Das Richtige zum Abschied
Und hier ist es schon: Das letzte Kapitel von Kakao.
Ich danke Euch für Eure Begleitung und Eure Kommentare und hoffe, dass Ihr beim Lesen soviel Spaß hattet wie ich beim Schreiben :)
Bis hoffentlich zur nächsten Geschichte *winke winke*!
Liebe Grüße, Lung
P.S. Ganz eventuell ist es möglich, dass zu Tim und Vukan irgendwann noch ein paar One-Shots auftauchen. Mal schauen...^^
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Schweigend gingen sie zurück in den Laden. Während Vukan die Nachtbeleuchtung einschaltete, ein paar Wasserflecken vor der Tür wegwischte und ihre Kakaobecher abspülte, sammelte Tim sein klammes T-Shirt und den Comic ein.
Seufzend ließ er seinen Blick durch das Geschäft, über all die Möbel und Vasen und das benutzte Schachspiel schweifen. Ein letztes Mal streichelte er das weiche Polster des Ohrensessels. Abschiede hatte er schon immer verabscheut. Aber so schwer war es ihm noch nie gefallen. Zum Glück war es kein Abschied für immer, sondern nur bis zum nächsten Tag. Er konnte es schon jetzt kaum erwarten.
Als er nach vorne zurückkehrte, stapelte Vukan einige Papiere aufeinander und sprach mit Amor, der sich – Gott weiß, unter welchen Anstrengungen – zurück auf den Ladentisch gewuchtet hatte. Er beäugte Vukan streng und sein Schwanz peitschte die Kasse.
„…weiß, dass wir schon längst hätten schließen sollen. Aber ich mach ja, siehst du? Gleich bin ich weg und du kannst draußen spazieren gehen.“
Tim wünschte, er könnte einfach hier stehen bleiben, zu einer Statue werden und Vukan ewig und einen Tag beim Aufräumen zusehen. Aus irgendeinem Grund kam ihm diese Vorstellung wie das pure Paradies vor. Auch, wenn er dann nie wieder Comics lesen könnte.
Beim Klang der Schritte des Spinnenflüsterers schaute der Antiquitätenjunge auf.
„Hey…,“ sagte er und lächelte.
„Hey…,“ erwiderte Tim und lächelte zurück, „Alles klar?“
„Jap. Alles klar. Bin soweit fertig. Hast…du alles?“
Tim nickte und zeigte ihm den Comic und das T-Shirt.
„Ist dein T-Shirt trocken?“, erkundigte sich Vukan und trat unter Amors stechendem Blick vom Ladentisch weg und auf Tim zu.
„Naja…,“
„Nicht?“
„Nicht so ganz. Aber das wird schon gehen. Ich hab’s ja ni–,“
Vukan schüttelte den Kopf.
„Nein. Behalt meinen Pullover an. Nicht, dass du auf dem Heimweg frierst. Ich gebe dir eine Tüte für dein T-Shirt mit.“
„Echt?“, fragte Tim.
Vukan grinste und nickte.
„Klar. Für den Spinnenflüsterer immer. Und du…kommst ja morgen schon wieder. Da kannst du ihn mir mitbringen.“
Tim wurde ganz warm ums Herz. Er nickte und grinste zurück.
„Okay. Das mach ich. Dann–,“
„Warte – die Tüte…!“
„Ja, richtig…,“
Vukan eilte um den Ladentisch herum, bückte sich und holte eine weiße Plastiktüte hervor. Auf beiden Seiten stand in schlichtem Schwarz Antiquitäten Hellbing geschrieben. Vukan kam zurück und gab Tim die Tüte.
„Bitte.“
„Danke…,“ murmelte Tim und stopfte T-Shirt und Comic hinein.
Verklärt lächelnd betrachteten sie einander. Der Moment schien nicht enden, sondern den Abschied hinaus zögern zu wollen. Tims Herz pochte sehr schwer und leidend in seiner Brust. Trotzdem gab er sich einen Ruck.
„Dann…,“ begann er nochmal und versuchte, sich nicht in Vukans Augen zu verlieren, „Dann… Tschüss. Oder? Bis…morgen.“
„Ja, bis morgen…,“ antwortete Vukan und nickte entschlossen, „Schön, dass du… Ja. Das sagte ich ja schon…,“
„Ja, sagtest du…,“
Verlegen grinsend senkten sie die Köpfe. Vukan leckte sich über die Unterlippe und machte Tim den Abschied noch viel schwerer. Wie sollte er diesen Laden nur verlassen? Wie sollte er sich nur von diesem Kerl trennen, wenn der einfach so…so…
Abermals, zum gefühlt hundertsten Mal, sahen sie sich in die Augen und schwiegen. Tim bemühte sich, seine Beine in Gang zu kriegen. Aber sie schienen festgewachsen zu sein. So was schafften normalerweise nur Comics.
