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Blood Moon - Bis(s) in alle Ewigkeit

Fortsetzung von Rising Sun - Bis(s) das Licht der Sonne erstrahlt
von

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[Renesmee] Um Leben und Tod (Teil 2)

Ungläubig starrte ich auf die Scherben zu Sangreals Füßen und als sie wieder zusammenklappte, wäre es mir sicher ähnlich ergangen, hätte man mich nicht festgehalten. Ich wünschte, ich könnte wenigstens eine Hand bewegen, um mich zu kneifen.

Oh, was gäbe ich nur darum, jetzt mit rasendem Herzen neben Jake aufzuwachen und festzustellen, dass ich das alles nur geträumt hatte. Ich wollte die Augen aufschlagen und meine Kinder schlummernd neben mir liegen sehen. Gesund, mit kleinen schlagenden Herzen, mit Träumen und Wünschen und einer Zukunft voller endloser Möglichkeiten.

Es fühlte sich so an, als hätte es die letzten dreißig Jahre nie gegeben, als wäre die Zeit viel zu schnell verstrichen. Für Sterbliche war es gut ein Drittel des Lebens, warum also fühlte es sich für mich so schrecklich kurz an? Waren wirklich drei Jahrzehnte vergangen, seit ich mit der fliederfarbenen Decke in Carlisles Zimmer gelegen und meinen Kindern ihre Namen gegeben hatte?

Ich wollte die Zeit zurückdrehen. Ich wollte aufwachen aus diesem schrecklichen Albtraum, doch ich stand hier. Es war kein Traum. Mein Schmerz war real, meine Angst war es und mein Verlust würde es ebenso sein, wenn ich meine beiden Kinder auch noch verlieren würde, nachdem ich bereits eins durch Caius' Hand verloren hatte.

Momentan sah es zumindest so aus, als hätte wenigstens meine Tochter eine reelle Chance, diese Nacht zu überleben und ich wollte, dass sie sie nicht verschwendete.

„Mariella, geh“, sagte ich erneut zu ihr, doch mein Kind kniete noch immer vor ihrem Bruder, starrte auf den Waldboden, die Scherben fixierend, und rührte sich nicht.

„Hör auf Mum, Mariella, geh“, pflichtete mein Sohn mir bei.

Als sie seine Stimme hörte, obgleich er sehr leise gesprochen hatte, wanderten ihre Augen langsam zu ihm, dann schüttelte sie den Kopf und weinte.

„Wie kann ich jetzt noch gehen? Wie kann ich weiterleben, mit dem Wissen, dass ich dich umgebracht habe? Wie?!“

Anthonys Augen weiteten sich. Er rutschte etwas näher an seine Schwester heran und nahm ihr Gesicht in seine mit Spuren von Blut und Schlamm beschmutzten Hände. „Mariella, was redest du denn da? Das stimmt nicht und das weißt du genau. Du hast mir nichts getan. Im Gegenteil, du wolltest mir helfen.“

Sie nickte zaghaft und schluckte. „Ja, das wollte ich.“ Aus ihrer Stimme konnte ich deutlich heraushören, wie sehr sie von ihrer eigenen Tat enttäuscht war.

„Und das kannst du“, fuhr er fort und sah ihr tief in die Augen. „Indem du jetzt gehst.“

„Aber-“

„Kein Aber“, unterbrach er sie. „Ich möchte, dass du jetzt aufstehst, diesen Ort verlässt und dich nicht mehr umdrehst.“

Mariella sah ihn traurig an, während sich ihre Tränen mit dem herabfallenden Regenwasser vermischten.

„Hast du mich verstanden?“

Sie nickte erst zaghaft, dann bestimmter.

„Gut“, sagte er und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.

Anthony nahm seine Hände langsam von ihr, dann nickte er ihr zu. „Geh.“

Meine Tochter stand zögernd und mit zittrigen Beinen vom schlammigen Boden auf und ließ ihren Bruder dabei keine Sekunde aus den Augen. Wahrscheinlich war ihr noch nie in ihrem Leben ein Schritt so schwer gefallen wie dieser eine, den sie sich jetzt von ihm entfernte. Die schokoladenbraunen Augen, die sie über mich von meiner Mutter geerbt hatte, überflogen die Volturi um uns herum argwöhnisch, während sie weiter voranging. Erst als sie ein paar Meter Abstand zwischen sich und sie gebracht hatte, rannte Mariella plötzlich los.
 

Wenig später war sie außer Sichtweite und ein flüchtiges Gefühl von Erleichterung glimmte kurz in meinem Innern, war doch nun wenigstens eines meiner verbliebenen zwei Kinder wieder frei. Doch dieses Glimmen wurde jäh dadurch erstickt, dass Caius wieder zu sprechen begann und mir erneut vollkommen bewusst wurde, was für eine grausame Kreatur er war.

„Da geht sie hin“, sagte er. „Mal sehen, wie weit sie kommt.“

Ein fieses Grinsen huschte über seine Lippen. Der Gedanke, dass dieses falsche Gesicht eines der Letzten gewesen war, das Will vor seinem Tod gesehen hatte, trieb mir die Magensäure in den Rachen. Und jetzt sah er Ani und mich auf dieselbe Art und Weise an.

Caius hatte schon vor Jahren meinen Tod gewollt. Damals auf der Wiese, als sie mich für ein unsterbliches Kind hielten, hatte er selbst dann noch dafür plädiert, als das Missverständnis längst aufgeklärt war. Jahre später, als die Volturi mich für eine Nacht in ihrer Gewalt gehabt hatten, während ich schwanger gewesen war, hatte er ebenfalls alles daran gesetzt, mich umbringen zu lassen. Hätte Nahuel mich nicht gewarnt, hätte er mich vielleicht noch mitsamt den Kindern in meinem Bauch ermordet. Er hatte jahrelang auf diesen Moment gewartet, in dem er endlich seinen Willen würde durchsetzen können. Diesen Moment, in dem die Mischwesen, deren Leben er nicht für berechtigt hielt, endlich starben. Und jetzt kostete er ihn in aller Vollkommenheit aus und zog ihn unerträglich in die Länge.
 

Anthony saß noch immer in der Mitte des Kreises, bestehend aus Volturi, auf dem Boden. Die Wunde an seinem Hals hatte sich bereits komplett geschlossen. Äußerlich erinnerte nur noch das Blut, das an ihm klebte, an Caius‘ Biss. Innerlich begann sein Gift jedoch wieder Ani zu zerfressen. Mein Sohn gab sich alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Er kniete aufrecht und ließ Caius nicht aus den Augen. Nur das kontinuierlich schnellere Schlagen seines Herzens verriet seinen inneren Kampf.

Beim ersten Mal hatte es etwa einen Tag gedauert, ehe er im Flur der oberen Etage zusammengebrochen war. Bis dahin hatte niemand, nicht mal Carlisle, bemerkt, dass er Caius' Attacke nicht wirklich weggesteckt, sondern deren Folgen nur vorläufig unterdrückt hatte. Ging es dieses Mal etwa so viel schneller? Lag es vielleicht daran, dass er bereits einmal infiziert wurde und dadurch vorgeschädigt war? Oder waren es der Druck und die Nervosität, die das Gift schneller durch seine Blutbahn trieben?

Caius schien sich jedenfalls daran zu stören, dass Ani sich keine Schwäche anmerken ließ. Er beugte sich etwas zu meinem Sohn herunter und die zwei Volturi links und rechts von Ani hielten ihn wieder fest, wahrscheinlich aus Angst, dass er ihrem Oberhaupt womöglich doch noch ins Gesicht sprang.

„Ihr dachtet, ihr wärt einen großen Schritt voran gekommen, als ihr Aro in Flammen aufgehen saht, aber dem ist nicht so“, sagte Caius. „Mein Bruder war, verglichen mit mir, ein zartes Lamm. Und weißt du auch warum? Weil Gnade ihm ein Begriff war.“ Er ließ seine Worte wirken, dann sprach er weiter. „Ja richtig, die Volturi gaben niemals zweite Chancen, aber Aro hatte Gnade gezeigt, indem er seine Feinde und Opfer schnell tötete. Er ließ sie zerstückeln und verbrannte sie. Ich fand das immer schon bedauerlich. Gerade die, die es gewagt hatten, gegen unsere wenigen, simplen Regeln zu verstoßen, hatten Bestrafung verdient. Bestrafung, die mehr war als nur der Tod.“

Er war bereits einmal um Ani herum gelaufen, dessen Augen ihm stets folgten. Er ließ sich nicht davon beirren, schien sogar froh darüber zu sein, aufmerksame Zuhörer zu haben.

