Prologue: Tom
Prologue: Tom
London 1940
Er konnte nicht schlafen.
Das war an und für sich nichts ungewöhnliches, er hatte noch nie so viel Schlaf wie seine Mitmenschen gebraucht. Sechs bis acht Stunden Schlaf? Nicht für ihn, man konnte die Zeit viel besser für andere, nützlichere Dinge nutzen, zum Beispiel einen neuen Zauber erlernen oder ein Buch durchwelzen.
Außerdem war es besonders in letzter Zeit nicht sicher, allzu lange der Realität fern zu bleiben, vor allem in der Muggelwelt.
Es herrschte Krieg. Die Nazis verübten immer öfter Luftangriffe auf Großbritannien, mit dem einzigen Ziel, alles und jeden zu zerstören und dadurch die Weltherrschaft an sich zu reißen. Darüber hinaus war es nicht ganz klar, was an den Gerüchten dran war, dass der dunkle Lord – Gellert Grindelwald – diesen Irrsinn unterstützte.
War diese Zerstörung wirklich nur auf den Mist der Muggel gewachsen oder steckte mehr dahinter?
Als Professor Dippet Tom Riddle diesen Sommer zurück zu seinem verhassten Waisenhaus geschickt hatte, war ihnen beiden klar gewesen, dass er vielleicht niemals nach Hogwarts zurückkehren würde. Dabei hatte er ihn darum gebeten – ihn angefleht – bleiben zu können, zumindest so lange es so gefährlich war. Er hatte sich auch für seine anderen Mitschüler eingesetzt, die zu ihren Muggeleltern zurückkehren mussten, nur um in Sicherheit bleiben zu können.
Er hatte doch noch so viel vor! Er hatte groß werden wollen! Er hatte alles verändern und eine bessere Welt schaffen wollen!
Doch Professor Dippet hatte auf Dumbledore gehört – so wie immer – und deshalb war er jetzt hier, in seinem erbärmlichen Zimmer, in diesem erbärmlichen Waisenhaus, während all diese erbärmlichen Kinder um ihn herum friedlich schliefen und er selbst nicht einmal ein Auge zumachen konnte.
Der einzige Lichtblick in seiner Situation war, dass Abraxas – lieber, guter, treuer Abraxas – ihm angeboten hatte, am nächsten Tag nach Malfoy Manor zu reisen, um dort den Rest seiner Ferien zu verbringen.
Somit hieß es, nur noch eine Nacht zu überleben und dann wäre er endlich wieder Zuhause.
Im Gegensatz zu Hitler und seinen Anhängern, sah der dunkle Lord davon ab, Großbritannien auch nur anzutasten. Ein Umstand, der ihn sehr verwirrte. In der magischen Welt war die Insel eine Hochburg. Wer sie unter Kontrolle hatte, konnte im Grunde ganz Europa kontrollieren. Warum also hielt er sich von hier fern?
Nun, ihm konnte es recht sein, so hatte er ein Problem weniger, um das er sich kümmern musste.
Natürlich hatte er – wie alle Schwarzmagier seiner Generation – darüber nachgedacht, sich ihm anzuschließen, war jedoch zu dem Schluss gekommen, es zu unterlassen. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er ein grauenvoller Anhänger wäre und eine führende Position würde er als Neuling kaum erhalten. Deshalb hieß es abwarten und Tee trinken und genau beobachten, was passieren würde. Doch vor allen Dingen würde er diese Nacht überleben müssen.
Tom war eigentlich nicht der Typ für Todesangst. Tatsächlich war er mit dem festen Glauben gesegnet, dass das Schicksal noch einen bestimmten Plan für ihn hatte und er dadurch jede Schwierigkeit überleben müsste. Dummerweise glaubte er auch, dass selbst das Schicksal manche Dinge nicht aufhalten konnte, zum Beispiel eine explodierende Bombe auf seinem Waisenhaus.
Verdammt, wenn er wenigstens schlafen könnte, dann müsste er nicht hier liegen und darüber nach grübeln, ob die Deutschen heute angreifen würden oder...
Irgendwo in der Ferne begann eine Warnsirene zu heulen. Als wäre dadurch die ganze Stadt erstarrt, war das für einige Sekunden das einzige Geräusch, dass man in London hören konnte. Doch kurz darauf herrschte Chaos. Tom wusste genau, wie es jetzt aussah. Menschen rannten panisch durch die Straßen, Mütter verfrachteten ihre Kinder in den Kellern ihres Hauses, während sie verzweifelt für die Rückkehr ihrer Väter beteten, die Bunker waren innerhalb weniger Minuten überfüllt und kurz darauf würde man die erste Bombe explodieren hören. Wie lange das ganze dauern würde, war dem Zufall beziehungsweise der Willkür der Deutschen überlassen, aber die Dauer war im Grunde egal. Sterben taten selbst mit einer einzigen Bombe genug.
Krieg bedeutete aber nicht nur sterben. Er bedeutete auch Verlust, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Diebstähle, Verzweiflung, Wahnsinn. Er bedeutete, dass man für sein eigenes Überleben, einen anderen töten oder verletzen musste. Und er bedeutete, von einem Tag zum anderen allein zu sein. Jeder verlor einen geliebten Menschen in einem Krieg. Egal ob Freunde, die große Liebe oder ein Familienmitglied. Es gab nur Leid, nur Schrecken, nur Grausamkeiten.
