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My Beloved Target

Gin&Rye-FBI VS. Black Organization
von

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Love?

Langsam und mit angehaltenem Atem, um nicht zu viel von dem beißenden Rauch zu inhalieren, ging er auf Rye zu. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte oder ob er überhaupt etwas sagen sollte, er wusste nur zu gut, dass keine noch so gut zurechtgelegten Worte in so einer Situation Trost spenden konnten. Oder er hatte es zumindest einmal gewusst.

Als er ihn endlich erreichte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, die verbleibende Luft drückte schmerzhaft gegen seinen Brustkorb und seine Lunge japste hungrig nach frischer, unverbrauchter Kühle – die Hitze war nun beinahe unerträglich.

„Rye“, keuchte er. „Wir müssen – “

Doch plötzlich stutzte er. Die Leiche war zwar fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt – Es waren durch die Explosion sogar große Stücke weggerissen worden, sodass es viel mehr ein Kopf und ein Haufen verstreuter Körperteile und Fleischfetzen, als tatsächlich ein Leichnam war – aber Gin erkannte die stolzen Gesichtszüge sofort und sie hatten keinerlei Ähnlichkeit mit denen von Rye.

„Das ist nicht deine Schwester.“, brachte er hustend hervor und zerrte ihn weg, mittlerweile hatte sich seine Lunge längst mit ätzendem Rauch gefüllt. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, wenn er noch einen Augenblick länger an diesem Ort bliebe.

„Ich weiß.“ Rye lächelte schwach. „Ich dachte es im ersten Moment, aber – “ Ein Husten schüttelte ihn. „scheinbar war es Angel, die den Flammen zum Opfer gefallen ist, also ist Sera vielleicht noch irgendwo hier.“

„Wir müssen hier raus, bevor wir an einer verdammten Rauchvergiftung sterben. Wir haben keine Zeit nach ihr zu suchen!“ Er packte ihn noch etwas fester an der Schulter und zwang ihn auf die Beine. Rye ließ nach und nach den Widerstand fallen, seine Augen waren jedoch immer noch auf die Tote zu ihren Füßen gerichtet.

„Was meinst du, ist hier passiert?“, fragte er gedankenverloren, während sich immer noch Tränen in seinen Augen spiegeln zu schienen.

Was geht in dir vor Rye? Erinnerst du dich jetzt, wo du die Wahrheit kennst, wo sie für dich nicht mehr nur eine Mörderin ist, wieder an die Vergangenheit? Daran, dass ihr Partner wart?

Oder war noch mehr zwischen euch?

Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke doch Rye schwieg, selbst wenn Gins starre Augen seine Gedanken verraten hätten, hätte er aber vermutlich nicht gewusst, was er sagten sollte.

Was soll man über die Toten auch sagen? Was außer dass sie niemals zurückkehren?

„Lass uns gehen.“

Obwohl Rye nun scheinbar den Ernst der Lage erkannte und ihm folgte, wusste Gin, dass er sich immer wieder umdrehte, als hoffte er, jemand würde gleich aus den rauchenden Flammen auftauchen und ihnen folgen. Gin erwischte sich auch dabei, wie er kurz nach hinten blickte, vorbei an Rye in die glühende Schwärze und sich fragte, ob Vermouth und Angel sich nun immer noch so ähnlich sahen.

Bist du auch längst tot?
 

Als sie endlich den Ausgang erreichten, füllten sie ihre Lungen dankbar mit frischer Luft und atmeten so gierig, als würden sie die teuersten Speisen in sich hineinschlingen. Gin merkte, wie sich der schwere Knoten, der sich um seinen Brustkorb geschlossen hatte, langsam löste und auch sein Geist wieder an Klarheit gewann. Obwohl es immer noch heiß draußen war, erschien es ihm im Vergleich zum brodelnden Inferno im Inneren des Gebäudes so erfrischend, dass er beinahe nicht glauben konnte, dass es mit Sicherheit noch rund 30 Grad haben musste.

„Da seid ihr ja endlich.“

Überrascht hob er den Kopf, mit allem hatte er gerechnet, aber nicht in irgendeinem Innenhof in einem fremden Land direkt vor einem ausgebrannten Geheimversteck voller Toter in seiner Sprache angesprochen zu werden. Als er dann das rußige Gesicht sah, auf dem ein spöttisches, rotbemaltes Grinsen thronte, wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

„Vermouth, was machst du denn hier?“

„Oh, vielen Dank, ich freue mich auch, dass du noch lebst.“, spottete sie. „Da Angel uns gewarnt hat, konnten wir noch rechtzeitig weglaufen, sodass die Explosion uns nicht voll erwischt hat. Lediglich die Druckwelle hat uns kurz außer Gefecht gesetzt.“

Uns?“ Rye blickte sich suchend um. Bevor Vermouth etwas erwidern konnte, sprang jedoch jemand anderes ein, der lächelnd aus dem Schatten trat.

