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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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7. Kapitel

Die Sonne kitzelte überraschend auf ihrer Nasenspitze.

Zu einem kleinen Ball zusammen gerollt, lag Paige in dem Bett, ohne sich auch nur eine Decke über den zitternden Körper gezogen zu haben. In der jetzigen Position war ihr auch warm, aber bequem konnte man das Ganze doch nicht nennen.

Sobald auch noch das schlechte Gewissen einsetzte, war sie sofort hellwach und setzte sich so schnell auf, dass sie nicht darauf achtete, wie sie lag und um ein Haar aus dem Bett fiel.

Sofort sah sie zu Ai hinüber, die sie eigentlich hatte in der Nacht bewachen wollen. Die Asiatin schlief noch ruhig und fest, was Paige ein Lächeln entlockte.

Aber nun zu den wirklich wichtigen Dingen. Sie musste Eisschrank finden und dann nichts wie weg von hier.
 

Wie erwartet döste er mehr, als dass er schlief. Das Bett war zwar relativ groß, für seine Verhältnisse aber nicht groß genug, weshalb es unmöglich war, eine Position zu finden, die er auch nur annähernd als gemütlich bezeichnen konnte. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, er hätte es noch nicht einmal zu einem Dösen gebracht, doch auch dieser Zustand endete, sobald sich die Dunkelheit vor dem Fenster langsam immer mehr aufhellte.

Ryons erste Handlung an diesen äußerst frühen Morgen bestand darin, sich die Verbände ab zu nehmen, um nach seinen Wunden zu sehen. Er heilte relativ schnell, weshalb es ihn auch nicht wunderte, dass die Brandverletzung zwar noch weh tat, aber das in einem absolut erträglichen Rahmen.

Die Kräutersalbe hatte wirklich meisterhaft gearbeitet und den Heilungsprozess noch beschleunigt, weshalb seine Hand zwar noch immer ziemlich gerötet und etwas unbeweglich war, dafür klaffte aber keine offene Fleischwunde mehr darin. Den glatten Durschuss an seinem Oberarm betrachtete er noch nicht einmal. Diese Verletzung würde auch ohne seine Aufmerksamkeit heilen. Das wusste er.

Als er noch immer müde und absolut nackt ins Bad taumelte, stellte er fest, dass an der Tür ein Kleidersack hing, der gestern definitiv noch nicht dort gewesen war.

Tyler hatte ihn also ohne Probleme aufgestöbert und sich so leise herein geschlichen, dass selbst er ihn nicht hatte hören können. Der Kerl war wirklich eine Klasse für sich.
 

Frisch geduscht, rasiert und in einer Kleidung die schon eher seinem Geschmack entsprach, stand er schließlich in der sonnendurchfluteten Küche und kochte Kaffee.

Die beigefarbene Hose und das weiße Hemd musste sein Freund wohl aus irgendeinem Karton heraus gegraben haben. Immerhin glaubte Ryon nicht, dass seine Klamotten immer noch in einem Kleiderschrank hingen, der seit sieben Jahren nicht mehr benutzt wurde. Zumindest nicht von ihm. Allerdings erinnerte ihn der Gedanke daran, dass – so bewusst er seine Handlungen auch durchführte – alles was er tat, einem altvertrauten Muster folgte, dem er einfach nicht entkommen konnte.

Nach so vielen Jahren hätte er eigentlich vermutet, dass ihn der Anblick der hellen Küchenmöbel befremdlich vorkommen müsste. Tatsächlich erinnerte er sich noch haargenau daran, wo das Besteck lag, die Kaffeebecher standen. Wo er den Filter finden würde und in welchem Schränkchen sich ein wahrer Schatz an selbst zusammen gemischten Teesorten aufhielt.

„Scheiße.“, fluchte er leise, während er sich die schwarze Brühe schnappte, um damit durch die Terrassentür nach draußen zu gehen.

Wenigstens war der Garten kaum noch wieder zu erkennen. Alles war viel größer, die Kräuter viel zahlreicher und üppiger. Ja selbst die Laub- und Nadelbäume neben dem Haus schienen im Laufe der Jahre noch mehr gewachsen zu sein.