Ein Mensch, der einen Krieg begann, war ein Monster. Trotzdem würde er viele Jahre später selbst einen beginnen.
In diesem Moment, in dem das Waisenhaus um ihn herum erwachte, wusste er jedoch nichts davon, tatsächlich wäre dieser Gedanke ihm lächerlich erschienen, da es jetzt nur um eines ging: Überleben. Die Chance war natürlich in einem Bunker oder einem Keller erheblich größer als sonst wo, aber er kannte die Kinder und Erzieherinnen gut genug, um zu wissen, dass er hier nie und nimmer in so etwas hineinkommen würde. Diese Leute würden wahrscheinlich jubeln, wenn sie seine entstellte Leiche finden würden.
Aus diesem Grund schlüpfte er in Windeseile in seine Schuhe, packte seine Tasche, die er für solche Notfälle bereitgestellt hatte, griff nach seiner Jacke und eilte hinaus. Kinder kamen ihm entgegen, Babys schrien und die Erzieherinnen versuchten, so viele wie möglich in den Keller zu befördern. Ein paar ältere Kinder halfen ihnen dabei, aber die meisten waren genauso wie er zu egoistisch, um in diesem Augenblick an andere zu denken. Wobei es bei ihm auch daran lag, dass er genau wusste, dass sie ihn alle aus tiefster Seele hassten. Deshalb befand er sich kurz darauf auf der Straße, wo ebenso viel Chaos herrschte, wie überall sonst.
Sein Ziel war die Winkelgasse, der Eingang befand sich fünf Straßen weiter, wenn er sich beeilte, würde er dorthin kommen und dort in Sicherheit sein, da ein magischer Schutz das Eindringen von Bomben verhinderte. Das dumme war, dass er bereits jetzt in der Ferne die Explosionen hören konnte, was bedeutete, dass sie innerhalb von Sekunden hier ankommen würden. Jetzt war es wirklich nur noch eine Frage des Glücks.
So schnell wie er konnte, rannte er an den vielen Menschen vorbei, die genauso wie er verzweifelt nach Schutz suchten. Nur einige wenige, die nichts mehr zu verlieren hatten, saßen einfach am Rande und kuschelten miteinander oder mit ihren Hunden und beobachteten das Treiben mit müden Augen – vorrangig Bettler, aber auch Prostituierte. Inmitten des Chaos waren sie beinahe verstörend, weshalb Tom beschloss, sie zu ignorieren. Er musste sie ignorieren.
Um seinen Weg abzukürzen, wählte er die Route durch den kleinen Park, der eigentlich nichts weiter als ein Spielplatz mit ein, zwei Bäumen und den ein oder anderen verwelkenden Busch war. Um diese Uhrzeit trieb sich hier nur Gesindel herum, aber unter den gegebenen Umständen, war er menschenleer. Nicht weiter verwunderlich, hier gab es nichts, was einen vor den Bomben schützen könnte.
Mit der Absicht, ihn so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, betrat er ihn also – und merkte sofort, dass das ein Fehler war. Kaum, dass er auch nur einen Fuß hinein gesetzt hatte, wurden alle Geräusche erstickt und er spürte hinter sich einen magischen Schutzschild, der sich von einem Moment zum anderen um den gesamten Park gelegt hatte und der ihn nicht mehr durchließ.
Entweder hatte er Glück und hier hatten sich ein paar Magier versteckt oder er hatte Pech und irgendein Magier hatte ihn hierher gelockt, um... ja warum eigentlich?
Argwöhnisch zog er seinen Zauberstab hervor und sah sich um.
„Der wird dir nichts nützen, Junge.“
Sofort wirbelte Tom herum und... sah sich einem Engel gegenüber. Anders konnte es nicht sein, denn ein einfacher Mensch konnte nicht eine solche Schönheit besitzen. Schulterlanges, blondes Haar, leuchtende, grüne Augen und eine strahlende, kraftvolle Aura. Wäre nicht die tiefe Stimme gewesen, hätte er ihn für eine Frau halten können.
„Gellert Grindelwald“, flüsterte er. Natürlich hatte Tom Bilder von ihm gesehen – wer hatte das nicht? – aber sie waren nichts im Vergleich zu seiner lebendigen Ausgaben.
Angesprochener grinste. „Wie schön, dass du weißt, wer ich bin, Tom Marvolo Riddle. Das spart uns eine menge Zeit.“
Er trat einen Schritt auf ihn zu und Tom wich sofort einen zurück. Gutes Aussehen hin oder her, das hier war ein dunkler Lord und er war sicher nicht einfach so hier. Wollte er ihn töten?
„Nein, will ich nicht“, meinte Gellert, der offenbar seine Gedanken lesen konnte. Wie hieß diese Fähigkeit noch einmal? Legilimentik... wenn er hier irgendwie wieder herauskam, würde er es dringend lernen müssen.
„Oh, mach dir darüber mal keine Sorgen. Das werden wir dir schon beibringen.“
„Beibringen?“, wiederholte Tom misstrauisch und wich noch mehr vor ihm zurück, während der Zauberstab in seiner Hand leicht zitterte. „Was meinen Sie damit?“
„Dass du dich glücklich schätzen darfst, Tom“, sagte er immer noch grinsend und breitete einladend seine Arme aus. „Ab heute bist du mein Schüler.“
In diesem Augenblick explodierte direkt hinter Tom eine Bombe.
Und die Zeit ging das erste Mal seit vielen Jahrhunderten in Führung.