Zum Inhalt der Seite

Fullmetal Alchemist - Was danach geschah

Was hätte passieren können...
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

ALTE FREUNDE WACHSEN WIEDER ZUSAMMEN

ALTE FREUNDE WACHSEN WIEDER ZUSAMMEN
 

Es war eine ruhige Nacht in Ishbal City, eine der Nächte, die keinerlei Bedeutung für die Geschichte haben würden. Es war auch eine ruhige Nacht im Hauptquartier, obwohl der Begriff ‚Ruhe’ in jener Nacht ein wenig anders definiert werden musste. Oberstleutnant Force war ein kluger Mann, einer von denen, die wussten, wo ihre Grenzen lagen. Und doch konnte er nicht widerstehen, als er an Helenas Bürotür vorbeikam und das Splittern von Glas hörte. Sie war nicht nur eine höhergestellte Offizierin und Staatsalchemistin, sie war auch noch eine der besten Freundinnen, die er jemals gehabt hatte. Vorsichtig öffnete er die Tür und war nicht überrascht, als er sie inmitten eines Scherbenmeers knien sah. Für eine Alchemistin hatte Helena hin und wieder eine wirklich schlechte Hand-Auge-Koordinationsgabe und ließ erstaunlich viele Dinge fallen.

Und offensichtlich hatte sie ihr Wasserglas fallen lassen, denn der Teppich war nicht nur von ihrem Blut getränkt, sondern in erster Linie von Wasser. Sie fluchte leise und zog ihre uniformblauen Handschuhe über, bevor sie die Hände kurz zusammenlegte und dann auf ihr blutendes Knie presste. Dann griff sie mit einer Hand nach oben und hielt sich an ihrer Schreibtischplatte fest, bevor sie sich daran hochzog. „Verdammt, das darf dir nicht passieren, Helena“, schimpfte sie mit sich selbst, bevor sie zur Tür herumfuhr und ihren alten Kameraden ansah. „Stehst du schon lange da?“, wollte sie wissen.

Er seufzte, dann stieß er sich vom Türrahmen ab und betrat den Raum. Unter seinen Füßen zerbrachen die Glasscherben knirschend und sobald er sie erreichte, legte er eine Hand auf ihre Schulter. „Du siehst müde aus, Helena“, sagte er sanft. Es war nicht so, als ob er sich je die Mühe gemacht hatte, seine Zuneigung zu ihr zu verbergen. Sie wusste genau, dass er sie mochte, wenn sie schon nicht wusste, wie sehr sie ihn mochte.

„Ich hab den Bericht fertig“, sagte sie und reichte ihm eine dünne Mappe. „Alles über die Vorfälle im Kandare-Distrikt. Ich habe die Situation innerhalb von zwei Stunden beruhigen können, nachdem ich die einzelnen Gangs genauer unter die Lupe genommen habe. Es gab keine Tote und auch keine Verletzten.“

„Ich habe dich hingeschickt, weil ich wusste, dass du es ohne Gewalt lösen würdest“, sagte Force ruhig und richtete seine Brille. „Ich sehe mir deinen Bericht später an. Du tust zwar immer so, als ob ich ein Sklaventreiber wäre, aber du weißt, dass ich es nicht bin, Helena. Ich will nur, dass du gesund bleibst, das weißt du, nicht wahr? Du weißt, dass ich nicht danebenstehen will, während du krank wirst.“

„Mir geht es gut“, sagte sie barsch und wedelte mit dem Bericht vor seiner Nase herum. „Willst du gar nicht lesen, was ich geschrieben habe? Komm schon, ich weiß, dass du wissen willst, wie ich es gelöst habe. Du bist neugierig, das wird dich eines Tages in ernste Schwierigkeiten bringen, Martin. Du weißt das, nicht wahr?“

„Sagen wir es so“, sagte er, während er einen Arm um sie schlang. „Ich wäre nicht der erste Soldat aus meiner Familie, dem seine Intelligenz, seine Neugierde und auch noch seine Hilfsbereitschaft zum Verhängnis werden würden. Aber du warst es bisher immer wert, dass ich meine Karriere deinetwegen riskiert habe. Schon alleine für meine Untersuchungen im Militärarchiv hätte ich unehrenhaft aus der Armee entlassen werden können, aber ich bin das Risiko eingegangen und habe mich einfach nicht erwischen lassen. Das war mein Geheimnis.“

