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Hänsel und Gretel reloaded

von

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Kein Pfefferkuchenhaus

Mein Name ist Gretel und dies ist die Geschichte, wie ich meinen Bruder Hänsel vor dem Zauber der Hexe beschützte.
 

Nun, eigentlich heiße ich Margarete und er Jonas Hans. Ich trug den Namen meiner Oma und war von klein auf Maggy gerufen worden. Weil ich als Kind das 's' nicht aussprechen konnte, hatte ich meinen Bruder Jona genannt, während die Familie ihn Jojo rief. Alles ganz akzeptable Namen, die nicht nach Mittelalter und ausgesetzten Kindern klingen.
 

Doch in der vierten Klasse der Grundschule, als Jona und ich zum ersten Mal gemeinsam in die gleiche Klasse gingen, weil sie zusammengelegt worden waren, hatte unsere Klassenlehrerin die unheilvolle Märchenverknüpfung vorgenommen:

"Meine Mutter Margarete wurde früher immer Gretel gerufen", erklärte sie vor der Klasse fröhlich und tat bei einem erneuten Blick ins Klassenbuch überrascht. "Moment mal, dein Bruder heißt ja Hans-" An dieser Stelle wollte er protestieren, immerhin hieß er ja Jojo, aber die Lehrerin schnitt ihm das Wort ab. "Dann seid ihr ja Hänsel und Gretel!"

Die ganze Klasse lachte und Jona und ich schauten uns nur überrascht an. Als Kind dachte man nicht so genau über seinen Namen nach, zumal sein Zweitname für uns beide fast in Vergessenheit geraten war. Noch kein anderer Erwachsener hatte uns diese Spitznamen gegeben.

"Dann werdet ihr im Wald gelassen", quietschte Marie, eine Klassenkameradin. Jonas Ausdruck wurde ängstlich, während ich dem Mädchen einen bitterbösen Blick zuwarf.

"Sei still, du blöde Pechmarie!"

Schon damals wollte ich Jona nur beschützen, das verstand unsere Klassenlehrerin aber nicht und tadelte mich vor allen anderen Schülern.
 

Rückblickend kann ich sie nicht mehr leiden, aber damals wusste ich nicht, welche Tragweite ihre scherzhafte Bemerkung haben würde. 'Hänsel und Gretel' wurden seither unsere Namen, bald wusste die ganze Schule davon. Und als wir auf das Gymnasium wechselten, fanden sich ausreichend Schüler unserer alten Grundschule, um die Spitznamen zu verbreiten.
 

Doch nun, fast sieben Jahre später, hatte ich mich irgendwie dran gewöhnt und fand es nicht mehr allzu schlimm, Gretel gerufen zu werden. Zwischen den ganzen Jacquelines, Angelinas und Jessicas fiel man so auf jeden Fall auf.

Jona hatte das Glück, dem Namen in seinem Freundeskreis großteils entkommen zu sein. Von seinen Skaterfreunden, zu denen ich ihn nie begleiten durfte, wurde er Jo oder Jonny genannt.
 

Unsere geschwisterliche Beziehung hatte ihre Höhen und Tiefen, die sich langsam mittelten. Zum Ende der Grundschule waren wir unzertrennlich gewesen und deshalb auch auf das gleiche Gymnasium gegangen. Als wir in unterschiedlichen Klassen endeten und mit unterschiedlichen Menschen Freundschaften schlossen, schwang das Pendel in die andere Richtung und wir waren ständig am Zanken. Trotz Jonas eher schüchterner Art war er bald mit vielen seiner Klassenkameraden gut befreundet und verbrachte immer weniger Zeit zu Hause, während ich mich auf meine schulischen Leistungen konzentrierte und viel lernte.
 

"MAGGY!" rief Jona aus dem Zimmer gegenüber, das seines war. Sein Kosename für mich war 'Gretchen', also war er gerade nicht bester Laune. Im nächsten Moment stapfte er in mein Zimmer, ein schwarzes Shirt in der Hand, über das zahllose weiße Krümel verstreut waren. "Wenn du deine verdammten Sporthosen schon in meine Wäsche wirfst, dann vergiss doch nicht immer die Taschentücher da drin!"

Ich schaute bedröppelt, weil mir tatsächlich einfiel, dass ich dieses kleine Detail mal wieder vergessen hatte und auch, weil ich daran dachte, dass meine zweite Hose gerade mit seinen anderen Sachen in der Maschine vor sich hin wirbelte und ich nicht sicher war, ob ich aus dieser alle Taschentücher entfernt hatte. Das sollte Jona besser nicht eher als nötig erfahren.

