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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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17. Kapitel

Obwohl er sich so sehr beeilt hatte, dass sogar seine Haare etwas durch den Wind waren, als er den Speisesaal betrat, kam er knapp zwanzig Minuten zu spät.

Ryon hatte sich nicht damit aufgehalten, noch ins Zimmer zu eilen, um sich umzuziehen. Das konnte er später auch noch nachholen. Stattdessen war er schnurstracks sofort hier her gekommen, um Paige nicht noch länger warten zu lassen.

Etwas außer Atem, mit vom kühlen Wind leicht geröteten Wangen und leicht zerzauster Frisur, glitt er auf seinen Platz Paige gegenüber und entschuldigte sich mit voller Ernsthaftigkeit für seine Verspätung, nannte aber keine Gründe dafür. Erst danach kam er langsam zur Ruhe und richtete sich unauffällig wieder seine Haare.
 

Paige nippte zum ungefähr hundertsten Mal an ihrem Mineralwasser und sah auf die Uhr.

Bereits zehn Minuten vor der verabredeten Zeit war sie in den Speiseraum gekommen und hatte noch freudig festgestellt, dass sie sogar vor ihm da war.

Als allerdings die Minuten vergingen und sie schon der zweite Kellner fragte, ob sie nicht etwas bestellen wolle, wurde ihre Laune schlechter.

Es war gar nicht die Tatsache, dass sie jedes Mal ablehnen musste, da sie nicht unhöflich sein und ohne Ryon anfangen wollte. Die mitleidigen Blicke und das Lächeln des Angestellten, der sie bereits am Frühstückstisch bedient hatte, machte sie einfach nur fertig.

Bestimmt glaubte der junge Mann, dass Ryon ihr Begleiter war und sie das Frauchen, das sich jedes Mal aufs Neue von ihm hinhalten ließ. Schon beim Frühstück war er später am Tisch aufgekreuzt als sie selbst. Dass sie dafür allerdings keine Zeit ausgemacht hatte, die er hätte einhalten sollen und überhaupt, dass sie keinerlei romantische Beziehung irgendeiner Art pflegten, konnte der Kellner ja nicht wissen.

Aber als aus den zehn Minuten fünfzehn wurden, dann siebzehn, neunzehn ... wäre Paige am liebsten einfach gegangen. Noch zu bestellen, ohne dass ihr Begleiter aufgekreuzt war, wäre ihr trotz aller realen Unverfänglichkeit peinlich gewesen.

Als ihr Minutenzeiger gerade die Kurve über die vier kratzte und Paige das Glas entschlossen auf dem Tisch abstellte, um sich zu verdrücken, sah sie Ryon in den Raum eilen.

Er sah so aus, als wäre er ein wenig außer Atem und schlängelte sich durch die voll besetzten Tische auf seinen Platz zu. Sobald er seinen Mantel über die Stuhllehne warf und sich anschließend setzte, konnte sie sehen, dass er tatsächlich ein wenig durch den Wind war. Sein minimal zerzaustes Haar gefiel Paige fast besser, als diese strenge, geschleckte Frisur, in der er sie normalerweise trug.

Der Frisör hatte sich zwar Mühe gegeben, ihn nicht zu aalglatt aussehen zu lassen, aber gelungen war das nur in Ansätzen. Hätte man ihm einmal kräftig durch die sicher dicke Mähne gerubbelt, wäre das Ergebnis bestimmt ansehnlich gewesen. Ryon sah das offensichtlich anders und strich sich jede einzelne Haarsträhne wieder an ihren ordentlichen Platz, bevor er zur Karte griff, um sich etwas auszusuchen.

Paige überflog das Angebot nur noch, da sie schon zu Beginn ihrer Wartezeit lange in dem Menü geblättert und es genauestens studiert hatte.