Sie lachte leise und legte ihren Kopf auf seiner Schulter ab. „Ich bin froh, dass du nicht entlassen worden bist“, sagte sie. „Ich brauche dich hier. Ich habe immer überlegt, ob ich dich unter mein Kommando zurücktransferieren lassen würde, sobald ich in die Position käme.“

„Was hat dich davon abgehalten?“, flüsterte er in ihr Ohr. „Weshalb hast du es nicht getan? Ich habe auf deine Entscheidung gewartet, aber sie ist einfach nicht gekommen, deshalb habe ich mich nach hier versetzen lassen. Ich habe auf ein Zeichen von dir gewartet, auf irgendetwas, was mir zeigen würde, dass du unser Versprechen nicht vergessen hast, aber es ist nie etwas gekommen.“

Sie lächelte milde. „Wir Alchemisten sind im Grunde verachtenswerte Lebewesen“, sagte sie mit einem sarkastischen Unterton. „Meinesgleichen ignoriert den freien Willen von Soldaten und missachtet die Würde von anderen Menschen. Und selbst ich, die ich mir nie die Hände schmutzig machen wollte, weil ich immer daran geglaubt habe, dass die Alchemie nur zum Wohl der Menschheit eingesetzt werden sollte, habe mich in den letzten Jahren schuldig gemacht. Ich habe viel zu viel geschehen lassen.“ Sie lehnte sich zurück und in den violetten Augen schimmerten Tränen. „Wie hätte ich von dir verlangen können, mir zu folgen? Es ist ein Weg ohne die Aussicht auf Wiederkehr, den ich gehen muss. Ich kann nicht von dir verlangen, mir darauf zu folgen, Martin. Du braucht dein eigenes Leben, ein Leben ohne meine Einmischung. Du bist nicht dazu verpflichtet, mir zu folgen. Du musst meinen Krieg nicht kämpfen – das weißt du doch. Aber wenn ich den Schwur jemals eingefordert hätte, wärst du mir gefolgt. Bis zum bitteren Ende.“

„Und wenn es genau das ist, was ich immer gewollt habe?“, fragte er. „Du hast für mich entschieden, dass ich dir nicht folgen will, aber gleichzeitig hättest du wissen müssen, dass ich dir immer folgen würde. Du bist für mich ein Lichtstrahl. Erinnerst du dich noch an die Zeit, wo man uns als einfache Fußsoldaten an die Südfront geschickt hat? Damals sind wir zusammen durch unsere ganz persönliche Hölle gegangen. Und als wir aus dem Krieg zurückkamen, haben wir unseren Schwur erneuert. Hast du vergessen, was wir uns geschworen haben? Wir haben uns damals geschworen, Seite an Seite für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Wir haben gesagt, dass Mustangs Ansatz nicht falsch war und dass er nur die falsche Methode gewählt hat!“

Helena senkte den Kopf und blickte zu Boden. „Und was wäre“, murmelte sie, „was wäre, wenn wir unser Ziel auch ohne weitere Waffengewalt erreichen könnten? Damals, als wir im Süden waren, habe ich mich gehasst. Ich habe mich dafür gehasst, dass mein Weg mich in diesen Blutsumpf geführt hat, aber ich habe mir auch geschworen, nicht mehr umzukehren. Meine Mutter ist gestorben, um unserem Land einen Weg in die Zukunft zu ermöglichen und schon um ihretwillen muss ich weiterforschen … und weiterkämpfen. Ich bin nach hier gekommen, weil ich hier ohne Waffen kämpfen kann. Hier ist das Wort meine Waffe, aber ich weiß, dass ich jederzeit wieder zu meinem Gewehr greifen würde, wenn man diesen Landstrich angreifen würde.“

