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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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40. Kapitel

In ihrer Lage hätte Ryon auch einfach seine Krallen ausfahren und sie ihr direkt ins Herz rammen können. Es hätte sich wahrscheinlich nicht schlimmer anfühlen können, als das, was sie mit leicht zitterndem Atem auch so mitbekam.

Zuerst einmal hatte Paige sehr wohl mitbekommen, dass es für ihn nicht erfüllend gewesen war. Trotz allem, was sie war und was ihm zumindest zu Anfang ein paar wohlige Laute hatte entlocken können, hatte es nicht gereicht.

Und als wäre das nicht genug, zog er sich ohne einen einzigen Blickkontakt so weit vor ihr zurück, dass Paige es nicht einmal wagte, ihn zu berühren.

Ihr immer noch schnell gehender Atem wurde schwerer und raspelte in ihrem Hals, als sie auf Ryons Kopf hinab sah, den er auf ihren Bauch gebettet hatte.

Seine Worte hatte sie schon einmal gehört. Damals in den Gängen unter Paris und auch in Ägypten. Er konnte nicht. Würde es nie können. Paige hatte sich lediglich zu wichtig genommen. Hatte sich mal wieder davon einlullen lassen, dass er ihr kurz seine gefühlvolle Seite gezeigt hatte. Aber sie war nunmal nicht genug.

Paige spürte es in jeder Faser ihres Körpers, die sich ihm gerade noch mit Herz und Seele hingegeben hatte.

Sein tiefes Seufzen schmerzte so sehr, dass Paige die Lippen genauso automatisch fest aufeinander presste, wie sie sich auf die Ellenbogen stützte und ihre Beine so übereinander schlug, dass sie sich nicht ganz so nackt und ... schäbig vorkommen musste.

Die Worte „zweite Wahl“ hämmerten ihr so stark von innen gegen den Schädel, dass sie das Blinzeln und Brennen ihrer Augen darauf schob.

Sie hatte es zwar gewusst, versucht sich darauf vorzubereiten, aber jetzt, wo es so weit war, konnte sie es tatsächlich kaum ertragen.

Und dennoch würde sie es aushalten. Es würde nicht das erste Mal in ihrem Leben werden, bei dem sie still hielt, während man ihr sagte, dass sie es einfach nicht wert war. Dass sie nie das sein konnte, was der Andere wollte oder brauchte.

Sie würde zerbrechen, am Boden liegen und irgendwann würde sie sich wieder zusammen setzten. Diesmal würde es lange dauern. Vielleicht länger als jemals zuvor...
 

Schweigen hing dicht wie undurchdringlicher Nebel über ihnen, während Ryons Augen einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierten und doch nichts sahen. Er war völlig reglos, doch in seinen Gedanken herrschte ein ziemliches Chaos, das er erst einmal zu schlichten versuchte, ehe er überhaupt irgendwo anfangen konnte.

Darum die Stille seinerseits.

Während er seine Gedanken ordnete, zog er so gut es eben ging ein Stück der Decke über Paige und sich. Zwar fror er nicht, aber nackt wie Gott ihn schuf, fühlte sich auf Dauer unter dieser drückenden Atmosphäre ganz und gar nicht angenehm an. Dennoch ließ er Paige nicht los.

„Ich kann deine Gedanken nicht lesen…“, begann er schließlich leise.

„…darum werde ich dir meine verraten."

Ryon schloss die Augen, um sich besser auf seine Worte konzentrieren zu können und schärfte zugleich seine Sinne. Sein Herz pochte noch immer wie wild, doch dieses Mal voller Aufregung, während sein Gesicht förmlich vor Nervosität glühte und doch blieb er ruhig. Es hatte keinen Sinn, davor weg zu laufen oder noch irgendetwas zu verschweigen.

Paige verdiente die Wahrheit, so wie niemand sonst sie verdiente, auch wenn es ihm bereits jetzt weh tat, sich all den Dingen zu stellen, selbst wenn es im Augenblick nur in Gedanken war. Gleich würden sie zu Worten werden und das nur allein für Paige. Für jemand anderen, noch nicht einmal für sich selbst, hätte er sich nicht diesen Schmerz unterzogen.

„Ich liebe Lenn und werde sie immer lieben... Das Leben, das ich geführt habe, bevor ich sie traf, war hohl und leer. Bedeutungslos im Angesicht dessen, was mir damals fehlte.

Sie war für mich wie die Sonne. Mein eigenes Universum, um das sich mein ganzes Leben drehte und auch wenn jetzt an dieser Stelle nur noch ein schwarzes Loch klafft, so werde ich dennoch nie vergessen können, was dort einmal voller Lebendigkeit für mich erstrahlte.“

Fast brach seine Stimme. Es tat entsetzlich weh, darüber zu sprechen und dabei waren das die Dinge, die er sich schon längst bewusst war. Dennoch zwang er sich zum Weiterreden, denn es war noch lange nicht alles, was er zu sagen hatte und Paige würde niemals verstehen, worauf er hinaus wollte, wenn er jetzt einfach schwieg. Dabei wollte Ryon, dass sie es verstand. Alles.

„Sie war die erste Frau in meinem Leben und bis zu dieser Nacht auch die Einzige…

Ich hielt bedingungslose Treue immer für selbstverständlich. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, meine Gefährtin in irgendeiner Weise zu hintergehen, da ohnehin nichts mit dem zu vergleichen gewesen wäre, was wir zusammen hatten.

Seit ihrem Tod erschien mir der Gedanke, mit einer anderen Frau zusammen zu sein sogar noch viel abwegiger. Meine Sonne war weg und keine andere Flamme könnte es je mit ihr aufnehmen … So dachte ich zumindest bis vor Kurzem…“

Der Schmerz bohrte sich tief in sein Herz, drehte sich wie eine heiße Klinge immer wieder darin herum und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Ryon biss die Zähne fest aufeinander und atmete ein paar Mal tief durch, ehe er die Augen wieder öffnete und sich an dem banalen Muster der Wandtapete fest hielt, als wäre es ein ebenso zuverlässiger Rettungsanker wie der Körper, an den sich seine Hände festhielten.

„Mein Egoismus wird nur noch von meiner Grausamkeit übertroffen. Denn obwohl ich nicht glaube, dass ich je eine andere Frau lieben kann, so klammere ich mich doch mit aller Kraft an der Hoffnung, dass ich mich irre.

Du … tust mir gut, Paige. Ich fühle mich wohl in deiner Nähe und ich weiß sehr zu schätzen, wie du dich in Ägypten um mich gekümmert hast und es immer noch tust, ohne dass es dir vielleicht bewusst ist. Der Gedanke, dich nicht mehr bei mir zu haben, selbst wenn es nur im Streit ist, macht mich rasend. Denn zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, ist nicht Lenn die Frau, um die sich in freien Augenblicken meine Gedanken drehen, sondern du bist es...“

Ryon machte eine Pause. Es war schon schwierig genug gewesen, das wiederzugeben, was er bereits gesagt hatte, doch zu erklären, was er nun los werden musste, war weitaus schwieriger. Nicht nur, was die vorsichtige Wortwahl anbelangte, sondern auch wegen der Tatsache, dass er es sich immer noch nicht ganz eingestehen konnte. Selbst wenn es sich um unumstößliche Tatsachen handelte.

„Bevor ich dich traf, war ich innerlich tot. Vielleicht hätte ich damit noch ein paar Jahre weiter machen können, ehe auch das nicht länger funktioniert hätte, aber der Gedanke zu sterben, hatte für mich ohnehin eine bereits völlig neue Bedeutung. Warum sollte ich weiter leben, wo ich doch jeden Sinn in meinem Leben verloren hatte? Der Tot schien da die beste Lösung zu sein und dennoch konnte ich es nicht. Vielleicht, weil ich immer noch das Gefühl habe, dass wenigstens durch den Schmerz meines Verlusts meine Gefährtin und unser gemeinsames Kind irgendwie weiter leben. Ich könnte nicht noch einmal ihren Tod verantworten. Selbst wenn es nur noch um ihr Andenken geht.

Bisher war das mein einziger Beweggrund für jeden Atemzug, den ich tat, doch nun bist du in meinem Leben erschienen.“

Ryon hob den Kopf leicht an und sah zu ihr hoch, als er weiter sprach.

„Wir haben uns verfolgt, gejagt, verletzt, bekämpft, misstraut, versorgt, geholfen und sogar Freundschaft geschlossen. Das ist mehr, als ich jemals noch für mein Leben erwartet hätte und daher umso verwirrender.

Aber was mir wirklich eine Scheißangst einjagt, sind die Gefühle, die ich für dich habe.“

Er sah wieder weg. Legte seine Wange wieder auf ihrer nackten Haut ab und sog den behaglichen Duft ihres Körpers ein, ehe er die Kraft aufbrachte, weiter zu sprechen, obwohl es ihm unglaublich schwer fiel.

„Wärst du Lenn ähnlich, ich würde es für den schwachen Versuch halten, wenigstens einen Schatten von dem zurück zu gewinnen, was ich verloren habe. Doch du bist ihr nicht ähnlich. Ganz und gar nicht ähnlich und ich habe auch nicht das Gefühl, als würde ich mich im Augenblick an einem Schatten fest halten.“

Seine Daumen streichelten leicht und regelmäßig über ihre Haut. Das Einzige an ihm, das nicht vollkommen erstarrt war.

