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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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3. Kapitel

„Oh mein Gott, Paige!“

Schmale Hände glitten kühl über ihre Wangen und sie wurde in den Arm genommen und so fest gedrückt, dass ihr beinahe der angestrengte Atem stockte.

Sie war die gesamte Strecke gerannt.

Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, hatte sie sich doch dazu entschieden den Mantel überzuwerfen und war dann auf Umwegen, durch alte Kanäle, über Hausdächer, durch viel begangene Straßen und Abwassergräben nach Hause gegangen. Immer wieder hatte sie ein Prickeln in ihrem Nacken gespürt, das ihr Angst eingejagt und sie gezwungen hatte, sich nach einem unsichtbaren Verfolger umzusehen.

Selbst jetzt, da sie ihr winziges Zuhause erreicht hatte, fühlte sie sich nicht sicher.

Ais schlanke Finger zupften ihr den Mantel vom Körper und schoben sie schließlich durch das einzelne Zimmer, das als Wohn- und Schlafraum diente, durch die kleine Küche ins Bad. Die dunkelblaue Tür blieb offen, denn sonst hätten die beiden Frauen sich nicht gleichzeitig in dem beengten Raum bewegen können. Auch wenn Paige das nicht wirklich vorhatte.

Sie zitterte von dem Schock und der Anstrengung am ganzen Körper. Ihr war eiskalt, obwohl ihr der Schweiß auf der Stirn stand und in dünnen Bahnen ihren Rücken hinunterlief.

Er hatte sie gehen lassen. Sobald sich der Kerl umgedreht hatte, war sie davon gestürmt. Als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her, was sich für Paige nicht sehr viel schlimmer hätte anfühlen können. Sie traute diesem Mann keinen Deut weit über den Weg und deshalb zuckten ihre Augen auch panisch zur Eingangstür, als sich dort etwas bewegte.

Neue Flammen loderten an ihren Armen hoch, als Ai zurückwich und ihre Hände erschrocken vor den Mund schlug.

Die weiße Nachbarskatze schnurrte ausgiebig, als sie sich am Türrahmen gerieben hatte und anschließend zu den beiden Frauen kam, um an Ais Fesseln entlang zu schmeicheln.

Paige sah den erschrockenen Ausdruck in Ais Gesicht und zwang die Flammen zurück in ihren Körper.

„Es tut mir leid.“, sagte sie kraftlos und ließ die Arme wieder sinken.

Ihr Kopf war so schwer, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch aufrecht stehen zu können. Schon gar nicht, wenn sie die Sorgen in Ais Augen noch länger ertragen musste.

Doch ihre Freundin tat Paige den Gefallen, zur Wohnungstür zu gehen und sie sorgfältig von innen abzuschließen.

Das würde gegen den Kerl nichts nützen. Er schlug mit der bloßen Faust durch eine halbwegs solide Steinmauer. Eine Holztür würde ihn weniger als eine Sekunde aufhalten.

„Ist ... mit dir alles in Ordnung, Paige?“

Am liebsten hätte sich ihre Wut und Verzweiflung in Tränen Luft gemacht. Aber das konnte sie Ai, die verständlicherweise völlig verunsichert vor ihr stand, nicht antun. Sie musste stark sein. Also setzte sie ein Lächeln auf, das zumindest für die Dauer ihrer Antwort hielt.

„Ja, mir geht’s gut. Entschuldige.“

Mit einem schwachen Nicken deutete sie zur Tür hinüber.

„Ich dachte, dass...“

Sie zwang das Lächeln dazu, sogar noch breiter zu werden, während ihre Zunge an der Innenseite ihrer Zähne nervös entlang strich.

„Nicht so wichtig.“

Wie dankbar sie Ai dafür war, dass diese keine weiteren Fragen stellte, war kaum in Worte zu fassen. Deshalb ließ sie es auch bleiben und entschuldigte sich stattdessen noch einmal.