„Mach’s…gut…,“ startete Vukan einen neuen Versuch.
„Du auch…,“ entgegnete Tim.
Er riss sich zusammen und machte einen Schritt rückwärts.
Aber sollte das echt alles gewesen sein? Ein paar plumpe Worte? So konnte er sich doch nicht von Vukan verabschieden. Das fühlte sich irgendwie nicht richtig an.
Sollte er ihm noch die Hand geben? Nein. Das machten Geschäftsfreunde und Fremde. Das waren sie längst nicht mehr. Vielleicht eine zweite Umarmung? Aber so was machten Freunde und Freunde waren sie auch nicht. Nicht wirklich. Er könnte winken. Doch das tat man normalerweise nur, wenn man mehr als fünf Meter voneinander entfernt war. Sie standen jedoch direkt voreinander.
Ein Kuss…, wisperte eine leise und sehr gut informierte Stimme in Tims Kopf, Ein Kuss wäre der richtige Abschied.
Ein Kuss?! Er konnte Vukan doch nicht einfach küssen! Was würde er denken?
Andererseits…
Vukan hatte sich ebenfalls noch nicht bewegt. Er musterte Tim unverwandt und seine Pupillen schienen in einem Dreieck über Tims Gesicht zu fliegen. Und seine Lippen…schimmerten ganz feucht.
Ach, Scheiß drauf! Tim fühlte das Herz in seinem Brustkorb trommeln. Er spürte Amors berechnendes Starren auf sich. Er setzte alles auf eine Karte.
Das Universum kippte nach vorn, Tim stolperte vorwärts und…
…küsste Vukan auf den Mund.
Es war nur ein kleiner, harmloser, flüchtiger Kuss, der nach Kakao schmeckte. Einer von der Sorte Küsschen. Die Wirkung war trotzdem gewaltig: Es fühlte sich an, als ob sich alle Haare an Tims Körper gleichzeitig aufstellen würden. In seinem Magen ging ein Feuerwerk los und irgendwo hinter seiner Stirn gab es eine leise Erschütterung.
Eine Sekunde später warf sich Tim nach hinten, um der Kraft des Universums entgegen zu wirken. In seinen Ohren klingelte es. Vukan…starrte ihn an. Genauso fassungslos wie Amor.
Tims Füße drehten sich auf dem Absatz um, seine Hand fand die Türklinke. Er stolperte die kurze Treppe hinunter und auf die Straße. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu.
Er schaffte fünf Schritte, dann stoppte er. Seine Hände bebten, sein Herz hämmerte.
„Mist!“, zischte er, „Mist! Mist! Mist!“
Das ging so nicht! Das ging so einfach nicht!
Erneut drehte er sich um. Er lief zurück, er stürzte die Stufen wieder hinauf und durch die Tür. Vukan stand noch genauso da, wie er ihn verlassen hatte.
Tim ließ die Tüte los und sie klatschte zu Boden. Vukan kam ihm entgegen. Drei Schritte – dann schlangen sie die Arme umeinander und…verabschiedeten sich richtig.
Sie schlossen die Augen wie im Traum. Sie wankten nach vorn, sie wankten nach hinten. Sie wankten nach links und rechts. Sie griffen sich gegenseitig ins Haar, sie strichen über Rücken und Arme. Sie knutschten und seufzten und hielten sich so fest sie konnten.
Einige Zeit später.
Ein junger Mann im gestreiften Wollpullover und mit handzerzausten Haaren stürmte aus einem Antiquitätengeschäft. Er rannte so schnell er konnte. Er rannte eine Straße hinauf, die andere hinunter. Er bog um zwei Ecken, schlug nach links und rechts ein paar Haken, aber dem Adrenalin entkam er trotzdem nicht. Heiß und wild schäumte es durch seine Venen und wärmte ihn bis in die Fingerspitzen. Er jauchzte und jagte auf die untergehende Sonne zu.
Hinter der Tür des besagten Antiquitätengeschäfts wankte ein junger Mann mit dunklen Augen, ernstem Gesicht und kariertem Hemd zum Ladentisch. Seine Beine wackelten so sehr, dass er sich festhalten musste. Nach einer Weile sackte er aber doch zu Boden und lehnte sich gegen das glänzende Holz. Er atmete schwer. Er bemerkte eine weiße Tüte in der Nähe. Er zog sie zu sich und umarmte sie, als wäre sie ein Teddybär.
Und auf dem Ladentisch saß eine graue und ziemlich fette Katze. Sie kauerte zwischen einer antiken Kasse und einer hässlichen Büste und fixierte den jungen Mann auf dem Boden. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie wohl die Augen verdreht.