„Du kannst auch gar nicht ihr Schatten sein, denn vor knapp einer Stunde hast du mir etwas gezeigt, das ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt habe…

Lenn war zierlich, fast sogar einen Kopf kleiner als du und obwohl sie große Fähigkeiten besaß, war sie doch immer vollkommen menschlich und somit in meinen Augen ganz und gar zerbrechlich.

Seit sie ein Teenager war, hatte sie zehn feine, langgezogene Narben auf dem Rücken. Kaum sichtbar für jemanden, der nicht wusste, dass sie dort waren. Aber für mich stets ein Mahnmal an das einzige Mal, als ich mich in ihrer Nähe nicht unter Kontrolle hatte. Seither habe ich es nie wieder zugelassen, mich in welcher Situation auch immer, vollkommen gehen zu lassen. Es war in Anbetracht unseres Rassenunterschieds einfach zu gefährlich und obwohl sie meine tierische Seite immer in jeder Form akzeptiert hatte, so war ich in ihrer Nähe doch immer mehr Mensch denn Tier. Ich dachte, egal welchen Teil ich von mir zurück halten muss, dass es das einfach wert war, weil sie mich liebte. Damals reichte mir das völlig aus und ich wusste auch nicht, was mir dabei entging, bis du es mir gezeigt hast, Paige.“

Langsam hob Ryon wieder seinen Kopf, suchte Paiges Blick und hielt ihn fest.

„Ich habe Sex noch nie so intensiv empfunden, wie mit dir. Dabei fällt es mir immer noch schwer, mich vollkommen fallen zu lassen. Ich konnte es nicht, doch hätte ich es getan, mein Weltbild wäre nicht mehr das Gleiche gewesen. Das ist es auch jetzt nicht mehr. Denn du hast es verändert. Zugleich ist das auch der Grund, weshalb ich aufgehört habe. Im Augenblick glaube ich nicht, dass ich loslassen kann, während mein Herz das Gefühl hat, dass etwas, das ich für rein, bedingungslos und absolut vollkommen hielt, durch mein neues Weltbild fehlerhaft und unvollkommen erscheint. Mir ist klar geworden, dass ich vor Lenn die ganze Zeit etwas zurück gehalten habe und wie sehr ich das bedaure. Trotzdem kann ich es nicht mehr ändern, aber wenn du mir die Chance lässt, dann will ich diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“

Er streckte die Hand aus, um ihre Wange berühren zu können, während sein goldener Blick immer noch auf ihr lag und er seine letzten Kraftreserven zusammen kratzte, die er noch aufbringen konnte. Bereits jetzt war er wie poröser Stein, der zu lange Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Noch einmal würde er kämpfen, doch wie es auch ausging, es würde seine letzte Schlacht sein. Zu mehr fehlte ihm einfach die Kraft.

„Paige … ich will dich. Ich brauche dich und selbst wenn diese ganze Hexen-Amulett-Geschichte schlecht ausgehen sollte, so will ich sie doch wenigstens mit dir Seite an Seite erleben. Aber ich will nichts Halbes mehr, nichts Befristetes und schon gar nicht, will ich einen Ersatz für etwas.

Mir ist klar, dass ich mit mir selbst noch in einigen Dingen ins Reine kommen muss, bevor ich vollkommen los lassen kann. Aber an einigen Tatsachen ist bereits jetzt nicht mehr zu rütteln. Ich begehre dich unumstritten. Deine andere Seite bringt mein Blut zum Kochen und noch nie hat es sich so gut angefühlt, den Tiger heraus lassen zu können wie bei dir. Wenn du also auch nur annähernd so für mich empfindest wie ich für dich, dann sei bitte ehrlich zu mir… Ist es von mir egoistisch, dass ich mich an dich klammere, weil ich in deiner Nähe glücklich bin, oder gibt es etwas, das ich dir dafür zurückgeben kann, um aus dem Egoismus etwas anderes zu machen? Vielleicht nicht Liebe, aber zumindest mehr, als das was es bereits jetzt ist?“
 

Paige konnte sie sehen. Während er erzählte, schien das Bild der jungen Frau zwischen ihnen regelrecht im Zimmer zu schweben. Sie war zierlich gewesen, filigran und verletzlich. Marlene. Der Mensch, der Ryon jede Form von Liebe zu einer Frau beigebracht hatte, die er kannte.

Obwohl sie ein leichtes Zittern bemerkte, das durch ihre verkrampften Muskeln lief, konnte sie sich nicht abwenden. Einzelne Worte schienen sich in Leuchtbuchstaben aus Ryons Erzählung zu lösen und anzuschwellen, bis Paige sie versuchte mit einem Blinzeln zu vertreiben.

Er liebte sie. Würde sie immer lieben. Keine Flamme würde je die strahlende Sonne ersetzen können.

Natürlich nicht.

Was war ein kleines Flämmchen in einer Welt, der die lebensspendende Sonne fehlte. Weder in Licht noch in Wärme könnte sie es je mit ihr aufnehmen. Niemals wäre sie dazu fähig.

Und das wussten sie beide.

Die Worte wollten sie ersticken, schlugen ihr regelrecht um die Ohren, bevor sie Paiges Schuppen auf ihrem gesamten Körper zurück drängten und nur das Gefühl von Kälte in ihrem Innern zurück ließen.

„Dann...“

Erst als er sich wieder auf ihren Bauch gelegt und sein Gesicht ihrem Blick nicht mehr zugänglich war, versuchte sie sich zu äußern. Nicht etwa deshalb, weil sie es wollte, sondern weil Paige das Gefühl hatte zu dem Mühlrad, das er ihr auf die Brust gelegt hatte, etwas sagen zu müssen.

Doch außer diesem einen Wort schaffte sie nichts zu erwidern. Was hätte sie auch antworten sollen? Sie verstand eigentlich gar nicht alles, was er ihr gesagt hatte.

Der Sex war gut gewesen, doch er fühlte sich dabei, als würde er Marlene betrügen. Selbst die Tatsache, dass er ihr Zusammensein als völlig anders empfand, hieß nur, dass er Gefahr lief, seine Verbindung zu seiner Gefährtin im Nachhinein herab zu setzen.

Bedeutete alles Andere nur, dass er sich an ihr ausprobieren wollte? Bestimmt tat es gut den Tiger ohne Gefahr an die Oberfläche lassen zu können. Bei Paige hatte er nicht zu befürchten, dass er größeren Schaden anrichtete.

Er wollte nichts Halbes. Keinen Ersatz.

Aber etwas Anderes könnte sie doch nie sein. In einer Welt, die ohne Sonne in Finsternis getaucht war, konnte eine kleine Flamme nur Ersatz sein. Und wie Ryon schon sagte. Liebe würde er niemals für sie empfinden können.

Paige wunderte sich selbst über die automatische Geste, als sie mit ihrem Daumen unter ihrem Augenwinkel entlang strich. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, als hätte sie Fieber. Irgendetwas glitzerte auf ihrer Fingerspitze, obwohl sich Paige das nicht recht erklären konnte.

„Weißt du, es ist ja nicht so, dass ... ich es nicht gewusst habe. Mir war von Anfang an klar, dass sie ... dass Marlene die Einzige für dich ist.

Dass sie es immer sein wird und du für niemanden je wieder etwas Ähnliches empfinden kannst. Du brauchst dir also keine Gedanken über mich zu machen. Ich...“

Innerlich schrie sie sich selbst an. Ja, sie hatte es gewusst. Und jetzt hatte sie nur zu hören bekommen, was ihr von Anfang an hätte klar sein sollen. Was konnte sie für ihn sein? Eine Gespielin vielleicht. So etwas wie eine Partnerin mit Bonusvorzügen.

„Es war dumm von mir anzunehmen, dass... Es reicht nunmal nicht aus, dass ich dich gern habe.“

Sie konnte ihn nicht zwingen.
 

Ryon schwieg sehr lange, während er über Paiges Worte nachdachte.

Sie hatte nicht verstanden, was er ihr sagen wollte. War es denn so abwegig? Waren seine Worte für sie so verworren, dass sie deren wahre Bedeutung einfach nicht verstehen konnte, selbst wenn sie wollte? Aber wenn das tatsächlich der Fall war, wie konnte er sie ihr begreiflich machen?

Nachdenklich nagte Ryon an seiner Unterlippe herum, eine Angewohnheit, die er schon sehr lange abgelegt zu haben glaubte. Offenbar ebenfalls ein Irrtum.

„Ich mache mir aber Gedanken um dich, Paige.“, begann er schließlich, um es in ihren eigenen Worten zu sagen.

„Es vergeht kaum eine Stunde, in der ich nicht an dich denke, ob du nun dabei bist oder nicht. Irgendwie kehren meine Gedanken immer zu dir zurück und warum sagst du, es würde nicht reichen, dass du mich gerne hast?“

Er richtete sich auf und sah sie leicht betroffen an.