„Ich gehe kurz duschen. Du brauchst meinetwegen nicht wach zu bleiben, wirklich. Mir geht’s gut.“

Bevor die andere Frau noch etwas antworten konnte, schob Paige die Badtür leise ins Schloss und machte die Dusche an. Das Wasser war wie immer nur lauwarm, aber es brachte zumindest die erwünschte Wirkung.

Der Dreck wusch sich von Paiges Körper, wie sich auch die Schuppen endlich in ihre Haut zurückzogen. Nicht nur die Hand, die sie sich anschließend prüfend vors Gesicht hielt, sah nun wieder menschlich aus.

Sie ließ sich nicht allzu lange Zeit, da sie Ai keine Chance lassen wollte, sich noch mehr Sorgen zu machen. In ein Handtuch gehüllt und mit tropfnassen Haaren trat sie aus dem Bad und fand Ai dort vor, wo sie sie vermutet hatte. Die Asiatin stand in der Durchgangsküche und kochte Tee.
 

***
 

In seinem Hotelzimmer angekommen, streifte Ryon seine Kleider ab und stieg unter die heiße Dusche. Er stank tatsächlich erheblich, obwohl eher sein ausgeprägter Geruchssinn damit zu tun hatte, als das leicht verbrannte Leder und der Dreck, dem er ausgesetzt gewesen war.

Kaum, dass das Wasser seine Haut berührte, prallte er davor zurück, als hätte es ihm einen Schlag verpasst.

Der stechende Schmerz trieb ihm nun doch Tränen in die Augen, bis er es schaffte, das Wasser auf eiskalt zu stellen, um sich erst dann wieder darunter zu begeben. Es war zwar ziemlich merkwürdig, aber Ryon hatte die Brandwunden schon fast vergessen gehabt, da seine Gedanken so sehr von anderen Dingen abgelenkt gewesen waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm dabei Empfindungen verloren gingen, aber nun waren sie wieder mit voller Wucht zurück, weshalb er sich jede Sekunde, die er unter dem nadelstichartigen Wasserstrahl verbrachte, quälend abringen musste, bis er es einfach nicht mehr aushielt.

Kaum zwei Sekunden später, als er sich so vorsichtig wie möglich abgetrocknet hatte, fühlte er sich, als würde er tatsächlich brennen. Die Verletzungen strahlten eine so derartige Hitze aus, dass er sich einfach nur noch ein Handtuch umwickelte und alle Fenster aufriss, um die kühle Nachtluft herein zu lassen.

Danach setzte er sich an den Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und betrachtete seine gebrochene Hand. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so aussah und würde auch nicht das letzte Mal sein. Weshalb er sich schon einmal auf eine lange Nacht einstellte, in der er mit Engelsgeduld dafür sorgen musste, dass die Knöchelchen in seiner Hand auch alle wirklich gerade zusammen wuchsen.

Viel Zeit blieb ihm dafür nicht, aber mit seiner inzwischen gewonnenen Übung darin, musste er sich deshalb wenigstens keine Sorgen machen. Auch wie man gewollt Knochen brach, um sie in die richtige Position zu bringen, war ihm inzwischen an sich selbst nicht fremd.

Nachdem er seine Wunden versorgt hatte, setzte Ryon sich für den Rest der Nacht an den Computer, um im Internet Nachforschungen anzustellen.

Er surfte lange, ausgiebig und auf Seiten, die ein Normalsterblicher für gewöhnlich nicht einmal fand, wenn er es wirklich darauf anlegte.

Doch obwohl er so lange vor dem Bildschirm verbrachte, so dass ihm langsam alles vor seinen übermüdeten Augen verschwamm, war es doch ergebnislos. Er hatte Ansätze, an denen er mit seiner Suche nach den Auftraggebern anknüpfen konnte, doch wirklich konkrete Dinge würde er nur an einem Ort finden und den hatte er sich geschworen, würde er nie wieder betreten.

Frustriert, total erschöpft und noch immer von Schmerzen geplagt, ließ er es schließlich gut sein. Er fuhr den Computer hinunter, schaltete das Licht aus und legte sich ins Bett, um seine Energiereserven wieder aufzutanken.