„Meiner Meinung nach verdienen Verbrecher Leid und Qualen, bis sie um den Tod betteln oder er sie ereilt, weil sie den Schmerz nicht mehr ertragen. Das ist Gerechtigkeit. Und weißt du was?“ Er machte wieder eine kurze Pause, eher er nun seinerseits Ani ansah.

„Du bist auch einer von ihnen. Dein Vergehen ist es, dass du existierst. Menschen und Vampire sollten sich nicht kreuzen. Es ist wider die Natur. Aber Vampire und Werwölfe, das betrachte ich als Perversion.“
 

Ich starrte den Vampir ungläubig an. Ich wollte ihm sämtliche Schimpfworte an den Kopf werfen, die je jemand ausgesprochen hatte, aber es kam kein Ton über meine Lippen. Ich war zu geschockt über das, was er da von sich gab. Doch all das war nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte.

Caius stellte sich wieder aufrecht hin. „Mhm...“, murmelte er. „Ich frage mich nur, wer hier nun das schlimmere Verbrechen begangen hat. Edwards und Bellas Balg, weil sie es wagten, dich zu erschaffen oder du, weil du es wagtest, zu entstehen.“

Anthony schüttelte den Kopf, als belächelte er Caius für dessen Worte. „Du solltest dich mal hören“, spottete er.

„Nein“, erwiderte dieser und hob den Zeigefinger. „Du solltest mir genau zuhören, denn wir spielen jetzt ein ganz einfaches, kleines Spiel. Du tust, was ich sage“, erklärte Caius und warf dann einen Blick auf mich. „Und dafür werden wir ihr kein Haar krümmen.“

Anthony sah Caius durchdringend an. Wenn Blicke töten könnten, hätten seine smaragdgrünen Augen längst Caius' Tod bedeutet.

„Fein“, sagte Caius und nahm sein Schweigen wohl als Zustimmung. „Jane sieht etwas gelangweilt aus. Zaubern wir ihr doch ein kleines Lächeln auf die Lippen, nach den großen Verlusten, die wir heute durch euren erbärmlichen Zirkel – oder wie ihr es nennt 'Familie' – erleiden mussten.“

Über das Gesicht des optisch jungen Vampirmädchens huschte ein fieses Grinsen. Meine Alarmglocken läuteten. „Nein!“, kreischte ich unwillkürlich, dann wurde mir der Mund zugehalten. Ani fuhr herum und sah erst mich, dann Caius an.

„Entweder sie oder du. Such es dir aus“, gab dieser zu verstehen.

Mein Sohn warf noch einmal einen Blick auf mich. Ich begann verzweifelt mit dem Kopf zu schütteln. Ich wollte nicht, dass er seinen Schutzschild herunterfuhr, um mich zu schützen. Es war meine Aufgabe ihn zu schützen, nicht umgekehrt. Er war doch mein Kind.

Aber er sah das offensichtlich anders. Sein Blick traf Janes, die gierig darauf wartete, dass er Caius' Willen gehorchte.

Und dann geschah es.

In jenem Moment, in dem erneut ein sadistisches Lächeln, sowohl über Janes, als auch über Caius‘ Lippen huschte, brach Anthony in der Mitte des Kreises unter Schmerzen zusammen. Wie üblich, schrie er nicht. Das hatte er nie. Vor meinem geistigen Auge sah ich das neugeborene Baby, mit den sonderbaren, roten Augen, das niemals geweint hatte. Ich sah das hübsche Kind, das selten gesprochen und nie viel verlangt hatte. Vor meinem tatsächlichen Auge aber sah ich den jungen Mann, der sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte und die Qualen stumm ertrug, um mich zu schützen.

Aber ich musste keine Schreie hören, um den Schmerz zu fühlen. Es brannte förmlich im Innern meines Herzens, jetzt da ich mein Kind leiden sah, es war also vollkommen gleich, ob Jane ihn folterte oder mich.

Ich wusste gar nicht, wie lange er das ertrug. Es kam mir so vor, als massakrierte Jane ihn stundenlang, dabei waren es tatsächlich vielleicht nur wenige Minuten. Ich wollte, dass sie aufhörte. Ich wollte, dass im nächsten Augenblick meine Familie aus den Büschen schnellte und ihnen allen die Köpfe vom Körper riss.

Aber niemand kam.

Wir waren allein.

Ich fühlte mich verlassen und hilflos, aber vor allem fühlte ich mich entsetzlich elend und unfähig. Unfähig, mein Kind zu schützen. Warum war ich nur ein schwacher, halber Vampir? Und warum war meine Gabe so schrecklich nutzlos?

Warum?

Warum?

Warum?!

In meiner Verzweiflung, begann mein Körper entsetzlich zu zittern. Wenn ich nicht wüsste, dass ich tatsächlich nur ein Halbvampir war, hätte ich mich im nächsten Moment nicht gewundert, wenn irgendein wildes Tier aus mir herausgeplatzt wäre, wie bei meinem Jacob.

Es war schließlich das Blut, das Anthony zu spucken begann, und das kleine Rinnsal roten Lebenssafts, das sich einen Weg über den nassen, dreckigen Boden bis hin zu meinen Füßen bahnte, das mich realisieren ließ, dass tatsächlich etwas aus mir herausbrach - Wut, Hass, und vor allem eines: Mutterinstinkt.

Ein Paket, geschnürt mit Adrenalin, derart kraftvoll, dass es mir das schier Unmögliche möglich machte. Es gelang mir, mich aus dem Griff des Volturi zu befreien, der mich bis dato fixiert hatte. Binnen Bruchteilen von Sekunden packte ich seine Gliedmaßen und riss ihn förmlich auseinander. Ich hatte noch nie zuvor gekämpft, geschweige denn jemanden getötet, aber jetzt fühlte es sich für mich ganz natürlich an. Ich wollte auf keinen Fall auch nur eine Sekunde meines Adrenalinschubes vergeuden und so war mein nächstes Ziel direkt Jane.

Ich taxierte das kleine, sadistische Monster und sah mich sie bereits zerstückeln. Erschrocken stoppte Jane ihre Attacke auf meinen Sohn und machte einen Schritt zurück, dann wurde ich von den beiden Wächtern, die zuvor Ani festhielten, zurückgezogen und ebenfalls auf die Knie gezwungen.

Jetzt, da ich mich nicht mehr rühren konnte, ging Jane wieder einen Schritt nach vorn und lächelte mich an. Ich kniff die Augen zu und machte mich bereits auf den Schmerz gefasst.

„Nicht doch, Jane“, rief Caius relativ gelassen dazwischen und ich lugte vorsichtig aus einem geöffneten

Lid hervor. Jane sah ihn perplex an, kam seinem Wunsch jedoch nach und sah davon ab, mich mental anzugreifen. Anschließend nickte er den beiden Typen zu, die mich festhielten, woraufhin diese mich losließen.

Es war seltsam, nicht mehr festgehalten zu werden. Es fühlte sich an, als würde ich in einer Sphäre schweben, unwirklich, vergänglich, temporär. Die Stille um mich herum war erdrückend, ich wagte kaum mich zu bewegen. Was sollte das? Warum hielten sie mich nicht fest?

Ich warf einen prüfenden Blick auf Caius, der mich ausdruckslos musterte, dann überwog mein Mutterinstinkt erneut jeglicher Angst und ich stürmte zu Anthony hinüber.

Er lag seitlich zusammen gekauert auf dem Boden und rührte sich nicht. Auf Höhe seines Kopfes sah ich eine Pfütze dunkelroten Blutes. Vorsichtig kniete ich mich vor ihn, schob meine Hand unter seine Wange, dann weiter an seinen Hinterkopf, legte die andere an seine Schulter und hob seinen Oberkörper auf meinen Schoß.

Ich begann leise zu schluchzen, während Tränen aus meinen schokoladenbraunen Augen hervortraten und über meine Wangen liefen, dann presste ich mein Kind näher an mich, schlang meine Arme um ihn, legte meine Wange auf sein schwarzes Haar, schloss die Augen und lauschte dem schnellen Schlagen seines Herzens. Dass dutzend Vampire um uns herum waren, war mir egal. Für mich gab es jetzt nur noch uns. Sollten sie doch tun, was sie wollten, um nichts in der Welt, würde ich ihn jetzt wieder loslassen.

Ich hatte natürlich nicht vergessen, dass zwischen diesen ganzen grausamen Kreaturen noch Sangreal saß. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich genauso litt, ihn so zu sehen, wie ich es tat. Ich wusste auch, dass er sie geliebt hatte und sie ihn. Aber ich konnte in diesen Sekunden trotzdem nicht anders, als sie mit auszublenden.