"Es stehen Escargot auf der Karte", stellte sie wie nebenbei fest, um die Stimmung etwas aufzulockern und ein Gespräch zu beginnen. Ryon reagierte zwar darauf, indem er hochsah, zeigte aber ansonsten keinerlei Regung. Kein Lächeln.

Naja, es war einen Versuch wert gewesen.

Nachdem sie bestellt hatten - Paige hatte sich für Ratatouille mit Pilzen entschieden - blickte Paige zu ihrem Gegenüber und überlegte, was sie sagen sollte. Da sie seit zwei Tagen mit Ryon unterwegs war, hatte sie logischerweise kaum ein Wort gesprochen. Unterhaltung war einfach nicht seine große Stärke und Paige fehlte dieser Austausch unheimlich.

Ihre Mundwinkel zuckten leicht, während sie versuchte zu entscheiden, wie sie vorgehen sollte. Am liebsten hätte sie wieder mit einem Scherz angefangen.

'Na, Schatz, wie war dein Tag?'

Aber da das an Ryon abgeperlt wäre, wie Wasser an einer Glasplatte, ließ sie es bleiben.

"Ich war beim Eiffelturm", begann sie stattdessen. "Es war wirklich schön dort. Gar nicht so zugepflastert, wie ich es erwartet hatte. Es gibt eine große Rasenfläche und sobald man oben auf der Plattform ist, kann man über die ganze Stadt sehen..."

Ihre Begeisterung fand ein jähes Ende, als ihr etwas bewusst wurde.

"Aber das weißt du sicher."

Mit einem Seitenblick sah sie sich nach dem Kellner um, der hoffentlich bald das Essen brachte. Eine Beschäftigung für ihr Mundwerk, damit sie sich hier nicht lächerlich machte. Natürlich war Ryon schon auf dem Eiffelturm gewesen. Er hatte keine Anstalten gemacht, sie zu begleiten. Also war das Wahrzeichen für ihn sicher nichts Neues.

Der junge Kellner hatte ein perfektes Gespür für Timing und brachte zwei dampfende Teller mit Essen, das mehr als nur vorzüglich duftete genau im richtigen Moment an ihren Tisch.

Er lächelte und nickte Paige kurz zu, als er ihnen beiden einen 'bon appetit' wünschte, um dann unauffällig wieder zu verschwinden.

Das Gericht schmeckte köstlich und Paige genoss jeden kleinen Bissen. Auch wenn sie sagen musste, dass ihr Tylers Küche noch mehr zusagte.

"Hast du dir auch was angesehen?", wollte sie nach einer Weile wissen.

Die Stille war einfach zu viel für ihr neugieriges und kommunikatives Gemüt.
 

Ryon bestellte sich Suprême de canard à l’orange oder um es einfach auszudrücken: Barbarie Entenbrust in Orangensauce.

Er hatte so etwas noch nie gegessen, aber es hörte sich lecker an und wenn er schon einmal in einem anderen Land zugange war, wollte er auch einfach einen Sprung ins Unbekannte wagen. Für gewöhnlich war das meiste Essen genießbar, wenn der Koch nicht gerade seine kreative Phase hatte und herum zu probieren begann.

Während sie auf das Essen warteten, hörte Ryon Paige aufmerksam zu. Offenbar war für sie der Ausflug zum Eifelturm wirklich toll verlaufen, zumindest ihrer Begeisterung nach zu urteilen. Allerdings brach ihre Stimmung schnell ab, da sie annahm, ihn würde das vermutlich sowieso nicht interessieren, da er den Eifelturm wahrscheinlich schon tausendmal gesehen hatte.

Ryon war noch nie oben gewesen.

Das Essen kam, noch ehe er etwas darauf sagen konnte und als schließlich Schweigen sich ausbreitete, war irgendwie der richtige Moment verpasst, an dem er noch etwas hätte darauf erwidern können, also probierte er lieber ein Stück von der Ente. Die übrigens vorzüglich schmeckte und sofort Lust auf noch einen Bissen machte.