Er würde es in ein paar Stunden noch in der Stadtbibliothek versuchen, wenn das auch nichts brachte, musste er sich Wohl oder Übel wieder an die Fersen der Diebin heften. Bestimmt würde diese sich früher oder später mit den Auftraggebern in Verbindung setzen.

Er glaubte ihr zwar, dass sie nicht wusste, wer sie waren, aber sie war die einzige Verbindung, die er zu ihnen hatte. Sie würde ihm sicherlich irgendwie nützlich sein. Außerdem war alles besser, als die Alternative.

Nein, er wollte nicht an diesen Ort zurück, an dem vermutlich einige Antworten liegen würden. Es musste einfach noch andere Möglichkeiten geben.

Mit der Vorstellung daran, wie er nun erneut Jagd auf diese Dämonin machen würde, schlief er schließlich ein. Bis dahin würden wenigstens die Verbrennungen verheilt sein und nun wusste Ryon zumindest schon im Vorhinein, womit er es zu tun hatte. Noch einmal würde er sich nicht die Haut vom Fleisch brennen lassen. Doch erst einmal, musste er die Frau wiederfinden.
 

***
 

Der Wecker klingelte für Paiges Geschmack viel zu früh nach einer Nacht, die sie mehr oder weniger im halben Wachzustand verbracht hatte.

Wenn sie doch weggedöst war, hatte sie im Traum diese toten, schwarzen Augen mit dem gelblichen Rand gesehen, die sie erschrocken auffahren ließen. Es war nicht das erste Mal, dass Paige bei einem Diebstahl geschnappt worden war. Irgendwann fing jeder mal an und machte die typischen Fehler, die einem unliebsame Verfolgungen oder ein paar Prügel einbrachten. Aber bei diesen Gelegenheiten war es darum gegangen, dass Paige die Beute zurückgeben sollte. Dann war es ausgestanden gewesen. Bei Eisschrank war das anders. Und so, wie Paige sich im Moment fühlte, wie jede Faser ihres Körpers unwillig zog und juckte, war nur eins sicher: Es war noch nicht vorbei.

Und das hatte nicht allein mit dem Kerl zu tun. Denn es blieb ihr auch nichts anderes übrig, als ihren Auftraggebern früher oder später mitzuteilen, dass sie das Amulett nicht beschafft hatte und es auch nicht mehr tun würde.

Sie hatte absolut keine Lust, sich noch mal mit dem Typen anzulegen. Ihr war es nur recht, wenn sie ihn nie mehr im Leben wiedersehen musste. Es hieß also: So schnell mit der Sache abzuschließen, wie es möglich war.

Mit einem Kuss auf die Wange und dem Versprechen, auf sich aufzupassen, verabschiedete sich Paige am frühen Nachmittag von Ai und lief zum Dienst im Fass.

Mehr als zwei Tage am Stück bekam sie normalerweise nicht frei. Dafür war einfach zu viel los in dem allbekannten Lokal, wo bereits nach Öffnung um 16 Uhr der Rummel losging.

"Hey Paige!"

Gerade als sie dabei war, ihre pinke Perücke zurecht zu rücken und die Feenflügel aus ihrem Spind fischte, fuhr sie für ihre Verhältnisse viel zu erschrocken herum.

"Oh Jazz, du bist's."

Ihr Herz klopfte immer noch schnell in ihrer Brust, obwohl sich ihr restlicher Körper beim Anblick des Barkeepers sofort wieder entspannt hatte.

Paige hasste diese Adrenalinschübe. Und noch mehr hasste sie das Gefühl, dass sie noch immer Grund dafür hatte, sich gehetzt zu fühlen. Sie hoffte bloß, dass sie sich bald wieder fing. Sonst würde sie bei jeder blöden Anmache heute Nacht wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen aufgehen.