„Das ist mehr als ich erwarten kann. Das ist mehr, als ich noch hoffen kann. Wie viel muss es denn noch sein, bis es ausreicht?“

Sanft strich er ihr über die Wange, fühlte die Hitze unter seinen Fingern und verlor sich beinahe im Anblick ihrer Augen.

„Paige… Ich habe dich auch gerne. Sehr sogar. Das ist für mich weit mehr, als alles, was mir in den letzten Jahren widerfahren ist. Ich weiß nicht, ob es für dich ausreicht, aber eines weiß ich ganz genau… Dass dieses Gefühl wächst, egal was bisher darauf herum getrampelt ist. Außerdem irrst du dich. Marlene ‚war‘ das Einzige für mich, bis sie mir entrissen wurde. Was jetzt noch davon übrig ist, hat nichts mehr mit dem Sonnenschein zu tun, den sie in mein Leben gebracht hat. Stattdessen sitze ich an einem kalten, finsteren Ort der Pein. Seit ihrem Tod ist es mir nicht gelungen, auch nur eine glückliche Erinnerung an sie in mir hervorzurufen.“

Er ließ den Kopf hängen, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, war sich aber immer noch nicht sicher, wie er es Paige begreiflich machen konnte.

„Seit ich dich kenne, Paige, bade ich immer seltener in dieser Finsternis und muss dabei erkennen, dass es in meinem Leben durchaus ein paar vereinzelt sonnige Orte gibt, die ich nur nicht erkennen konnte, weil ich zu sehr von Marlene geblendet wurde.“

Ryon ließ sich neben ihr in das Kissen sinken, immer noch seine Hände auf ihr, weil er den Kontakt einfach nicht abbrechen konnte.

„Außerdem… Ich will gar nicht so ähnlich für dich empfinden, wie für sie oder gar gleich. Du bist eine ganz andere Persönlichkeit. Du kennst mich als das was ich jetzt bin und damals garantiert nicht war. Wie könnte sich da etwas ähnlich sein? Wenn … dann wirst du verstehen müssen, dass es etwas völlig Neues ist. Ich kann’s nicht benennen. Es gibt so viele verschiedene Arten der Zuneigung, aber … es gehört dir. Dir ganz alleine und das würde ich auch als solches verteidigen… Immerhin tue ich das in diesem Augenblick schon vor dir. Du glaubst mir nicht oder kannst nicht verstehen, was ich dir zu sagen versuche: Ich will dich, Paige. Weil du mir etwas bedeutest, weil du mir gut tust, weil ich mir nicht mehr vorstellen kann, dich gehen zu lassen und weil du der Grund bist, warum ich mich besser fühle, nur wenn ich dich sehe und mir Sorgen mache, wenn es dir nicht gut geht.“

Er seufzte.

„Ich kann verstehen, wenn dir das nicht genügt und du lieber jemanden willst, der dir einfach sagt, dass er dich liebt und trotzdem hoffe ich…“

Nein. Er hatte genug gesagt.
 

Wieder hatte sie zugehört. Ihre Augen brannten und Paige hatte das Gefühl, die Müdigkeit der gesamten Welt würde sich mit einem Schlag auf sie legen, während sie versuchte Ryons Blick und seinen Worten stand zu halten.

Als er sich zu ihr legte, ruhten ihre müden Augen auf seinem Gesicht. Fasziniert und dennoch ein wenig skeptisch, lauschte sie den Worten, die seine Lippen formten und die zu ihren Ohren drangen.

Sie hatte verstanden. Zumindest hatte ihr Verstand seinen Ausführungen folgen können, auch wenn ihr Herz scheinbar unbeteiligt weiter in einem Takt schlug, der sich schmerzlich falsch und holprig anfühlte.

Als er zu Ende war, sah sie ihm weitere Atemzüge lang in die goldenen Augen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie gern etwas gesagt hätte. Diesmal allerdings war es noch schwieriger als zuvor. Ihr Gefühlsleben schien so schnell hin und her geworfen worden zu sein, dass Paige sich nicht sicher war, dass sie sich den letzten Teil nur eingebildet hatte.

Ihr Blick schweifte über ihren immer noch nackten Oberkörper hinunter. Traf auf Ryons Arm, der über ihren Bauch lag und sie mit einer Hand an ihrer Seite festhielt. Selbst die Wärme seiner Haut war in diesem Moment wie gedämpft durch das Chaos, das in ihr herrschte. Nicht einmal zu einer erkennbaren Miene, die man hätte interpretieren können, reichte ihre Kraft. Zumal sie sich immer noch nicht darüber im Klaren war, wie sie reagieren sollte.

„Du... hast mich gern.“

Es klang nicht wie eine Frage, denn das war es nicht. Vielmehr hauchte sie leise etwas, über das sie nachdenken musste. Wie die Vorgaben einer Rätselaufgabe, deren eigentliches Ziel sie noch nicht kannte.

So verwirrt hatte sich Paige einfach schon lange nicht mehr gefühlt. Zuerst Ryons Offenbarung über Marlene ... und jetzt...

Mit kühlen Fingern griff sie über seinen Arm hinweg nach der Decke, die vollkommen verknüllt mehr auf dem Boden als auf dem Bett hing und zerrte sie über ihren Körper. Während sie an einem kleinen Riss in der Ecke des Bezeugs herum spielte, versuchte sie nachzudenken. Er hatte sie gefragt, ob ihr das reichen würde.

Vermutlich würde es nie so weit kommen, dass Ryon ihr sagen oder zeigen konnte, dass er sie liebte. Selbst wenn es sich im Laufe der Zeit von seiner Seite zu so etwas wie Liebe entwickeln sollte.

Langsam drehte Paige den Kopf, um Ryon wieder anzusehen, der geduldig auf eine Reaktion von ihr wartete. Als sie in seine goldenen Augen sah, die kleinen blauen und grünen Flecken darin fand, waren ihre Gedanken wie ausgelöscht.

Paige musste sich nicht entscheiden. Sie hatte schon seit längerem gewusst, was sie wollte. Dass sie es haben konnte, wenn auch mit vielen Mühen und Abstrichen verbunden, ließ nur einen Weg offen.

Vorsichtig legte sie sich in die Kissen, ohne ihren Blick von Ryon zu lösen oder etwas zu sagen. Jede Antwort, die sich auf ihre Zunge schlich, schien nicht das auszudrücken, was sie sagen wollte. Immer schien ein erklärendes Element zu fehlen.

„Ich weiß nicht, ob es mir genügen wird.“

Ihre Stimme war so fest und klang so ehrlich und überlegt, dass sie es selbst kaum glauben konnte.

Was allerdings im nächsten Moment, in dem sie sich umdrehte, ihre Hand und ihre Stirn an seine Brust legte, sehr hilfreich war. So konnte er sie noch verstehen, obwohl die Müdigkeit sie, sobald sie die Augen schloss, zu übermannen drohte.

„Wir werden sehen.“
 

Erst als Paige in einem einzigen Satz zusammen fasste, was er ihr zu erklären versucht hatte, fühlte sich Ryon etwas beruhigt. Sie musste gar nicht wissen, ob es ihr genügte. Ihm reichte es schon, dass sie seine Worte, seine Entscheidung nicht von vornherein ablehnte. Das war mehr, als er erwarten konnte.

Paige klang müde, als sie sich schließlich an ihn schmiegte. Dass sie es von selbst tat, ließ ihn förmlich erleichtert aufatmen, als hätte er schon befürchten müssen, nach der ganzen Misere würde sie ihn meiden wollen. Doch sie tat es nicht und darüber war er tatsächlich wahnsinnig erleichtert.

Einen Moment lang blieb Ryon noch reglos liegen, ehe er sich ebenfalls mit einem Teil der Decke bedeckte, seinen Arm um Paiges Schultern legte und sein Kinn sanft an ihren Kopf legte. Seine Hand streichelte über ihr Haar und den zarten Nacken, während er sich gar nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt noch etwas davon mitbekam.

„Das werden wir.“, flüsterte er ihr leise zu, denn da war er sich sicher. Genauso wie er sich selbst versprach, alles zu geben, um es für Paige ausreichend zu machen. Selbst wenn es das Letzte sein würde, was er noch tat, bevor der böse Hexenzirkel gewann. Sollte dieser überhaupt gewinnen, immerhin würden sie lange noch nicht klein bei geben. Aber das hatte auch noch bis morgen Zeit.

Zwar schloss Ryon ebenfalls die Augen und versuchte zu schlafen, aber es war aussichtslos. Er war so voller Energie, wie schon lange nicht mehr und in seinem Kopf kreisten noch immer die vielen Worte, die gesagt worden waren. Er kam garantiert nicht zur Ruhe. Aber das musste er auch gar nicht. Immerhin musste er die Zeit ohnehin nutzen, die er ungestört nachdenken konnte, ehe sich die Ereignisse überschlagen würden.

Allerdings lauschte er lange einfach nur Paiges Atemzügen, während er sie immer noch vollkommen gedankenverloren streichelte.
 

Draußen nieselte es wieder leise, während das Licht, das durch das Fenster fiel grau und trostlos wirkte. Es war nebelig und daran konnte auch die aufgehende Sonne nicht sehr viel ändern.