Wieder war es Paige, die versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Das fiel ihm aber erst auf, als sie ihn nach seinem eigenen Ausflug fragte. Bis dahin, hatte er sich einfach schweigend seinem Essen gewidmet. Kein Wunder, dass ihm derartige Gepflogenheiten nicht einmal mehr auffielen. Er aß seit Jahren alleine, ohne Gesprächspartner.

Da er aber eine gute Kinderstube genossen hatte, versuchte er auf das Gespräch einzugehen. Immerhin war es nicht so, dass er nicht mit Paige hätte sprechen wollen. Das alles war einfach nur wieder vollkommen neu für ihn. Bisher hatte er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen müssen. Aber da er vermutlich noch länger mit ihr zu zweit sein würde, sollte er sich etwas anstrengen. Nach dem gestrigen Vorfall, konnte es sicherlich nicht schaden, sich von einer besseren Seite zu zeigen, damit sie ihn nicht für noch durchgeknallter hielt, als es ohnehin schon der Fall sein musste.

„Ich habe Paris noch nie von oben gesehen.“, gestand er schließlich. Ignorierte damit zwar vorübergehend ihre Frage, ging aber dennoch auf das Gesprächsthema ein.

„Natürlich habe ich schon Bilder gesehen, die man vom Eifelturm aus gemacht hat, aber ich war noch nie dort. Dem zu Folge hast du mir schon einmal etwas voraus.“

Ryon schob sich ein weiteres Stück Ente auf die Gabel, ehe er Paige ansah.

Zwar konnte er nicht sagen, was in ihrem Kopf vor ging, aber bestimmt wunderte es sie, dass er noch nie auf dem Eifelturm gewesen war. Immerhin hatte sie das doch vorhin noch stark angenommen.

Um sich also nicht alles aus der Nase ziehen lassen zu müssen, beantwortete er einfach die nicht ausgesprochene Frage des ‚Warum‘.

„Ich habe Höhenangst.“

Er steckte sich den Bissen in den Mund und kaute in aller Ruhe, als hätte er nicht gerade eine starke Schwäche von sich preis gegeben.

Nun, zugegeben, seine Höhenangst war nicht so ausgeprägt, wie bei manch anderen, aber ab einer gewissen Höhe wurde ihm nicht nur schlecht und schwindelig, manchmal setzte dabei auch sein Bewusstsein vor Angst aus.

Vor allem betraf es gewisse Höhen die er grundsätzlich nicht heil überstehen würde, wenn er von dort ausgehend in die Tiefe fiel. Ein Baum oder der zweite Stock eines Hauses war demnach noch nicht wirklich schlimm. Aber der Eifelturm … nein. Alleine wenn er daran dachte, überkam ihn ein Schauder.
 

"Ach wirklich?"

Das war eine Angst, an die Paige nie einen Gedanken verschwendete. Sie selbst mochte Höhen und konnte das Unwohlsein bei freien Aussichten oder einem Abgrund nicht nachvollziehen.

Wenn sie auf einem Gebäude stand und über eine weite Fläche sehen konnte, fühlte sie sich frei. Es hatte etwas von Fliegen, das sie in ihrem Leben nur sehr selten erlebt hatte. Sie hatte immer angenommen, dass es vielen Wesen in 'World Underneath' so ging und sie hoch hinaus wollten, um dieses Gefühl von freiem Atmen zu genießen. Einmal diejenigen ausgeschlossen, die Paiges Meinung nach das große Glück hatten, mit Flügeln gesegnet zu sein. Es musste wunderschön sein, sich jederzeit von der Enge der Unter- und der menschlichen Welt entfernen zu können.

Aber Ryon gehörte ja auch nicht wirklich in die Unterwelt.

Seine kleine Wohnung hatte dort gelegen, aber wenn Paige so darüber nachdachte, war das Haus im Wald sein Zuhause und nicht dieser winzige, abgeschottete Raum in dem herunter gekommenen Mehrfamilienhaus.