„Da bin ich ja genau im richtigen Moment wieder zu Bewusstsein gekommen.“

Obwohl Sera verletzt zu sein schien und sehr blass war, sah man auf den ersten Blick, dass es nicht lebensbedrohlich war, Gin konnte förmlich selbst spüren, wie Rye ein Stein vom Herzen fiel, so offensichtlich erleichtert sprang er auf und schloss seine Schwester in die Arme.

„Oh mein Gott, ich dachte wirklich, du bist tot.“

Ein kraftloses Lachen entwand sich ihrer Kehle „Das dachtest du doch die ganze Zeit, also wo wäre der Unterschied gewesen?“

„Du… du warst nicht tot! Warum hast du nie versucht mich zu erreichen?“

Sie schluckte. „Angel hat damals gesagt, du wärst gestorben. Mittlerweile weiß ich, dass sie mich nur schützen wollte, aber trotzdem kann ich ihr das nicht verzeihen. Wie konnte sie zulassen, dass wir beide die ganze Zeit davon überzeugt waren, der andere sei tot?“

Ryes Augen bekamen wieder den traurigen Ausdruck, den sie schon im Hauptquartier angenommen hatten. „Ich glaube, sie dachte, es sei das Beste. Sie wusste vermutlich, dass es die einzige Chance war, uns beide aus Basilisk rauszuschaffen, da ich niemals ohne dich gegangen wäre. Ich weiß nicht, ob sie so weit gedacht hat, aber vielleicht hoffte sie ja, dass ich wirklich der Organisation beitrete und mich mit ihnen gegen Basilisk verbünde, sie wusste ja, dass Anokata mich abwerben wollte.“

Sera schwieg und blickte in Richtung des Kellereingangs, als erwarte sie, Angel würde gleich daraus emporsteigen.

„Aber was ist damals eigentlich genau passiert?“, fuhr Rye fort.

„Naja Angel stand ja unter der Kontrolle der Droge, aber irgendwie hat sie es geschafft, sich zu wehren – ich weiß nicht genau wie. Jedenfalls hat sie irgendwie deine Wahrnehmung manipuliert, ich denke mal, Basilisk hatte keine Ahnung, dass sie tatsächlich solche Kräfte hatte, es hieß ja immer, die Droge wirke bei ihr nicht und das hat sie vermutlich auch mit den Basilisk-Leuten gemacht, damit du entkommen konntest. Anschließend hat sie es irgendwie geschafft, mich rauszuholen und hat meine Verletzungen von der Flucht versorgt. Als ich wieder gesund war, sagte sie, ich müsse verschwinden, da sie es nicht mehr riskieren könnte, Kontakt zu mir zu haben, und ich tat ihr den Gefallen. Schließlich hielt mich ja nichts mehr dort, nachdem sie mich davon überzeugt hatte, du seist tot.“

„Dann hat Angel dich also die ganze Zeit beschützt?“

Sie nickte nur, immer noch stumm. Gin, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, ließ seine Augen auch zum Eingang schweifen. Er wusste, dass dort unten immer noch der Erfinder der Wunderdroge und seine Tochter waren, eingesperrt in einem kleinen Labor, umgeben von einem Flammenmeer. Es tat ihm leid um das junge Mädchen, sie war ihm irgendwie interessant vorgekommen in ihrem weißen Kittel, so vollkommen deplatziert in einer Welt voller schwarzer Mäntel.

„Wir können jetzt nichts für sie tun.“ Rye hatte sich inzwischen von seiner Schwester abgewandt, die sich müde zurück in den Schatten setzte, und stellte sich neben ihn. „Wenn sie versuchen, rauszukommen, werden sie sicher ersticken, ihre einzige Chance ist zu warten und zu hoffen, dass die Flammen ohne genügend Brennmaterial schnell ausgehen. Das Labor hat sicher eine Brandschutztür.“

Sowohl das Mädchen, als auch ihr Vater waren vermutlich klug genug, nicht blindlings hinauszustürmen, ein Gedanke, der Gin seltsamerweise erleichterte. Sein Blick fiel wieder auf Rye.

Was hast du nur mit mir gemacht? Wieso ist es mir plötzlich nicht mehr egal, was mit diesen Leuten geschieht?