Ryon wachte aus keinem bestimmten Grund auf, außer vielleicht dem, dass er es ohnehin zu nicht mehr als einem Dösen gebracht hatte. Weshalb er auch sofort hellwach war. Sein Blick durchstreifte das gemietete Zimmer, glitt über die fremden Möbel, die etwas fade wirkende Einrichtung und deren gewöhnlicher Eindruck. Alles war ruhig, nur draußen bellte irgendwo ein Hund, ansonsten waren sie auch weiterhin vollkommen ungestört.

Schließlich blieb seine Aufmerksamkeit auf der Mappe mit den Bildern hängen, die bei seiner Ankunft noch auf dem Boden herum gelegen hatten und erinnerten ihn daran, dass das Chaos und die sich überschlagenden Ereignisse noch lange kein Ende hatten. Vielleicht war das auch erst nur der Anfang davon.

Wenn es Paige besser ging und sie sich bereit dazu fühlte, es wieder mit ihren anderen Problemen aufzunehmen, würde er mit ihr über die Dinge sprechen müssen, die sie heraus gefunden hatte und jene die ihm selbst widerfahren waren. Die Geschichte mit der Schwester des Duftspenders würde er gerne auslassen, aber irgendwie musste er ihr auch erklären, weshalb plötzlich ein zweijähriges Mädchen bei ihnen die bunt zusammen gewürfelte Familie aufmischte.

Wie es wohl der kleinen Mia erging? Tyler würde sich sicher gut um sie kümmer, immerhin wäre sie nicht das erste Kleinkind, mit dem er zurecht kommen musste. Dennoch, Ryon vermisste das Mädchen und den Duft nach heißem Karamell schon jetzt irgendwie. Sie wieder zu Amelia zurück zu bringen, würde ihm sehr schwer fallen…

Seufzend schmiegte er sein Gesicht in Paiges weiches Haar und zog sie etwas näher an sich heran, so dass er ihren Atem auf seiner nackten Haut spüren konnte. Wenigstens eines musste er nicht hergeben und das würde er auch niemals freiwillig.
 

Paige konnte sich nicht erinnern jemals so tief und traumlos geschlafen zu haben. Sie erwachte mit leicht pelzigem Mund und Augenlidern, die ihr so vorkamen, als wären sie blau und so geschwollen, dass sie sie nicht öffnen konnte. Schon bei dem ersten Versuch – der absolut fehlschlug – gab sie ein kleines Murren von sich und versuchte anschließend lieber wieder in den Schlaf zurück zu kehren. Aber sie war eindeutig zu langsam gewesen. Denn ihr Körpergefühl funktionierte schon so weit wieder, dass sie jedes Zerren und unangenehme Drücken an ihren Muskeln wahrnehmen konnte.

Das Schmerzmittel war einerseits bestimmt der Grund, warum es sich so anfühlte, als hätte ein Hamster auf ihrer Zunge genächtigt, andererseits könnte sie das durchaus noch eine Weile ertragen, wenn ihr Körper sich dann nicht so anfühlen würde, als hätte sie zehn Runden in einem Käfigkampf durchgestanden.

Trotz der, im Gegensatz zu gestern, noch leichten Schmerzen, freute sich Paige aber sehr darüber ihr Körpergefühl wieder ganz wiedergewonnen zu haben. So spürte sie nämlich nicht nur die Decke auf sich, sondern auch Ryons warmen Körper.

Er war also noch da.

Da sie sich im Schlaf noch nicht einmal sonderlich bewegt zu haben schien, wirkte die Tatsache, dass er sie im Arm hielt, noch unwirklicher. Hatte das Gespräch – oder vielmehr Ryons erzähltes Geständnis – denn tatsächlich stattgefunden? Hatte er ihr gesagt, dass er sie wollte?

Und noch viele andere Dinge.

Paige lag absolut still da und versuchte über ein paar Sachen, die sie erfahren hatte, noch einmal nachzudenken. Sie für sich selbst zu ordnen, damit sie in einer einigermaßen vernünftigen Weise damit umgehen konnte.

In der letzten Nacht, nach dem völlig unerwarteten Sex, hatte er sie kalt erwischt. Nicht nur dadurch, dass er ihr gestanden hatte, dass es wohl noch eine Weile dauern würde oder vielleicht sogar nie soweit kam, dass er es in vollen Zügen genießen konnte. Wie sie bei der nächsten Versuchung damit umgehen sollte, darüber konnte und wollte sich Paige jetzt noch gar keine Gedanken machen. Es hätte wahrscheinlich nur dafür gesorgt, dass sie sich selbst dafür tadelte, dass sie es in der vergangenen Nacht sehr wohl bis zum Höhepunkt genossen hatte. Zweimal sogar.

Wieder ein leises Murren, was ihr aber auch nicht weiter half. Irgendwie würde sie mit all dem umgehen müssen.

'Alles eins nach dem Andern.'

Ein schöner Spruch. Und diesmal würde ihr auch nichts Anderes übrig bleiben. Die ganze Sache mit Ryon – das was zwischen ihnen war – würde schwierig werden. Vermutlich für sie beide. Aber man musste Rom ja nicht an einem Tag erbauen.

Mit einem tiefen Atemzug schlug Paige schließlich ein Auge auf. Sie blinzelte und drüchte ihre Nase noch einmal gegen Ryons warme Haut, sog tief seinen Geruch und die Wärme ein, die sie so mochte und hauchte einen Kuss auf seinen Oberarm, auf dem ihr Kopf gebettet lag, bevor sie zu ihm aufsah.

„Guten Morgen. Du siehst so aus, als wärest du schon zwei Stunden joggen gewesen.“

Ihre Stimme war kratzig vom Schlafen und bestimmt half der Hamster, der sich immer noch an ihrer Zunge festhielt nicht dabei, es besser werden zu lassen. Paige ließ auch offen, ob ihr Kommentar nun ein Kompliment oder eine tendenziell andere Andeutung gewesen war. Er sah einfach so müde aus, wie sie sich trotz der Stunden Schlaf fühlte.

Als sie ihn auf die Nasenspitze küsste, strichen ihre Füße seine Beine entlang nach unten und Paige stellte mit einem mitleidigen Blick fest, dass das Bett nicht nur verdammt schmal, sondern auch zu kurz für seine Körpergröße war.

„Wird Zeit, dass wir zurück nach London kommen.“, meinte sie völlig ernsthaft, während ihre Zehen mit seinen spielten und sie einen Arm auf seine Seite legte.

Noch etwas, worüber sie sich noch keine Gedanken gemacht hatte. Auch besser so, denn sobald sie auch nur den Hauch einer Vorstellung davon aufbaute, wie es nun sein würde in sein Haus – nein. In seines und Marlenes Haus! - zurück zu gehen, wurde ihr ganz unwohl.

Würde es seltsam werden?

In Ryons Augen wollte sie die Zukunft lesen. Paige wollte wissen, ob sie sich darauf gefasst machen musste, dass er sie in diesem Haus, das einmal als das seiner kleinen Familie erbaut worden war, nicht so behandeln konnte, wie er es jetzt tat. Würden sie vor Tyler und Tennessey und auch vor Ai so tun, als wären sie immer noch nur Partner?

Sie fand die Antwort nicht in seinen goldenen Augen, aber zumindest beruhigte der Anblick Paige etwas und ließ ihre Sorgen weniger schnell in ihrem Kopf rotieren.
 

Als Paige das erste Mal ein Murren von sich gab und danach wieder völlig still war, vermutete Ryon, dass sie wieder eingeschlafen war, weshalb er auch nichts sagte, sondern wieder seinen eigenen Gedanken nachhing. Davon gab es ja inzwischen genug. Vor allem, da er in der letzten Stunde langsam aber sicher einen Entschluss gefasst hatte, den er unter den gegebenen Umständen wirklich sehr genau durchdenken musste. Immerhin, wie würde Paige darauf reagieren und wie genau sollte er es ihr beibringen?

Im Augenblick stand das alles noch in den Sternen und wurde auch zur Seite geschoben, als sich die Frau in seinen Armen erneut rührte und schließlich zu ihm hoch blickte.

Ihr Anblick ließ sein Herz mit einem Mal schneller schlagen und es lag bestimmt nicht nur an seiner übermäßigen Ansammlung von Energie gestern Nacht, dass ihm noch immer der ganze Körper dabei kribbelte.

„Und du siehst wunderbar aus.“, hauchte er ihr leise zu, während er seine Stirn an ihre legte und ihre Zehen miteinander spielten. Ryon strich ihr zerzaustes Haar Strähne für Strähne glatt und meinte jedes Wort so ernst, wie es sich angehört hatte. Paige sah wunderbar aus. Die verwuschelten Haare, die kleinen müden Augen mit dem Schlafzimmerblick und diese Lippen…

Einen Moment lang schloss er die Augen und rief sich zur Ordnung. Das gestrige Gespräch war ein Anfang gewesen und hatte sicherlich einige Barrieren aus dem Weg geräumt, aber eben nicht alle, weshalb er es nicht überstürzen sollte.

Aber Ryon war nun einmal ein Mann. Einer der nackt in einem Bett lag, mit einer wunderschönen nackten Frau im Arm und mit einer immer noch sexuellen Anspannung, die fast einer Folter glich. Man sollte es ihm also nachsehen, dass er einen Moment lang bei Paiges Anblick nur an das eine denken konnte.