"Das hätte ich nicht gedacht."

Immerhin hatte er sie ohne mit der Wimper zu zucken aus der Felsspalte gezerrt und sie einige Meter über dem Boden an die Luft gehalten. Damals wäre ihr die Schwäche an ihrem Gegner bestimmt aufgefallen. Denn sie hatte auf einen kleinen Ansatzpunkt geachtet, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Hatte er etwa hinter seinen leeren Augen auch Angst gehabt abzustürzen?

"Ab welcher Höhe ist es dir denn unangenehm? Hat dir dann der Flug hierher auch etwas ausgemacht?"

Man konnte sagen, Paige hatte Blut geleckt.

Es war das erste Mal, dass Ryon ihr etwas von sich erzählt hatte. Und dann auch noch etwas, das so viel mit Gefühl zu tun hatte. Er hatte eine Angst vor ihr zugegeben. Wie hätte sie da nicht nachhaken können, um mehr zu erfahren?

Für eine Weile vergaß sie sogar das leckere Essen auf ihrem Teller, legte die Gabel ordentlich auf ihrer Serviette ab und faltete ihre Hände unter dem Kinn. Interessiert und offen sah sie ihn an, während sie auf weitere Worte wartete.
 

Paige hätte schon Hellseherin sein müssen, um zu wissen, dass auch er vor etwas so banalem wie Höhe Angst hatte, wo er doch sonst nicht großartig auf die meisten Dinge reagierte. Vermutlich kam auch daher ihre Neugier und da es für Ryon ein relativ unverfängliches Thema war, hakte er einfach ein. Vor allem, da sie sich auch schon darauf vorbereitet hatte, ihm zuzuhören, statt nebenbei weiter zu essen. Er sah das als sehr höflich an, weshalb er ihr auch den gleichen Respekt zollen sollte.

Selbst auf die Gefahr hin, dass die Ente kalt wurde, legte auch er sein Besteck weg, berührte aber mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger den Stiel seines Wasserglases, um sich unbewusst an irgendetwas fest zu halten.

Es war reine Angewohnheit, dass er sich bei Gesprächen immer mit den Händen beschäftigte. Zumindest wenn sie länger dauerten und er sich nicht hinter einer steinerne Fassade verstecken musste.

Natürlich legte er diese nicht ganz ab, aber er konnte auch nicht behaupten, sich gerade unwohl zu fühlen.

„Fliegen ist kein Problem. Ich sehe zwar gut, aber bei mehreren tausend Metern, bleibt trotzdem alles nur noch ein Farbengemisch und man kann nicht direkt etwas erkennen. Beim Start und bei der Landung sehe ich einfach nicht aus dem Fenster.“

Ryon suchte Blickkontakt und blieb dann auch bei ihren Augen hängen.

Paige anzusehen fiel ihm nicht besonders schwer. Zumindest in diesem Augenblick nicht. Manchmal, da wich er dem Ausdruck ihrer Augen gerne aus. Zwar konnte man darin nicht wie in einem offenen Buch lesen, aber das Wechselspiel von Gefühlen war manchmal nicht zu übersehen, obwohl sie so dunkel waren.

„Bäume sind auch kein Problem, egal wie hoch sie sind. Bei Häusern wird es schon schwieriger. Ich könnte in einem Penthouse nur schwer von der Terrasse hinunter blicken. Es klingt vielleicht seltsam, aber für mich sind die Höhen am Schlimmsten, bei denen ich von vornherein weiß, dass ich sie nicht überleben könnte. Demnach finde ich steile Berge nicht so schlimm, wie senkrecht abfallende Klippen.“

Das war reiner Überlebensinstinkt. Denn wäre es nicht so, seine Angst vor Höhen würde ebenfalls mit all den anderen Gefühlen verschwinden, wenn er sein Tier in sich einsperrte.
 