„Wir sollten ins Hotel zurückkehren.“, meinte Vermouth, die sich gerade das schweißnasse Haar zurückband. „Sherry weiß wo es ist, falls sie heil rauskommt, wird sie es sicher finden und falls sie irgendwer vorher findet, weiß sie, was zu tun ist.“

Die Anspannung kehrte augenblicklich in ihre Gesichter zurück.

Sie weiß, was zu tun ist. Lass dich niemals schnappen, wenn es keinen Ausweg gibt, dann schaffe dir einfach einen neuen.

Unsere oberste Pflicht.
 

Wie lange sind wir jetzt schon hier?

Shiho starrte müde auf die simple Digitaluhr, die ihr gegenüber auf dem Schreibtisch ihres – selbst in Gedanken fiel es ihr schwer – Vaters stand.

3 Stunden, dachte sie. 3 Stunden ist es her, dass Gin und Rye verschwunden sind und ich habe keine Ahnung, ob sie alle entkommen oder längst tot sind.

„Findest du, es wird langsam kühler?“, versuchte ihr Vater ein Gespräch zu beginnen, wie er es schon oft getan hatte, seit sie hier unten gefangen waren. Ihr Blick glitt zur Tür, tatsächlich schien sie weniger Wärme auszustrahlen, womöglich gingen die Flammen wirklich zurück und das Lüftungssystem schaffte es, dem Rauch Herr zu werden.

„Ein bisschen.“, erwiderte sie eisig, während sie ihre Augen wieder auf die Uhr richtete und darauf wartete, dass die leuchtenden Zahlen sich erneut veränderten.

„Shiho…“ Als sie den Kopf drehte, um ihn anzusehen, stellte sie fest, dass er auf einmal entsetzlich alt und müde wirkte. In der Hand hielt er ein schmutziges Taschentuch, mit dem er sich langsam über das Gesicht wischte. „Ich wollte wirklich nicht, dass unser Wiedersehen so verläuft.“

„Ach ja?“, fragte sie nun schon etwas aufgebracht. „Wie denn dann? Hattest du vor mich mal zu Basilisk einzuladen, vielleicht kombiniert mit einer kleinen Sightseeing-Tour durch Bangkok?“

Wütend funkelte sie ihn an. Er wich ein paar Schritte zurück und hob beschwichtigend die Hände.

„Nein, ich weiß nicht. Ich dachte nur, ich wollte es dir wirklich irgendwann sagen.“

„Das ist ein schwacher Trost!“, fauchte sie. „ Kein Wunder, dass Mama dich verlassen hat, wie kannst du so ein Mittel entwickeln?“

Wie kannst du uns dafür im Stich lassen?

„Siehst du nicht das Potenzial, das es hat?“ Er drehte an einem Zahlenschloss an einem kleine Kästchen, das auf seinem Schreibtisch gelegen hatte und holte etwas heraus, das wie ein Reagenzglas aussah. „Shiho, dieses Mittel, ich weiß, es kann die Welt verändern! Nicht so, wie Basilisk es tut, aber wenn es in die richtigen Hände gerät…“ Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu „… dann könnte man es dafür verwenden Krankheiten zu heilen, das Leben tausender Menschen zu verlängern, die Körper der Schwachen und Kranken zu neuem Leben erwecken und die der Gesunden optimieren. Aids, Krebs, Behinderungen, all das würde der Vergangenheit angehören, ich brauche nur noch ein bisschen Zeit.“

Das Gefühl, verschwinden zu wollen, wurde plötzlich noch dringender, aber gleichzeitig machte sich auch eine bleierne Müdigkeit in Shiho breit. Sie konnte und wollte nicht mehr. Einen Moment lang schloss sie die Augen, alles was sie hörte war der etwas röchelnde Atem ihres Vaters, der sie sicherlich immer noch erwartungsvoll ansah.

„Du hattest genug Zeit.“ Mit einem Ruck schlug sie die Augen auf, die auf einmal beinahe ebenso kalt und starr waren, wie die von Gin. In ihrem Inneren fühlte sie sich leer. „Aber du hast sie nicht genutzt. Anstatt die Organisation zu verlassen und dich rechtschaffenden Leuten anzuschließen – uns vielleicht sogar irgendwann nachzuholen – bist du zu Basilisk gegangen. Du hattest deine Chance schon, aber jetzt ist es zu spät. Diese Leute würden niemals zulassen, dass du deine Forschung für etwas Gutes einsetzt.“

Schreckliche Bitterkeit machte sich auf ihrer Zunge breit, mit jedem Wort wurde ihr bewusster, dass sie es nicht nur aus Trotz und Verzweiflung sagte, nein, es war wirklich die Wahrheit. Ihr Vater hatte seine Seele verkauft und war vom Fegefeuer direkt in die Hölle gewechselt, anstatt sein Glück auf der Erde zu versuchen.