Ich legte eine meiner Hände an sein Gesicht und projizierte ein paar Bilder in seinen Kopf, in der Hoffnung, dass er sie auch dann sah, wenn er nicht bei Bewusstsein war. Hauptsächlich waren es dreißig Jahre alte Erinnerungen.

Beispielsweise jener Moment, in dem Jacob mir das blutverschmierte kleine Baby in den Arm gelegt hatte. Der, in dem ich ihm seinen Namen gegeben und Jacobs stolzes Lächeln gesehen hatte, weil sein Zweitname der seines Urgroßvaters war: Ephraim Black, ehemaliger Häuptling und Anführer des Rudels. Ich zeigte ihm auch, wie ich mich kurz vor meinen Flitterwochen zu ihm hinab gekniet und ihn mit meinem weißen Kleid in den Arm genommen hatte. Damals hatte ich mir so sehr gewünscht, dass er sein Glück finden würde. Seinen Deckel, so hatte ich es genannt. Wenn ich die Zeit zurückdrehen und nochmal mit ihm würde reden können, damals auf dem Bootsdeck, würde ich heute auch genauso gut sagen können 'Eines Tages findest du Sangreal'.
 

„Ja, das könntest du.“ Seine Worte waren erneut kaum mehr als ein Hauch.

Erschrocken darüber seine Stimme zu hören, schlug ich die Augen auf und sah ihn an.

„Ani“, flüsterte ich traurig und strich ihm das schwarze Haar aus dem Gesicht, das dort klebte. Seine Mundwinkel verzogen sich kaum merklich zu einem leichten Lächeln.
 

„Wunderbar, wunderbar“, frohlockte plötzlich Caius und erinnerte mich damit irgendwie auf groteske Weise an Aro. „Das ist wirklich erstklassiges Drama, das ihr uns hier bietet.“

Ich hob den Blick und knurrte den Volturi an.

„Wirklich herzzerreißend“, fuhr er unbeeindruckt fort. „Aber den tragischsten Aspekt der Geschichte kennt ihr ja noch gar nicht.“

Sowohl mein Sohn, als auch ich funkelten Caius fragend an. Was konnte denn jetzt noch kommen? Der Volturi ging ein paar Schritte auf uns zu. Instinktiv presste ich Anthony enger an mich, obwohl ich wusste, dass mir das nichts nützen würde, wenn Caius den Befehl zum Angriff gab. Sie würden uns einfach wieder auseinander reißen. Er beugte sich erneut zu uns herab und flüsterte uns zu: „Noch tragischer als die Tatsache, dass du nicht in der Schlacht fielst, wie es sich gehört hätte, sondern hier in den Armen deiner jammernden Mutter krepierst, finde ich es ja, dass die letzte Entscheidung deines Lebens die Falsche war.“

Anthony entfuhr ein Zischen. In mir brodelte es erneut.

„Unsinn!“, gab ich zurück. „Diese Wahl war grausam. Ganz gleich, welchen Namen er genannt hätte, er hätte sich für jeden von uns Dreien das Leben gewünscht. Es gab kein Richtig oder Falsch.“

„Oh, doch“, versicherte Caius. „Nämlich dann, wenn man zwei Leben anstelle von einem Einzigen zu retten vermag.“

Mir entfuhr ein verächtliches Schnauben. „Leere Worte. Ihm wurde gesagt, er dürfe nur einen Namen nennen. Hätte er zwei genannt, hättet ihr doch niemals zwei von uns gehen lassen!“

„Nein“, flüsterte Anthony in meinen Armen. Ich meinte aus seiner Stimme etwas Flehendes herauszuhören, doch ich verstand nicht warum.

„Du irrst dich, kleine Cullen. Wenn sich hinter einem Namen zwei Leben verbergen, wenn in einem Körper zwei Herzen schlagen, dann genügt die Nennung eines Namens durchaus. Ich hätte sie gehen lassen, wenn er ihren Namen genannt hätte, aber zog es vor, seine Schwester zu retten.“

In Caius‘ Gesicht strahlte ein triumphierendes Lächeln. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und ich schüttelte unwillkürlich den Kopf.

„Nein“, flüsterte Anthony erneut verzweifelt. Er hatte längst mehr verstanden als ich. Er schob mich sanft weg und schob seinen Oberkörper mühsam in Sangreals Richtung. Das Mädchen saß noch immer zusammengekauert zwischen den Volturifrauen. Sie hatte, die Knie angewinkelt, ihre Arme um die Beine geschlungen und ihr Gesicht gegen ihre Oberschenkel gepresst.

„Sangi...“

Als er ihren Namen sagte, sah sie mit hochrotem, verweintem Gesicht auf.

„Ist das wahr?“, fragte er zittrig.

Sangreal schien einen Moment zu überlegen, schüttelte dann jedoch hastig den Kopf.

„Er lügt“, wimmerte sie. „Bitte bleib ruhig.“

Ich wusste, warum sie ihn darum bat. Sie wollte, dass er sich nicht überanstrengte, aber dafür war es wahrscheinlich längst zu spät.

„Ich lüge?!“, fauchte Caius. „ICH lüge?“

Ganz so, als sei das ihr Stichwort gewesen, stand plötzlich Heidi hinter Sangreal, zog sie auf die Beine und schob ihr Shirt nach oben. Jetzt erst wurde mir klar, warum sie die ganze Zeit so zusammengekauert dagesessen hatte. Sie wollte ihr Bäuchlein verbergen. Wenn man es nicht als solches betrachtete, wenn man unwissend war und nicht damit rechnete, hätte man es leicht übersehen können. Nun aber, da Caius es uns erzählt hatte, gab es für uns keine Zweifel mehr: Sangreal war schwanger. Und es war unwahrscheinlich, dass der Vater jemand anderes als Anthony war.

In meinem Inneren kroch erneut die blanke Panik hoch. Was würde nun passieren? Würde ich nun zusehen müssen, wie sie als nächstes mein Kind zerrissen, wenn er sie in seiner Raserei angriff?

Eben noch kaum in der Lage zu sprechen, versuchte Ani sich nun aufzusetzen. Er zitterte am ganzen Körper und ich realisierte zu langsam, dass dies nicht an seinen Schmerzen lag. Erst als er mich noch einmal ansah, mir ein sanftes „Es tut mir Leid“ zuflüsterte und mich gar anlächelte, schaltete ich. Es waren nur vier Worte, doch ich wusste, was er eigentlich hatte sagen wollen:

'Es tut mir Leid, dass ich jetzt etwas tun muss, was mein eigenes Leben kostet. Es tut mir Leid, dass du noch ein Kind verlierst und ich nicht weiter mit dir gehen kann. Es tut mir Leid, dass ich dich allein lassen muss. Aber du verstehst mich bestimmt. Du bist doch selbst Mutter.'

Ja, ich verstand. Und wäre ich an seiner Stelle, ich hätte genau dasselbe getan. Trotzdem entfuhr mir ein entsetzlich verzweifeltes „NEIN!“, als er seinen geschwächten, demolierten Körper zu einer Verwandlung zwang und der gigantische Vogel aus ihm herausbrach. Seine Federn waren pechschwarz, seine Flügelspannweite lag schätzungsweise bei fast sieben Metern. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er jemals eine flugfähige Tiergestalt dieser Größe gewählt hatte, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass er sie bisher nur zum schnellen vorankommen und unentdeckt bleiben genutzt hatte.

Der schwarze Vogel stieß einen lauten Schrei aus, ähnlich dem eines Adlers, ehe er plötzlich auf die Vampire um ihn herum losging. Caius starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als er einige seiner Wachen mit seinen Krallen und seinem kräftigen Schnabel zerlegte, dann ergriff er, gemeinsam mit Jane und Renata die Flucht. Die übrigen Vampire jedoch, blieben standhaft und versuchten sich gegen ihn zu wehren. Einer biss ihm in die Seite und spuckte anschließend einen ganzen Haufen blutiger Federn aus. Mir entfuhr ein spitzer Schrei, dann packte mein Sohn mich plötzlich mit seiner Kralle und hob mich in die Luft. Er kreiste einmal um das Lager der Volturi, dann glitt er nochmal hinab und schnappte sich Sangreal mit der anderen Kralle.

Die Vampire, die uns vor wenigen Sekunden noch festgehalten hatten, wurden nun immer kleiner. Zusammen mit den Bäumen und Sträuchern schrumpften sie auf Ameisengröße zusammen, bis wir über einige Baumwipfel und Hügel hinweg flogen und ich sie nicht mehr sah. Ich war so erschrocken über das rasante Aufsteigen in die Lüfte, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich hier oben ja nicht allein war. Erst ihr Wimmern und Schluchzen ließ mich den Kopf zu ihr drehen.