Während er so mit bloßen Füßen über die weiche Wiese ging und sich alles genau ansah, stellte er fest, dass er unbewusst den Garten aus seiner Vergangenheit mit dem aus der Gegenwart verglich.

Dieser hier war viel schöner, da er länger Zeit gehabt hatte, sich zu entfalten. Damals war alles noch relativ jung und teilweise noch nicht ganz angewachsen gewesen.

Er hätte ihr gefallen…

Überrascht darüber, dass er diesen Gedanken wirklich gedacht hatte, riss er seinen Blick von den verschiedenfarbigen Mohnblumen los und ging entschlossen die Stufen zum See hinab. Dort setzte er sich ans Ende des Stegs, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch und tauchte seine Füße ins Wasser. Danach nahm er den Kaffeebecher wieder zwischen seine Finger und starrte auf den See hinaus, der türkisfarben in der Sonne glitzerte und so klar war, dass man sogar den Grund sehen konnte. Er war vielleicht nicht sehr groß, dafür aber eine wahre Augenweide.

Während Ryon seinen Gedanken nach hing, wie er es hier schon oft getan hatte, nippte er ab und zu an dem schwarzen Gesöff. Das einzige Detail, dass hier nicht ins Bild passte. Früher hatte er seinen morgendlichen Kaffee anders getrunken.
 

Wie praktisch für Paige, dass Eisschrank sich nicht wirklich verstecken konnte. Mit seiner Statur fiel er hier auf wie ein bunter Hund. Außerdem war die Bewohnerzahl des Hauses ja relativ klein. So hatte sie ihn bei ihrem Rundgang durch das leere Haus nicht übersehen können.

Zu Anfang war sie einfach dem Duft von Kaffee gefolgt und kam gerade um die Ecke des Wohnzimmers, als ihr Gastgeber aus der Küche trat. Er war also auch schon so früh auf und noch dazu bewegte er sich inzwischen wirklich wie zu Hause.

Zuerst fiel ihr auf, dass er barfuß war und außerdem seine Tasse mit nach draußen nahm.

Von der Terrassentür im Wohnzimmer aus, hatte sie ihn eine Weile dabei beobachtet, wie er nachdenklich durch den Garten gelaufen war. Bei jedem Anderen hätte sie der Körperhaltung nach, einen grüblerischen Gesichtsausdruck erwartet. Aber es überraschte sie kaum noch, dass es bei diesem Mann anders war.

Gar nichts spiegelte sich in seinem Gesicht und selbst aus der Distanz konnte Paige sehen, dass seine Augen so tot waren, wie immer. Fast hätte man glauben können, sie kenne ihn schon eine Weile. So, wie sie sich Gedanken darüber machte, ihn jetzt nicht sofort zu stören.

„Blödsinn...“

Mit langen Schritten ging sie hinaus und hinter ihm her, folgte seiner Spur durch das noch feuchte Gras bis zum Ende des Gartens und dann eine Treppe hinunter. Hier sah sie sich das erste Mal wieder genauer ihre Umgebung an. Der Landschaftsgärtner hatte wirklich Ahnung gehabt und dieses Plätzchen mitten im Wald zu einer kleinen Oase gestaltet. Alles schien Ruhe und Frieden auszustrahlen, was noch verwunderlicher war, da selbst Paige, der diese Zustände einigermaßen fremd waren, es fühlen konnte.

Deshalb näherte sie sich dem Mann auch ungewohnt leise und rücksichtsvoll. Beinahe hätte sie ihm sogar einen guten Morgen gewünscht. Aber so weit ging die Beeinflussung durch den Garten dann doch beim besten Willen nicht.

„Sobald Ai wach ist, werden wir verschwinden.“

Mit Zähneknirschen trat sie noch einen Schritt näher und wartete, bis Eisschrank zu ihr aufsah. Es kostete Einiges an Überwindung, aber sie schaffte trotzdem die Worte klar und deutlich über die Lippen zu bringen.