Einen Moment lang schwieg Atsushi, dann warf er ihr einen traurigen Blick zu. „Ja, vermutlich hast du Recht. Ich nehme an, Elena wusste das, wenn ich dich jetzt so anschaue, scheint sie förmlich aus dir zu sprechen.“ Er lächelte resigniert. „Sie wollte auch nicht, dass ich zu Basilisk gehe, ich sollte mich stellen, meinte sie. Sie sagte, selbst, wenn ich ins Gefängnis gehe, wäre das noch besser, als für diese Leute zu arbeiten, für Leute, die mein Wissen missbrauchen, um damit zu töten.“ Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, Shiho verfolgte gebannt, wie langsam ein durchsichtiger Tropfen seine Wange hinunterlief. „Weißt du, irgendwann kommt jeder Forscher an den Punkt, an dem er sich entscheiden muss, was ihm wichtiger ist – der Erfolg oder die Ethik, die ihn ihm verbietet. Das, was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden, das macht das Wissen, das Streben nach immer mehr so gefährlich. Deshalb ist es wichtig, dass ein Forscher entscheiden kann, wann Schluss ist, wann er etwas schafft, das ihn unweigerlich zerstört und alles, was er liebt und eigentlich retten und verbessern will, vernichtet. Aber ich konnte das nicht, deshalb wurde die Droge, die SBE, zu meinem Verhängnis.“

Obwohl Shiho immer noch wütend war, konnte sie nicht anders als Mitleid mit dem armen Mann zu haben, der sich hastig die Tränen aus den Augen wischte und um seine Fassung rang.

„Es ist noch nicht zu spät, wenn wir hier raus sind, kannst du versuchen, dein Wissen für das Gute einzusetzen.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, diese Welt ist noch nicht bereit für das, was ich weiß. Genauso wenig, wie ich bereit für diese Welt bin.“

Langsam setzte er sich in Bewegung, in der einen Hand immer noch das Reagenzglas, das er eben hervorgeholt hatte.

„Shiho.“

Unwillkürlich wich sie zurück.

„Ich bitte dich, tu du es für mich.“ Behutsam ergriff er ihre Hand und legte das Glas vorsichtig hinein. Es fühlte sich seltsam fremd an, kalt und hart, aber auch unwirklich, als könnte es sich jeden Moment einfach auflösen und für immer verschwinden.

„Ich kann nicht…“

„Doch du kannst. Ich habe gehört, aus dir ist eine großartige Forscherin geworden, du hast es ja sogar geschafft, ein Gegenmittel zu entwickeln, obwohl du nur eine verfälschte Anleitung für die Droge hattest, nicht wahr? Es ist in deinem Blut, ich kann es fühlen. Bitte mach nicht den gleichen Fehler wie ich, nutze dein Wissen, um etwas Gutes zu erschaffen, etwas, das den Menschen hilft.“

Shihos Hand schloss sich fest um das Gefäß.

Erschaffe etwas Gutes, fernab von Krähen und Basilisken, erschaffe eine Welt, die bereit für dieses Wissen ist.

„Aber was ist mit dir?“

„Für mich ist es zu spät.“ Er ging zu einem Gerät, das wie ein Ofen aussah und drehte es langsam auf. Ein widerlicher Gasgeruch stieg ihr in die Nase.

„Bist du verrückt?“

Er lachte laut auf. „Natürlich! Mad Scientist, schon vergessen?“

Seinen alten Codenamen zu hören, trieb ihr ihrerseits fast die Tränen in die Augen. Wie oft hatte sie die anderen Wissenschaftler mit Ehrfurcht über ihn sprechen hören? Wie oft hatten sie seinen Namen geflüstert, als wäre er der eines großen Mannes?

Wofür das alles? Für DAS hier?

„Vater, komm mit mir. Wir finden eine Lösung!“ Beunruhigt musterte sie den Gasherd und den Bunsenbrenner, der direkt daneben stand. „Dein Tod würde doch nichts ändern.“

„Ich weiß, aber um etwas zu ändern ist es auch zu spät. Ich möchte, dass du herausfindest, wo deine Mutter ist. Ich weiß nicht, wann du die Gelegenheit dazu bekommst, solange du noch bei der Organisation bist, aber wir müssen einfach darauf vertrauen, dass deine Zeit irgendwann kommt. Wie ich Elena kenne, wird sie sicher irgendwann Kontakt zu ihren geliebten Töchtern aufnehmen.“ Das feine Lächeln verschwand von seinen Lippen und er wirkte plötzlich unerträglich einsam, wie jemand, der vor den Trümmern seines Lebens steht und an alles denkt, das er hätte haben können.