Force strich sanft über ihren Hinterkopf. „Ich lasse dich nicht im Stich“, versprach er. „Du wirst eines Tages weit genug nach Oben kommen, um weitere Kriege zu verhindern. Wir haben das Glück, dass Mustang und Grumman auch nicht so sehr an Kriegen interessiert sind. Wir werden so schnell nicht wieder an die Front geschickt werden, das verspreche ich dir. Ich kann dir nicht versprechen, dass wir den vollkommenen Frieden noch miterleben werden, aber ich hoffe, dass spätestens die Generation nach uns sehen wird, wie kostbar der Frieden ist und dass nichts auf der Welt so wertvoll ist, dass man den Frieden dagegen eintauschen kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.“

Helena schlang beide Arme um ihn und musterte ihn. Er hatte seine Uniformjacke ein wenig geöffnet, weil es im Hauptquartier so heiß war, und darunter trug er – genau wie auf der Akademie – ein schwarzes T-Shirt. Seine schwarzen Haare standen am Ende des Tages meistens wirr von seinem Kopf ab und seine Brille saß meistens ein bisschen schief und verdeckte seine lebenslustig schimmernden grünen Augen nur bedingt. Er war weitaus größer als sie, aber das hatte ihr nie etwas ausgemacht. Sie hatte sich damit abgefunden, dass er größer war als sie. Und während sie schweigend in ihrem Büro standen, erinnerte sie sich auch daran, wie sie damals an der Südfront Seite an Seite gegen einen übermächtigen Feind gekämpft hatten. Sie waren einmal mit ihrer Einheit in einen Hinterhalt geraten und nur sie hatten die Flucht geschafft und sich in einem leeren Gebäude verschanzen können. Zwei Nächte und drei Tage hatten sie die leerstehende Schule zu zweit halten können, dann war der Verstärkungstrupp endlich gekommen. Es war ihr Erfolgsgeheimnis gewesen, dass sie als Team gekämpft hatten. Sie hatte als Alchemistin natürlich ihre Gegner auch auf einige Distanz hin angreifen können, während er nur ein Scharfschütze war. Sie hatten sich während der Nächte in einen leeren Klassenraum zurückgezogen und immer gehofft, dass sie nicht sterben würden. Sie hatten überlebt, irgendwie. Sie wussten selber nicht mehr, wie sie den Verstand bewahrt hatten, während sie unter feindlichem Beschuss gestanden hatten. Force hatte irgendwann keine Munition mehr gehabt und Helena selbst war so müde geworden. Es kostete sie viel Kraft, viele Transmutationen in kurzer Zeit durchzuführen, aber irgendwie hatte sie es geschafft, sich zusammenzureißen und nicht die Nerven zu verlieren. Und deswegen hatten sie beide überlebt. Es war ein mittleres Wunder.

Was Helena selbst anging, sie hatte sich mit ihrer eigenen Schuld abgefunden, weil sie ihr Leben lang gewusst hatte, dass sie Schuld auf sich laden würde, irgendwann in ihrem Berufsleben. Aber auch wenn sie gewusst hatte, dass sie unter Umständen so enden würde wie ihre Mutter, war sie nie zurückgewichen. Sie hatte sich dafür entschieden, als Soldatin und Alchemistin ihrem Land zu dienen – und davon würde sie niemals Abstand nehmen. Es war ihr Job, ihr Land zu beschützen, und sie machte ihn gerne.

„Ich werde nicht wieder davonrennen“, sagte sie, obwohl sie genau wusste, dass sie das Versprechen vielleicht brechen musste. Vielleicht würde sie es nicht schaffen, bis zum bitteren Ende für ihn da zu sein, aber sie würde es versuchen. Das war es, was sie sich zum Mindestziel gesetzt hatte. Sie wollte nicht Generalfeldmarschall werden. Sie wollte nur, dass ihre Heimat eines Tages friedlich sein würde und dass sie eines Tages ohne Angst und Furch ihr Dasein führen konnte. Sie ließ ihren Kopf auf seiner Schulter verweilen, bevor ihr Schutzinstinkt einsetzte und sie einen Schritt nach hinten machte.