"Das ist tatsächlich bemerkenswert.", meinte Paige völlig ehrlich, während sie ihre Position nicht aufgab und weiter auf ihre Hände gelehnt in Ryons Gesicht sah.

"Ich habe noch nie gehört, dass sich Höhenangst so äußert. Eigentlich war ich der Meinung, dass man entweder alle Höhen verträgt oder eben gar keine. Hm..."

Eine Weile hatte sie auf seine Finger gesehen, die ein wenig unruhig am Stil seines Glases lagen.

Von drängender Neugier gepackt, sah Paige wieder auf. Ihrem Gegenüber genau in die leeren, matten Augen.

Sie konnte selbst nicht sagen wieso, aber der Moment schien ihr günstig, sich Ryon noch einmal genauer anzusehen. Und zwar so, dass er es mitbekam. Nur so lange, dass es zu keinem peinlichen Moment führte, betrachtete sie seine Augen. Die großen schwarzen Pupillen, die nur von einer gelblich goldenen Iris eingefasst waren wie riesige dunkle Perlen. Paige wäre nicht Paige, wenn sie der Anblick nicht dazu aufgestachelt hätte, diesem toten Dunkel irgendwann doch noch eine Reaktion entlocken zu wollen. Noch dazu, wo es gestern in dem Tunnel, dort im Finstern, in der Kälte irgendetwas gegeben hatte.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger verstand sie, was passiert war. Aber das musste sie auch nicht.

Bevor Ryon ihr sagen konnte, sie solle ihn nicht so schamlos anstarren, griff sie wieder zu ihrer Gabel und führte das Gespräch fort, als wäre nichts gewesen.

"Soweit mir bewusst ist, habe ich keine Phobie. Ok, ich glaube die Wenigsten können Krabbeltiere besonders gut leiden, aber wenn mir eine Spinne über den Handrücken krabbelt, finde ich das noch lange keinen Grund auszuflippen."

Während sie weiter überlegte, stach sie schwungvoll mit der Gabel in einen halben Champignon.

"Warst du denn dann unten am Eifelturm? Auf dem Platz?"
 

Kurz trat Schweigen zwischen ihnen ein, während Paige ihm tief in die Augen sah. Ryon hatte das Gefühl, sie versuche darin etwas zu erkennen. Einfach nur irgendetwas, doch er wusste, dass sie nichts finden würde. Selbst jetzt war er innerlich leer und nur eine lebende, atmende und denkende Hülle.

Gerade in ihrer Gegenwart, versuchte er sich immer besonders zusammen zu reißen. Das gestern war einfach ein Ausrutscher zu fiel gewesen. An den Vorfall in der Bibliothek wollte er gar nicht erst denken.

Trotzdem ließ er sie ihn in Ruhe ansehen, bis sie selbst wieder den Gesprächsfaden aufnahm. Sein eigenes Besteck ließ er, wo es war, als er antwortete, denn er könnte sich im Augenblick ohnehin nicht auf den Geschmack der abkühlenden Ente konzentrieren.

„Als ich zehn war, haben mich meine Eltern dorthin geschleift, aber ich habe mich solange quer gestellt, bis sie es aufgaben, mich mit nach oben zu nehmen. Sie sind dann alleine mit dem Aufzug hoch gefahren, während ich unten gewartet und Leute beobachtet habe. Damals fand ich dieses ganze Geturtel der Pärchen ziemlich komisch…“

Zumindest oberflächlich betrachtet. Immerhin wusste er damals schon, was es hieß, verliebt zu sein. Wenn auch noch in absolut kindlicher Unschuld.

„Beim zweiten Mal war ich siebzehn und mit Freunden unterwegs. Die haben erst gar nicht den Versuch gestartet, sondern mich lieber gleich in ein Museum gehen lassen. Um ehrlich zu sein, einmal von der Geschichte abgesehen, hat mich der Eifelturm nie wirklich interessiert.“

Bevor er hier noch so richtig gesprächig wurde, konterte er lieber mit einer Gegenfrage. Immerhin wollte er nicht den Anschein erwecken, Paige würde ihn auf keinerlei Weise interessieren. Dabei war doch das absolute Gegenteil der Fall. Immerhin war er jemandem wie ihr noch nie begegnet und dabei hatte er geglaubt, schon viel gesehen zu haben.