"Warte kurz", murmelte ich und lief zu meiner Kommode, um zwei dunkle Hemden daraus zu ziehen, die reichlich verknittert waren. "Hier, die hab ich mir ausgeliehen aber doch nicht gebraucht."

Sein Blick sagte mir, dass er die Falten nicht allzu prickelnd fand, aber ich zuckte nur die Schultern.

Da wir die gleiche Konfektionsgröße trugen, stahl ich mir öfter Sachen meines Bruders. Doch bei Kleidung hörte es nicht auf, ich nahm auch seine Schuhe, Stifte und alles was er sonst herumliegen ließ, ohne ihn zu fragen. Bei manchen Dingen störte es ihn, andere bemerkte er gar nicht, da war ich praktischer als eine Putzfrau.

Ich beobachtete meinen Zwilling, wie er mit den Hemden und dem von Taschentuchfetzen verunstalteten Shirt aus meinem Zimmer verschwand. Die braunen, welligen Haare hatten wir beide von unserem Vater geerbt, aber als Frau war es viel schwerer, sie zu bändigen und meist band ich sie zusammen, damit sie mir beim Lernen oder dem Sport nicht in die Quere kamen. Jona trug seine Haare so kurz, dass man die leichten Locken nur erahnen konnte.

Er packte seine Sachen für einen Schulausflug, der in zwei Tagen starten würde. Jona und seine coolen Freunde hatten ihre Kursleiterin überredet, ihre Sprachreise in Pisa zu verbringen, obwohl keiner von ihnen italienisch sprach. Andere fuhren nach London oder in die Provence, während ich an keiner Fahrt teilnahm, denn mein Basketballverein hatte ein wichtiges Spiel am Wochenende der Abfahrt.

Am liebsten wäre ich mit Jona mitgefahren, doch er hielt mich immer von den Skatern fern, mit denen er seine Zeit verbrachte. Vermutlich war ich ihm nicht cool genug, um vorzeigbar zu sein, denn gute Noten waren nichts, worauf Gleichaltrige häufig neidisch waren. Dass ich gut Basketball spielte, wussten sie vermutlich nicht. Ich sollte diese Milchbubis vielleicht einfach mal zu einem Spiel herausfordern...
 

Bei Abschieden war ich immer besser gewesen als mein Bruder. Als mir die Mandeln rausoperiert wurden und ich über Nacht im Krankenhaus bleiben musste, hatte er solange geheult, bis eine Schwester anbot, ihm eine Spritze zu verpassen. Wenn es etwas gab, was er noch mehr hasste als das Verabschieden, dann waren es Nadeln, also hatte er kneifen müssen.

Vor meiner Abfahrt zum Sportcamp vor zwei Jahren waren wir die ganze Nacht aufgeblieben und hatten geredet.

Doch an diesem Morgen vor der Schule, wo der Bus in aller Herrgottsfrühe abfuhr, ließ er sich nicht einmal von mir umarmen, weil seine Kameraden uns durch die Scheiben des Gefährts beobachteten.

"Pass auf dich auf, Jona", murmelte ich und er warf mir ein halbes Lächeln zu, bevor er seine Tasche in den Stauraum des Busses warf und kurz darauf durch die Tür verschwand. Es fühlte sich an, als würden wir uns immer mehr voneinander entfernen und das ließ mein Herz unheimlich schmerzen. Unbehaglich rieb ich mir über die Haut über dem Herzen und beobachtete durch die abgedunkelten Scheiben, wie Jona seine Freunde im Bus begrüßte. Er wirkte viel gelöster als bei mir.

Meine Mutter, die ich im Wachstum längst überholt hatte, legte mir einen Arm um die Schulter, doch es tröstete mich wenig. Einen Zwilling zu haben war anders als ihre Erfahrung, sich gegen drei jüngere Brüder durchsetzen zu müssen. Egal was kam, Jona würde mir immer näher stehen als unsere Eltern oder Freunde. Umso schmerzhafter war es, wenn wir nicht miteinander reden konnten.
 

Früh aufzustehen war nicht unbedingt die beste Vorbereitung, die ich für ein Titelspiel auf Lager hatte, aber es ließ mir viel Zeit, den Tag über in unserem Garten Körbe zu werfen und den Kopf frei zu kriegen.