Jazz roch wie immer erdig, nach Moos und frischem Wind, als er sie kurz umarmte. Paige hatte sich schon öfter Gedanken darüber gemacht, ob der Walddämon, der ihr schon mehrere Zeichen gegeben hatte, dass er sie mehr als nur mochte, nicht doch etwas für sie sein konnte.

Er war nett, hatte Humor, sah nicht schlecht aus und sie mochte ihn. Eigentlich kein Grund, um sich gegen seine Versuche zu stemmen.

Dann kam ihr aber doch der Gedanke, dass sie vielleicht gerade jetzt nur einen Beschützer suchte. Einen Grund, endlich mal nicht immer auf sich selbst und Andere aufpassen zu müssen...

Ihr Blick kletterte einmal an Jazz hinauf und hinunter, als er hinter der Bar stand und Ordnung in seinem kleinen Reich schuf. Als er sich nach einem der hängenden Glasbretter streckte und unter seinem Hemd die braune, ledrige Haut seiner Dämonenlinie zum Vorschein kam, hing Paiges Blick daran.

Holz und Feuer konnten sich auf Dauer gar nicht wirklich vertragen. Am Ende würde sie ihren vermeintlichen Beschützer noch selbst in Gefahr bringen.

Ein tiefer Atemzug ersetzte ihr Seufzen, während sie sich von Jazz' Anblick losriss und anfing die Tische abzuwischen.

In etwas zehn Minuten würden sie öffnen und dann würde es kaum drei Minuten dauern, bis sich absolut niemand mehr um Sauberkeit scherte. Aber daran durfte man nicht denken.

Noch vier Kolleginnen tauchten vor Öffnung der Tür in verschieden farbigen Kleidchen, Perücken und entsprechenden Flügelpaaren auf. Bis auf Katniss, die keinen Ersatz für ihre eigenen, hauchdünnen Flügel brauchte. Gemessen an ihr, kam sich Paige in der Verkleidung immer absolut lächerlich vor. Aber Vorschrift war eben Vorschrift. Außerdem mochte Paige den Job und die Kollegen. Es war hart verdientes Geld, aber mit dieser Truppe machte es dennoch meistens einen Heidenspaß.
 

Drei Stunden später tobte im Fass eine Brandung aus menschlichen und unmenschlichen Leibern. In der Oberwelt lief ein wichtiges Sportereignis, das der Manager der Bar ebenfalls auf die Monitore im Lokal übertragen ließ.

Die Bedienungen schrieen inzwischen meistens nur über die Menge hinweg und ließen die Gläser einfach durchreichen. Ob das Getränk beim Besteller ankam, konnte keiner so genau sagen. Kassiert wurde am Ausgang, um nicht total den Überblick zu verlieren.

Das konnte ja noch was werden. Und dabei hatte die Nacht gerade erst angefangen.
 

***
 

Er legte die zerfledderten Bücher und die Kleidersäcke auf seinem Bett ab, ehe er sich auch schon wieder umdrehte, um das Hotelzimmer zu verlassen. Inzwischen war es schon wieder später Nachmittag, also höchste Zeit, sich nun auf die Suche nach der Dämonin zu machen. Denn es blieb ihm letztendlich nichts anderes mehr übrig, als darauf zu warten, dass sie ihm das Puzzleteil zuspielte, das er brauchte, um gründlichere Nachforschungen anstellen zu können.

Zwar hatte Ryon anhand der mitgenommenen Bücher inzwischen eine Vermutung, wer sich hinter der ganzen Sache verbergen könnte, doch er wollte lieber auf Nummer sicher gehen, ehe er die nächsten Schritte plante und am Ende alles nur noch schlimmer machte.

Die Bücher, die er aus der Bibliothek mitgenommen hatte, enthielten hauptsächlich Fachliteratur über Hexen, Hexenkult, Hexenorden und Hexenverbrennungen. Eines war dabei, das am Rande das Amulett erwähnte, aber da es keine Abbildung davon gab, war es wirklich nur eine vage Mutmaßung, ob es das wirklich war. Alles im Allem hatte er lediglich nur einen Haufen von Vermutungen, die alle zu nichts führten, da er nicht tiefer in Informationen wühlen konnte, ohne schlafende Hunde zu wecken.