„Ich möchte, dass du ihr das hier gibst.“ Er griff in eine Schublade, allerdings ohne sie aus den Augen zu lassen und holte einen vergilbten Briefumschlag heraus. „Ich habe mich nie getraut ihn abzuschicken, aber ich bin sicher, du bist mutiger als ich und kannst ihn ihr sogar persönlich übergeben. Ich wünsche mir, dass sie weiß, wie ich wirklich dachte. Ich könnte es nicht verkraften, wenn sie mich so in Erinnerung behält.“, fügte er sehr kleinlaut hinzu.

Shiho nahm den Brief vorsichtig entgegen, wobei sie nicht daran zu denken versuchte, dass die einzigen Geschenke, die ihr Vater ihr jemals gemacht hatte, eine schreckliche Droge und ein vollkommen verdreckter alter Brief waren.

„Es tut mir leid.“

Einen Moment lang sahen sie sich beide einfach nur schweigend an, dann nickte Shiho.

„Ja, mir auch, Vater.“

Erst als sie schon fast das Licht sah, das durch den Schacht fiel, durch den sie gekommen waren, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Der Rauch hatte sich fast vollständig verflüchtigt und nur noch an einzelnen Stellen brannte es, doch Shiho nahm all das nur am Rande wahr, viel zu gebannt lauschte sie in die Stille hinein, die nur ab und zu von ihrem Schluchzen durchschnitten wurde. Gerade, als sie die unterste Treppenstufe betreten hatte, hörte sie es, ein lauter, aber doch dumpfer Klang, der pochend in ihrem Kopf widerhallen zu schien wie ein grausames Echo – eine Explosion in einem abgeschlossenen Raum.

Ihr Vater war tot.
 

„Wie kommt es eigentlich, dass du nicht verletzt bist?“

Sera hatte sich in Vermouths Zimmer eingefunden, um dort ein wenig zu schlafen und Rye besetzte das Bad, sodass Gin und Vermouth allein miteinander waren.

Sie lächelte amüsiert. „Ach? Jetzt plötzlich interessiert es dich doch, wie es mir geht?“

„Nein, nur warum ich dich leider nicht vom Boden abkratzen musste.“, knurrte er und steckte sich eine Zigarette an. Er hatte schon so lange nicht mehr geraucht, dass ihm schon der erste Zug ungeahnte Glücksgefühle verschaffte und eine wohlige Wärme sich in seinem Inneren ausbreitete.

Vermouth verdrehte die Augen, antwortete aber trotzdem. „Nun, erinnerst du dich an die Sache am Bahnhof? Leute von Basilisk hatten mich aufgegriffen und scheinbar mit Angel verwechselt, jedenfalls hatte ich seitdem diese unheimliche Droge im Blut.“

„Ich verstehe, was für eine Ironie. Ausgerechnet ihr Mittel hat dich also vor dem Tod gerettet?“

Sie nickte und nahm sich ebenfalls eine Zigarette aus seiner Packung. Er biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts.

„So ist es, ebenso wie es mich davor bewahrt hat, von Angel getötet zu werden, letztendlich hatte das Teufelszeug also noch was Gutes.“

„Ich nehme an, mittlerweile sollte alles vernichtet sein?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Nun ja, das Labor wurde ja nicht zerstört, allerdings wird man wohl dafür sorgen, dass nichts zurückbleibt.“

Gin fragte sich unwillkürlich, was Atsushi wohl tun würde. Würde er das Mittel retten und an seinen Boss weitergeben oder einfach behaupten, es sei bei dem Unfall vernichtet worden?

Was ist wohl die bessere Lösung?

Beim Gedanken an Angels verkohlte Überreste, kam ihm unweigerlich in den Sinn, dass er die Antwort bereits kannte und es Atsushi, sofern er wirklich so intelligent war, wie immer behauptet wurde, auch klar sein musste.

„Aber ich denke, ich gehe mich auch mal duschen, es war ein langer Tag.“ Vermouth setzte sich vom Bett auf und wandte sich zum Gehen, doch Gin packte ihren Arm.

