Die Locke
"Vee~"
Felicianos Hand strich sanft durch die Haare seines Bruders. Gewöhnlicherweise wären Reaktionen gefolgt, wie das Wegschlagen seiner Hand, wildes Gestikulieren bei genervtem Zetern oder schlichtweg ignorantes Knurren. Aber diesmal zeigte Lovino keinerlei Reaktionen. Der Grund:
Er schlief.
Vorsichtig kraulte Feliciano Lovinos Kopf weiter
und träumte dabei vor sich hin: "Veee~"
Sie hatten gerade eine lange Reise hinter sich gebracht, war die letzte Welt Konferenz doch tatsächlich in Russland gewesen.
Auf dem Flug nach Hause, nach Italien, hatte Feliciano geschlafen. Jedes mal wenn er ein Flugzeug betrat überkam ihn das plötzliche Gefühl schlafen zu müssen! Wahrscheinlich weil sein Körper von vorne herein wusste, dass er sich davor fürchten würde abzustürzen...
Jedenfalls hatte Lovino kein Auge zu getan. Die ganze Zeit schon arbeitete er an Formularen, um die sich Feliciano eigentlich auch kümmern sollte.
Und weil Lovino es sich einfach zu lange aufgeschoben hatte sie zu erledigen, nahm er sich eben etwas Arbeit mit. Damit ihm die Zeit wohl nicht zu lange wurde, per se.
Als Feliciano bei der Landung wieder erwachte, arbeitete Lovino immer noch.
Er hatte auch die ganze darauf folgende Nacht hindurch gearbeitet, und wäre auf der Welt Konferenz fast eingeschlafen... aber wichtiges hatte er sowieso nicht verpasst.
Felicianos Hand glitt im immer selben Rhythmus durch die Haare seines Bruders.
Es war wirklich schön mal die Zeit für so etwas zu finden... auch wenn Feli eigentlich fast immer dazu Zeit finden könnte, aber Lovino eben nicht (oder anders: Der wollte es nicht.)
Er bedauerte das sehr und ließ diesem Gedanken mit einem erleichtertem Seufzen Luft: "Veeh~"
Schließlich liebte er seinen Bruder doch sehr.
Dass Lovino während des Fluges, in der Nacht darauf und bei der Welt Konferenz nicht geschlafen hatte, hatte ihm lediglich den Nachteil gebracht unkonzentriert zu sein.
"Wenn wir zu Hause sind", hatte er mit verschränkten Armen und genervtem, übernachtigen Blick gesagt: "Werde ich erstmal ein Bad nehmen. Ich fühle mich furchtbar."
Und kaum hatten sie auch den Rückflug (mehr wach als schlafend) überstanden und die Wohnung betreten, hatte Feliciano die Couch eingenommen.
Das hatte zu einer kurzen, ermüdeten Standpauke seines Bruders geführt.
Aber diese Standpauken machten Feliciano inzwischen nicht mehr sehr viel aus. Schließlich war Lovino sein Bruder, also war er es gewohnt...
Trotzdem wünschte er sich manchmal dass Lovino vielleicht etwas netter sein könnte.
Nachdem sich Lovino aus der Küche ein Glas Limonade spendiert hatte, hatte er sich zu Feliciano auf die Couch gesetzt. Anscheinend nur, um von ihm angestarrt zu werden...
Sein Kopf schwenkte zur Seite und musterte seinen Bruder genervt: "Sag mal, musst du mich unbedingt so blöd anstarren? Lass mich einfach meine Limo austrinken, dann geh ich sowieso wieder."
Feliciano hatte nichts darauf gesagt, nur vorsichtig den Kopf zurück gezogen und die Fingerspitzen aneinander getippt.
"Aah~", und das klare Knallen des Glases auf der Tischplatte verrieten ihm, dass die Limonade nun zu Neige getrunken worden war.
Er lächelte Lovino liebevoll an, nahm ihn in den Arm: "Bruder? Fratello~?", zwitscherte er leise: "Wann hast du das letzte Mal geschlafen? Du siehst so müde aus, vee~"
Lovinos unkonzentrierter Blick lag auf dem Glas. Er wehrte sich nicht gegen die Umarmung. Er sah seinen Bruder nicht einmal böse an.
Alles was er tat, war seinen Kopf leicht zu neigen und zu sagen: "Vor zwei Tagen... "
Dabei war seine Stimme so gebrochen und leise, dass Feliciano fürchtete ihn beleidigt zu haben.
Vorsichtig löste er die Umarmung und rutschte ein wenig zur Seite um sein Brüderchen zu mustern.
Lovino hatten kaum sichtbare Augenringe, einen müden, starren Blick der irgendwie leer wirkte und das Gähnen, dass er nun dem Limonaden Glas entgegen schleuderte bewies nur, dass der Italiener absolut übermüdet war.
Feliciano öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch sein erstes Wort erstickte sofort.
Lovino seufzte laut auf, schloss die Augen und lehnte sich träge auf Felicianos Körper.
"Trag mich.", forderte er herrisch und war kurz darauf auch schon eingeschlafen.
Ein wenig verdattert sah Feliciano Lovinos Oberkörper dabei zu, wie er von seiner Schulter abrutschte und auf seinem Schoß landete.
Instinktiv zog Lovino seine Beine auf das Sofa hinauf und streckte die Arme kurz durch, nur um sie dann als Kissen zu nutzen.
So kam es, dass Feliciano nun hier saß und ganz in Ruhe- und ohne Angst vor einer Standpauke zu haben- Lovinos Haare kraulte.
"Veeee~", er genoss diesen Moment. Es fühlte sich sehr familiär an, wo Lovino doch sonst immer so verschlossen wirkte...
Sein Blick glitt über Lovinos dunkel braune Haare und blieb an dessen Locke haften.
"Eigentlich... finde ich dass wir zwei uns ziemlich ähnlich sehen...", murmelte Feliciano ihm ganz leise zu und stupste die Locke an. Sie wiegte sanft hin und her und verharrte dann wieder in ihrer Ausgangsposition.
"Ve?", Feli neigte den Kopf leicht. Kaum, dass er dieses abstehende Haarteil berührt hatte, hatte Lovino leise geknurrt. Er musterte dessen Gesicht neugierig und sah, dass er die Augenbrauen kurzweilig genussvoll zusammen gezogen hatten.
"Hmmm...", nochmal stupste er das Löckchen an, und wieder bekam er dieselbe Reaktion. Sogar ein wenig deutlicher, als er sie in die Hand nahm...
Kurze Zeit später verstand Feliciano, wieso.
Peinlich berührt ließ er von den Haaren seines Bruders wieder ab und sah hochrot auf ihn hinab...
Wer hätte gedacht, dass sie sich sogar in dieser Hinsicht ähnlich waren...