Das hieß also im Klartext, er würde wieder in die World Underneath müssen, um dort im untersten Dreck herumzuwühlen.

Er rechnete stark damit, der leicht entflammbaren Frau erneut zu begegnen, weshalb er auch dieses Mal in Lederkluft los zog. Zwar eine andere, als die von gestern, aber nicht weniger unauffällig.

Irgendwie war es ironisch, dass er gerade jetzt wieder damit anfangen musste, ständig Schwarz zu tragen.

Ryon war im Grunde kein Mann mehr, der noch an das Schicksal und Vorhersehung glaubte, aber manchmal waren es einfach zu viele Zufälle, um einfach nicht daran glauben zu können. Doch ob es wirklich Schicksal war oder einfach nur eine Aneinanderkettung seltsamer Parallelen, würde sich sicher noch zeigen.

Eines stand auf jeden Fall fest: Solange er mit der Feuerlady zu tun hatte, würde er sich so wenig entflammbar machen, wie er konnte. Doch erst einmal musste er sie wiederfinden, was sich schon am Anfang als äußerst schwierig heraus gestellt hatte, als die Spuren noch halbwegs frisch gewesen waren.

Als Ryon jedoch wieder am Markt angekommen war, waren inzwischen so viele unterschiedlichen Wesen hier ein- und ausgegangen, dass es nur noch ein einziges Geruchschaos ergab, in dem es unmöglich wäre, ihre Witterung aufzunehmen.

Zum Glück hatte er gestern ihr wahres Gesicht gesehen. Mit einer detaillierten Personenbeschreibung kam man in der Regel schneller weiter, als mit der Beschreibung einer Verkleidung.

Auf gut Glück ging er zu dem Stand mit dem Holzspielzeug, an dem sie sich gestern als Letztes aufgehalten hatte. Auch der Verkäufer schien ihn wieder zu erkennen, war aber trotz seiner offensichtlichen Angst vor ihm, nicht schnell bereit, Ryon etwas über die Frau mit den schwarzen Haaren, den dunklen Augen und den teilweise auftretenden Schuppen zu erzählen.

Um jedoch dem Mann nicht seinen Broterwerb zu nehmen, in dem er ihm beide Arme brach, wandte Ryon eine Methode an, die er eher seltener in diesem Drecksloch benutzte.

Vielleicht war es auch die kinderfreundliche Ware, die ihn letztendlich dazu bewegte, mit einem dicken Bündel voller Geldscheine vor dem Kerl herum zu wedeln. Es gab nun einmal an jedem Menschen wunde Punkte und Kinder waren Ryons Schwachstelle.

Zum Glück wusste niemand, dass man ihn mit Kindern in die Knie zwingen konnte. Wie viele von diesen unschuldigen Geschöpfen hätten sonst schon wegen ihm sterben müssen, nur um ihn aus der Reserve zu locken? Zu viele. Das stand fest.

Die Augen des älteren Mannes wurden bei dem vielen Geld ganz groß und zugleich auch gequält. Vermutlich biss ihn gerade gewaltig das schlechte Gewissen, weil er schließlich doch ein paar dürftige Antworten gab.

Ryon hätte zwar mehr erwartet, als die Information, wie oft die gesuchte Frau ungefähr den Markt besuchte und dass sie es manchmal regelmäßig tat und dann wieder lange überhaupt nicht. Aber zumindest konnte der Mann ihn auf einen weiteren Händler verweisen, der vielleicht mehr wusste. Vermutlich nichts weiter, als um von sich selbst abzulenken, aber das konnte Ryon nur recht sein. Diesen Verkäufer hier bezahlte er für die Informationen, der nächste würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so viel Glück haben.

Damit sollte Ryon Recht behalten.

Es war ein schmieriger Antiquitätenhändler, der alle möglichen gestohlenen Waren über seinen Tisch laufen ließ und damit sogar recht guten Gewinn erzielte.

