhundert Jahren eingesehen hättest, dass du keine Chancen bei mir hast, hätte ich es dir erlaubt, dich in Würde zurückzuziehen. Aber du weißt überhaupt nicht mehr, was Würde ist, oder? Du erinnerst dich doch an den einen Abend in Vanyas Haus, an dem wir alle ein wenig getrunken hatten... das heißt, ich war so gut wie nüchtern. Ich weiß, wie viel ich vertrage, ich weiß, wann es genug ist – da haben wir es schon wieder, Toris, siehst du? Aber du wusstest nicht, wann es genug war, du hast ein oder zwei Gläser zu viel getrunken, und danach hast du mich angefasst. Doch! Ich gebe an dieser Stelle offen zu, dass du nur einen Arm um meine Hüfte gelegt hast. Mehr nicht. Aber es war eklig, es hat mich erschreckt, und ich habe Zeter und Mordio geschrien. Erinnerst du dich daran, Toris? Ich weiß es nicht. Aber sicher erinnerst du dich daran, wie wütend Vanya geworden ist, weil er es hasst, wenn jemand seine Schwestern unglücklich macht. Vanya ist ein großartiger Mann, und er war noch nicht so betrunken, als dass er dir so etwas hätte durchgehen lassen. Ich bin sicher, du erinnerst dich noch an deine verdiente Abreibung danach. Die Narben dürftest du ja noch haben.

Alles, was ich sagen will, Toris, ist, dass das hier mein erster und letzter Brief an dich ist. Hör auf, mir zu schreiben. Ich werde keinen deiner Briefe mehr lesen. Von mir aus schreibe sie, aber schick sie nicht ab, sondern spar dir die Briefmarke. Wenn du dich an mich erinnern willst, sieh dir die Narben an deinen Fingern an. Nein, ich habe dir nicht die Finger gebrochen, damit du eine Erinnerung an mich hast. Ich hasse dich, Toris. Lass mich einfach in Frieden.
 

Keine höfliche Abschiedsformel für dich.

Natalia
 

Dieser Brief wanderte mitsamt Umschlag in eine Kiste unter Toris' Bett, zusammen mit einigen Haarsträhnen, die er von Natalias Bürste gestohlen hatte. Ja, er liebte sie über alles.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Yami-Latias
2012-07-23T18:28:04+00:00 23.07.2012 20:28
Mein absoluter Lieblingsbrief von den ganzen
Am meisetn gefällt mir wie du den Schluss beschrieben hast ohne übermäßig viel Kitsch und den ganzen Scheiß...
Die anderen waren auch sehr schön aber das hat mich am meisten berührt
Von: abgemeldet
2011-09-24T18:57:13+00:00 24.09.2011 20:57
Eigentlich schade, dass dies schon der letzte Brief ist. Ich mochte sie alle ziemlich gern, den einen mehr, den anderen weniger.
Also hier finde ich die Idee gut. Mir wäre zwar bei "Feind" spontan, eher was anderes eingefallen, aber wo wär denn der Witz, wenn du das erstbeste genommen hättest? Und die Umsetzung war mal wieder solide :)
Aber (ja, konstruktive Kritik :D):Erstmal find ichs seltsam, dass Natalia die Briefe überhaupt gelesen haben soll. Und, dass sie nur die Briefe verbrennen und in Fetzen reißen will. Und die Stelle mit dem "Anfassen" ist ein bisschen unklar geworden. Sie gibt offen zu, dass er nur(!) einen Arm um sie gelegt hat. Offen zugeben mit dem "Doch" und "nur" wirkt etwas komisch.So als ob sie wollte, dass es weiter gegangen wäre. Hmm. Vielleicht versteh ichs nur falsch.
Von:  deisabri
2011-09-18T19:39:34+00:00 18.09.2011 21:39
genial!
einfach nur zum totlachen XD


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