Helena und Force verließen das Hauptquartier gemeinsam. Sie waren Nachbarn im Monroe-Distrikt und wohnten beide in kleinen Häusern. Die Militärangehörigen, die aus freiem Willen nach Ishbal gekommen waren, wohnten ausnahmslos in bescheidenen Behausungen, um keinen Neid aufkommen zu lassen. Sie bekamen auch nicht viel Geld, aber da sie ihre Verpflegung und alles andere gestellt bekamen, brauchten sie das auch nicht. Sie brauchten nur dann Geld, wenn sie unnötige Dinge, sprich Luxus, kaufen wollten. Helena hatte trotz ihres verschwenderischen Lebenswandels bisher am Ende eines jeden Monats Geld übriggehabt.

Schweigend gingen sie durch die Dunkelheit, bevor sie durch eine besonders dunkle Gasse gingen und beide unwillkürlich eine Hand an ihre Waffen legten. Auch wenn Helena eine begnadete Alchemistin war, verließ sie sich nicht auf ihre Fähigkeiten. Sie war eine sehr souveräne Schützin, wenn auch etwas außer Übung.

„Wir Alchemisten sind wirklich erbärmliche Kreaturen“, sagte Helena bitter. „Hier stehe ich schwerbewaffnet und … fürchte die Dunkelheit. Wie … jämmerlich.“

Force lächelte. „Du bist ein guter Mensch, Helena“, sagte er und legte einen Arm um sie, während sie durch die Gasse gingen. „Ernsthaft.“

Aber sie hatte keine Luft mehr auf seine Ausflüchte und auf den traurigen Blick in seinen Augen. „Du mochtest die alte Helena lieber als mich, nicht wahr?“

„Man kann euch nicht vergleichen“, log er. „Die alte Helena war … wie soll ich sagen … ein wenig unschuldiger? Sie hatte ein weiches Gesicht und was immer sie auch tat, sie hat es aus Liebe heraus getan.“ Er sah sie von der Seite her an. „Aber der Krieg hat sie und ihre Unschuld auf grausamste Weise vernichtet.“

Und dann kam die Frage, die er all die Jahre über mehr als den Tod gefürchtet hatte: „Hast … du mich geliebt?“ Weil er diese Frage schon so lange erwartet hatte, hatte er auch eine Lüge als Antwort darauf vorbereitet: „Nicht dich … aber sie.“

Helena konnte seine Antwort nur wie durch eine Glaswand hinweg hören, während ihr Herz einen halbes Schlag aussetzte. Das war es also. Sie hatte es geahnt. Sie hatte es in seinen Augen lesen können, aber all die Jahre über hatte sie … gehofft. Das war es gewesen, was sie davor bewahrt hatte, ihren Verstand zu verlieren. Aber sie war nicht mehr das naive, unschuldige Mädchen, das sie einmal gewesen war. Sie hatte gewusst, worauf sie sich eingelassen hatte, als sie in die Militärakademie eingetreten war. Sie hatte genau gewusst, dass sie ihre Ziele nicht ohne Schweiß, Blut und Tränen verwirklichen konnte. Aber die alte Helena war erst in Aerugo gestorben. Damals hatte sie ernst machen müssen – was sie auch getan hatte. Aus der jungen Frau mit den hüftlangen Silberlocken war Captain Hamilton geworden und das hatte er ihr nicht verzeihen können.

Force wusste, was sie dachte, und er hielt ihrem verletzten Blick stand. Ein Teil von ihm wollte die Lüge zurücknehmen, aber er konnte nicht mehr zurück. Die Frau, die einmal Helena Hamilton gewesen war, war eine sanfte Persönlichkeit gewesen, wenn auch ein bisschen zu lieb. Er hatte sie unter anderem auch dafür geliebt, dass sie im Vergleich zu anderen so unschuldig gewirkt hatte, obwohl sie die Grauen des Krieges besser hatte einschätzen können als jeder andere. Als sie aus Aerugo zurückgekommen waren, hatte sie sich vollkommen verändert. Selbst ihre Augen, einst von einem warmen Blauviolett, waren zu den Augen einer Jägerin geworden: Reinviolett und mit einem Schimmern, das ihm einfach nicht gefallen hatte. Aber das war die Frau, die er verdient hatte. Die alte Helena war einem Engel näher gewesen als einem Menschen, aber das hier war ein Mensch. Ein Mensch mit Fehlern und Sünden, aber ein Mensch. Ein Mensch, der lernen konnte.