Sandra, meine beste Freundin, kam vorbei, um mich abzuholen und mir zu versichern, dass sie jede meiner Bewegungen auf Bildern festhalten würde.

"Ich würde ja auch für dich tanzen, Gretelchen, aber die anderen wollten nicht", erklärte sie, während sie schwunghaft in den kleinen Polo ihrer Eltern einstieg, an dem ich mir beim Einsteigen regelmäßig den Kopf stieß. Sandra war Cheerleaderin und wir hatten uns in der Umkleidekabine des Sportstadions kennengelernt und auf Anhieb verstanden. Seitdem war sie vermutlich mein größter Fan und kam zu allen meinen Spielen – anders als meine Familie.

Meine beste Freundin warf mir einen Seitenblick zu. "Ist was passiert?" fragte sie und war für wenige Sekunden ruhig, bevor ihr Knie unbewusst zu wippen begann. Sandra konnte nie stillhalten; die einzige ihrer Eigenschaften, die ich für alles Geld der Welt abschaffen würde. Selbst ihre blonden Korkenzieherlocken schienen diese Eigenschaft fortzutragen, denn sie schaukelten ununterbrochen auf und ab.

"Ach, Jona ist auf dieser Klassenfahrt", erwiderte ich, während ich die Sporttasche auf meinem Schoß zurechtrückte und die Autotür neben mir zuschlug.

"Hmm, sie werden so schnell erwachsen", sagte Sandra und nach einem Blick zu mir brachen wir beide in Gekicher aus. Sandra hatte eine kleine Schwester, deren Gesicht seit Neuestem wie ein impressionistisches Gemälde aussah, wenn sie die Wohnung verließ.
 

"Gestern war dein süßer Bruder gar nicht da, oder?" fragte Michelle scheinheilig, während sie sich ihr Shirt in einer eleganten Bewegung nach oben über den Kopf zog und die rotgepunktete Unterwäsche darunter entblößte. Ich wandte den Blick ab. Ich fand es nie besonders angenehm, anderen Menschen allzu viel von mir zu zeigen oder von ihnen zu sehen. Deswegen war ich auch keine Schwimmerin geworden, obwohl ich kräftige Beine hatte und genau wie mein Bruder eine Wasserratte war.

"Nein, er ist auf Klassenfahrt." Jona war in der ganzen letzten Saison zu zwei Spielen gekommen und trotzdem hatte Michelle ihn sich sofort gemerkt und ein Auge auf ihn geworfen, was mir ganz und gar nicht passte. Schon der Gedanke an meinen Bruder und irgendein Mädchen war sehr seltsam. Das würde ich Michelle aber sicher nicht sagen, wir waren sowieso nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen.

Ich zog mir das Trikot über und band meine Haare zusammen, bevor ich wortlos aus der Umkleidekabine ging.

Jona hatte sich noch gar nicht gemeldet. Wenn man sich sonst jeden Tag sah, war es seltsam, einige Zeit nichts voneinander zu hören.

Ich sollte mir wirklich nicht so viel aus der ganzen Sache machen. Doch je länger ich nichts aus Italien hörte, desto mehr breitete sich ein gewisses ungutes Gefühl in mir aus. Manche sagten, Zwillinge spürten, wenn der andere Sorgen hatte oder es ihm schlecht ging, aber das war bei uns nie der Fall gewesen. Vielleicht konnte ich jetzt das erste Mal ahnen, was sie damit meinten.
 

Das Spiel am Vortag hatten wir gewonnen und Sandra hatte mich danach auf einen riesigen Eisbecher eingeladen, um den Sieg zu feiern, danach waren wir ins Kino gefahren. Ein richtiger Mädelsabend, wie Sandra es nannte, das hatte ich allzu selten neben den ganzen Trainingsstunden und dem häufigen Lernen.

Als ich nach dem Training an diesem Tag heim kam, erzählte Mama von einem Anruf von Jona: "Ach Gretel, dein Bruder hat angerufen. Es scheint ihm gut zu gehen." Ihr Unterton ließ mich aufhorchen.

"Ist irgendwas mit ihm?" fragte ich misstrauisch, während ich meine verschwitzten Sportklamotten aus der Tasche zog, um sie später in die Maschine zu schaffen.

"Ich weiß nicht", murmelte Mama etwas zerstreut. "Er wirkte... naja. Seltsam euphorisch."

"Du meinst betrunken euphorisch?"