Da ihm dadurch nicht wirklich etwas einfiel, was er tun oder sagen könnte, um noch etwas länger ihren Pflichten zu entgehen, außer etwas zu kuscheln, was ihn sicher noch wuschiger machen würde, setzte er einfach auf das Nächstbeste, das ihm in den Sinn kam.

„Soll ich uns ein Bad einlassen?“

Angesichts der Tatsache, dass sie gestern ganz schön schweißtreibenden Sex hatten und Paige ja eigentlich noch immer mit den Nachwirkungen ihres Experiments zu kämpfen hatte, erschien ihm das als ein angemessener Vorschlag. Außerdem könnte er sich dann ihre Verletzungen noch einmal in einem anderen Licht ansehen und die Wärme würde ihren zerschundenen Muskeln sicher gut tun.
 

Paige quittierte seine charmante Lüge mit einem Lächeln und schloss noch einmal kurz die Augen, während sie Ryons Finger in ihrem Haar spürte.

Wäre das Bett nur etwas gemütlicher gewesen, hätte sie es sehr lange hier mit ihm aushalten können. Ein Tag mit Ryon im Bett... Frühstück, Tee, kuscheln und ein paar andere Dinge...

Ihre Mundwinkel hoben sich, während ihr Daumen sanft über seine Haut strichen. Ja, das könnte ihr durchaus gefallen. Einen Tag lang Zeit zu haben, einfach gar nichts tun zu müssen, außer sich gegenseitig und die Zeit miteinander zu genießen.

Gerade wollte sie wieder die Augen öffnen, um ihn anzusehen und ihn zu fragen, ob er eigentlich Cartoons mochte, als er ihr seinen Vorschlag unterbreitete.

Zuerst schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie möglicherweise zu zweit keinen Platz in der Wanne haben würden. Immerhin musste es für Ryon allein schwierig genug sein jemals ein Bad zu nehmen, bei dem ihm das Wasser bis zum Kinn ging. Andererseits hatte sie sich selbst völlig untertauchen können.

Für einen Moment, in dem die Zeit sich zu verlangsamen schien, wurden Paiges Augen leer. Sie schlug sie zwar auf, konnte aber nichts weiter sehen, als das Zwielicht unter der ruhigen, mit schwarzen Schuppen bedeckten Wasseroberfläche. Ein paar Luftbläschen, die vor ihr aufstiegen und von denen sie wusste, dass sie aus ihrem eigenen Mund gekommen waren.

Ein wenig erschrocken, aber entschlossen blinzelte sie die düsteren Erinnerungen an ihren Kampf aus ihrem Kopf und sah stattdessen in Ryons goldene Augen. Ihr Blick wurde schlagartig sanft und warm. Anders hätte sie gar nicht gekonnt.

„Das ist eine schöne Idee. Ich hab auch ein bisschen Badezusatz dabei.“

Als er sich von ihr löste, fiel ihr nur einmal wieder der Wärmeunterschied und die Kühle auf, die die Abwesenheit seines Körpers an ihrem hinterließ. Noch ein Grund, warum sie ihn am liebsten für ein paar Stunden – oder noch besser: ein paar Tage – nicht losgelassen hätte.

Mit den interessierten Augen einer Frau, besah sich Paige Ryons breiten Rücken und zog sich die Decke bis zu ihren schmunzelnden Lippen hinauf, als er aufstand, um ins Bad zu gehen. Bis jetzt hatte sie seinen Hintern nur in Hosen gesehen und gestern das Glück gehabt, ihn ein wenig anpacken zu dürfen. Aber ansehen war auch alles Andere als schlecht. Durchaus etwas, in das sie bei anderer Gelegenheit gern einmal ihre Zähne gedrückt hätte. Oder lieber daran lecken wie an einem leckeren Bonbon?

Ein wenig peinlich berührt, musste sie grinsen, als sie bemerkte, dass Ryon durchaus klar war, dass sie ihn und einen besonderen Körperteil von ihm anstarrte.

„Das wird nicht das einzige Mal sein, du musst also nicht stehen bleiben.“

Mit einer scherzhafen Geste forderte sie ihn dazu auf, ins Bad zu gehen und das zu tun, was er vorgehabt hatte. Auch wenn ihnen beiden durchaus klar sein musste, dass sie dann immer noch nackt zusammen sein würden. Eine Weile länger in der sie sich betrachten konnten.
 

Ryon stand nicht nur deshalb als Erstes auf, um ihnen das versprochene Bad einzulassen, sondern auch, weil er noch ein paar diverse Kleinigkeiten beseitigen wollte, die Paige gestern bestimmt nicht aufgefallen waren, als sie sich dort drin angezogen hatte.

Zum Glück war sie gestern wohl ziemlich erledigt gewesen, so dass sie auf den schwachen Brandgeruch gar nicht aufmerksam geworden war.

Gut, dass sie einen Badezusatz dabei hatte, der den Gestank locker überdecken würde und um den Rest hatte er sich schon fast ganz gekümmert.

Da er keine Ahnung hatte, wo sich im Augenblick seine Shorts befanden, ging Ryon mit nackten Fußsohlen und so wie Gott ihn schuf über den kühlen Dielenboden.

Der Schauer, der ihm dabei über den Rücken lief, konnte ihm gar nicht entgehen und als er sich leicht nach Paige umdrehte, war ihm auch klar, was ihn ausgelöst hatte.

Paige sah ihn auf eine Weise an, die ihm die Nacktheit seiner derzeitigen Lage eigentlich noch schlimmer erscheinen lassen hätte müssen, doch stattdessen wurde ihm heiß, sein Bauch kribbelte und ja, er genoss es, von ihr angesehen zu werden. Der Tiger räkelte sich förmlich für sie in seinem Kopf, doch alles was er ihm geben konnte, waren Paiges Worte. Sie hatte recht. Das würde nicht das einzige Mal sein, also drehte er sich langsam wieder um und verschwand im Badezimmer, um alle Spuren auf das Experiment restlos zu beseitigen.
 

„Darf ich?“

Nachdem sie auf ihr leises Klopfen an der Badezimmertür keine negative Antwort bekommen hatte, schob Paige sie ein Stück auf und steckte ihren Kopf in den inzwischen recht anheimelnd riechenden Raum. Schaum türmte sich so hoch auf dem immer noch einlaufenden Wasser, dass Ryon mehr oder weniger den gesamten Inhalt ihrer Probepackung in die Wanne geschüttet haben musste. Was ihr aber genauso gefiel, wie sein leicht prüfender Blick, der von seinem Werk zur Tür und wieder zurück wanderte.

Was er die ganze Zeit hier gemacht haben konnte, mal von dem abgesehen, was man morgens normalerweise im Bad tat, sah sie gerade daran, dass sie nichts sah. Das Bad glänzte mehr, als es das bei ihrer Ankunft getan hatte. Weder an der Wanne, auf dem Boden oder sonst irgendwo waren Spuren von dem zu erkennen, was noch vor zwei Nächten in diesem Raum passiert war.

Mit einer Hand vor ihrer Brust zusammen gehalten, zerrte sie das Leintuch wie eine Schleppe hinter sich her ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Mit wenigen Schritten war sie bei Ryon und schlang einen Arm um ihn, bevor sie ihre Wange an seine Brust schmiegte.

„Vielen Dank.“

Es beinhaltete so viel und konnte wahrscheinlich besser ausdrücken, was sie empfand, als jede noch so lange Erklärung. Ryon hatte ihr geholfen das Monster in ihrem Innern loszuwerden, hatte ihr das Leben gerettet und sich dann auch noch darum gekümmert, dass keine Spur dieses Kampfes zurück blieb. Wenn jemand verstehen konnte, dass sie mit dieser Erinnerung so frisch noch nicht zurecht gekommen wäre, dann er.

Aber das war nicht alles, was sie mit ihrem Dank meinte. Auch wenn es schwierig werden würde. Wenn Paige ihre anerlebten Sorgen auch ihm gegenüber nicht einfach abschütteln konnte. Es war dennoch schön, dass er sie wollte. Und dass er ihr zumindest das ohne Probleme sagen konnte. Zu was es sich entwickeln würde – ob sie überhaupt die Zeit bekamen, es zu irgendetwas wachsen zu lassen – das stand in den Sternen. Aber bereits in diesem Moment fühlte es sich gut und richtig an. Das war alles, was Paige im Augenblick dazu brauchte, um glücklich zu sein. Und sie hoffte so sehr, dass es Ryon ähnlich ging.
 

Gerade als er den Müllbeutel mit den verbrannten Schuppen und den Haufen voller schwarzgefärbter Handtücher in den kleinen Schrank unter dem Waschbecken verstaut hatte, hörte er Paiges Klopfen.

Er richtete sich rasch auf, ging zu der sich langsam füllenden Badewanne hinüber und hielt prüfend die Hand hinein, um überflüssigerweise die Temperatur erneut zu kontrollieren. Es war angenehm oder zumindest für Paige würde es das sein. Ihm kam es eher lauwarm vor. Doch das machte nichts.