„Du verstehst es nicht, Lena“, sagte Force langsam. „Die, die du einmal warst, war kein Mensch. Jetzt bist du ein Mensch … und musst dich an die Regeln der Menschen halten.“

„Aber wenn du mich einmal geliebt hast…“

„Ich hatte mich in ein Geschöpf verliebt, das es niemals wirklich gegeben hat“, sagte er ruhig und zog sie an sich. „Es ist nicht, dass ich dich nicht mehr mögen würde. Es ist nur so, dass du nicht mehr die Lichtgestalt bist, die du einmal repräsentiert hast.“

Die beiden wussten nicht, dass ihr kleines Gespräch belauscht wurde. Serena und Scar hatten sich auf Scars kleinen Balkon gesetzt, um die laue Sommernacht in Stille und mit einem Glas Wein zu verbringen. Die Stimmen der beiden Offiziere wurden zu ihnen hoch getragen und Serena schüttelte langsam den Kopf. „Wie typisch für dich, Lena“, sagte sie seufzend. „Was immer du auch tust, du erkennst immer erst viel zu spät, was deine wahren Gefühle und deine wahren Absichten sind…“

Scar zuckte mit den Schultern. „Noch ist es nicht zu spät“, sagte er. „Und ich nehme an, dass du Ishbal in den nächsten Tagen verlassen wirst, nicht wahr?“

„Die Eastern Militärakademie hat allgemein den besten Ruf und dort kann ich nicht nur eine militärische Grundausbildung in Anspruch nehmen. Man kann dort auch den besten Abschluss Amestris’ machen und falls man eines Tages aus der Armee austritt, kann man danach praktisch jeden Job bekommen, weil man eine gute Schulbildung hat.“

Er nickte langsam. „Das ist es, was dich antreibt, nicht wahr?“, murmelte er. „Du bist am Wissen mehr interessiert als die meisten anderen Mädchen deines Alters.“

Sie grinste und nahm einen letzten Schluck ihres Weines (Anbaugebiet: Ishbal), bevor sie ihre Ledertasche über ihre Schulter warf. „Na ja, ich muss jetzt auch langsam mal los, bevor Helena Hausarrest geben kann, weil ich zu spät nach Hause gekommen bin.“

„Denkst du wirklich, dass sie das tun würde?“, fragte er amüsiert. „Deine große Schwester erinnert mich sehr an meinen Bruder. Sie würde nie etwas tun, was dich verletzen würde. Sie … sie liebt dich, auch wenn sie vielleicht nicht immer weiß, wie sie es dir zeigen soll. In meinen Augen ist sie eine sehr starke Frau, die weiß, was sie will.“

„Ihre größte Angst ist es, dass irgendwer meinen Rücken sieht. Wir haben uns unsere Forschungsergebnisse jeweils gegenseitig aufgebürdet, weil wir uns gegenseitig am meisten vertrauen. Ich weiß, dass sie ihr T-Shirt nicht für jeden auszieht und sie weiß, dass für mich dasselbe gilt.“

„Bemerkenswert, wie stark eure Hingabe an die Alchemie ist, wenn man bedenkt, was euch die Alchemie angetan hat“, sagte er mit Anspielung auf ihre Mutter.

„Wir sind damit aufgewachsen und wir wussten alle von vorneherein, dass es unsere Pflicht ist, die Forschungen fortzuführen, damit wir das Element wirklich eines Tages unter unsere Kontrolle bringen. Wasseralchemie ist in unserer Familie so etwas wie eine Tradition. Selbst Kay, die alles über Bord geworfen hat, was sie noch mit uns verbindet, kann dieser alten Fessel nicht entrinnen“, sagte Serena. „Sie hat es versucht, aber das ist etwas, was stärker bindet als nur ein Leben lang. Sie kommt einfach nicht davon los.“

„Und was ist mit dir, Serena?“, wollte er wissen.