„Danke. Dass du sie gerettet hast.“
 

Der Inhalt des Kaffeebechers schwappte fast über, als er die Stimme der Diebin hinter sich hörte. Ryon war so in seinen Gedanken vertieft gewesen, dass er sie weder gehört, noch gewittert hatte. Weshalb es ihr auch gelungen war, ihn zu erschrecken.

Da er ohnehin nicht besonders gut drauf war, wofür sie aber nichts konnte, stimmte ihre Nachricht ihn auch keinesfalls fröhlich. Sie wollte also verschwinden, ja? Das konnte sie vergessen.

Als er zu ihr aufblickte, bedankte sie sich überraschenderweise bei ihm.

Autsch. Das musste ihr ganz schön gegen den Strich gegangen sein, weshalb er sie auf keinen Fall darauf hin wies, dass er es für Ai getan hatte, nicht für sie.

Sein Blick schweifte wieder auf den See hinaus, während er erneut an seiner Tasse nippte.

„Ai – Liebe auf japanisch … der Name passt zu ihr.“, stellte er fest, ohne weiter auf ihre vorigen Worte zu reagieren. Der Dank war nicht nötig, er würde es immer wieder tun und was das andere anging, würden sie sicher noch einmal aneinander geraten.

„Mein Name ist übrigens Ryon.“

Es wurde endlich einmal Zeit, dass sie sich einander vorstellten, wenn sie schon miteinander zu tun hatten. Zumindest würde er gerne ihren Namen erfahren, bevor sie sich wieder gegenseitig verletzten. Das wäre dem Anlass angemessen, fand er. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie in Zukunft noch zusammen arbeiten mussten, um einigermaßen heil aus der ganzen Amulett-Geschichte heraus zu kommen.
 

Sein Name interessierte sie so viel wie ein Blitz, der in seinen Schornstein einschlug. Wollte er hier jetzt auf gepflegte Konversation machen, oder was? Da wäre Paige auf keinen Fall mit dabei. Schon gar nicht, weil sie sich selbst dafür hasste, dass sie dem Mann, ohne lange darüber nachzudenken Ais Namen verraten hatte.

„Ich fürchte, wenn ich sagen würde 'freut mich', wäre das ein böser Scherz.“

Aus ihr unerfindlichen Gründen sprach sie leise und keinesfalls aggressiv. Vielleicht lag es an ihrem Magen, in dem seit so langer Zeit kein Loch mehr gähnte. Oder es war immer noch die Tatsache, dass er Ai gerettet hatte.

Ohne seine Hilfe hätte sie gegen die Männer mit den Waffen nicht die geringste Chance gehabt. Paige konnte gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, hätte sich... Ryon... nicht zum Helden berufen gefühlt.

Bemüht nicht schon wieder die Nerven zu verlieren, stopfte sie ihre Hände in die Hosentaschen und sah an ihm vorbei ebenfalls auf die unbewegte Oberfläche des Sees.

Was ihr als Erstes in den Sinn kam war, dass hier keine Tiere leben konnte, so klar wie das Wasser war. Schade, so ein Frosch, der ins Wasser sprang und die Atmosphäre damit irgendwie auflockerte, wäre ihr gerade ziemlich recht gewesen.

„Warum hast du das getan?“

Immer noch richtete sie ihren Blick nicht auf seinen Hinterkopf. Das hätte das Ganze bloß noch unwirklicher gemacht.

„Du hättest dir ansehen können, wie sie auf mich warten und mich um die Ecke bringen. Ein Problem weniger.“

Der stechende Zynismus war nicht zu überhören.

Es war nobel gewesen eine schwangere Frau zu retten. Aber warum war er zurück gekommen?
 

Sie fuhr also lieber die anonyme Tour weiter, was ihn zum Teil ärgerte, aber irgendwie auch nicht wirklich überraschte. Immerhin war sie jemand, der ihm zutraute, er könne dabei zusehen, wie mehrere Männer eine schwangere Frau umbrachten. Es gab sicher viele herzlose Bastarde auf der Welt. Er gehörte garantiert nicht dazu.