„Warte.“

Überrascht hob sie die Augenbrauen. „Ja?“

Gin zögerte einen Moment, auf einmal war ihm alles entfallen, was er sich sorgsam zurechtgelegt hatte. Dann jedoch schaffte er es trotzdem irgendwie, Worte über seine viel zu trockenen Lippen zu bringen. „Warum hat Anokata das getan? Warum hat er mich nicht eingeweiht?“

Beklemmendes Schweigen legte sich über den Raum und fast erwartete Gin, Vermouth würde einfach gehen, ohne ihm eine Antwort gegeben zu haben, doch dann drehte sie sich um und blickte ihm direkt in die Augen.

„Er wollte dich beschützen.“

„Aber warum?“ Gin hielt den Atem an. „Ich meine, welchen Grund gibt es…“

„Nichts geschieht ohne Grund, weißt du?“ Sie zwinkerte ihm zu, doch irgendwie wirkte ihre spöttische Art aufgesetzt, anscheinend war sie sich der ernsten Bedeutung des Gesagten sehr wohl bewusst. „Ich habe nicht die Befugnis, dich aufzuklären, aber ich denke, ich kann eine Audienz bei ihm für dich ermöglichen, nach allem, was passiert ist.“

„Du meinst, ich kann ihn kennenlernen?“

„Ja und dann wird er dir sicher auch sagen, was euch verbindet, wenn er es für richtig hält.“

Gin starrte noch lange auf die Tür, durch die sie verschwunden war, den Kopf überfüllt mit tausend Fragen.

Was ist es, das uns verbindet?

Wer bist du wirklich, Anokata?
 

„Hättest du gedacht, dass sie zurückkommt?“ Gin drehte sich überrascht um. Er hatte Rye noch nicht so schnell zurückerwartet. Nachdem Sherry tatsächlich zurückgekehrt war, unverletzt, aber sichtlich unter Schock stehend, hatte Vermouth beschlossen mit ihr sofort nach Tokio zurückzukehren, um Anokata Bericht zu erstatten. Nachdem Rye die beiden zum Flughafen gefahren hatte, war es nun ihre Aufgabe, am nächsten Morgen noch einmal zum Hauptquartier zu gehen und nach Überresten der Formel oder anderen Hinweisen auf das Mittel zu suchen, um Anokatas Auftrag doch noch zu erfüllen. Vermouth hatte Sherry zwar befragt, doch in ihrem Zustand hatte sie nichts zum Verbleib des Mittels sagen können, sodass es wohl erst mal ein Geheimnis bleiben würde, auch wenn sie alle tief drinnen wussten, dass es längst verloren und es vielleicht sogar besser so war, zumindest hatte Vermouth überraschend schnell aufgeben, was Sherry und ihre Version der Ereignisse betraf. Sera hatte sie schließlich mürrisch zum Flughafen begleitet, nachdem ihr Bruder ihr das Versprechen abgenommen hatte, sich dort von einem FBI-Agenten abholen zu lassen und mit ihm zurück in die USA zu fliegen, wo man sie in ein Zeugenschutzprogramm aufnehmen sollte. So kam es, dass an diesem Abend nur noch er und Rye übrig waren und er sich weder sicher war, was er tun sollte, jetzt wo Ryes Identität gelüftet war, noch ob ihm das behagte.

„Ich hatte nicht erwartet, dass ihr Vater sie tötet, also lag es durchaus im Bereich des Möglichen.“

Rye nickte und setzte sich zu ihm aufs Bett. „Möchtest du auch ein Bier?“

Gin nahm das kühle Getränk aus der Mini-Bar etwas widerwillig, aber insgeheim nicht undankbar entgegen und nippte daran. Die Nächte waren hier ebenso unerträglich schwül und heiß wie die Tage und Gin sehnte sich nach nichts mehr, als nach einer funktionierenden Klimaanlage.

Während sie tranken, glitt Gins Blick kurz zu seiner Waffe, die er zusammen mit seinem Mantel auf dem klapprigen Tisch abgelegt hatte, Ryes Augen folgten ihm unauffällig.

„Ziemlich seltsam hier so zu sitzen, was?“

„Ein wenig.“ Gin trank erneut einen Schluck und genoss, wie sich die Kühle langsam in seinem Körper ausbreitete. „Aber ich bin sicher, Anokata wird dafür sorgen, dass du deine gerechte Strafe bekommst.“

Rye lächelte herausfordernd. „Du denkst, ich lasse mich einfach so ausliefern?“

Gin schnaubte verächtlich. „Ich wüsste nicht, was du noch für eine Wahl hast. Wir kennen deinen Namen, selbst wenn du jetzt fliehst, wir finden und töten dich. Außerdem...“ Er trank erneut und musterte ihn mit seinen stechenden grünen Augen ebenso prüfend, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. „… werde ich alles tun, damit du nicht entkommst.“

„So sehr hasst du mich jetzt also?“, fragte er und stellte seine leere Bierdose weg.