Sie warf mir einen unsicheren Blick zu und ich straffte meine Haltung. "Ich schätze, ich kann euch nicht ewig von allem Schlechten fernhalten, Schatz, egal, wie gerne ich das würde." Im Vorbeigehen strich sie mir über den Kopf und ich seufzte.

Jugendliche im Alter von siebzehn Jahren von Alkohol fernzuhalten wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, weil es uns einfach so unheimlich leicht gemacht wurde, daran zu kommen. Mittlerweile fand keine Party mehr ohne den obligatorischen Kasten Bier statt; einer der Gründe, warum ich diese Zusammenkünfte mied.
 

Noch während ich den halben Tag mit leerem Blick über einem Referat saß, weil ich ständig an Mamas Worte über Jona nachdenken musste, rief meine beste Freundin an. Sie schien einfach einen eingebauten Radar mitzubringen, der automatisch ausschlug, wenn ich Sorgen hatte.

"Alles klar bei dir?" fragte sie und ich hörte, wie sie im Hintergrund die Mine eines Kugelschreibers immer wieder aufschob und zurückschnipsen ließ.

"Jaja", versuchte ich abzuwiegeln.

"Jonas?"

"Hm."

"Ach Gretelchen, morgen ist er doch schon wieder da. Du solltest wirklich mehr raus. Komm am Wochenende doch mit zu Svenjas Party, okay?" Für wenige Momente hörte sie auf, mit dem Kugelschreiber zu klicken, doch setzte nur Bruchteile später wieder an.

Mit einem Blick auf das Referat, mit dem ich bisher kein Stück weitergekommen war, lehnte ich mich zurück und erwiderte: "Ich glaube, ich passe. Schulzeug und so..."

Sandra versuchte noch einige Minuten, mich zu überreden, bis ich mich zu einem Vielleicht durchrang.
 

"Gretel, wir fahren deinen Bruder abholen", rief Mama in mein Zimmer und ich murmelte irgendetwas Zustimmendes, ohne es wirklich mitzubekommen, während ich die Seite meines Buches umblätterte und meine Augen über die Zeilen flogen. Nur wenige Bücher schafften es, mich so zu fesseln, dieses war ein Geschenk von Sandra zu meinem letzten Geburtstag gewesen und seit ich es am Vorabend in die Hand genommen hatte, um mich abzulenken, konnte ich es nicht mehr beiseite legen.

Ich bemerkte kaum, wie die Zeit verging, so gefesselt war ich, bis ich Jonas Stimme im Flur hörte.

"-eigentlich will ich gerade nur schlafen", erklärte er und seine Stimme klang matt. Mein Kopf schnappte nach oben und ich ließ das Buch achtlos liegen, als ich vor mein Zimmer stolperte und ihn wortlos umarmte.

"Gretchen? Was ist denn los?" Was war dieser seltsame Ton in seiner Stimme? Ich löste mich von Jona und hielt ihn an meinen ausgestreckten Armen vor mich, um ihn in Augenschein nehmen zu können. Seine braunen Augen wirkten dunkler, waren etwas gerötet und schienen tiefer in ihren Höhlen zu liegen. Ansonsten wirkte er wie immer, abgesehen von dem Geruch nach mehreren Tagen männlicher Gesellschaft mit Bier und wenig duschen.

"Nichts, nichts", erwiderte ich und wandte mich ab. Ich musste es mir eingebildet haben. "Kann ich mir was von dir leihen? Sandra will mich zu Svenjas Party schleifen."

"Ahja?" murmelte Jona, wieder mit diesem seltsamen Unterton. "Nimm dir, was du willst."
 

Die Feier war genau, wie ich erwartet hatte – zu laut, zu voll und mit den falschen Leuten. Es waren vor allem Mitschüler aus meinem Jahrgang und ein paar andere Freunde von Svenja da und außer Sandra mochte ich dort eigentlich niemanden.

Erst recht nicht den schmierigen Typen, der sich schon nach wenigen Minuten zu mir stellte, als Sandra uns gerade etwas zu Trinken holte.

Mit einem Macho-Spruch versuchte er sich an mir und als er damit nicht weiterkam, holte er ein kleines, klares Tütchen aus seiner Tasche. Ich schaute fragend darauf hinab.

"Willst du eine?" nuschelte er nahe an meinem Ohr, während ich noch versuchte, herauszufinden, was sich in der Tüte verbarg. Es sah aus wie kleine pinke Liebesperlen aber seiner Heimlichtuerei nach zu urteilen handelte es sich nicht um etwas so Unschuldiges.