„Keine Angst, er wird uns nicht fallen lassen“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Das ist es ja“, antwortete sie und weinte nur noch mehr.

Wie dumm von mir. Ich hatte zwar nicht sonderlich viel Zeit mit Sangreal verbracht, aber sie dafür mit meinem Sohn. Natürlich kannte sie seinen Charakter. Sie wusste genauso wie ich, dass ihm sein eigenes Wohl in dieser Situation vollkommen gleichgültig war. Umso wichtiger war es also, dass wir ihn daran erinnerten.

Ich sah noch einmal zurück, konnte aber unten niemanden mehr ausmachen.

„Ani, bitte lande, sie verfolgen uns nicht!“, brüllte ich nach oben, doch weder reduzierte er sein Tempo, noch seine Flughöhe. „Ani!“, schrie ich nochmal.

„Schau!“, meldete sich plötzlich

Sangreal zu Wort. Ich sah perplex zu ihr, dann in die Richtung, in die sie zeigte. Mein Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer. Unten auf der Erde sah ich, wie zwei Personen in unsere Richtung rannten. Es hätte schon Nebelschwaden um uns herum gebraucht, derart dick, dass man sie mit dem Messer würde durchschneiden können, damit ich sie nicht erkannte: Mum und Dad.

„Mommy, Daddy!“, rief ich nach unten. Ich hatte gar nicht über meine Wortwahl nachgedacht. Ich war längst kein Kind mehr, aber derart hilflos, wie ich mich gerade fühlte, sehnte ich mich wohl unbewusst nach meiner größtenteils sorglosen Kindheit und in dieser hatte ich meine Eltern eben so genannt.
 

Was dann folgte, geschah im Bruchteil weniger Sekunden. Ob er an Höhe verlor, weil er wusste, dass meine Eltern hier waren und uns auffangen würden oder weil er einfach nicht mehr konnte, wusste ich nicht. Wir sanken jedenfalls rapide ab. Unter uns sah ich, wie mein Vater und meine Mutter einander zunickten. Er zeigte noch kurz auf uns, dann zog sie das Tempo an und kam uns ein ganzes Stück näher, während mein Vater abdrehte und in eine andere Richtung rannte. Zuerst dachte ich, er würde Hilfe holen, doch dann lockerte sich plötzlich Anis Griff um Sangreal und mich. Wir waren nur wenige Sekunden in der Luft, dann sprang meine Mutter zu uns empor und fing uns auf. Auf dem kurzen Weg zurück zur Erde sah ich gerade noch, wie der große schwarze Vogel gen Boden stürzte, schlussendlich in Dads Laufrichtung in einige Bäume knallte und dahinter verschwand.
 

Unten angekommen, schnappten Sangreal und ich erst mal nach Luft. Meine Mutter strich mir durchs Haar, als wir zu dritt auf dem Boden kauerten. „Alles okay? Seid ihr verletzt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte ich noch etwas atemlos, dann rappelte ich mich wieder hoch. Meine Mutter streckte die Hand nach mir aus. „Nessie!“, rief sie mir zu. „Warte!“

Doch ich konnte nicht anders und stürmte in die Richtung, in die mein Vater gerannt und mein Sohn gefallen war. Keine Minute war ich gelaufen, da stolperte ich durch ein paar Büsche und blieb am Fuß eines Hügels stehen, an dessen oberstem Punkt ich meinen Vater erblickte. Er kniete im Gras und hielt seinen Enkel im Arm – wieder in menschlicher Gestalt, jedoch leblos...

Ich spürte wie meine Knie zu zittern begannen und dann – weich wie Pudding – mein Körpergewicht nicht mehr zu tragen vermochten. Nervlich am Ende ging ich zu Boden und spürte, wie meine Knie ein wenig im weichen Boden versanken. Es hatte aufgehört zu regnen. „Renesmee!“ Meine Mutter stand mit einem Mal hinter mir.

Zuerst rannen mir noch leise, verzweifelte Tränen übers Gesicht, dann ließ ich den Kopf hängen und vergrub meine Hände im Matsch, während ich wimmerte. Mum kniete sich hinter mich und legte ihre Arme schützend um meinen Körper. Ich setzte mich wieder aufrecht hin und drückte mein Gesicht gegen ihre Jacke, während sie mir behutsam über den Rücken strich und ihr Kinn auf meinen Kopf legte.

„Scht... scht...“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Er ist nicht tot, Renesmee. Hör doch...“

Ich löste mich etwas von ihr. Sie streichelte mich weiter, während ich lauschte. Abgesehen von meinem eigenen Herzen und dem von Sangreal, die sich im Schritttempo müde näherte, konnte ich noch ein Drittes wahrnehmen. Ich wusste, dass seines schon immer schneller geschlagen hatte, als meines, nun aber flatterte es regelrecht, aber wenigstens, schlug es überhaupt noch.

Ich versuchte aufzustehen, Mum half mir auf die Beine. Gemeinsam ging ich mit ihr den kleinen Hügel hinauf. Jeder Schritt war für mich ein wahrer Kraftakt. Einerseits wollte ich zu meinem Kind, andererseits fiel es mir unglaublich schwer, ihn so zu sehen.

Dad sah von Ani auf. „Bella, Liebste. Siehst du das kleine Wäldchen südöstlich von hier? Dort muss unter einem recht großen moosbedeckten Stein eine von Anthonys Kleidertüten liegen. Würdest du...?“

Mum nickte und flitzte davon. Mein Vater sah ihr kurz hinterher, dann lächelte er mich an und deutete mir mit einer Kopfbewegung an, dass ich mich setzen solle. Noch immer mit zittrigen Gliedmaßen ließ ich mich vor Dad und meinem Kind nieder. Ich schluchzte und strich ihm durch sein schwarzes Haar. Er war von oben bis unten mit Blut und Dreck, Schrammen, Kratzern und Schürfwunden übersät und an seiner Taille, dort wo der Volturi ihn erwischt hatte, klaffte eine große Wunde, dessen Blutung mein Vater mit seiner Jacke einzudämmen versuchte. Vom baldigen Einsetzen seiner Heilungsfähigkeiten war keine Spur.
 

Vor ein paar Monaten noch, hatte ich gedacht, ich würde nie ein schlimmeres Bild vor Augen sehen, als Williams toten Körper auf Carlisles OP-Tisch. Danach hatte Anthonys zehntägiges Koma das noch getoppt. Mitansehen zu müssen, wie das eigene Kind starb, war für mich noch viel heftiger gewesen, als mein bereits verstorbenes Kind sehen zu müssen. Ich hatte mich damals so hilflos gefühlt, so nutzlos. Es hatte nichts gegeben, was ich hätte tun können außer Hoffen und Bangen. Aber wenigstens hatte es Hoffnung gegeben. Und das Bangen hatte sein Ende gefunden. Wir hatten ein Heilmittel für ihn entdeckt. Und nun? Nun hatten wir keine zehn Tage, keinen gut ausgerüsteten OP und vor allem: kein Heilmittel mehr. Vor meinem inneren Auge blitzten kurz die Scherben und das im Boden versickernde Vampirgift auf.

Als mein Vater meine Gedanken las, weiteten sich seine Augen kurz. Ich sah ihn traurig an.

„Wie habt ihr uns gefunden?“, wechselte ich das Thema rasch. Warum ich das tat wusste ich nicht, vielleicht hatte ich Angst, dass er aussprach, was ich leise befürchtete. Solange es nur in meinen Gedanken war, war es weniger real.

„Seth kam etwas verwirrt ins Basislager. Nachdem ich seine Gedanken gelesen hatte, nahm ich an, dass Caius sich mit der Hilfe von Renata irgendwo versteckte. Deine Mutter und ich gingen los, um ihr Versteck ausfindig zu machen. Wir wollten es eigentlich nur ausspionieren und seinen Standort den Anderen mitteilen, doch wir haben Mariella unterwegs gefunden. Sie war ebenfalls ziemlich verwirrt. Wir befürchteten, es würde zu lange dauern, wenn wir zurück zum Lager gingen, um die Anderen zu holen, also sind wir zu zweit weitergezogen.“

Natürlich. Um Caius Versteck zu verlassen, hatte sie Renatas Schutzschild auch passieren müssen. Renata hatte wohl auch sie erwischt, kaum, dass die den inneren Ring, hinter ihrem Wall, verlassen hatte.

„Ja, aber nicht wirklich“, sagte Dad.

Ich sah ihn fragend an.