„Ich hab dich immer schon gehasst.“

„Das stimmt doch nicht! Ich hatte das Gefühl, dass wir uns bei unseren Missionen zu einem richtigen Dream-Team entwickelt haben, meinst du nicht auch?“

Das Attentat auf Cooper, die Beschattung, der Mordfall…

Vor Gins innerem Auge blitzten all diese Szenen noch einmal auf, doch komischerweise sah er nicht das, was er sehen wollte. Er sah nicht, wie er Rye verdächtigte, wie er sich ausmalte, ihn auszuliefern oder gar ihn zu töten. Alles was er sah, war sein Lächeln, seine leuchtenden grünen Augen, die Art, wie er seine Haare zurückstrich, wenn sie ihm die Sicht versperrten.

Keuchend schnappte er nach Luft und spürte, wie er rot wurde, als immer mehr beschämende Erinnerungen seine Gedanken verseuchten.

Rye musterte ihn aufmerksam. „Deinem Blick entnehme ich, dass du das zumindest nicht vollständig leugnen kannst.“

„Halt die Klappe.“, zischte Gin und ließ sich aufs Bett fallen, auf einmal fühlte er sich so müde und durcheinander, dass er am liebsten einfach die Augen geschlossen und die Welt einen Moment lang ausgesperrt hätte.

Rye ließ sich neben ihm nach hinten sinken und starrte gedankenverloren an die spinnenbehangene Decke.

„Hast du es immer gewusst?“

Gin drehte sich überrascht zu ihm, es gefiel ihm gar nicht, wie nahe Rye ihm plötzlich war.

„Was meinst du?“

„Dass ich ein N.O.C. war?“

Gin dachte einige Augenblicke lang nach, wieder sah er nichts als unzählige kleine, scheinbar unbedeutende Momente vor sich, glückliche Momente, Momente ohne Zweifel.

„So ziemlich, ja.“

Er lachte. „Hat dir niemand beigebracht, dass du nicht lügen sollst?“

Nun musste auch Gin gegen seinen Willen schmunzeln. „Ich bin Verbrecher, Lügen gehört bei mir zu den wichtigsten Voraussetzungen fürs Geschäft.“

Gin wusste nicht, was genau passierte, als sie sich ansahen. Er wusste nicht, was Rye bewog, sich zu ihm herüber zu beugen und einen langen Blick mit ihm zu tauschen. Er verstand nicht, warum er plötzlich nichts sah, als diese Augen, kapierte nicht im Geringsten, warum die Welt immer verschwand, wenn er sie vor sich sah.

Vielleicht weil sie eine Welt für sich sind, so fremd und unbekannt, so aufregend.

Vielleicht war es die Müdigkeit, vielleicht das Chaos in seinem Kopf, das seine Fragen zu Anokata und Ryes Geständnis ausgelöst hatten, ja, es musste wohl so sein, denn anders konnte er sich nicht erklären, warum er sich noch etwas streckte und den kleinen Raum, der noch zwischen seinem und Ryes Gesicht war, schloss.
 