In dem Moment wurde er von meiner Seite weggestoßen und Sandra sah ihn düster an. "Die Schönheit ist mit mir hier. Verpiss dich." Mit einer derben Beleidigung auf den Lippen machte der Kerl sich vom Acker und ich lächelte meiner Freundin dankbar zu. Sie reichte mir einen Plastikbecher mit undefinierbarer, blauer Flüssigkeit und meinte: "Die komischen Skateboarder wollten auch kommen, aber haben gerade abgesagt. Man kann ja jetzt schon kaum atmen und da wollte sie diese Prolls auch noch einladen?"

Ich vermutete, dass Sandra nur so meckerte, weil sie wusste, dass ich mich nicht wohlfühlte, aber selbst das konnte meine Stimmung nicht mehr heben. Jonas Skaterfreunde waren nicht gekommen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es daran lag, dass ich meinem Bruder erzählt hatte, ich würde auch kommen.
 

Je länger Jona zurück war, desto angespannter kam er mir vor und umso weniger Worte wechselten wir am Tag. Dass die Basketballsaison begonnen hatte, half mir nicht gerade dabei, mehr Zeit mit meinem Bruder zu verbringen, aber wann immer ich zu Hause war, schien er mit Freunden unterwegs zu sein. War er da, schloss er sich oft für mehrere Stunden in seinem Zimmer ein, die restliche Zeit war er schlecht gelaunt und reizbar.

Früher hatten wir im Garten zusammen Körbe geworfen oder er war mit mir joggen gegangen, doch das schien nun eine Ewigkeit her zu sein.

Ich wusste nicht, wie ich ihm begegnen sollte. Egal, was ich sagte, er schien es wegzuwischen und mir nicht mehr zuzuhören, woraufhin ich meinerseits ebenfalls gereizter anderen gegenüber wurde. Bald war das Klima in unserer Familie mehr als unerträglich.
 

Die Spannungen, die sich aufbauten, ließ ich auch an Freunden aus und Sandra war es schließlich, die mich darauf ansprach. Wir befanden uns am Rande des Sportplatzes und ich half ihr beim Dehnen. Andere leicht bekleidete Cheerleader um uns herum waren ebenfalls damit beschäftigt, sich aufzuwärmen.

Gerade, als ich Sandras Oberkörper gedankenverloren nach unten drückte, meinte sie gepresst: "Was ist denn mit dir los in letzter Zeit?"

Mein Blick fokussierte sich wieder und ich ließ von ihrem Rücken ab. "Was meinst du?" fragte ich nachdenklich.

"Also zum einen hat es sich eben eher angefühlt, als wolltest du mein Gesicht mit aller Macht in den Schmutz drücken; nur ein Schlag in die Seite hätte noch gefehlt und ich hätte dich für einen Bully gehalten. Und zum anderen wirst du langsam echt unleidlich."

Mit verschränkten Armen setzte ich mich zu ihr in den Staub, wobei ich kleine, rötliche Wölkchen aufwirbelte.

"Ich weiß auch nicht..."

"Aber ich glaube, ich weiß es schon ziemlich genau. Du bist seit fast vier Wochen so. Wann war nochmal Jonas' Klassenfahrt?" fragte sie scheinheilig. Mit einem Seufzen gab ich mich geschlagen und erzählte ihr von unserem fast schon vertikal hängenden Haussegen.

"Hast du ihn denn mal so richtig in Ruhe gesprochen?" fragte Sandra weiter.

"Er weicht mir immer aus... ich habe keine Ahnung, was mit ihm los ist. So kenne ich ihn doch gar nicht."

Meine beste Freundin strich mir über den Arm und ich versuchte, zu lächeln, aber es half nichts. Ohne meinen Bruder fehlte mir einfach etwas.
 

Als wir uns am nächsten Tag im Bio-Raum wiedersahen, musste man mir wohl deutlich ansehen, dass ich noch geknickter war. Sandra fragte sofort, was passiert sei und ich schilderte es ihr bereitwillig.

Am Vorabend war ich mit besten Vorsätzen zu Jona gegangen, wo ich gegen die verschlossene Tür geklopft hatte und fragte, ob wir reden könnten. Er hatte erst minutenlang nicht geantwortet, dann hatte er die Tür nur so weit geöffnet, dass wir uns ansehen konnten. Seine Augen waren blutunterlaufen gewesen und fast hätte ich erschrocken aufgeschrien.