„Erstens hätte ich nicht dabei zusehen können, wie sich diese Typen mit deiner Freundin die Zeit vertreiben, bis du wieder zurück kommst, um sich dann auch um dich zu kümmern. Du magst mich vielleicht für ein emotionsloses Arschloch halten, was noch lange nicht heißt, dass du damit auch Recht behältst und zweitens würde dein Tod nicht die Probleme aus dem Weg räumen, in denen wir jetzt beide bis zum Hals stecken.“

Ganz im Gegenteil, es würde alles nur noch schwieriger machen. Aber auch das verschwieg er wohlweißlich.

Stattdessen trank er seinen Kaffee aus und stellte den Becher neben sich ab, damit er sich mit seinen Ellenbogen auf den Oberschenkeln abstützen konnte, während seine Füße im Wasser leise herum plantschten. Es war unangenehm, diese Frau in seinem Rücken zu wissen. So als würden feine Nadelstiche seinen Nacken bearbeiten, als befürchte er, jeden Moment von ihr gebraten zu werden.

Bei dem Gefühlsausbruch, den er bei ihr erlebt hatte, würde es ihn auch nicht überraschen. Ryon kannte ihre Reizschwelle noch nicht wirklich, weshalb er sich seine Worte inzwischen gut überlegte, bevor er sie aussprach.

„Wo willst du eigentlich mit Ai hin? Willst du sie in ihrem Zustand wieder in der World Underneath verstecken und darauf hoffen, dass euch niemand findet?“
 

Dass er so gelassen blieb, während er mit ihr redete, missfiel Paige aufs Äußerste. Hatte sie ihm nicht schon gezeigt, dass er sich vor ihr in Acht nehmen musste? Und da paddelte er hier mit den Füßen im Wasser herum, als wäre das ein Sonntagsausflug.

Noch dazu ließen die Bilder, die er in Paige auslöste, sie alles Andere als kalt. Mein Gott, was hätte Ai alles passieren können, wenn er nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre!

Na, was hieß auftauchen. Es hätte schon ein großer Zufall sein müssen, wenn er genau zum richtigen Zeitpunkt in die Bresche springen konnte.

„Was willst du genau von mir? Du warst doch bei meiner Wohnung, um Kontakt mit mir aufzunehmen. Und was sind das für Schwierigkeiten?“

Sie steckten beide bis zum Hals in der Klemme? Von sich selbst konnte Paige das wohl behaupten. Immerhin hatte eine Bande von Mördern ihr aufgelauert und ihre Wohnung war gestürmt und nur noch ein Trümmerfeld hinterlassen worden. Soviel also zu den Fakten, die sie kannte.

Nochmal ganz von vorn. Man hatte sie beauftragt, ihm das Amulett abzunehmen. Nachdem sie das nicht geschafft hatte, sollte sie aus dem Weg geräumt werden. Alles noch nachzuvollziehen, aber was wollte dann Eis... Ryon von ihr?

Er hatte sich eingemischt, weil er Ai helfen wollte. Außerdem wollte er etwas von Paige. Wenn das tatsächlich so war, würde sie nur darauf warten müssen, bis er mit der Sprache herausrückte.

„Selbst wenn dich das etwas anginge, würde ich es dir nicht sagen. Glaubst du denn, ich bin ganz allein auf der Welt? Auch wenn dir das unrealistisch erscheint: Ich habe Freunde, die Ai und mir helfen würden.“

Allmählich war sie wirklich genervt davon, hinter ihm zu stehen und nur mit seinem Rücken zu sprechen.

Die matt schwarzen Augen waren nicht wirklich sehr viel mehr wert, was die Reaktion betraf, aber zumindest hätte er ihre Existenz besser wahrgenommen, wenn er ihr ins Gesicht gesehen hätte. Scheinbar war menschlicher Kontakt wirklich nicht seine große Stärke. Oder Paige war ihm so egal, wie sie es vermutete. Letzteres wäre nur zu ihrem Vorteil.
 