„Du bist noch nicht sehr viel gereist, nicht wahr? Gefällt es dir denn bisher?“

Damit die Ente nicht doch noch im Abfall landete, begann nun auch er wieder zu Essen, wenn auch nur, um dadurch immer wieder den Blickkontakt zwischen ihnen abzubrechen.

Jetzt gerade wurde es wieder schwerer. Er erzählte nicht oft von sich selbst, schon gar nicht vor der Zeit, als für ihn die Welt noch in Ordnung gewesen war.
 

Ein Zucchinistück gesellte sich zu dem halben Champignon auf ihrer Gabel und landete in ihrem Mund.

Ryon war also mal ein Kind und ein Teenager gewesen? Na, das hätte sie ihm unter Umständen gar nicht wirklich zugetraut. Vor allem nicht, dass er so einfach darüber reden würde. Paige hatte immer das Gefühl, dass er am liebsten den Eindruck aufrecht erhalten würde, dieser muskelbepackte Eisberg sei schon immer da gewesen und werde auch immer so sein, wie er war. Als würde er in einer Zeitschleife festhängen und sich die Welt in ihrer Banalität um ihn bewegen.

Na, so gehässig wollte sie auch nicht sein. Aber was den Eindruck von eingebildetem Schnösel betraf, gab Ryon meistens einfach zu viel Angriffsfläche.

Seine nächste Frage schien in dieses Muster zu passen. Aber andererseits auch wieder nicht. Einen Moment sah sie ihn prüfend an, darauf bedacht herauszufinden, ob die Feststellung eine Spitze gewesen sein könnte. Da sie sich nicht sicher war, antwortete sie vorsichtig.

"Nein... In meinem Leben bin ich noch nicht besonders viel in der Welt herum gekommen."

Was hatte er in diesem Moment Glück, dass selbst wenn er es empfinden sollte, kein Zug von Mitleid auf seinem Gesicht zu lesen war.

"Irgendwann hätte ich das schon gemacht. Später mal."

Jetzt stocherte sie ein wenig auf ihrem Teller herum. Schob ein Stück Tomate um einen weiteren Pilz herum, bloß um dann beides liegen zu lassen.

"Aber es gefällt mir."

An dem Glitzern in ihren Augen musste er sehen können, dass es die pure Wahrheit war.

"Vielleicht nicht alles", fügte sie mit einem Lachen beim Gedanken an ihren Fall in das Loch auf dem Friedhof an. "Aber ein bisschen Tourist spielen macht großen Spaß."
 

Während Ryon ihr aufmerksam zuhörte, jagte seine Gabel ein Stück Ente quer durch die Orangensoße, schob sie hin und her, bis er sie schließlich aufspießte, aber sich nicht in den Mund steckte, sondern einfach nur ansah.

Er schwieg.

Eine Weile, es dauerte bestimmt nicht länger als eineinhalb Minuten, hing er seinen Gedanken nach, bis er schließlich mit kaum verändertem, aber bestimmt trotzdem deutlich erkennbarem Tonfall zu einem völlig neuen Thema ansetzte.

„Schon seltsam, wie das Schicksal so spielt. Ich meine, früher bin ich ständig durch die Weltgeschichte gereist, dachte, auch der Rest meines Lebens würde so verlaufen und dann kommt es plötzlich doch ganz anders.“

Er war häuslich geworden…

„Oder hättest du vor zwei Wochen geglaubt, mit einem völlig Fremden nach Paris zu reisen? Versteh mich bitte nicht falsch, du bist noch jung und besitzt absolut die Kraft und Entschlossenheit deinen Wünschen nach zu gehen. Aber bestimmt hättest du nicht damit gerechnet, dass dein Leben von heute auf morgen so einen Wandel vollzieht und das so schnell. Manchmal denke ich, man wird vom Leben nicht geführt, sondern regelrecht in eine bestimmte Richtung getreten…“

Und worauf zum Teufel wollte er mit dieser glorreichen Ansprache überhaupt hinaus?