Ich hatte ihn gefragt, was mit ihm los sei und ob ich ihm helfen könnte, doch er hatte mich nur abgewiegelt und irgendwann wieder die Tür verschlossen.

"Ich weiß echt nicht mehr, was ich noch tun soll", erklärte ich verzweifelt.

Sandra wusste sich auch keinen Rat, doch bevor wir weiterreden konnte, drehte sich ein Junge in der Bankreihe vor mir um. Seine roten Haare lugten unter einem Basecap hervor, über seinem breiten Grinsen tummelten sich die Sommersprossen.

"Geht es um Jonny?" fragte er neugierig.

Sandra gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und erwiderte: "Das geht dich nichts an, Max. Hör auf, uns zu belauschen." Ach ja, Max war sein Name gewesen... Er war einer der Skater, mit denen Jona jetzt immer seine Zeit verbrachte. Automatisch funkelte ich ihn wütend an.

"Was habt ihr mit ihm gemacht?" zischte ich streitsüchtig.

Max hob die Augenbrauen, sein Grinsen wurde geheimnisvoll. "Wir? Oh nein, Schätzchen, das liegt alles an der Hexe." Damit drehte er sich wieder um.

Hexe? Sandra und ich sahen uns verwirrt an. Wovon redete er da?

Wir versuchten die halbe Biostunde lang, noch etwas aus Max herauszubekommen, doch er schwieg sich aus.
 

Am Abend hatte ich vor, Jona zur Rede zu stellen. Ich versuchte, in sein Zimmer zu stürmen, doch scheiterte schon an der Tür und er ließ mich nicht ein, öffnete nicht einmal. Auf das Abendessen verzichtete er und daraufhin auch ich, um nun meinerseits zu schmollen.

Wieder hielt ich Kriegsrat mit Sandra, als wir uns am nächsten Morgen schon vor der Schule trafen.

"Ich hab nichts aus ihm herausbekommen, er wollte nichtmal mit mir sprechen", jammerte ich. Wir saßen im Schatten am Fuß einer riesigen Esche, die vor langer Zeit bei der Erbauung unserer Schule gepflanzt worden war und um die Generationen von Siebtklässlern schon Fangen gespielt hatten. Jetzt pellte meine beste Freundin gedankenverloren an einer dicken Wurzel herum.

"Hänsel und Gretel und die Hexe", murmelte sie in einem leisen Singsang.

"Lass die Scherze. Was könnte er mit der Hexe gemeint haben?" fragte ich. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.

"Vielleicht haben sie eine gruselige, alte Frau in Italien getroffen?" schlug Sandra vor. "Mit schiefen Zähnen und fauligem Atem!"

"Was sollen die denn mit einer hässlichen, alten Frau machen?"

Sandra grinste dreckig und ich schlug ihr entsetzt gegen die Schulter. "Sprich nicht so über meinen Bruder! Obwohl ich es den anderen Jungs zutraue." Wir brachen gleichzeitig in albernes Gelächter aus und fielen mit dem Rücken an den Baumstamm.

Das Problem konnten wir nicht lösen, aber wenigstens heiterten mich Sandras Scherze über zahnlose Küsse soweit auf, dass ich Jona und seine seltsame Hexe für eine Weile vergaß.
 

Doch zu Hause angekommen war alles wieder präsent, Jonas Verhalten wieder offensichtlich. Und diesmal würde ich erfahren, was er hatte.

"JONAS!" schrie ich und hämmerte gegen die Tür seines Zimmers, die ich langsam zu hassen begann, als sei sie die einzige Barriere, die wirklich zwischen mir und meinem Zwillingsbruder stand. Meine Mutter kam angelaufen und sah mich entgeistert gegen die Tür schlagen, doch nach wenigen Augenblicken verschwand sie wieder. Ihre Philosophie war immer schon gewesen, dass wir unsere Querelen selbst lösen sollten.

Immer wieder schrie ich seinen Namen, bis er reagierte.

"Was willst du?" Er wiederholte es mehrmals, bis ich mit dem Brüllen innehielt und ihn verstehen konnte.

"Max hat etwas von einer Hexe oder so gesagt. Was bedeutet das? Was ist los mit dir?!"

Kurze Stille, dann: "Das geht dich nichts an." Verständlicherweise besänftigte mich das nicht, mein Schreien setzte wieder ein, bis mir eine andere Möglichkeit einfiel. Vielleicht musste ich es gar nicht von Jona erfahren.