„Was Mariella passiert war und was sie gesehen hatte, konnte Renata nicht durch einen wirren Gedanken fort wischen. Dafür war ihr Erlebnis zu traumatisch und die Bindung zu Ani zu stark. Wir haben sie ins Basislager geschickt und uns sofort auf den Weg gemacht.“

„Ihr wolltet uns zu zweit retten?!“, fragte ich.

Dad lächelte mich erneut warm an. „Wie ich schon sagte. Wir hatten zu viel Angst, um abzuwarten oder Hilfe zu holen. Außerdem unterschätzt du deine Mutter und mich.“

Als sei das ihr Stichwort gewesen, stand Mum plötzlich wieder neben uns. Das Wäldchen, in das sie gegangen war, war von hier aus gerade so auszumachen, doch für sie war es ein Katzensprung gewesen. Ich dagegen hatte Glück, wenn ich es nachher schaffen würde, allein aufzustehen. Meine müden Augen konnten den schnellen Vampirbewegungen meines Vaters kaum folgen, als er Ani in Bruchteilen von Sekunden ankleidete. Ein paar Wimpernschläge später, stopfte er sich nur noch mit einer Hand die leere Plastiktüte in die Tasche, während er mit der anderen Anis Oberkörper stützte.

Kurz warf er meiner Mutter einen Blick zu, dann sank sein Blick wieder in Richtung meines Sohnes. „Er wacht auf.“

Mein Herz machte einen Hüpfer.

Und tatsächlich begannen Anthonys Augenlider zu flattern, ehe er sie langsam zu öffnen begann. Auf halber Höhe blieben sie jedoch stehen. Ganz schien er sie nicht mehr aufzubekommen.

Ich zögerte einen Moment, ehe ich etwas sagen konnte. Vielleicht hatte ich Angst, er hätte zu großen Schaden genommen und würde mich nicht mehr erkennen. Doch schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen.

„Ani?“, sprach ich ihn vorsichtig an. Jetzt da er bei Bewusstsein war, atmete er schwerer. Er wand seinen Kopf langsam in meine Richtung, schien aber ein paar Atemzüge zu brauchen, ehe er mir antworten konnte.

„Mum...“

Tränen quollen erneut aus meinen Augäpfeln, rannen mir übers Gesicht und landeten sonst wo. Mir war es egal. Ich konnte nicht mal sagen, ob es nun bis zu einem gewissen Punkt Freudentränen waren, weil er mich erkannte und ich mit ihm sprechen konnte, oder Tränen der Trauer, weil ich die Situation kaum aushielt und die Gedanken an das Kommende mich zu erdrücken drohten. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sich ein gigantisches, schwarzes Loch einige Meter vor mir auftat. Aussichtslos, leer und dunkel.

„Sorry...“, krächzte Ani dann mühsam.

Ich sah ihn mit meinem verweinten Gesicht verwundert an.

Mein Sohn verzog seinen Mund mühsam zu einem leichten Lächeln. „Normalerweise... lande ich... etwas...“, er machte eine längere Atempause, „eleganter...“

Nun musste auch ich lachen. Es war ein bittersüßes, verzweifeltes Lachen. Während ich lachte, bahnten sich weitere Tränen ihren Weg über meine Wangen. Ich sah kurz weg, in dem verzweifelten Versuch, sie in Zaum zu halten, versagte jedoch. Als ich dann wieder Ani ansah, waren seine Augen geschlossen und er wieder weggetreten.

„ … Ani?“, fragte ich zögerlich. Keine Reaktion.

„Ani?“, fragte ich erneut. Wieder nichts.

„ANI!“, kreischte ich dann plötzlich voller Verzweiflung.

Meine Mutter setzte sich sofort hinter mich, zog mich wie ein kleines Kind auf ihren Schoß und ich presste mein Gesicht weinend an ihre Brust.

„Scht... scht...“, versuchte sie mich abermals zu besänftigen. „Beruhige dich, mein Schatz.“

Sie strich mir durch mein langes Haar und wog mich hin und her, während ich in ihre Jacke schluchzte. „Er muss sich ausruhen“, sagte sie.

„Das stimmt“, pflichtete Dad ihr bei, dann stand er mit meinem Jüngsten im Arm auf. „Bringen wir ihn zu Carlisle.“

Mum nickte und hob mich ebenfalls hoch. Hinter ihr stand Sangreal zittrig auf. Sie hatte die ganze Zeit über keinen Ton gesagt und wirkte apathisch, was sicherlich niemanden verwunderte, nach allem was sie heute hatte tun und mit ansehen müssen.

Mit einem Mal kam mir wieder ins Gedächtnis, was Caius gesagt und Anthony erst dazu bewegt hatte, sein Leben derart aufs Spiel zu setzen.

„Warte“, sagte ich dann zu Mum gewandt und gab ihr zu verstehen, dass sie mich absetzen sollte. „Mommy, bitte lass mich runter und trag' lieber Sangreal.“

Mum sah mich fragend an.

„Bitte“, wiederholte ich.

Sie setzte mich ab und wand sich immer noch fragenden Blickes an Dad, dessen Mundwinkel sich trotz allem leicht hoben. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel oder fühlst dich alt oder unattraktiv, wenn ich dir dazu gratuliere, dass du bald zum vierten Mal Uroma wirst, Liebste.“

„Was?“, hauchte Mum ungläubig und drehte ihren Kopf zu Sangreal, die ebenfalls mühselig die Mundwinkel hob, deren Lippen aber gleichzeitig zu zittern begannen. Wie schwer musste es ihr in diesen Minuten fallen, sich darüber zu freuen, jetzt da es um meinen Sohn so schlecht stand? Sicherlich befürchtete sie, dass sie das Kind allein würde groß ziehen müssen. Ob ihr Nahuel geblieben war? Die Erinnerungen an den letzten Augenblick an dem ich ihn gesehen hatte, waren derart verblasst, dass es mir vorkam, als sei es ewig her gewesen, seit er versucht hatte, uns aus Caius‘ Fängen zu befreien.

Seth hatte uns in einem kleinen Wald abgesetzt und bald darauf war Nahuel dort aufgetaucht. Er bot uns an, ihn zum Flughafen zu begleiten und so dem Schlachtfeld zu entkommen. Er hatte einen seltsamen Anruf von Sangreal erhalten, nachdem diese wieder in Irland gelandet war. Doch bis zum Flughafen kamen wir gar nicht. Einige Volturi hatten Sangreal wohl irgendwo abgefangen und wollten dasselbe mit uns tun. Im Versuch uns zu beschützen, war Nahuel schwer verwundet worden, aber Sangreal hatte gehofft, ihm helfen zu können. Sie hatte darum gefleht, man möge ihn am Leben lassen. Im Gegenzug hatte sie angeboten, Caius anstandslos zurück nach Volterra zu begleiten. Dass sie ein Kind erwartete, hatte sie in unserem Beisein nicht erwähnt. Sie hatte lediglich immer wieder betont, dass sie für Caius doch mehr wert sei als wir und er deswegen auf uns verzichten könnte. Rückblickend fühlte ich mich, als sei ich taub gewesen, hatte ich doch den seltsamen Unterton nicht bemerkt, den Sangreal dabei gehabt hatte. Sie hatte den Volturi in ihrer Verzweiflung wahrscheinlich auf dem Weg vom Flughafen nach Ballinasloe bereits offenbart, dass sie schwanger war, in der Hoffnung, uns damit retten zu können. Aber die Volturi haben sich noch nie mit der Hälfte zufrieden gegeben...

Ob Nahuel noch lebte?

Ich warf einen Blick zu Dad, aber auch er schien keine Antwort darauf zu haben.

„Renesmee?“

Mums Worte schreckten mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich verdutzt zu ihr um. Sie hatte Sangreal bereits auf dem Arm. „Ich hatte dich gefragt, ob du aufsteigen möchtest, damit wir los können, Schatz.“

„Uhm“, murmelte ich, nickte und krabbelte dann wie einst in Kindertagen auf ihren Rücken, wo ich mich festklammerte.

Daddy warf ihr einen Blick zu, dann rannten beide gleichzeitig los.

Der Wind blies durch mein Haar und die Bäume rauschten an uns vorbei. Es war lange her, seit ich mich auf diese Art fortbewegt hatte. Sie waren schneller als ich, jedoch etwas langsamer als Jacob.

Oh, Jacob. Was sollte ich ihm sagen? Wie würde er reagieren? Ging es ihm überhaupt gut?

- Nein, daran durfte ich gar nicht denken. Wenn ihm etwas passiert wäre, hätten Mum und Dad es mir längst gesagt.

„Hätten wir“, kommentierte Daddy sogleich meine sorgenvollen Gedanken und drehte seinen Kopf dabei leicht nach hinten.
 