„Willst du diese Freunde auch noch in die Sache mit hinein ziehen, wo ihr beide jetzt Killer am Hals habt?“

Er fragte es ganz nüchtern, damit es nicht wie ein Vorwurf klang. Immerhin war es letztendlich ihre Entscheidung. Aber was für Freunde konnten das schon sein?

Tyler und Tennessey würde er auf jeden Fall nicht in so einem Zustand wohnen lassen, wie er die Wohnung der beiden Frauen vorgefunden hatte. Für Flame alleine mochte es sicherlich gerade so genügt haben, solange es trocken und warm war, aber eine schwangere Frau? Wo hätten sie das Kind aufwachsen lassen?

Allein der Gedanke daran verursachte ihm einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Seiner Meinung nach hatten Kinder in der World Underneath ohnehin nichts zu suchen. Nicht einmal wenn man ihre nichtmenschliche Natur nicht leugnen könnte.

„Was ich von dir will, sind alle Informationen die du mir über deinen Auftraggeber geben kannst. Mögen sie noch so unwichtig sein. Da du mir aber schon sagtest, dass du nicht wüsstest, wer es sei, musste ich mich an deine Spur heften. Früher oder später hättest du sicher wieder Kontakt mit ihnen aufgenommen, wenn auch nur, um ihnen zu sagen, dass du den Auftrag nicht durchführen konntest. Wie du unweigerlich festgestellt hast, hatte ich Recht. Sonst wert ihr beide nicht hier.“ Leider half ihm das auch nicht viel weiter. Bis auf die Tatsache, dass ein Magier unter ihnen gewesen war. Aber das könnte auch reiner Zufall gewesen sein. Obwohl Ryon schon langsam nicht mehr an Zufälle glaubte.

Mit einem kaum hörbaren Seufzen richtete er sich wieder auf und nahm den Kaffeebecher wieder zwischen die Finger, um sich sozusagen daran fest zu halten. Er würde es nie zugeben, aber das alles machte ihn auf eine Weise nervös, die ihm ganz und gar nicht behagte. Als würde er nur darauf warten, dass die anderen den nächsten Schritt machten.

„Hör zu. Du bist nicht die Erste, die hinter dem Amulett her war und wirst auch leider nicht die Letzte sein. Vor deinem Erscheinen dachte ich, es handle sich nur um Diebe, die persönliches Interesse an dem Schmuckstück hegten und nicht im Auftrag von jemand anderen handelten. Aber langsam glaube ich, dass sie alle auf mich angesetzt worden waren. Weshalb ich denke, dass die gleichen Leute die hinter dir und Ai her sind, auch auf das Amulett scharf sind. Allerdings habe ich noch keine Ahnung weshalb. Tatsache ist aber, dass dir genauso wie mir nur zwei Möglichkeiten bleiben. Entweder ein leben lange Flucht oder wir nehmen die Sache selbst in die Hand.“
 

„Natürlich. Da lasse ich sie lieber im Haus eines Wildfremden, von dem ich zumindest weiß, dass er ein Killer ist.“

Was musste er bloß immer von Ai und Paiges Unfähigkeit sich um sie zu kümmern anfangen? Hatte er das etwa bereits nach so kurzer Zeit als ihren Schwachpunkt erkannt und bohrte nur aus Freude in der Wunde herum?

Sie nahm sich nicht heraus, das nach den paar Stunden, die sie sich kannten schon beurteilen zu können. Aber eins stand für sie fest. Eisschrank Ryon hielt sich auf jeden Fall für die bessere Alternative als jemanden, der sich wenn auch mit kargen Mitteln, liebevoll um Ais Wohlbefinden sorgte und kümmerte. Wenn er so weitermachte, würde Paige garantiert bald wieder explodieren.

Da war es ihr wesentlich lieber, dass er ein anderes Thema ansprach. Auch wenn es von der Sache nicht weit entfernt war. Ganz im Gegenteil sogar. Denn sie musste zugeben, dass er mit seiner Schlussfolgerung Recht hatte. Entweder würde sie sich ab jetzt immer vor diesen Leuten verstecken müssen oder sie nahm die Sache selbst in die Hand. Ob sie da allerdings einen zu groß geratenen Eisklotz brauchen konnte, bezweifelte sie stark.