Der Kerl war selbst in Ryons Augen so abstoßend aufdringlich, dass es ihm nicht schwer fiel, das zuckersüße Gefasel des Kerls zu unterbinden, in dem er ihm am Hals packte. Mehr als die Hälfte von dem Zeugs war ohnehin gefälscht, das sah er schon auf dem ersten Blick und der Kerl wagte es auch noch, ihm die Sachen für horrende Summen andrehen zu wollen. Außerdem stank er schon drei Kilometer gegen den Wind nach gemeinem Gauner.

„Sag schon, wenn dir dein elendiges Leben lieb ist, was weißt du über sie?“

Seine Worte klangen so schneidend wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Er hätte genauso gut über das Wetter reden können, so vollkommen ausdruckslos war seine Stimme, aber dafür war die sich immer enger schlingende Hand um den dreckigen Hals des Kerls alles andere als sanft.

Die Gesichtsfarbe des Händlers verwandelte sich langsam zu einem Purpurrot und nur noch ein kaum hörbares Krächzen kam über dessen aufgedunsenen Lippen.

Ryon ließ den Mann so unerwartet plötzlich los, dass dieser beinahe zusammen mit dem wackeligen Stuhl nach hinten gekippt wäre, auf dem er zuvor noch gesessen und seine Waren angepriesen hatte.

„Wir könnten ja, damit anfangen, dass du mir erzählst, wo ich sie finden kann.“, schlug Ryon vor, während er sich an den Warentisch lehnte, einen der gefälschten Dolche zur Hand nahm und sich mit der Spitze den nicht vorhandenen Dreck unter den Fingernägeln heraus pulte.

Der Händler röchelte und griff sich an den Hals, während er mit panisch geweiteten Augen den Dolch anstarrte, als wäre er eine giftig Schlange, kurz vorm Zubeißen.

„O-Okay, Mann. Ich … erzähl ja schon. Die Kleine ist es sowieso nicht wert, dass man für sie ins Gras beißt.“

Die Worte des Händlers überschlugen sich beinahe, während nichts mehr von der schleimigen Freundlichkeit darin zu hören war, doch er verstummte sofort angstvoll, als das Messer auf seine Nasenspitze zeigte.

„Langweile mich hier nicht mit unwichtigen Nebensächlichkeiten. Ich will nur Klartext hören. Verstanden?“

Den Typen darauf hinzuweisen, dass die ‚Kleine‘ den Kerl vermutlich ganz schön grillen würde, wenn sie herausfand, dass er hier so fröhlich geplaudert hatte, hielt er für absolut unnötig. Manche Erfahrungen sammelte man besser selbst.

„S-Schon, gut. Ich bin ja schon dabei, aber könntest du den Dolch…“

Mit einer Schnelligkeit, mit der dieser elendige Schleimer wohl nicht gerechnet hatte, war das Messer mit einem Mal vor dessen Augen verschwunden und tauchte nur einen Augenblick später zwischen seinen Beinen wieder auf.

Mit der Spitze tief in das Holz des Sessels gebohrt, die Klinge so gedreht, dass die Schneide direkt auf den Schritt des Mannes gerichtet war, lehnte sich Ryon wieder zurück.

„Für dich doch immer.“

Er stellte einen seiner schweren Stiefel direkt auf die Kante des Stuhls, so dass seine Fußspitze langsam aber sicher das Messer in Richtung der mehr oder weniger edelsten Teile des Händlers drückte.

Dem Kerl brach nun endgültig der Schweiß aus und obwohl er so weit auf der Sitzfläche zurück rutschte, wie er konnte, saß er doch in der Falle.

„Fe“, quiekte er schon beinahe. „Das ist der Name, den sie für die Geschäfte benutzt. Sie verkauft mir lauter Zeug mit zwielichtiger Herkunft. Das meiste ist vermutlich gestohlen.“

Als wenn er das nicht schon längst wüsste.

Ryons Fußspitze beugte sich weiter, bis die Klinge den Stoff der fleckigen Hose berührte.