Ich weiß nicht, wie lange wir gelaufen waren. Mein Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Es hätten zehn Minuten sein können oder eine halbe Stunde. Doch schließlich wurden wir langsamer. Ich hob meinen Kopf, um über Mums braune Haare hinweg sehen zu können und erblickte in einiger Distanz unser Basislager im Schein des Mondes. Feuer hatten sie keines angezündet, lediglich ein etwas größeres Zelt aufgebaut. Drumherum sah ich verstreut einzelne Personengruppen stehen. Dass wir hohe Verluste erlitten hatten, blieb mir nicht verborgen und der Kloß in meinem Hals begann zu wachsen.

Und dann sah ich ihn: Jacob. Meine Sonne.

Er stand da, nur in Shorts bekleidet und gestikulierte wild mit Eleazar und Carlisle. Ich kannte ihn lang genug, um zu erkennen, dass er aufgebracht war.

„Ihr und eure Strategien!“, hörte ich ihn aus der Ferne sagen. „Während ihr hier herumsteht und Pläne schmiedet, haben sie die drei wahrscheinlich schon umgebracht!“

Meine Augen scannten rasch den Platz, bis sie meine Tochter fanden. Sie saß zusammengekauert und an einem Baum lehnend neben Seth, der sie im Arm hielt. Sie hatte es also geschafft, heil zu entkommen. Oder zumindest, war sie körperlich unversehrt...

„Jacob, bitte“, sagte Carlisle. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal über einen Vampir sagen würde, aber wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er hörte sich doch tatsächlich erschöpft an.

Eleazar klinkte sich wohl als erster aus der Konversation aus und bemerkte uns. Er tippte Carlisle kurz an, welcher daraufhin ebenfalls den

Kopf wand. Jacob tat es ihm gleich.

Seine Augen trafen meine, dann stürmte er plötzlich los.

„Nessie, Nessie, Nessie!“, rief er aufgebracht, eilte zu mir und nahm mich von Mums Rücken, ohne irgendetwas anderes um sich herum zu beachten.

„Jake“, murmelte ich gerade noch so, als er mich fest umarmte und mich an seine nackte Brust drückte.

„Ich bin so froh“, sagte er und zitterte dabei leicht. „Ich dachte schon, du wärst tot.“

„Mir geht es gut“, antwortete ich. „Aber...“

Ich hielt inne.

Jacob löste sich von mir und sah zu mir herab.

„Er stirbt, Jake. Ich kann es fühlen“, beendete ich den Satz daraufhin mit noch immer glasigen Augen.

Er schien einen Moment nicht zu wissen, was er sagen sollte, dann schüttelte er den Kopf. „Nein, Nessie. Wird er nicht.“ Er klang nervös. „K-kann er nicht.“ Jake griff nach meiner Hand. „Komm.“ Er zog mich hinter sich her und ging mit mir zu Carlisle, wo Dad Anthony bereits auf eine Wolldecke im Gras gelegt hatte. „Wir haben hier einen Arzt mit jahrhunderter langer Berufserfahrung, wer hat so was schon“, murmelte Jake verzweifelt, während wir uns ihnen näherten. „I-ich meine, er kriegt das sicher hin.“

Und dann standen wir schließlich neben Carlisle. „Nicht wahr, Doc?“, fragte Jake unsicher nach. Meine Mutter stellte sich zu mir, legte ihre Hände an meine Schultern und warf einen skeptischen Blick zu meinem Vater, der Jacobs Worten ausdruckslos lauschte.

Carlisle hatte indes aufgehört, Anthony zu untersuchen. „Das Gift hat sich schon sehr stark ausgebreitet. Ich brauche die Spritzen.“

„Die Spritzen“, wiederholte Jacob. „Oh ja, natürlich.“ Er drehte sich suchend herum. „Mariella?“

„Caius hat Mariella die Spritzen abgenommen“, erklärte Dad. Der Klang seines Tenors wirkte monoton, aber ich wusste, dass ihm in diesem Moment Mariellas, Sangreals und meine Erinnerungen durch den Kopf schossen und es ihm schwer fiel, die Aussichtslosigkeit, in der wir uns befanden, beim Wort zu nennen. Und auch ich merkte, wie mir nach und nach immer kälter wurde.

Doch noch lies Jake sich davon nicht beirren. „Kein Problem. Die Reserve“, sagte er abgehackt. „Ähm, Leah... Leah ist die Schnellste! Leah!“, rief er die Quileute zu sich, woraufhin Leah sofort zu ihm kam „Lauf schnell los und hol die Spritzen aus Carlisles Arbeitszimmer. Sie befinden sich in-“

„Die hat Caius ebenfalls vernichtet“, unterbrach Edward ihn noch immer tonlos.

Leah und Jake sahen ihn beide mit offenem Mund an. Dann schloss Jacob ihn wieder und trat näher an Dad heran. „Sag das nochmal.“

„Caius. Er hat... alle zerstört, Jacob“, wiederholte mein Vater. Die Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme war kaum zu überhören.

„Wie ist das möglich, Edward?“, fragte Carlisle verwirrt, hatte er doch ein paar Reservespritzen extra beiseitegelegt.

Dad sah kurz zu meiner Tochter, die ihr Gesicht an Seths Brust drückte und bitterlich weinte.

„Mariella hatte die Befürchtung gehabt, wir könnten nicht genug Spritzen auf dem Schlachtfeld haben und dass es zu lange brauchen würde, die Restlichen von Zuhause zu holen, daher hat sie heimlich alle eingesteckt.“

Jacob ballte die Hände zu Fäusten und begann leicht zu zittern. Er sah zu Mariella und dann wieder auf den Boden. Man sah ihm an, dass er enttäuscht von unserer Tochter war. Doch es war nicht die nahende Verwandlung in einen Wolf, die ihn zittern ließ. Es war pure Verzweiflung. Er verzichtete darauf, zu Mariella zu gehen, wohl wissend, dass sie alles mit besten Absichten getan hatte und wand sich stattdessen wieder an meinen Großvater, setzte sich neben ihn und legte die Hand an seine Schulter.

„Du kriegst das trotzdem hin, nicht wahr?“, fragte er zitternd.

Carlisle antwortete nichts und starrte Ani an.

Jake rüttelte leicht an Carlisles Schulter. „Nicht wahr?“, wiederholte er.

Carlisle rührte sich noch immer nicht. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah. Noch nie zuvor, hatte ihn irgendetwas derart mitgenommen.

Jacob rüttelte etwas stärker an ihm. „Nun sag schon!“

„Jacob“, mahnte Dad leise.

„Was ist mit dem restlichen Gift?“, fragte Leah nun, die die ganze Zeit über stumm da gestanden hatte.

Dad drehte seinen Kopf in ihre Richtung.

„Er produziert es doch selbst, oder? Das machen doch alle Vampire“, fragte sie ihn.

„Das wird nicht funktionieren. Er produziert es langsamer und in geringeren Mengen, als ein vollwertiger Vampir. Carlisle hat es ihm gestern erst abgenommen. Das Bisschen, das er jetzt vielleicht noch hat, ist ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

„Probier‘ es trotzdem“, forderte Jake und festigte seinen Griff um Carlisles Schulter.

Schließlich hob Großvater den Kopf und sah sich langsam um. Ich tat es ihm gleich. Nun erst fiel mir auf, dass uns alle anstarrten. Rose, Emmett, Alice und Jasper standen uns am Nächsten. Die Denalis waren knapp hinter ihnen. Benjamin und Tia saßen in Seths und Mariellas Nähe, die Quileute hatten sich bis auf Sam und Leah in Wolfsgestalt auf den Boden gelegt. Aurora saß auf einem kleinen Felsen, Stefan stand neben ihr und Esme hatte sich neben Sangreal gesetzt und ihr eine blaue Decke um die Schultern gelegt.

„Es tut mir Leid, Jacob“, flüsterte Carlisle und sah meinen Jacob dabei traurig an. Dieser schüttelte ungläubig den Kopf. „Es tut mir so unendlich leid“, betonte Carlisle.

Jacob schluckte schwer und begann regungslos ins Nichts zu starren.

Carlisle sah wieder zu Anthony, seufzte und legte seine Hand kurz an dessen Stirn, dann stand er auf und wand sich an Emmett: „Bitte bring ihn ins Zelt.“ Anschließend sah er zu mir. „Geh mit ihm, Renesmee.“

Plötzlich wurden meine Beine entsetzlich schwer. Es fühlte sich an, als hätte Carlisle sie mit seinen schlichten Worten in Zement gehüllt. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht mal ohnmächtig werden. Ich stand einfach nur da und starrte auf meinen Großvater.