„Du willst also meine Hilfe?“

Als sie ihren Körper ein wenig straffte, viel irgendetwas, das wohl zwischen den Planken des Stegs gehangen hatte, ins Wasser. Nur ein einzelnes, leises Platschen war zu hören, aber es schien die Frage nur noch zu unterstreichen.

Was bot er ihr denn als Gegenleistung an?

„Ich hab dir schon gesagt, dass ich meine Auftraggeber nicht kenne...“

In der Pause sah sie überlegend auf ihre Schuhspitzen und ihre Haare fielen ihr wirr ins Gesicht. In der fremden Umgebung hatte sie weder Wert darauf gelegt, noch überhaupt daran gedacht, sich mit irgendwelcher Körperpflege zu beschäftigen. Gerade jetzt fühlte sie sich seltsam schmutzig und damit fehl am Platz in diesem Umfeld, an dem alles wie gezupft und gebügelt aussah. Nicht zuletzt ihr Gegenüber.

„Natürlich kann ich dir ein paar Sachen sagen. Aber wer garantiert mir, dass Ai tatsächlich in Sicherheit ist, auch dann, wenn du hast, was du willst? Die Leute, die das Amulett wollen, scheinen ja recht hartnäckig zu sein. Willst du die alle umbringen, um sie zu stoppen? Da verstecke ich mich ehrlich gesagt lieber. Was ist denn an dem Ding so unglaublich kostbar?“
 

Ja, er war ein Killer, genauso wie sie eine Diebin war. Allerdings handelte er dabei nach seinem eigenen Gewissen und führte nicht einfach blind Befehle aus. Weshalb er sehr wohl noch entscheiden konnte, wann er wen wie tötete.

Aber machte das nicht trotzdem ein Monster aus ihm? Flame hatte es ihm schon einmal an den Kopf geworfen und sie ahnte nicht, wie Recht sie damit hatte. Zumindest in ganz seltenen Momenten.

„Dieses Grundstück wird durch diverse Einrichtungen geschützt. Wenn es jemand schaffen sollte, hier einzudringen, dann hat er es wirklich verdient, uns umzubringen und es gebe ohnehin keine Chance, egal wo wir uns befänden. Bis dieser Fall jedoch eintritt, wird es hier sicherer sein, als sonst wo.“

Immerhin wurde dieser Ort nicht nur von modernster Technik geschützt. Auch die Welt des Übernatürlichen mischte dabei mit.

„Wenn du mir also alles erzählst, was dir einfällt, dann könnte ich zumindest herausfinden, wer deine Auftraggeber waren. Somit hätten wir den Vorteil, dass wir den Feind kennen würden. Solltest du mir nicht helfen, würde es sehr viel länger dauern, diese Dinge heraus zu finden und dann könnte es vielleicht schon zu spät sein. Außerdem hast du zugegebenermaßen sehr nützliche Talente.“

Auch wenn er von einigen von ihnen absolut nicht begeistert war.

Schon allein der Gedanke daran, brachte ihn dazu seinen verletzten Arm neben sich auf dem Holz abzulegen. Aus ihrem Blickfeld heraus. Was im Grunde lächerlich war. Wenn sie ihn jetzt angriff und er es nicht schaffte, irgendwie mit ihr zusammen ins Wasser zu gelangen, dann wär’s das für ihn gewesen. Das dünne Hemd, das er nicht ganz zugeknöpft hatte, bot nun wirklich keinen nennenswerten Schutz vor Hitze und Feuer.

„Deine Frage kann ich dir leider nicht beantworten. Ich weiß nicht, was so verdammt wertvoll an diesem Schmuckstück sein soll.“

Ryon fasste sich mit der gesunden Hand an die Brust, genau dort wo sich das Amulett angenehm kühl an seine Haut schmiegte.