„Ich bin nicht Helena, ich bin wesentlich stärker damit verbunden als sie“, sagte die jüngste Hamilton-Schwester. „Lena war die einzige von uns, die die Kraft hatte, sich aus Mutters übermächtiger Umarmung zu lösen und organische Transmutation zu erforschen. Nessa, Kay und ich – wir haben diese Kraft nicht besessen.“

„Woher hat deine Schwester diese Kraft genommen?“, fragte Scar, während er darüber nachdachte, ob er Helena Hamilton mögen oder fürchten sollte. Sie war sicherlich nicht so gefährlich wie ihre Mutter, aber auch sie war nicht harmlos. Er hatte sie einmal am Schießstand beobachtet und seitdem fragte er sich, was sie antrieb. Während sie mit links schoss, hatte sie mit der rechten Hand die Luftfeuchtigkeit zu kleinen Eiskristallen gefrieren lassen und hatte damit ebenfalls auf die Zielscheibe geschossen.

„Helenas Stärke war immer schon ihr unbedingter Glaube daran, dass eines Tages alles gut werden würde. Das ist es, was sie antreibt. Sie will Amestris zu dem Staat machen, der unser Land sein könnte, wenn man ihm in den vergangenen Jahren nicht so übel mitgespielt hätte. Du hast mir von den Homunkuli erzählt, von den künstlich erschaffenen Menschen, die nur über eine einzige Emotion verfügt haben. So ähnlich verhält es sich bei Helena auch. Sie verströmt Hoffnung. Wo immer sie auch ist, verschwindet die Verzweiflung.“ Sie seufzte, dann sah sie auf ihre Uhr. „Na ja, ich muss jetzt wirklich los.“

„Bleib doch noch ein bisschen“, sagte Scar. „Du kannst mir noch ein bisschen mehr über deine Mutter erzählen.“

Serena sah ihn ungläubig an. „Willst du mehr über sie wissen, als das, was du wissen musst, um sie hassen zu können?“

„Falsch“, sagte er. „Ich will genug über sie wissen, um ihr eines Tages vergeben zu können. Ich … ich will sie verstehen.“

„Meine Mutter“, begann die junge Frau, „war die schönste Frau der Welt. Helenas Schönheit gibt eine gute Vorstellung davon, die meine Mutter in jungen Jahren aussah. Und Mutter war sehr fürsorglich. Ihre Taten hier sprechen eine vollkommen andere Sprache, aber bevor sie so sehr … gebrochen wurde, war sie anders. Ich habe gesehen, wie sie in den Wagen gestiegen ist, der sie nach Ishbal gebracht hat, und danach habe ich sie nie wieder lebendig gesehen. Ich glaube heute, dass sie wusste, dass sie nicht mehr lebendig zurückkommen würde, denn sie hatte in ihrem Arbeitszimmer stehen. Eine für jede von uns. Der Inhalt der ersten drei Kisten ist mir bekannt. Helena hat die ganzen Sachen über den militärischen Einsatz und die organische Transmutation bekommen. Nerissa bekam die Informationen über die Wasseralchemie im Allgemeinen, Mutters Berichte und alles andere, während ich ihre Briefe bekam. Was Kay bekam … keine Ahnung. Ich habe sie nie danach gefragt.“

„Ich finde es irgendwie schon ironisch, dass deine drittälteste Schwester die einzige ist, die eine Staatsqualifikation abgelegt hat…“, sagte Scar. „Wieso hast du es nicht getan? Ich meine, du bist doch auch gut genug, um eine zu bekommen…“

„Helena ist aber wesentlich besser als ich. Alles, was ich habe, ist auf Basis von Mutters Forschungen entstanden. Aber Lena hat alles selbst erforscht. Sie war sieben, als ihr die Sache mit der Wasseralchemie zu heiß wurde. Seitdem hat sie sich nur noch mit der organischen Transmutation auseinandergesetzt. Du hast doch gestern mitbekommen, wie sie mit Dr. Marcoh in der Kantine über verschiedene Verfahren einer Heilung auf Basis von Alchemie diskutiert hat.“

„Stimmt, das war tatsächlich beängstigend, weil sie so viel darüber wusste“, sagte Scar zustimmend. „Aber erinnerst du dich noch an die Feier, die wir anlässlich ihrer Ernennung gefeiert haben? Oberst Helena Hamilton, alias Silver Alchemist. Es gab schon einmal einen Silver Alchemist, soweit ich weiß…“

„Es war einer der Staatsalchemisten, die du umgebracht hast“, sagte Serena trocken, während sie sich noch ein wenig mehr Wein in ihr Glas goss. „Laut Mutters Briefen wird keiner ihn vermisst haben.“

„Wie schaffst du es nur, so ruhig zu bleiben?“, fragte er.