Manchmal geschehen Dinge, die wir nicht voraussehen können, die wir um nichts auf der Welt auch nur in Betracht ziehen wollen. Wir planen unser Leben, laufen mit Scheuklappen durch die Welt, geprägt durch das was wir sehen, was wir wissen oder auch nur zu wissen glauben. Unsere Vergangenheit schafft den Menschen, der wir sind, unsere Erziehung formt unsere Persönlichkeit, Monster schaffen Monster und Engel schaffen Engel, und nur wenige schaffen es letztendlich stark genug zu werden, um sich dafür zu entscheiden, ihr Leben selbst zu bestimmen und die Ketten der Vergangenheit abzuschütteln. Vermouth, die eine Droge in ihrem Körper trägt, die ihr Kräfte verleiht, die es ihr unmöglich machen zu sterben, obgleich sie sich nichts mehr als das tief in ihrem Inneren wünscht, obgleich sie am liebsten einfach die Augen geschlossen hätte, als Angel auf sie zustürmte. Sera, die ihren Bruder längst verloren glaubte und nun ein neues Leben in dem Wissen beginnt, dass sie nicht mehr allein ist, aber auch damit leben muss, dass es Menschen gibt, die weder Engel noch Monster sind, Menschen wie Angel, deren Herzen grau wie die Wolken sind, die den ständig stürmenden Himmel bedecken. Shiho, die die letzten Überreste ihres Vaters in den Händen hält, ein übermächtiges Mittel, das die Welt verändern kann und einen staubigen Brief, die letzten Worte ihres Vaters an ihre Mutter, die sie vielleicht niemals wiedersehen wird. Es ist der Beweis dafür, dass ihre Familie endgültig gestorben ist, vergilbt und alt, wie dieser Brief, gleichzeitig aber auch eine neue Hoffnung, denn sie kann dem Schaffen ihrer Eltern eine neue Bedeutung verleihen und sein Werk vollenden, wenn sie die Kraft dazu findet, sich von ihren Ketten zu lösen. Viele schaffen es jedoch niemals, ihr Leben neu zu formen, da sie fest verschlossen in ihrem Kokon leben, unfähig ihre Flügel jemals zu entfalten. Menschen wie Angel oder Atsushi, die alles versuchen, was in ihrer Macht steht, die ihr ganzes Leben kämpfen, aber letztendlich nicht genug Kraft haben und als Puppen sterben, zum Scheitern verurteilt sind ohne je wirklich gelebt zu haben. Menschen, die für diese Welt noch nicht bereit waren, denen es unmöglich war, sich zu entfalten. Aber was ist mit den anderen? Mit den Menschen, die noch genug Kraft haben, aber es nicht wagen, die klebrigen Fäden aufzureißen und ins Licht zu treten? Für manche Menschen beginnt diese Reise erst, manche verbringen ihr Leben in einem ewigen Winterschlaf und beginnen erst zu kämpfen wenn ihnen klar wird, dass es doch etwas gibt, das ihnen wichtig ist. Etwas, das sie um jeden Preis beschützen wollen.
 

Gin schlug die Augen auf. Nur dunkel erinnerte er sich an die Ereignisse der letzten Nacht, an Ryes Lippen, die ihm nicht halb so abstoßend erschienen waren, wie beim letzten Mal, sondern seltsam weich und formpassend, als wären sie zu nichts anderem bestimmt gewesen. Vor seinem geistigen Auge blitzen Momente und Gefühle auf, Berührungen, gierig, verzweifelt, aber auch schön und zärtlich, Momente aus einer anderen Welt, die nicht in diese zu passen schienen. Ein Gefühl, als wären ihnen plötzlich Flügel gewachsen. Mit klopfendem Herzen drehte er sich langsam um, bereit Rye zu sagen, was er empfand, was sich schmerzhaft in seinen Organen verknotet hatte und darauf wartete, dass er es herausschrie.

Doch Rye war fort.

Gin blickte auf die ordentlich gemachte Seite des Doppelbettes, die wirkte, als wäre sie nie benutzt worden und kam sich schrecklich dumm vor. Dumm, weil er geglaubt hatte, Rye würde genauso empfinden wie er, unfassbar dumm, weil er dachte, Shuichi Akai sei wirklich Rye, sei sein Gefährte, sein Freund. Aber das Bett war leer und alles erschien ihm auf einmal schrecklich leer und fremd, als hätte er einen seltsamen Traum gehabt, aus dem er gerade erwacht war.

Ich hätte es wissen müssen.

Mühsam richtete er sich auf und blickte sich um, sein Mantel und seine Waffe waren verschwunden, stattdessen lag ein nichtssagender weißer Zettel auf dem kleinen Tisch. Eilig sprang er vom Bett und riss ihn an sich, hektisch überflog er die Zeilen, die darauf geschrieben standen.
 

Ich habe lange über das nachgedacht, was ich dir sagen möchte, aber ich glaube, dass es falsch wäre. So sehr es mich schmerzt, ich glaube daran, dass der Weg, den wir im Leben beschreiten, fest bestimmt ist. Wir können nicht einfach alle Brücken abreißen und davonlaufen, wir müssen uns dem stellen, was das Schicksal uns zuteilt, sich dagegen zu wehren, hat noch niemandem Glück gebracht.
 

Deshalb kann ich dir nur eines sagen: finde mich, Gin, jage mich, bis in alle Ewigkeit, ich werde da sein, Koibito-san.
 

Deine Zielscheibe
 

Langsam ließ Gin den Brief sinken und beobachtete nachdenklich, wie das kleine Stück Papier zu Boden segelte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne tanzten darauf und erschufen ein außergewöhnliches Lichtspiel, das es für einen kurzen Augenblick wie einen Schmetterling aussehen ließ. Ein neuer Morgen war angebrochen.
 

Ende



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