Da er nicht dazu gekommen war, etwas auf ihr Klopfen zu erwidern und sie sich somit selbst einließ, erwischte sie ihn gerade bei einem weiteren prüfenden Blick durch den Raum.

Alles war blitzblank geputzt. Das war es gestern auch schon gewesen, nur jetzt schien noch nicht einmal ein überflüssiges Staubkörnchen herum zu liegen. Sicher war eben sicher.

Paige kam so rasch auf ihn zu, dass er noch nicht einmal die Zeit hatte, den Ausdruck ihrer Augen zu ergründen, stattdessen war sie auch schon bei ihm … an ihm.

Ryon schlang seine Arme um sie und schwieg. Ihr Dank hatte genug ausgedrückt, um ihm verständlich zu machen, dass sie sehr wohl wusste, was er hier getrieben hatte, doch das war egal, solange sie nicht sehen musste, was er gesehen hatte. Ihm wurde immer noch schlecht, wenn er daran dachte, was er ihr hatte antun müssen. Doch obwohl es notwendig gewesen war, wollte er es wieder gut machen. Wieder und wieder, bis er es sich selbst verzeihen konnte. Denn im Augenblick kam er nicht darüber hinweg.

Sanft glitten seine Hände nach einer Weile der angenehmen Stille zu ihren Schultern. Ryon lehnte sich etwas zurück, damit er Paige in die Augen sehen konnte, während er zärtlich ihre beiden Hände in die seinen nahm und schließlich von dem Laken löste, damit es mit einem leisen Rascheln zu Boden gleiten konnte.

„Es ist angerichtet.“, verkündete er gedämpft und mit einem Blick der besagte, dass im Augenblick die Welt untergehen könnte und es würde ihn nicht kümmern. Hier bei ihnen zählten nun nur noch sie beide und vor allem hatten sie Zeit. Kostbare Zeit die sie nicht verschwenden sollten.

Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, küsste er eine ihrer Hände, ehe er sich zuerst in das schäumende Wasser gleiten ließ, nur um dann Paige dabei zu helfen, sich zu ihm zu gesellen.

Da es anhand der Drei-Sterne-Badewanne etwas eng war, versuchte Ryon für Paige so eine Art lebende Sitzmöglichkeit darzustellen. Sein Körper rahmte den ihren ein und da er sich ohnehin genauestens ihre Verletzungen an den Schultern ansehen wollte, bot es sich an, dass sie sich mit dem Rücken gegen seine Brust lehnte.

„Ist das Wasser so angenehm für dich?“

Ryons Arme schlangen sich um Paiges nackten Oberkörper, während er einen Moment lang sein Gesicht an ihr Haar schmiegte. Er hätte sie fressen können, so gut duftete sie für ihn, aber das sollte er sich wohl für ein Andermal aufheben.
 

Mit ihrem rechten Zeigefinger hob sie ein Schaumkrönchen auf Ryons nacktes Knie, das neben ihr aus dem Wasser schaute. Überhaupt hatte er sich recht zusammen falten müssen, damit sie gemeinsam in die kleine Wanne passten und trotzdem noch etwas Wasser erhalten blieb.

„Ja, sehr angenehm.“

Durch Ryons Körper in ihrem Rücken und seine Arme, die sich um sie schlossen, war ihr auf jeden Fall nicht zu kalt.

Sanft zeichnete sie um das Bisschen Schaum auf seiner Haut einen kleinen Kreis und stupste so lange an den Seifenblasen herum, bis sie verschwunden waren und Platz für einen neuen Versuch gemacht hatten.

„Ich spiele gern.“, meinte sie ein wenig erklärend.

„Meine Mutter hat früher gesagt, dass ich mit allem spielen kann. Ob mit Essen oder dem Abwasch. Wenn ich Zeit und Muße habe, tue ich das gern.“

Mit einem entspannten Seufzer ließ sie sich noch ein bisschen tiefer gegen Ryons Brust sinken und zeichnete nun Schlangenlinien sein Bein hinunter, soweit bis sie unter Wasser auf seine Hüfte stieß. Dann wieder zu seinem Knie hinauf.

„Um ehrlich zu sein, bin ich noch ein bisschen kaputt von ... dem Ganzen.“

Was sie nun genau meinte ... das Experiment, den Sex, das Gespräch ... oder einfach alles zusammen, sprach sie nicht definitiv aus, denn sie wusste es selbst nicht.

„Am liebsten würde ich zwei Tage lang schlafen. Vorhin habe ich mir überlegt, dass ich gern ein paar Tage mit dir im Bett verbringen würde. Du weißt schon: Zusammen frühstücken, sich unterhalten, Cartoons und DVDs sehen.“

Das Wasser plätscherte leise, als sie sich ein wenig drehte, um zu ihm aufsehen zu können.

„Und was man eben sonst noch so im Bett tut.“
 

Mit geschlossenen Augen, dem Kopf im Nacken und mit leichten streichelnden Bewegungen seiner Daumen, ließ sich Ryon von Paige förmlich verwöhnen. Das was sie als Spiel bezeichnete, war für ihn so viel mehr als das. Er schnurrte beinahe vor Wonne, genoss er es doch so sehr, wie sie ihn einfach nur berührte ohne irgendwelchen erkennbaren Absichten. Zugegeben, jedes Mal wenn sie der Stelle seiner Hüfte nahe kam, ging ein spannungsgeladenes Knistern durch seinen Körper, aber er fühlte sich im Augenblick so wohl und leicht träge, dass es auszuhalten war.

Zufrieden und gleichzeitig sehr aufmerksam hörte er Paiges Worten zu. Wie sie über ihre Mutter sprach, von der er nichts wusste oder von den Dingen, die sie anscheinend zu mögen schien und von denen er ebenfalls absolut keine Ahnung hatte. Wie wenig er doch von Paige wusste!

„Du meinst also: Lesen, Kissenschlachten, sich gegenseitig die Bettdecke wegnehmen. Solche Sachen?“

Mit noch immer geschlossenen Augen verzog sich sein Mund zu einem leicht amüsierten Lächeln. Das was so locker und scherzend über seine Lippen kam, war nichts zu den Bildern, die da hinter seinen Augenlidern aufflammten, wenn Paige auch nur erwähnte, dass sie ein paar Tage zusammen in Bett verbringen sollten.

Selbst jetzt hatte er das Gefühl, ihre gemeinsame Begegnung von letzter Nacht wäre erst vor wenigen Minuten vorbei. Immer noch konnte er ihren Duft in seiner Nase spüren, wie sie sich unter seinen Händen angefühlt hatte und es immer noch tat. Ihre Schuppen auf seiner Haut und um seinen…

Ryon biss sich leicht auf die Unterlippe, ohne aufzublicken, obwohl Paige sich vermutlich gerade zu ihm herum gedreht hatte. Der Bewegung nach würde er das zumindest vermuten. Aber wenn er sich nicht zusammenriss, dann würde seine ganz persönliche Peepshow Wirkung zeigen und das wäre im Augenblick nicht unbedingt fair gewesen.

„Ich befürchte, in London wirst du allerdings kein Schlafzimmer finden, in dem auch ein Fernseher steht. Würdest du dich mit einer riesigen Couch, einer großen Portion Eis und Naschsachen auch milde stimmen lassen?“

Sich vorzustellen, mit Paige faul vor dem Fernseher herum zu hängen und sich Cartoons rein zu ziehen hatte etwas … völlig Unbekanntes an sich. Ryon sah nie fern und die Zeit, in der er sich noch für Cartoons begeistert hatte, lag weit bis ins Kleinkindalter zurück. Aber vielleicht wusste er auch gar nicht, was ihm entging.
 

Sein Lächeln ließ Paiges Herz für einen Moment aufgeregt flattern. Ob Ryon es nun wusste oder nicht. Der Anblick war immer noch so neu und fühlte sich für sie so besonders an, dass sie meistens zweimal hinsah. Was aber nur bedeutete, dass sie sich dann umso mehr darüber freuen konnte, dass sie ihn tatsächlich lächeln sah. Die winzige Andeutung eines Grübchens würde sich bestimmt zu einer liebenswerten Besonderheit steigern, wenn er einmal lachte.

Bis jetzt hatte Paige sich nie Gedanken darüber gemacht. Seit sie Ryon kannte waren sie in wenigen Situationen gewesen, die Lachen angebracht, wenn vielleicht auch wünschenswert gemacht hatten. Sie entdeckte diese Seite an ihm wahrscheinlich genauso offen und fasziniert wieder, wie er selbst. Paige würde sich niemals vorstellen können, wie man überleben konnte, während man jahrelang ohne Lachen auskam.

„Ja, genau das meinte ich. Schlafen nicht zu vergessen.“

Mit einem kleinen Kuss auf eben dieses Grübchen, das sich nun wieder neben seinem Mundwinkel versteckte, kuschelte sie sich in ihre bequeme Ausgangsposition zurück.

„Eigentlich liebe ich es gerade dann Cartoons zu sehen, wenn ich gerade vorm Eindösen bin. Aber wenn die Couch riesig genug ist, um darauf einzuschlafen,dann kann ich mich darauf einlassen, denke ich.“

Während sie weiter Kreise mit ihren Fingern auf seinen Knien, Beinen und bis auf seine Arme zog, dachte sie an Paris zurück, wo sie Ryon eine Praline vom Frühstücksteller geklaut hatte.