„Ich habe drei Schwestern, die alle auf ihre Art und Weise getötet haben“, sagte sie. „Kay und Helena haben getötet, weil es ihre einzige Möglichkeit war, irgendwie zu überleben, und Nerissa hätte mein Leben und das Leben jeder anderen Person für das Leben unserer Mutter geopfert, wenn sie kurz vor ihrem Ziel nicht zurückgeblickt hätte. Sie hätte es getan, wenn sie Helena nicht geschworen hätte, mein Leben zu beschützen, während Lena sich nicht mehr um mich kümmern konnte. Ich weiß, ich hätte in North City bleiben müssen, um mich verhören zu lassen, aber ich habe die Nerven verloren. Was mein Krisenmanagement angeht, bin ich nicht halb so gut wie Kay oder Lena. Sie sind anders als ich, vor allem Lena. Sie hätte nicht die Nerven verloren, weil sie an solche Situationen schon seit sehr langer Zeit gewöhnt ist.“

„Kannst du deiner Schwester verzeihen, was sie getan hat?“, wollte Scar wissen.

Serena legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Sternenhimmel. „Nerissa war kein schlechter Mensch“, sagte sie langsam, „aber ihr moralischer Kompass war noch nie richtig eingestellt. Sie war eine gute Alchemistin, das kann ich nicht leugnen, aber ihr fehlte Helenas Lebenseinstellung. Das war es, was die Sache so gefährlich gemacht hat.“

„Helenas Lebenseinstellung ist sicherlich ebenso beeindruckend wie deine Schwester selbst. Ich habe von der Sache im Kandare-Bezirk gehört … klang wirklich gut.“

„In ihren Augen muss Gewalt immer das absolut letzte Mittel bleiben. Was immer auch passiert, Gewalt darf niemals vorschnell eingesetzt werden. Deswegen ist sie auch so sehr zusammengebrochen, nachdem sie in Aerugo eingesetzt worden ist.“ Serenas ohnehin sehr leise Stimme war noch leiser als üblich. „Sie sagt, dass es manchmal viel schlimmer ist, wenn man überlebt, weil die Toten ihren Frieden gefunden haben.“

„Sie war an der Südfront?“, bohrte Scar.

„Für dreieinhalb Monate“, erwiderte Serena. „Es hat sie sehr verändert, wenn du mich fragst. Ich frage mich manchmal, wieso sie weitermacht.“

„Weil sie weiß, dass es zu spät für sie ist, noch einmal umzukehren“, sagte der Mann mit der Narbe leise. „Sie kann nicht mehr zurückgehen, ohne dass es Fahnenflucht wäre. Sie hat sich für diesen Weg entschieden, jetzt geht sie ihn bis zum bitteren Ende.“

Und auch wenn er so gut wie nie Zeit mit Helena ‚Lena’ Hamilton verbrachte, lag er richtig. Sie hatte sich entschieden, weiterzugehen. Aber auch wenn sie nach außen hin so selbstbewusst wirkte, hatte sie eine Schwachstelle: Oberstleutnant Martin Force. Er war ihre größte Schwäche – und das wusste sie auch. Sie wusste, dass man ihn nur bedrohen musste, damit sie alles tat, um sein Leben zu retten. Und eben weil sie es wusste, tat es ihr auch so weh, dass er sie nicht mehr zu lieben vorgab.
 

Edward saß auf seiner Veranda, nachdem seine Kinder zu Bett gegangen waren, und starrte in die Ferne. Über ihm war gerade der Mond aufgegangen und er war nicht überrascht gewesen, als May ihm angeboten hatte, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten, während Winry und Alphonse zusammen irgendetwas im Haus erledigten.