„Schatz?“, fragte Mum besorgt. Sie stand hinter mir und streichelte behutsam meine Oberarme, aber obwohl sie mir so nah war, fühlte ich mich als sei um mich herum nur erdrückende Finsternis.

Meine Augen folgten jeder einzelnen von Emmetts Bewegungen, als er an mir vorbeischritt. Alles um mich herum wirkte nun auf mich, als würde es sich in Zeitlupe abspielen. Quälend langsam. Er näherte sich meinem Sohn bis auf etwa einen Meter, dann stellte sich Jacob dazwischen.

„Fass ihn an und du bist tot“, knurrte er.

Emmett antwortete nichts und warf einen prüfenden Blick auf Carlisle und anschließend auf Edward.

„Tu das nicht, Jacob“, bat Dad daraufhin. Er klang gleichermaßen verständnisvoll und doch erzürnt. Jake antwortete nichts, funkelte weiterhin Emmett an. Ich zweifelte nicht daran, dass er in diesem Moment tun würde, was er zu tun drohte.

„Du wirst es eines Tages bereuen, Jacob“, fuhr Dad fort. „Du wirst es bereuen, dass du Renesmee diese kostbaren Minuten genommen hast. Und dir selbst.“

„Ja“, antwortete Jake bitter. „Diese Minuten...“, sagte er und deutete dann auf Carlisle. „In denen du etwas hättest unternehmen können!“

Carlisle senkte traurig den Blick.

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Edward bitter.

„Du hast keine Ahnung!“, brüllte Jake ihn verzweifelt an.

„Ich weiß, wie es ist geliebte Personen zu verlieren“, antwortete er auf Jakes Gedanken, in denen diese 'Ahnung', von der er gesprochen hatte, wohl detaillierter beschrieben war. „Ich war für vierundzwanzig Stunden in dem festen Glauben, dass Bella sich meinetwegen von einer Klippe gestürzt hat!“

„Du musstest aber nicht mit ansehen, wie sie gestorben ist! Du hast es über drei Ecken erfahren und am Ende war es gar nicht so! Aber das hier!“, sagte er und deutete hinter sich, ohne hinzuschauen. „Das hier ist real, Edward!“

Edward schloss kurz müde die goldenen Augen und senkte den Blick.

„So, jetzt reicht es mir!“, sagte Jacob schließlich und stampfte wutentbrannt sowohl an Emmett als auch an Dad vorbei.

„Was hast du vor?“, fragte Letzterer.

„Caius den verdammten Kopf abreißen!“

„Was?“, fragte er. „Jacob!“, brüllte er ihm hinterher, als dieser nicht reagierte. Er wand sich Jake zu, drehte sich dann aber noch einmal zu Emmett um. „Emmett, Nessie, bringt ihn ins Zelt.“

Emmett nickte und hob meinen Sohn vorsichtig hoch. Ich vernahm seinen inzwischen unregelmäßigen, schwachen Herzschlag, konnte mich aber noch immer nicht rühren. Hilfesuchend drehte ich mich zu Jake um, der in diesem Augenblick von Edward festgehalten wurde. „Das bringt doch nichts, Jake. Du riskierst nur dein Leben! Vergiss nicht, dass du noch Nessie und Mariella hast, die dich brauchen!“
 

Jacobs Gegenwehr wurde auf Dads Zureden hin schwächer. Er lockerte seinen Griff etwas und sah Jake mit seinen goldenen Augen an, dann nickte er und ließ ihn los.

„Nessie“, flüsterte Mum mir zu. Ich wand meinen Blick von Jake und Dad ab. Sie stand hinter mir und drückte meine Schultern leicht, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Emmett“, antwortete sie auf meinen fragenden Blick hin. Langsam wand ich meinen Kopf meinem Onkel zu, der mit meinem Kind auf dem Arm stehen geblieben war und auf mich wartete. Mein Kopf wollte ihm folgen, doch mein Herz ließ es nicht zu. Meine Beine waren noch immer so schrecklich schwer und weigerten sich, auch nur einen Schritt zu machen. Dieser Erste jener letzten Schritte, die ich mit meinem Kind gehen würde. Ich wollte sie nicht gehen. Ich wollte es nicht wahrhaben.

Ich erinnerte mich noch genau an diese eine Nacht, etwa zwei Wochen nach der Geburt meiner Drillinge. Wir hatten so wenig über ihre Eigenschaften gewusst, dass ich aus Sorge, meine Kinder zu überleben, geweint hatte. Ich hatte nie eines meiner Kinder zu Grabe tragen wollen und nun sollte ich das ein zweites Mal tun müssen? Das durfte so nicht sein. Das war falsch und ungerecht.

Meine Unterlippe begann zu zittern, als ich versuchte Mum zu antworten und traurig den Kopf schüttelte. „Ich... kann nicht.“

Meine Mutter erwiderte meinen Blick. Tränen konnte sie nicht weinen, dennoch sah ich ihr ihre Trauer an. Sie nahm mich behutsam in den Arm und drückte mich. Im Hintergrund horchte ich leise Anthonys Herzschlag zu, immerzu mit der Befürchtung im Hinterkopf, dass jeder einzelne davon der Letzte sein könnte.

„Geh mit Emmett, mein Schatz“, redete Mum mir gut zu, während sie mich umarmte. Natürlich hatten sie Recht. Wenn ich jetzt nicht mit ihm ging und nicht dabei sein würde, wenn mein Sohn seinen letzten Atemzug tat, würde ich das auf ewig bereuen, dennoch zitterte ich am ganzen Körper und war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt zu gehen.
 

„Du weißt, dass es falsch wäre, Caius allein anzugreifen“, hörte ich Dad zu Jake sagen. Ich lugte vorsichtig aus Mums Umarmung hervor und sah, wie mein Mann meinen Vater anfunkelte.

„Und wenn schon. Hier läuft doch gerade alles falsch...“, zischte er.

Daddy schnaubte bitter und sah auf den Boden, dann hob er jedoch plötzlich wieder den Kopf und richtete sein Augenmerk auf etwas, das sich hinter Jake und sogar weit hinter meiner Mutter und mir befand.

„Vielleicht auch nicht“, sagte er dann. Ich meinte einen kleinen Hauch Hoffnung in seiner Stimme zu vernehmen. Müde folgte ich seinem Blick und sah, wie Catriona das Lager betrat – gefolgt von einem mir unbekannten Mann. Er war muskulös gebaut, fast etwas hünenhaft, mit rotblondem, schulterlangem Haar und einem Drei-Tage-Bart. Hatte sie es schließlich doch geschafft, ihren Vater von unserem Vorhaben zu überzeugen?

Nahezu gleichzeitig blieben beide stehen und sahen sich um. Catrionas Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an, nun da ihr die Verluste bewusst wurden. Als ihre Augen jedoch letztendlich auf Ani fielen, faltete sie erschrocken ihre Hände über dem Mund, ohne einen Ton von sich zu geben. Sie warf noch einen kurzen Blick hinter sich, dann ging sie schließlich schnellen Schrittes, nicht rennend, jedoch bestimmt, die wenigen Meter auf Ani zu, der in Emmetts Armen lag. Etwa einen Meter vor Emmett blieb das Mädchen stehen. Mein Onkel sah sie ausdruckslos an, als sie mit verzweifeltem Blick zu ihm hoch sah.

„Bitte setz ihn ab“, richtete sie ihr Wort an ihn. Hinter ihr trat der, von dem ich annahm, dass er ihr Vater war, näher an sie heran und legte seine große Hand auf ihre zierliche Schulter.

„Bist du dir sicher?“, fragte er und sah sie dabei durchdringend an. „Du weißt, wenn du das tust, wird er auf ewig immun gegen unsere Kräfte sein.“

Cat sah ihren Vater etwas traurig an. „Absolut sicher, Dad“, antwortete sie bestimmt.

Er schien einen Moment zu überlegen, dann nahm er seine Hand von ihrer Schulter und nickte ihr zu. Ich wusste nicht, wovon sie sprachen, aber nach allem, was ich so über ihren Vater am Rande erfahren hatte, schien das wohl ein gewaltiger Schatten zu sein, über den er in diesem Moment für seine Tochter sprang. Diese nickte ihrem Vater ebenfalls zu, dann wand sie sich wieder um und sah erneut zu Emmett empor.