„Stehst du denn auf Süßigkeiten? Ich meine, wer tut das nicht? Aber ich meine, bist du ein echter Naschkater?“

Wie passend das wäre, brachte sie albern zum Schmunzeln. Paige selbst mochte Schokolade und ihr fiel etwas ein, das sie Ryon unbedingt einmal zeigen musste, wenn er wirklich auf Süßes stand. Eine Köstlichkeit, die seine Naschseite mit ihrem Spieltrieb paaren könnte.
 

„Wenn du willst, kannst du überall eindösen, wo dir gerade danach ist. Ich werde schon dafür sorgen, dass du am Ende immer im Bett landest.“ Besser gesagt, in seinem eigenen.

Der Gedanke nicht mehr alleine zu schlafen, war ebenso absurd, wie der Gedanke es ohne Paige zu tun. Irgendwie schien beides angebracht und doch wieder nicht passend zu sein. Das verwirrte ihn und brachte Ryon dazu, diesen Gedanken fallen zu lassen.

Stattdessen öffnete er die Augen und richtete sich etwas auf, um an das Haarshampoo zu kommen, das er wohlweislich nicht unweit der Wanne abgestellt hatte.

Ohne zu fragen, da er ohnehin kein Nein akzeptiert hätte, durchnässte er Paiges Haare vollkommen, ohne dass sie Wasser ins Gesicht bekam und verrieb dann eine gute Menge Shampoo zwischen seinen Handflächen. Er verteilte die Flüssigkeit zuerst in ihrem Haar, ehe er mit sanften Bewegungen damit begann, ihre Kopfhaut systematisch und mit aller Zeit der Welt zu massieren.

„Früher einmal mochte ich alles, was schmilzt. Eis, Schokolade, Sahne, Mousse… Alles was einem schier auf der Zunge oder … der Haut zergeht.“

Diese Vorliebe hatte sich natürlich auch mit seinen ganzen anderen Vorlieben in Luft aufgelöst, als nichts mehr ihm Freude bereiten konnte. Er aß, weil er es musste, nicht, weil er es genießen würde, obwohl er früher ein regelrechter Gourmet gewesen war, der nicht alles aß, was nach Essen aussah.

„Und du? Mopst du gerne anderer Leute Essen? Oder bin ich da die Ausnahme?“, fragte er neckend und kein bisschen böse. Eigentlich hatte er es damals in Paris ganz nett gefunden, wie sie sich an seinen Süßigkeiten vergriffen hatte. Denn das war es doch, woran sie eben gedacht hatte, oder?
 

Paige ließ sich sehr gern die Haare von ihm waschen. Es entspannte sie nur noch mehr und so wie Ryon sich dabei anstellte, hätte er stundenlang so weiter machen können. Sie selbst war in Massagen die totale Niete. Da stand ihr ihre mangelnde Geduld meistens einfach viel zu sehr im Wege. Eigentlich unfair, wenn man bedachte, dass sie das hier gerade so sehr genoss. Aber eben auch deswegen, weil sie währenddessen noch etwas Anderes tun konnte oder zumindest könnte.

Vielleicht brachte Ryon noch ganz andere Seiten an ihr zum Vorschein, als sie vermutete. Selbst wenn es für den Anfang nur die Geduld war ihm irgendwann etwas Ähnliches wie eine ausgiebige Massage zu Teil werden zu lassen.

„Oh, verstehe...“

Paige stellte sich seltsamer Weise ohne das geringste Fünkchen Eifersucht vor, wie Ryon und Marlene früher Nächte vor dem Kühlschrank verbracht hatten. Nicht nur, um sich gegenseitig zu zeigen, was das Eisfach hergab, sondern auch, was das für Spaß mit sich bringen konnte.

Vielleicht machte ihr gerade diese Vorstellung deshalb nicht so viel aus, weil Paige so etwas noch nie versucht hatte. Bei ihr hatte es Lebensmittel noch nie in einer Fülle gegeben, dass sie sich solcherlei Spielchen hätte erlauben können. Alles, was der Kühlschrank hergab, wurde aus Hunger gegessen.

„Nein, Mundraub ist nicht eins meiner Hobbies. Früher war es mal nötiger Broterwerb, aber das ist glücklicher Weise schon etwas länger vorbei.“

Sie wollte die Stimmung mit dieser kurzen Andeutung nicht herunter ziehen. Aber dass es ihr auch vor Ais Auftauchen nicht sonderlich gut ergangen war, musste Ryon ebenfalls klar sein.

„Als Hobby würde ich eigentlich nur das Singen bezeichnen. Auch deshalb mag ich den Job im 'Fass'.“

Ihr kam ein Gedanke, den sie sich erst auf der Zunge hin und her rollen ließ, bevor sie ihn schließlich doch leise und vorsichtig aussprach.

„Ich würde gern zur Weihnachtsfeier gehen. Wenn bis dorthin alles durchgestanden ist, meine ich. Die Leute sind meine Freunde. Und es wäre schön, mal wieder ausgelassen und albern zu sein.“

Und albern konnte man bei der Weihnachtsfeier im 'Fass' sehr gut sein. Es wurde gesungen, Musik gemacht, getrunken, getanzt und viel gelacht. Völlig harmlos und dennoch immer wieder ein Highlight des Jahres.
 

Während Ryon gespannt Paiges Erzählungen zuhörte, wanderten seine Hände in ihren Nackenbereich, um dort jeden noch so kleinen verspannten Muskel zu bearbeiten, auch wenn das dem Haarewaschen nicht unbedingt diente. Aber wenn er schon einmal dabei war, dann wollte er auch unbedingt weiter machen.

„Du hast recht Paige. Die Zeiten, in denen du dir um Essen sorgen machen musstest, sind vorbei. Für immer.“

Er hatte es leise gesagt, ernsthaft und mit einem Versprechen in seiner Stimme. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte und aus ihnen beiden nichts wurde, würde er sie doch niemals in das Leben zurück schicken, aus dem sie gekommen war. Das könnte er einfach nicht.

Um jedoch wieder zu einem erfreulicheren Thema zu wechseln, ging er auf die Weihnachtsfeier im ‚Fass‘ ein.

„Natürlich kannst du zu der Weihnachtsfeier gehen, wenn alles vorbei ist. Immerhin bist du frei und kannst tun und lassen was du willst.“

Ryon wäre der letzte, der Paige von etwas abhalten würde, das sie glücklich machte. Obwohl er sich natürlich schon fragte, was für Freunde das waren und ob man dieses nagende Gefühl im Bauch einen Anflug von Eifersucht nennen konnte?

Er würde gerne mitkommen. Zwar nicht als Anstandsdame, aber es würde ihn zumindest beruhigen. Seine Besitzansprüche auf eine Frau waren da sehr viel ausgeprägter, als die menschlicher Männer. Auch wenn er sich Paige natürlich nicht aufdrängen würde. Es war ihre Entscheidung, wen oder ob sie überhaupt jemanden dazu mitnehmen würde.

Während Ryon sich soweit und so vorsichtig es ging, mit seinen Händen bis zu Paiges Schulterblättern hinab arbeitete, grübelte er eine Weile still vor sich hin. Es war alles noch so neu und immer hatte er das Gefühl vorsichtig vorgehen zu müssen, was auch immer er tat. Vielleicht lag es auch einfach nur an seiner Unsicherheit in diesen Dingen. Es war schon lange her und Lenn war nicht Paige gewesen. Was ihm bei seiner verstorbenen Gefährtin geholfen hätte, könnte sich bei seiner dämonischen Freundin ganz schön in ein Fettnäpfchen umwandeln. Zum Glück wollte er Paige vollkommen neu kennen lernen mit all ihren Seiten. Sein Wissensdurst über sie würde nie versiegen.

„Da hast gesagt, du singst gerne…“, begann er zögerlich, während seine Hände inne hielten. Noch einmal ließ er sich seinen Gedanken durch den Kopf gehen, ehe er sich vor beugte und ganz dicht an ihr Ohr flüsterte: „…würdest du etwas für mich singen?“
 

Wenn das so weiter ging, würde Paige wirklich das Bedürfnis bekommen, sich nach der Wanne sofort wieder ins Bett zu legen. Das heiße Bad und noch dazu Ryons Finger, die inzwischen vorsichtig aber angenehm wirkungsvoll ihre Nackenmuskeln durchkneteten...

Obwohl ihr ein paar der eingeseiften Haarsträhnen ins Gesicht fielen, lehnte sie dennoch ihren Kopf ein wenig nach vorn, damit Ryon mehr Platz hatte. Die Tatsache, dass er sich wegen ihrer Verletzungen nur sehr sanft um ihre Verspannungen kümmerte, machte das ganze sogar noch schöner. Es hatte etwas von einer ausgiebigen Schreicheleinheit, die Paige mehr genoss, als Ryon sich vorstellen konnte. Wer hätte denn gedacht, dass er einmal so mit ihr umgehen würde? Paige hätte nie geglaubt, dass er je den Wunsch danach hegen würde. Aber die Überraschung war sehr erfreulicher Natur.