"Wenn du es mir nicht sagst, kann ich immer noch zu deinen Freunden gehen."

Ich hörte das Drehen des Schlüssels, dann öffnete sich die Tür, die Barriere fiel. Mein Bruder sah noch schlimmer aus als vor zwei Tagen. Die Äderchen in seinen Augen schienen geplatzt, seine Iris war grauenhaft rot und mir stockte kurz entsetzt der Atem.

"Was weißt du darüber?" fragte Jona.

"Nur das, was du mir gleich erzählen wirst", erwiderte ich störrisch. Mit einem Seufzen ließ er mich ein. Sein Zimmer war abgedunkelt und roch muffig. Mit wenigen Schritten war ich am Fenster und zog die Gardinen ruckartig beiseite, um es dann zu öffnen. Mein Bruder ließ ein genervtes Stöhnen hören, das deutlich machte, dass er dem Sonnenlicht eigentlich den Kampf angesagt hatte.

"Was ist nun?" fragte ich ungeduldig.

Jona ging zu seiner Kommode und kramte zwischen den Socken nach etwas, das mich an den Abend auf Svenjas Feier erinnerte. Eine schmale Reihe pinker Kugeln konnte ich ausmachen, verpackt in einer kleinen Tüte.

"Witch's Curse", kommentierte mein Bruder. Ich ging zu ihm und nahm das Tütchen. Sie waren etwas größer als ich beim ersten Sehen angenommen hatte, ein winziges C aufgedruckt. "Synthetisch. Eine hält etwa zwei Stunden. Wenn du Mama und Papa etwas davon sagst, leih ich dir nie wieder Klamotten."

War das der kleine Bruder, den ich in der Grundschule beschützt, dessen Pflanzen ich gepflegt und dem ich die Mädchen vom Hals gehalten habe? Wie kam er darauf, dass ich zu unseren Eltern rennen und petzen würde?

Doch viel wichtiger waren jetzt ganz andere Dinge. Warum, wann, von wem?
 

Es wurde die intensivste Nacht, die wir seit unserem Abschied vor dem Sportcamp durchwachten und ich zwang Jona gnadenlos, mir alles zu erzählen.

Auf der Klassenfahrt hatte einer der Älteren wohl die Pillen mitgebracht und nun fast Jonas ganze Clique als Kundschaft dazugewonnen. Wenn sie sich trafen, schmiss jeder eine ein, bevor sie dämliche Dinge unternahmen, Einkaufswagen klauten, Zeichentrickfilme sahen oder einander Apfelringe an die Ohren steckten. Er erzählte es so fröhlich, dass ich nur wütender auf die Drogen wurde. Es sollte doch alles auch ohne gehen.

Zwischendrin packte ich das Tütchen und förderte noch zwei weitere aus seiner Kommode zutage, ich spülte sie in der Toilette herunter, unter Jonas leidvollen Blicken.

Dann wollte ich ihn schwören lassen, sich das Zeug nie wieder zu kaufen, es auch nie wieder anzurühren.

"Das... Gretchen, du weißt nicht, wie das ist..." Sein Gesichtsausdruck schmerzte mich und ich nahm ihn in den Arm, spürte das Zittern eines unsicheren Schluchzens in ihm.

"Wenn du es mir nicht versprichst, dann folge ich dir auf Schritt und Tritt, auch zu deinen Freunden!" sagte ich und er schaute geschockt. Schmollend fragte ich: "Bin ich dir etwa so peinlich?"

"Ach Schwesterchen", ein erstes Lächeln zeigte sich auf Jonas Gesicht, er legte mir vorsichtig den Arm um die Schulter. "Das sind eben alles Jungs. Schon der Gedanke, dass die dich ansehen würden und..."

Verblüfft schaute ich auf. Meine Gedanken tänzelten zu Michelle, die ich ebenfalls nur zu gern von Jona fernhalten würde, und langsam verstand ich, was er sich vielleicht dabei dachte.
 

Der Fluch der Hexe war stark. Wir brauchten viele Wochen, um ihn zu brechen. Oft kam Jona in der Nacht zu mir, schweißgebadet und zitternd, kurz davor, zu einem seiner Freunde zu fahren, um nur einen einzige Pille zu holen, nur die eine, um die Nacht erträglicher zu machen.

Doch er hielt sein Versprechen und nahm keine mehr. Nur drei Wochen lang hatte er die Drogen genommen, doch sein Körper reagierte wie nach jahrelanger Sucht. Er konnte kaum essen, war angespannt und nervös und hätte ich ihm nicht zur Seite gestanden, hätte mein Bruder es nie geschafft.