„Bitte lass ihn runter“, bat sie erneut. Emmett starrte sie etwas ratlos an. „Bitte!“ Ihre Stimmlage wurde flehender. „Ich kann ihm nicht mehr helfen, wenn sein Herz aufhört zu schlagen!“

Emmett wand seinen Blick in Richtung Edward, wohl aufgrund der Tatsache, dass er Gedanken lesen konnte und wahrscheinlich am ehesten sagen konnte, ob es angebracht war, ihrer Bitte nachzukommen oder nicht. Dad nickte befürwortend, woraufhin Emmett Ani vorsichtig vor sich ins nasse Gras legte.

„Danke“, flüsterte Cat und setzte sich neben mein Kind. Nun waren unser aller Augen auf dieses blonde Mädchen gerichtet. Im Gegenzug jedoch, schien sie uns alle auszublenden. Sie sah Anthony mitfühlend an und strich ihm durch sein schwarzes Haar. „Alles wird gut“, hauchte sie ihm zu. Ich bezweifelte, dass er sie jetzt noch würde hören können und obwohl sie es eindeutig zu ihm gesagt hatte, wirkte es gleichzeitig so, als würde sie sich selbst gut zu reden wollen. Ihre Hand wanderte über seine Haare, zu seiner Wange und schließlich zu seiner Brust. Zwei Knöpfe seines Hemds hatte Dad schon zuvor nicht geschlossen gehabt. Cat knöpfte nun vorsichtig noch ein paar mehr auf und legte ihre Hand auf seine nackte Brust, genau auf jene Stelle, unter der sein Herz schwach pochte.

Ich gestattete mir für einen kurzen Moment meinen Blick abzuwenden und warf ein Auge auf Sangreal, die in ihre Decke gehüllt von Esme im Arm gehalten wurde und genauso gebannt auf Cat starrte wie alle anderen. In ihren Augen sah ich nur Schmerz und Trauer. Keinerlei Anzeichen mehr von Eifersucht.

Ich wand mich wieder Cat zu. Wahrscheinlich erwartete jeder hier, dass jetzt irgendetwas geschah. Tatsächlich geschah jedoch gar nichts. Sie saß da, über meinen Sohn gebeugt und weinte.

„Catriona“, begann ihr Vater und näherte sich ihr. Als sie sich plötzlich mit verweintem Gesicht zu ihm drehte, blieb er schlagartig stehen.

„Ich kriege das hin!“, sagte sie weinend. „Bitte geh, du machst mich nervös!“

Er hob beschwichtigend die Hände und machte einige Schritte rückwärts.

Cat hingegen drehte sich wieder zu Ani um. „Ich kriege das hin“, wiederholte sie leise, dann schloss sie langsam die Augen und atmete einmal tief durch.

In jenem Augenblick, in dem die Luft ihren Körper verließ, tat sich schließlich etwas. Es mochten meine müden Augen gewesen sein, die mir etwas vorgaukelten, oder das Licht des Mondes, der nun, da sich die Wolken verzogen hatten, hell am Himmel schien, aber ich meinte ein Glühen um sie herum zu sehen. Ein zarter Schimmer, nicht wie das Glitzern eines Vampirs im Sonnenlicht, sondern eher... wie eine Art Aura. Die dezente Sphäre, farblos und keine fünf Zentimeter dick, ging von ihr auf Anthony über. Und dann geschah das Unglaublichste, das ich in meinem Leben jemals gesehen hatte – selbst in unserer Welt: die blutigen Schrammen und Wunden auf Anthonys Haut begannen zu verheilen, ehe sie verblassten und schließlich verschwanden.
 

Manche von uns verfügen über sehr starke Heilkräfte, was uns in den Augen einiger sehr gläubiger Menschen zu 'Engeln' machte, kamen mir Catrionas Worte wieder in den Sinn. Sie hatte uns so vieles über diese neue, uns bis dahin unbekannte Spezies gesagt, zu der sie gehörte, dass ich diesem Aspekt ihrer Fähigkeiten gar keine weitere Beachtung geschenkt hatte – und nun sah ich mit eigenen Augen, warum die Menschen sie früher, berechtigterweise, auch als Engel bezeichnet hatten.
 

Ein paar Minuten später, öffnete das Mädchen ihre Augen wieder und legte leicht zitternd ihre Hände in den Schoß. Niemand von uns rührte sich oder sagte etwas. Anthony lag ganz ruhig da, sein Herz schlug wieder in seinem gewöhnlichen Rhythmus. Es sah aus, als würde er nur schlafen.
 

Dad war der Erste, der sich wieder bewegte. Er ging langsam auf Cat zu und setzte sich neben sie, dann warf er ihr einen fragenden Blick zu. Cat nickte, dann legte Dad zwei Finger an Anis Halsschlagader und begutachtete dann behutsam die Stelle, an der er in Tiergestalt von den Volturi bei unserer Flucht gebissen worden war. Die Wunde war, genau wie alle anderen, einfach verschwunden.

„Du hast ihn komplett geheilt“, stellte Daddy fest.

Catriona nickte zustimmend. „Körperlich gesehen, ist er jetzt praktisch wie neugeboren. Er ist sogar gesünder, als er es vor der Schlacht war.“

„Warum kann ich dann seine Gedanken nicht lesen?“, fragte er und sah zu Mum, die mit dem Kopf schüttelte. Es lag also wohl nicht an seinem Schutzschild.

Cat seufzte traurig. „Körperlich“, wiederholte sie.

„Du meinst... sein Geist... seine Seele?“

Ich wusste, wie Dad zu dem Thema stand. Für ihn hatten Vampire keine Seele.

Cat nickte erneut. „Wenn wir schlafen, geht unsere Seele auf eine Reise, nur durch die Silberschnur mit unserem Körper verbunden. Sie kann dünner werden und reißt, wenn wir sterben.“ Sie sah Ani gedankenverloren an, während sie sprach. „Er ist schon sehr weit gereist.“

„Wenn du 'wir' sagst...“, begann Dad seine nächste Frage.

„... rede ich von allen Lebewesen, die eine Seele besitzen“, sagte sie.

Nun fand auch ich wieder zu meiner Stimme zurück: „Sagtest du nicht, er hätte keine Seele?“ Ich erinnerte mich noch genau an ihren Streit. Es war gar nicht allzu lange her.

„Ich weiß, was ich gesagt habe“, antwortete sie und sah mich dabei an. Sie wusste genau, worauf ich anspielte. „Ich war wütend auf ihn. Ich weiß, dass er eine hat. Ich wusste es schon vorher, aber jetzt bin ich mir ganz sicher.“

„Warum?“, fragte Dad. Das Thema interessierte ihn brennend.

„Weil ich spüre, dass sie fehlt. Hätte er keine, wäre er sicher sofort aufgewacht, aber er hat eine und es ist ein ganz natürlicher Vorgang, dass sie beim herannahenden Tod entschwindet.“

„Was heißt das?“, fragte ich mit zittriger Stimme. Ich ahnte schon, worauf sie hinaus wollte. Sie wand sich mir erneut zu.

„Es ist jetzt an ihm allein zu entscheiden, ob er zurückkehren will oder nicht.“

„Aber-“, mir stockte der Atem.

Jacob trat neben mich und nahm mich in den Arm. „Er hat genug Gründe zurückzukommen“, beendete er meinen Satz. „Seine Schwester, seine Eltern, seine Familie“, zählte er auf.

„Sein ungeborenes Kind“, fügte ich hinzu.

„Was?!“, warf mein Jacob perplex ein und starrte mich entgeistert an.

Cat sah traurig zu uns hoch, dann musterte sie für einen Moment Sangreal, ehe sie sich wieder uns zuwand. „Sicher hat er seine Gründe, aber niemand kann sagen, was ihn auf der anderen Seite erwartet. Oder wer... “



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  jennalynn
2013-12-14T12:23:41+00:00 14.12.2013 13:23
OH MAN...scheiße ich musste heulen und dann am ende musste ich irgendwie lächeln und jetzt bin ich nur noch gespannt

Also muss ich schnell weiterlesen
Von:  IDUQUEENY
2013-11-14T20:12:51+00:00 14.11.2013 21:12
Oh mein Gott!!
Ich muss heulen,wenn ich nicht ertrinken will oder den Niagarafällen Konkurrenz zu machen...
Einfach nur herzzereißend....
Ich hoffe bloß alles wird gut UND vorallem das Caius stirbt!
Ich habe wirklich großen Respekt vor dir und deinen Fanfiktion! *_*
Von:  funnymarie
2013-11-06T13:02:26+00:00 06.11.2013 14:02
Ein wunderschönes Kapitel
Einfach fantastisch, genial und herzzerreißend!
Ich war wirklich wie verzaubert;-)
Ich bin gespannt, ob ani zurück kommt oder nicht?
Und gut das cat helfen konnte!
LG funnymarie


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