„Das Leben im Militär muss wirklich die Hölle sein“, sagte Edward seufzend und schüttelte langsam den Kopf. „Immer so tun zu müssen, als ob es einen nicht wirklich interessieren würde, was mit dem anderen passiert … das ist doch wirklich ätzend.“

„Redest du über dich und Winry?“, wollte May wissen, während sie sich gegen einen der Pfeiler lehnte und ebenfalls in die Ferne starrte, wo die letzten Sonnenstrahlen verschwanden.

Edward schüttelte den Kopf. „Ich denke eher an Mustang und Hawkeye“, erwiderte er. „Als ich die beiden zum ersten Mal getroffen habe, war ich nicht in der Verfassung, irgendetwas zu merken, aber als ich Mustang dann das erste Mal im Eastern Hauptquartier getroffen habe, war es eigentlich schon sehr offensichtlich. Und nicht nur ich sehe das so. Havoc hat mich gefragt, ob ich mich an den Wetten beteiligen wolle. Sie haben seit Jahren immer gewettet, wann die beiden es endlich zugeben und zusammen kommen würden. Ich habe gesagt, dass ich mich nicht wohl bei dem Gedanken fühlen würde, eine Reihe ehrbarer Soldaten um ihr Geld zu erleichtern, aber eigentlich hatte ich einfach keine Idee, wann sie endlich dazu stehen würden.“

„Es ist wirklich sehr offensichtlich, dass sie zusammengehören“, sagte May zustimmend. „Und? Wer hat die Wette jetzt gewonnen?“

Edward zuckte mit den Schultern. „Da die beiden noch immer leugnen, dass sie zusammengehören, hat vermutlich keiner gewonnen“, seufzte er. „Ich kann Mustang nicht ausstehen, aber ich mag Oberst Hawkeye. Sie ist eine wirklich großartige Person. Sie macht ihn erträglich, musst du wissen. Ohne sie würde ich Mustang immer wieder am liebsten umbringen, wenn ich ihn irgendwo sehe, aber wenn sie dabei ist, reißt er sich zusammen. Die beiden sind wie Milch und Kakaopulver. Er ist ätzend und alles, aber sie ist so lieb und freundlich, auch wenn sie auf den ersten Blick so streng und hart wirkt. Ich glaube, dass bei ihr vieles Fassade ist.“

May nickte langsam. „Er war auch so fürchterlich aufgewühlt, als sie fast gestorben wäre“, sagte sie und schüttelte dann den Kopf, um die Erinnerung zu vertreiben. „Bevor ich sie geheilt habe, hätte ich schwören können, dass er Tränen in den Augen hatte. Ich glaube, er hätte alles dafür aufgegeben, um sie sicher zu sehen. Es war so seltsam, weil sie so ruhig war.“

„Hawkeye ist im Eastern Hauptquartier berüchtigt“, sagte Edward, während er halbherzig lachte. „Sie hat eine Reihe Spitznamen und nur wenige davon sind freundlich: Sklaventreiberin, Eiskönigin, Hexe und manche bezeichnen sie sogar als Psychopathin.“

May riss schockiert die Augen auf. „Dabei ist sie so eine nette Frau!“, rief sie wütend. „Edward, wir fahren morgen nach East City! Ich werde sie lehren, Miss Riza so zu nennen!“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Rhyo
2011-09-24T14:56:01+00:00 24.09.2011 16:56
Wow May hat eine Sprechrolle... kommt nicht oft vor xD

Force und Helena erinnern mich ein bisschen an Hawkeye & Mustang, außer dass die Geschlechter getauscht sind. Er scheint jedenfalls ein sehr netter Typ zu sein... Ich weiß nicht, irgendwie mag ich ihn lieber als sie xD
(und er ist ja doch in sie verknallt)
Von:  DarkDragon
2011-06-03T17:34:29+00:00 03.06.2011 19:34
Da bahnt sich eine neue Liebesgeschichte an, zwischen Helna und Force, ob ihre Schwester sich einmischen wird oder Scar? bin neugierig.
Ich möchte sehen wie Mai, sie davon überzeugen will^^
lg


Zurück