Niemals hätte ich gedacht, dass er im Alter von siebzehn Jahren schon von etwas abhängig sein könnte und einen Entzug hinter sich bringen würde. Auch nicht, wie sehr diese Zeit an meinen Nerven zehrte, denn auch meine Nächte waren kurz und sobald er sich mit jemandem traf, konnte ich nur noch daran denken, dass die Versuchung zu groß sein könnte. Wie versprochen erfuhren unsere Eltern nichts und obwohl ich sicher war, dass meine Mutter zumindest etwas ahnte, fragte sie nie nach.

Als der Bann gebrochen war, war auch der Knoten geplatzt, der uns entfremdet hatte. Ich wäre jederzeit wieder bereit, mit meinem Zwilling durch die Hölle zu gehen.
 

Doch sollte mein Bruder Hänsel je wieder vom Zauber einer Hexe in den Bann gezogen werden, hoffte ich, es geschah auf die klassische Art und ein einfacher Schubs in den Ofen reichte aus, um ihn zu retten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (7)

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Von:  CatariaNigra
2011-09-29T11:53:22+00:00 29.09.2011 13:53
Tolle Idee und klasse Umsetzung! Deine Fanfic war richtig spannend zu lesen und ich habe echt mitgefiebert. Dass es Drogen sind habe ich aber erraten können, seit Jona mit geröteten Augen durch die Türe gelinzt hat :D

Selbst ohne den Titel könnte man zudem leicht die ursprüngliche Geschichte erahnen. Und den Witz mit der Pechmarie fand ich auch sehr lustig^^

Weiter so!
Von:  OnyxOrion
2011-09-12T20:47:12+00:00 12.09.2011 22:47
awesome! Sehr guter stil, aber dieses märchen, und diese idee es neu zu verpacken, superklasse!
Von:  Tweetl
2011-09-11T17:24:42+00:00 11.09.2011 19:24
Hey.
Einmal..., ein guter Schreibstil, wie ich finde.

Das Droge die Hexe ist, wow, wäre ich wirklich nicht drauf gekommen. Das Gefühl, was Gretchen beschreibt mit dem Zwilling, wenn dem anderen es nicht gut geht, kenne ich allerdings nicht wirklich bei mir und meinem Zwillingsbruder. Ich glaub, ich will's auch grad gar nicht kennen.
Der Schluss ist in Ordnung, aber irgendwie zu schnell, zu abgehakt, finde ich. Und mein Bruder hätte wohl nicht einfach zugelassen, dass ich seine 'Hexe' runterspül.

Von: abgemeldet
2011-09-04T00:23:43+00:00 04.09.2011 02:23
;_; Ich konnte mich nicht mehr von der Geschichte lösen.
Oh mein Gott...Ist das eine tolle Story. Ich hab richtig mitgefiebert mit Maggy... Ihr Bruder tat mir so schrecklich leid und ich konnte kaum abwarten zu erfahren, was als Nächstes geschah, obwohl die Story so kurz ist.
Es ist wirklich eine sehr faszinierende Geschichte, die ein alltägliches Problem genauestens aufgreift.
Ich werde diese Geschichte auf jeden Fall weiter empfehlen!
Das YUAL hat sich deine Story wirklich verdient!!

Von: abgemeldet
2011-09-01T19:03:02+00:00 01.09.2011 21:03
Klasse Geschichte! Dein Stil ist toll, wirklich lesenswert.
Von:  Tomo89
2011-04-24T20:20:37+00:00 24.04.2011 22:20
Das war echt keine schlechte Idee den Zauber der Hexe durch eine chemisch hergestellte Droge zu ersetzen. Die Geschichte ist wirklich gut geschrieben und zeigt - selbst ohne die Namen - auf welches Märchen es darstellen soll.
Den Schluss fand ich auch nicht schlecht. :)
Von: abgemeldet
2011-04-01T01:36:37+00:00 01.04.2011 03:36
Ich lach immer noch. Ich weiß nicht wie du es schafft so eine schwierige Story so lustig zu verpacken, aber es ist einfach genial, weit ab von dem Märchen und trotzdem noch nah genug dran, dass man es irgendwie erkennt, liegt wahrscheinlich an den Namen, aber wow ich bin beeidruckt. Und dein Schreibstil reißt einfach mit.


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