„Aber das wird das Erste sein, was ich herausfinden muss.“
 

So, wie er von den Sicherheitsvorkehrungen sprach, schien er sich der Sache wirklich sicher zu sein.

Es war ein verdammt großer Schatten, über den Paige da springen musste. Selbst mehrere Anläufe reichten nur gerade so dazu aus, dass sie ihm ihre Hand hinstreckte. Völlig menschliche, schwache Finger, mit rund gefeilten Nägeln. Eine Hand, die in seiner klein und zerbrechlich aussehen musste. Wenn er sie denn ergreifen würde.

Zunächst sah er sie nur an und Paige vermutete Überraschung, die sie aber in den großen Pupillen nicht finden konnte. Ob er überhaupt wusste, wie gruselig er wirkte? Na, selbst wenn, wäre er nach Paiges Meinung bestimmt noch stolz darauf. Aber darum ging es hier gerade nicht.

„Wenn du schwörst, dass Ai von dir und deinen Leuten keine Gefahr droht; dass sie hier sicher ist, dann helfe ich dir. Aber nur so weit, wie es mir richtig erscheint. Das ist nur meine Sache, soweit es Ais und meine eigene Haut angeht. Nicht mehr, verstanden?“

Dass er ihre Neugier geweckt hatte, musste er ja nicht wissen.

Paiges wachsamen Augen war das Glänzen unter seinem offenen Hemd nicht entgangen. Immerhin war sie nicht umsonst eine der Besten in ihrem Job. Er trug das Amulett also tatsächlich um den Hals. Vermutlich sogar Tag und Nacht. Er mochte nicht gelogen haben und wusste vielleicht nichts über den materiellen Wert des Schmuckstücks, aber Paige sah, dass es ihm sehr viel bedeuten musste. Schon jetzt, wo ihre Hand noch in der Luft schwebte, tat es ihr leid, dass sie sich auf diesen Deal einließ. Das konnte nur Ärger bedeuten.
 

Als sie ihm ihre Hand entgegen streckte, erwartete er Schuppen und lange Krallen wie glühendheiße Nägel, die nur allzu gerne wieder nach seinem Gesicht grabschen würde. Stattdessen blickte er auf eine zarte, weibliche Hand mit natürlichen, gepflegten Fingernägeln, die ruhig in der Luft schwebte.

Das war wirklich eine Überraschung. So hatte er sie noch nie gesehen.

Ryon überlegte sich seine nächsten Worte sehr gut, denn Flame schien das gleiche getan zu haben.

„Ich schwöre dir, dass ihr beide weder durch mich noch meine Freunde Schaden erleiden werdet. Auch nicht, in dem wir etwas unterlassen, dass euch davor bewahrt hätte. Ich bin einverstanden.“

Sogar mit mehr, als das was sie vorgeschlagen hatte. Immerhin lagen ihre Prioritäten hauptsächlich auf Ai. Um sich selbst schien sie wohl weniger besorgt zu sein. Kein Wunder bei dem feurigen Charakter.

Seine Finger lösten sich von dem harten Porzellan und schlossen sich sanft um Flames warme, weiche und in der seinen ziemlich zart wirkenden Hand, um den Schwur zu besiegeln. Während sich ihre Hände berührten, sah er ihr tief in die Augen.

„Ich verlange kein Versprechen von dir, aber wenn du oder Ai etwas brauchen solltet, sag es einfach. Es nützt nichts, wenn ihr durch irgendetwas eingeschränkt werdet.“ Außer den räumlichen Gegebenheiten.

Ryon ließ ihre Hand los, noch immer darüber verwundert, dass es dieses Mal alles andere als weh getan hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass er inzwischen höllischen Respekt davor hatte, sie anzufassen.
 

Paige nickte kurz.

Zu sehr viel mehr war sie im Moment nicht fähig, nachdem er sie wieder losgelassen hatte.

Die Berührung war kurz und für ihre sonstigen Verhältnisse sehr freundlich gewesen. Aber das war es nicht, was sie für wenige Sekunden so verwirrt hatte, dass sie kaum Schlucken konnte. Wieder war das Einzige, das ihr zu dieser Situation und Ryon einfiel das Wort 'seltsam'. Aber wenn sie jetzt zusammen arbeiteten, würde sie da wahrscheinlich variieren müssen.