„Weiter. Was weißt du noch? Oder war das etwa schon alles?“

Er verstärkte den Druck und nun geriet der Kerl völlig in Panik. Seine Hände flogen einen Moment in die Luft, ehe er damit begann, irgendetwas in seiner Jacke zu suchen.

„Warte… Ich hab noch…“

Offenbar war der Händler fündig geworden, doch bevor er den Gegenstand hervorziehen konnte, drückte Ryon noch fester zu.

„Ich rate dir, was auch immer du da in der Hand hast, es langsam hervor zu ziehen.“

Sein Blick durchbohrte den Händler regelrecht, während dieser nun am ganzen Körper zitternd, ganz langsam seine Hand wieder aus der Jacke zog und Ryon schließlich ein kleines Streichholzschächtelchen hinhielt. Darauf stand der Name einer Bar – das Fass.

Davon hatte Ryon schon einmal gehört, da es ziemlich bekannt in der World Underneath war, aber natürlich würde er so einen Schuppen nie aus reinem Vergnügen aufsuchen.

„Was ist damit?“, wollte er wissen.

„Die Frau die du suchst, die arbeitet dort als Kellnerin. Manchmal singt sie auch.“

Erst eine ziemlich geschickte Diebin und nun auch singende Kellnerin? Was kam als nächstes?

Ryon schnappte sich das Streichholzpäckchen und drückte seine Schuhspitze nun so fest gegen das Messer, dass eigentlich die möglichen Kinderwünsche des Mannes geplatzt hätten sein müssen. Doch nichts dergleichen geschah, außer dass der Kerl daraufhin so laut quiekte, als würde Ryon gerade ein Schwein abstechen.

Nur ein paar umstehende Zeugen beobachteten das Ganze, ehe sie sich hastig weiter um ihren eigenen Kram kümmerten.

Der Händler verstummte abrupt und betrachtete ungläubig seinen heilen Schritt.

Mit einem Ruck zog Ryon das Messer wieder aus dem Holz des Stuhls und fuhr dann mit der Klinge direkt über seine Handfläche, wobei er einigermaßen großen Druck ausübte. Doch nichts passierte.

„Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, solltest du richtige Messer verkaufen. Sonst sehe ich mich gezwungen, dir den Brieföffner irgendwohin zu stecken, wo es wirklich wehtut.“

Mit diesen Worten ließ er die völlig stumpfe Klinge auf den Tisch fallen und ging. Sein Ziel war also die Bar und da es inzwischen angemessen spät war, könnte er sogar Glück haben und sie würde tatsächlich gerade kellnern.

Sich das vorzustellen, war schon merkwürdig genug. Irgendwie passte das Image der Diebin besser zu dem feurigen Auftreten. Aber sie alle trugen ihre Masken, das wusste er nur allzu gut.
 

***
 

Paige schob sich gerade in Richtung Ausgang, um eine Kollegin beim Kassieren abzulösen, als Jazz ihr hinterher schrie, sie solle zurückkommen. Mit hilflosem Gesichtsausdruck deutete sie auf die beiden Fleischberge in roten Fanoutfits, zwischen denen sie so zu sagen festhing. Sie kam kaum vorwärts und noch schlechter sah es mit dem Rückweg aus.

"Wer ist dran?!", versuchte sie über den Krach hinweg zu erfahren und kaum einen Moment später brach Freudengebrüll über einen Treffer über den Innenraum des Fass' herein.

Jazz hantierte mit einer Flasche in der linken, während er sich mit der rechten Hand den Telefonhörer ans Ohr presste. Sein Gesichtsausdruck war grüblerisch, als man ihm wohl eine Nachricht für Paige zukommen ließ.

Paige selbst bezweifelte, dass der Barkeeper auch nur die Hälfte von dem Gesagten am Telefon mitbekam.