„Die Weihnachtsfeier würde dir sicher auch gefallen.“, sagte sie leise und die Entspannung zeigte sich hörbar auch in ihrer Stimme.

„Ursprünglich hatte Marv es mal so geplant, dass nur die Belegschaft nach Ladenschluss ein bisschen feiern kann. Aber im Laufe der letzten vier Jahre hat es sich ausgewachsen. Das Fass wird schon gegen 22Uhr für die normalen Gäste geschlossen und es bleiben nur die Angestellten und deren Freunde.“

Das reichte allerdings auch, um den Laden voll zu machen. Die Stimmung war jedes Mal ganz anders als im normalen Betrieb, da jeder sich mehr oder weniger selbst bediente, es leckeres Essen auf einem Buffet gab und ein paar der Bedienungen auch zum Unterhaltungsprogramm beitrugen.

„Es hat etwas von einer großen Familie. Die Leute sind wirklich nett.“

Hoffentlich durfte sie überhaupt noch an der Feier teilnehmen. Immerhin war sie einfach verschwunden, ohne Bescheid zu geben oder auch nur zu sagen, dass sie in nächster Zukunft nicht mehr zum Dienst erscheinen würde. Paige war eine gute Bedienung, aber jeder konnte ersetzt werden.

Aber die Chance blieb, dass Jazz ihrem Chef gesagt hatte, dass sie nicht für immer verschwunden bleiben würde... Nur bis alles erledigt war und die Wogen sich geglättet hatten.

Paiges Blick hatte sich auf ihre Fingerspitzen geheftet, die wieder auf Ryons Oberschenkel lagen. Jazz... Sie hatte gar nicht mehr an ihn gedacht in dem ganzen Durcheinander, ihrer Abwesenheit aus London und ... dem hier. Ein wenig reumütig dachte sie daran, wie fies sie sich fühlen würde, wenn sie den Barkeeper bei einer Gelegenheit wie dieser Feier vor vollendete Tatsachen stellte.

Mal vorausgesetzt, dass alles gut lief und sie in dieser gar nicht mehr all zu fernen Zukunft überhaupt noch irgendetwas tun konnte.

Ihre Gedanken wurden trüber, bis sie Ryon an ihrem Ohr spürte und seine Frage unschuldig und doch so aufreibend in ihr Gehirn drang.

Paige richtete sich wieder ganz auf, strich sich die Haare so gut es ging aus dem Gesicht und drehte sich ein wenig zu Ryon um. Es war bereits ein körperliches Bedürfnis ihn sofort auf diese reizenden schmalen Lippen zu küssen, sich in den Anblick der goldenen Augen versinken zu lassen...

Ihre Stimme war leise, aber klar. Bei der Akustik des Badezimmers musste sie sich nicht anstrengen. Ihre Gesang wurde von selbst verstärkt und von den Fliesen zurück geworfen. Paige hatte gar nicht darüber nachgedacht, was sie ihm vorsingen sollte. Ob es zu kitschig oder romantisch oder einfach nur zu viel sein könnte. Es war eben eins der Lieder, die sie gern sang. Nur mit Klavierbegleitung oder eben allein.

Glücklicher Weise war ihre Reaktion so spontan gewesen, dass sie sich keine allzu großen Gedanken darüber machte, was sie gerade tat. Dass sie hier in einer Badewanne mit Ryon zusammen saß und ihm ein eindeutiges Liebeslied vorsang.

Dennoch spürte sie, wie sie leicht rot anlief, als die letzten Noten in dem Raum kurz widerhallten und dann wieder nichts zwischen ihnen war. Ein wenige fühlte es sich so an, als würde sie nun auf das Urteil einer Jury warten. Noch dazu einer, deren Urteil Paige mehr wert war, als die eines riesigen Publikums.
 

Obwohl Paige ihn ansah und er wusste, was gleich kommen würde, trafen ihre wohlklingenden Worte, die Melodie darin und der wunderschöne Klang ihrer Stimme ihn völlig unvorbereitet.

Ryon hatte das Gefühl, jeder einzelne Buchstabe und jeder Ton würde sich tief bis in die kleinsten Moleküle seines Körpers hineinschleichen, nur um dort immer wieder bei jeder Oktave vibrierend zu erklingen.

Warme Glückschauer durchfluteten ihn, hypnotisierten ihn regelrecht, während er nicht fähig war, Paiges Blick auszuweichen. Was er auch gar nicht gewollt hätte.

Erst als Stille sich wieder über den vorhin noch so erfüllten Raum legte, kam Ryons Verstand langsam wieder in die Gänge. Einen Moment lang war er fast sogar verwirrt, als hätte er eben noch geträumt und wäre gerade ziemlich schnell daraus erwacht, bis ihm wieder Paiges Gesang und seine Bitte danach einfiel.

Sie sah ihn an, als schien sie auf etwas zu warten. Ein Urteil vielleicht, aber das konnte ihr Ryon im Augenblick nicht geben. Seine Kehle war wie zugeschnürt, kein Ton käme ihm im Augenblick über die Lippen, da er noch immer mit halben Fuß in diesem Rausch steckte. Noch nie, wirklich noch nie hatte jemand so für ihn gesungen. Dabei war seine Mutter eine geborene Gute-Nachtlied-Sängerin. Aber selbst das war nur ein Schatten zu dem, was Paige gerade in ihm ausgelöst hatte.

Er fühlte sich vollkommen von ihr bezirzt, als wäre sie eine Sirene.

Langsam, als er wieder die Kontrolle über seine Muskeln zurück erlangte, stahl sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen. Es war mehr, als Paige jemals zu sehen bekommen hatte und doch lange nicht genug, um das auszudrücken, was nun in seinem Inneren lautstark sang.

Ryon strich Paige die Haare noch weiter aus dem Gesicht, damit ihr kein Shampoo in die Augen gelangen konnte. Danach beugte er sich zu ihr vor, hielt sie mit seinem eigenen Blick förmlich gefangen, ehe er sie küsste. Zärtlich zwar, aber mit einer deutlichen Intensität darin, die sein Feedback auf ihren Gesang stark wiederspiegeln sollte. Er konnte gar nicht anders. War es doch so viel besser gewesen, als sein Schnurren es jemals könnte.
 

Ihr Herz wollte sich vor Erleichterung und anderen Gefühlen am liebsten überschlagen. Sie war so ... glücklich.

Als sie sich wieder von einander lösten, streichelte Paige mit ihrem Daumen über die Stelle über Ryons linkem Mundwinkel, wo er ihr noch einmal dieses kleine Grübchen gezeigt hatte. Um es öfter zu sehen, hätte sie gesungen, bis sie heiser war.

Obwohl sie ihn liebend gern noch weiter geküsst hätte, war diese verdrehte Haltung auf die Dauer zu unbequem. Also drehte sie sich wieder so, dass sie mit dem Rücken an ihm lehnen konnte.

Paige nahm seine Hände und legte seine Arme so um ihren Körper, dass sie sich eine Weile einfach an einander festhalten konnten. Warum sie Lust dazu verspürte, wusste Paige selbst nicht. Noch nie war sie jemand gewesen, der sich beschützen ließ. Immer war sie auf eigenen Beinen gestanden und hatte sich beweisen wollen, dass sie niemanden brauchte.

Warum sich das gerade jetzt ansatzweise zu ändern schien, war ihr fast ein wenig unheimlich. Nun ja, sie wollte ja auch nur, dass er sie ein wenig festhielt. Das hatte noch nicht zu bedeuten, dass sie nicht weiter auf eigenen Beinen stehen konnte.

„Ich weiß, ich bin ein Spielverderber. Aber was hältst du davon, wenn wir uns aus der Wanne schälen und irgendwo was frühstücken, bevor wir nach England zurück fliegen?“
 

Ryon hatte absolut nichts dagegen, einfach eine Weile nur still dazusitzen und Paige im Arm zu halten. Nach den Gefühlen, die sich da immer mehr in ihm zu drehen begannen, war es sogar genau richtig so. Jeden Moment mit Paige wollte er auskosten und dass es dabei nicht nur um Sex ging, war klar. In seinem Fall sogar noch klarer, weil das ein Thema war, mit dem er sich noch beschäftigen musste, um es für sie beide erfüllender zu machen.

Doch das hier, kuscheln, sich gegenseitig Wärme schenken und zärtlich sein, das fühlte sich gut und richtig an und war für ihn auch nicht länger schwierig. In Ägypten war es das vielleicht noch gewesen, aber je mehr er sich mit seinen tiefsten Problemen beschäftigte, umso mehr schien sich davon aufzulösen. Vielleicht würde eines Tages kaum noch etwas von den alten Wunden zu sehen sein, außer gut verheilter Narben vielleicht. Er hoffte es zumindest.

„Ich bin auch dafür, dass wir uns trocken legen. Schrummpelfinger waren noch nie etwas, das ich gerne an mir erlebt hätte.“

Damit nahm er seine Arme von Paige, um das Shampoo aus ihren Haaren zu spülen. Ein ausgiebiges Frühstück wäre jetzt wirklich genau das richtige. Er war verdammt hungrig.



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