Er musste gestehen, er wollte auf gar nichts hinaus, sondern es einfach mit jemanden teilen. Vorzugsweise mit jemanden, der es vielleicht verstehen könnte, was er damit sagen wollte. Allerdings gab er Paige nicht die Chance darauf zu reagieren, denn er wechselte schon wieder das Thema, nachdem er den letzten Bissen auf seinem Teller verputzt hatte.

„Apropos Tourist. Ich hab mich noch einmal auf dem Friedhof umgesehen und bin zufälligerweise auf zwei Französinnen gestoßen, die mir den Weg in die Unterwelt erklären konnten. Wir müssen also nicht mehr blind in der Kälte herum irren.“
 

Paige fühlte sich gerade weniger vom Leben an sich, als von ihrem Gegenüber in der Gegend herum geworfen, als befände sie sich in der Trommel einer laufenden Waschmaschine. So schnell war sie von niemandem zuvor durch dessen Leben gehetzt worden. Schon gar nicht mit derartigen Lücken dazwischen, die er offensichtlich nicht füllen wollte.

Wenn Ryon glaubte, dass er sich mit dem schlussendlichen Themenwechsel so leicht aus der Affäre ziehen konnte, dann aß er gerade mit der falschen Fremden zu Abend - wie er es so schön ausgedrückt hatte.

"Dir ist klar, dass du nicht uralt bist, oder?", wollte sie wissen und ließ damit seinen Versuch auf den weiteren Verlauf der Nacht zu schwenken vollkommen auflaufen.

Sie lächelte ihn an. Völlig wertfrei. Und dennoch lag mehr dahinter, als ihr selbst bewusst war.

"Wieviel älter als ich bist du, Ryon? Ein paar Jahre? Und selbst wenn wir beide hundert würden... Unsere Wünsche können wir uns immer erfüllen."

Wenn er von sich selbst sprach, als wäre schon alles dahin, wurde sie ungeduldig. Obwohl sie ihn nicht kannte und er es verdammt gut hin bekam, sein Wesen so aussehen zu lassen, als wäre er wirklich aus Stein ... sie wusste doch, dass dem nicht so war.

Er sah sie eisig an. Wie immer. Ach, was sollte es? Er hatte sie nicht darum gebeten ihn wieder ... zusammen zu setzen.

"Französinnen?"

Paige nahm einen großen Schluck Wasser und sah sich anschließend die Bläschen an, die am Inneren des Glases nach oben strebten.

"Gut. Dann haben wir heute hoffentlich mehr Glück."
 

Das Ryon erst einunddreißig war, sich aber desweilen wie hundert fühlte, teilte er ihr nicht mit. Genauso wenig, setzte er sie darüber in Kenntnis, dass er eigentlich keinerlei Wünsche und Träume mehr im Leben hatte. Wieso sollte er auch? Diese Luftschlösser waren schon alle zerplatzt.

„Ich denke, die einzige Schwierigkeit, wäre dann noch, diesen Crilin zu finden. Wir dürfen nicht zu aggressiv nach ihm suchen, sonst macht der Kerl die Fliege, noch ehe wir etwas aus ihm heraus gebracht haben. Was hältst du von einer unauffälligen Vorgehensweise? Vielleicht sollten wir zuerst nach allen Schmuck- und Antiquitätenhändlern Ausschau halten und unauffällige Erkundigungen einholen.“ Für Vorschläge war er natürlich immer offen. Diesbezüglich machte er sich keine Sorgen darüber, dass Paige auf den Mund gefallen war.



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