Sie schlug eine bekrallte Hand weg, die nervtötend schon geraume Zeit an ihrem linken Flügel zupfte und sah mit großen, fragenden Augen zur Bar hinüber. Zu ihrer Erleichterung legte Jazz auf und versuchte ihr mit Winken zu verstehen zu geben, was man ihm gesagt hatte.

"Keine Chance, ich..."

Mit einem Brummeln zeigte sie auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Woraufhin Jazz einen Block und einen Stift hochhielt und irgendetwas notierte. Für diesen außerordentlich schlauen und kreativen Einfall bekam er von Paige ein Daumen hoch und grinste zufrieden, ehe sie sich weiter in Richtung Tür kämpfte.

Diesmal waren die feenhaften Kellnerinnen mehr als froh darüber, dass die Rausschmeißer an der Tür aufgestellt waren. So betrunken und vom sportlichen Passiverlebnis aufgestachelt, hätte sonst jeder zweite die Zeche geprellt. Paige selbst musste nicht nur einmal brüllend jemanden darauf hinweisen, dass das Bier in seiner Hand keine Gratisgabe zum Spiel gewesen war. Gott, wie sehnte sie sich das Schichtende herbei!
 

Obwohl er inzwischen schon seit Stunden im Schatten einer Hauswand stand und den Eingang der Bar genau im Auge behielt, wurde er nicht ungeduldig.

Statt ständig von einem Fuß auf den anderen zu wechseln, stand er völlig reglos da und ergab mit dem Schatten eine vollkommene Einheit. Bisher hatte ihn niemand bemerkt, obwohl einige der feiernden Meuten an ihm vorbei gekommen waren.

Einer hatte sich sogar nur fünf Meter von ihm entfernt übergeben. Aber der Kerl war so breit, der hätte nicht einmal bemerkt, wenn er keine Hose mehr angehabt hätte. Ryon fiel ihm daher erst recht nicht auf.

Zwar wusste er noch immer nicht, ob sein Warten überhaupt etwas bringen würde, da er nicht einmal sicher war, dass die Frau hier und heute wirklich arbeitete. Doch es blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig.

Vielleicht, wenn er Glück hatte, könnte er ihr dieses Mal tatsächlich folgen, so dass er auch wusste, wo sie wohnte. Das würde eine Beschattung wesentlich leichter machen. Vor allem, da er immerhin darauf hoffte, dass sie sich wieder mit ihren Kontaktleuten traf. Der Auftrag war nun einmal nicht beendet und wenn ihre Auftraggeber auch nur annähernd so waren wie die seinen, dann würde sich bald jemand bei ihr melden.

Entweder, um sich über den Stand der Mission zu erkundigen, oder um Druck auszuüben. So oder so. Wenn es so weit kam und er die Gelegenheit hatte, sich an die Fersen ihrer Auftraggeber zu heften, so würde er es tun. Doch erst einmal, musste er sich an ihre Fersen heften und zwar für dieses Mal vollkommen unauffällig. Noch einmal würde er ihr nicht die Gelegenheit geben, ihn in irgendeiner Gasse abzuwimmeln.
 

In der kurzen Pause von zwanzig Minuten stellte Paige sich hinter die Bar und kaute an einem Schinken-Käse-Sandwich herum.

Den Zettel, der zwischen einer halbvollen Flasche Absinth und ein paar Eiswürfeln herumlag, hatte sie in dem Durcheinander schon völlig vergessen. In Jazz' kleiner, säuberlicher Handschrift standen da eine Telefonnummer und der Hinweis, sie solle dringend zurückrufen. Es ginge um das versprochene Schmuckstück. Ans Ende der Notiz hatte der Barkeeper noch ein kleines, aber für Paige fast mahnendes Fragezeichen gesetzt.

Sie ließ das Sandwich in den Mülleimer fallen und stopfte den Zettel in ihre Tasche.

Scheiße, was bildeten die sich ein, nach dem man ihr eine so großzügige Frist eingeräumt hatte?

Sie würde sich schon melden. Aber wenn Paige es für richtig hielt und nicht früher. Wie hatten sie überhaupt ihren Arbeitsplatz gefunden?



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