Während er sie hochrappelte, ging Paige etwas selbstzufrieden verschiedene Möglichkeiten durch.

'Komisch', 'eigenwillig', 'außergewöhnlich', 'belustigend'...

Ihr vielen noch viele Bezeichnungen ein. Aber im Moment würde sie es bei 'seltsam' belassen. Bis er ihr einen besseren Begriff aufdrängte. Immerhin hatte sie 'eiskalt' schon für eine Weile verworfen, da er ihr seinen Namen verraten hatte.

Auf ihrer Seite würde es mit dieser Offenbarung noch eine Weile dauern. Solange Ai sich nicht beim Essen oder sonstigen Gelegenheiten verplapperte.

Als sie sich das Haar zurückstrich, kam wieder dieses unangenehme Gefühl von vorhin in ihr auf. Paige hatte wirklich keine Lust sofort eine Forderung zu stellen... An sich war es ja auch mehr eine Bitte. Aber sie würde sich sehr viel wohler fühlen, wenn er sie ihr gewährte.

„Ehm...“

Sie scholt sich sofort dafür und korrigierte ihre Haltung, als sie die Schultern ein wenig hängen ließ und sich anstellte, wie ein kleines Schulmädchen. Bloß weil sie jetzt einen Deal hatten und er einen Schatten warf, der sie komplett einhüllte, war das noch lange kein Grund, klein bei zu geben. Allein wenn man den Verband an seiner Hand betrachtete, war klar, dass sie sich nicht unbedingt vor ihm fürchten musste.

Daher festigte sie ihre Stimme und fing nochmal von vorne an.

„Ich würde gern duschen, bevor wir uns weiter unterhalten.“

Sie sah zu ihm auf und kniff nun doch die Augen im Gegenlicht zusammen, um sein Gesicht erkennen zu können.

„Außerdem müssen wir Ai aufpeppeln. Sie und das Baby haben bestimmt schon wieder Hunger.“

Wer nicht sagen konnte, dass es ihr selbst genauso ging, hätte wahrscheinlich ein Scheunentor übersehen. Aber das machte nichts. Dass sie sich auf Frühstück freute, das Dank Tyler sicher so göttlich war, wie das Abendessen, sollte ruhig jeder mitbekommen, der es wissen wollte.
 

Seltsam. Für einen Moment hatte er sich eingebildet in dieser Frau jemand ganz anderes zu erkennen. Zerbrechlicher, unschuldiger und zugleich etwas schüchtern.

Als Ryon jedoch noch einmal genauer hin sah, war da wieder die starke Persönlichkeit von Flame, die ihm locker die Haut von den Rippen brennen könnte. Vermutlich war das nur eine Täuschung gewesen. Diese Frau und schwach? Irgendwie konnte er das nicht zusammen bringen.

„Selbstverständlich kannst du duschen gehen.“

Seine Stimme klang ein Spur ernsthafter als sonst. Die Frauen mochten hier vielleicht nicht weg können, aber das hieß noch lange nicht, dass er ihnen Grundbedürfnisse verweigern würde. Eigentlich hätte er angenommen, sie würde einfach tun, was sie wollte, ohne ihn danach zu fragen. Immerhin war das etwas ganz Alltägliches und jedes der Gästezimmer hatte ein eigenes Bad. Sie musste also keine Angst haben, dass ihr dabei irgendjemand in die Quere kam.

„Bring Ai einfach mit, wenn du fertig bist. Bei uns ist noch niemand verhungert.“

Er hob seinen leeren Kaffeebecher auf und ging mit der Diebin zusammen zurück zum Haus. Dem Gespräch nach zu urteilen, hatten sie nun so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen. Hoffentlich würde dieser eine Weile anhalten. Zumindest solange, bis er wieder vollständig hergestellt war. Ryon hasste es, verwundbar zu sein und das war er im Augenblick leider wirklich.



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