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Green Moon

Full Eclipse: One [♥]
von

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Prologue

Prolog
 


 

Sie träumte seit Jahren bei Vollmond immer das gleiche.
 

Sie war in einem älteren Bürogebäude.

Gefesselt.

Vor ihr, ein Mann, den sie nicht kannte und der immer wieder zu ihr die gleichen Worte sagte: „Er wird nicht kommen. Du bist ihm egal.“

An dieser Stelle bekam ihr Traum-Ich immer Angst und wurde von Zweifel geplagt.

Keine Sekunde später tauchte ein riesiger, rabenschwarzer Wolf hinter dem Mann auf und riss ihn zu Boden. Ein Zweikampf entwickelte sich zwischen Mensch und Tier.

Bis der Mann sich verwandelte – in einen Berglöwen.

Ihr Traum-Ich war nicht verwirrt über das Geschehene. Sie hatte auch keine Angst vor dem Wolf.

Eher hatte sie Angst um ihn. Er war ihr so vertraut.

Und als der Berglöwe ihn umwarf und immer wieder in seinen Hals biss, ihn zerfetzte, schrie sie. Als würde sie mit ihm fühlen.

Mit ihm sterben.

Jedes Mal blieb der wunderschöne Wolf in einer Blutlache zurück und sie stand vor dem Abgrund. Es fehlte nur noch der kleine Schubs, hinunter ins Dunkle.
 


 

Immer wieder wachte sie an dieser Stelle auf. Ein Schweißfilm benetzte wie selbstverständlich ihre Haut und es stellte sich ihr immer die Frage: Was hat das ganze zu bedeuten?

The past returns

Die Vergangenheit kehrt zurück
 


 


 

„Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen.“

- José Ortega y Gasset
 


 


 

17. April, 1. Jahr
 


 

Damals war sie noch mit ihm zusammen.

Damals, als sie noch nicht geahnt hatte, was er wirklich war. Wozu er fähig war.

Damals, als er sich noch nicht so anders, ja schon fast abartig, ihr gegenüber verhalten hatte.

Damals, als sie ihn geliebt hatte.
 

Sie waren oft zusammen aus und er war anfangs auch sehr liebevoll.

Aber mit der Zeit hatte sich das geändert. Er hatte jede Gelegenheit genutzt, um sie zu schikanieren. Irgendwann hat er ihr Angst gemacht – deswegen trennte sie sich von ihm.
 

Von da an gingen Norman und Selena getrennte Wege. Sie trauerte ihren schönen gemeinsamen Monaten und Momenten hinterher. Aber irgendwie hatte sie auch gewusst, dass es nicht ewig halten würde. Bauchgefühl.

Es war außerdem ein Vollmond, als sie sich getrennt hatten. Und seit diesem Ereignis, vor über zwei Jahren, hatte sie immer denselben Traum.

Das merkwürdige an der Sache war, dass er sich immer wiederholte. Immer und immer wieder.

Und das noch komischere war, dass ihr Herz jedes Mal drohte auseinanderzuspringen, sobald sie schweißgebadet aufwachte und über den Tod des schwarzen Wolfes nachdachte.
 


 

Sie bekam eine Gänsehaut und zog ihre Jacke enger um den Körper. Weiter darüber nachzudenken brachte ja auch nichts. Außer das sie zu dieser Uhrzeit - und allein auf der Straße - noch mehr Angst bekam.

Es war nämlich noch stockdunkel. Da es ja auch erst vier Uhr morgens war, aber sie war natürlich schon auf dem Weg zur Arbeit.

Drehbeginn war zwar erst halb sieben, aber da Selena als Visagistin für das Schminken zuständig war, hatte sie mehr Zeit nötig als zum Beispiel Tony, die nur für die jeweilige Szene alles akkurat aufbauen und bereitstellen musste. Selbstverständlich nahm da das Schminken und zurechtmachen der Schauspieler mehr Zeit ein.

Ein Auto, um zu ihren Arbeitsplatz zu fahren, besaß Selena nicht. Sie war erst vor wenigen Wochen nach Chicago gezogen, als sie diesen Gesichtskosmetiker-Job angenommen hatte. Davor war sie arbeitslos gewesen und hatte bei ihren Eltern gelebt. Aber nur ihrer Schwester zuliebe. Mit einundzwanzig Jahren wäre Selena auch dazu in der Lage, selbstständig eine Wohnung zu führen und bewohnbar zu halten.

Nur ihre Eltern lagen sich seit Monaten in den Haaren, wie zwei wild gewordene Raubtiere, und sie wollte Helena das ganze nicht antun. Musste sie aber jetzt doch notgedrungen. Sie konnte ja schlecht in New York leben und in Chicago arbeiten. Aber dafür telefonierten die beiden jeden Abend miteinander. Selena hoffte, dass ihrer Schwester das ein wenig half.
 

Selena bog eine Seitenstraße ein und kam wenige Augenblicke später an dem hellen, aquamarinblauen Bau an, der das Setgebäude darstellte. Er war schon etwas älter, sicher aus den Sechzigern, und wurde damals einfach neu angestrichen. Deswegen hatte sie öfters das Gefühl, dass er bei dem kleinsten Windstößchen in sich zusammensacken würde.

Im Gebäude selbst roch es nach altem, abgestandenem Kaffee. Sie hasste diesen Geruch. Es roch wirklich überall so – sogar auf der Toilette. Nur in ihrem eigenen Raum nicht.

Den hatte sie sich selbst eingerichtet und beinhaltete alles, was sie zum arbeiten brauchte. Massen von Schminke, vier Spiegel, eine Reihe von Kämmen und Haarbürsten sowie anderen Utensilien. Außerdem roch es angenehm nach Lavendel.

Manchmal wurde Selena gefragt, wie sie zu ihrem Beruf gekommen war. Sie wusste nicht mehr genau, wann es angefangen hatte, aber schon als Kind hatte sie den Wunsch geäußert, einmal Visagistin zu werden. Nach ihrem Schulabschluss machte sie dann die entsprechende Ausbildung. Ihr fiel es leicht und schon bald hatte sie sie abgeschlossen und Selena wurde direkt ein Job bereitgestellt.

Sie konnte wirklich von Glück reden, ein Händchen dafür zu haben. Von ihrer Großmutter aus Griechenland hatte sie die künstlerische Begabung und das Glück, so gut wie immer die perfekte Farbwahl zu treffen. Die ruhige Hand hatte sie von ihrem Vater. Er war Chirurg und schon der kleinste Fehler konnte über Leben und Tod entscheiden. Bei Selena war es zwar nicht ganz so extrem aber auch schon unvorteilhaft.
 

Gerade als sie die verschiedenen Mascarafarben sortierte klopfte es an der Tür. Dann würde diese geöffnet und eine der Schauspielerinnen kam herein. Ihr Name war Stephania und sie war die typische, eingebildete Schauspielerin. Früheres Model mit einem reichen, schnöseligen Freund. Und Selena durfte sich immer ihr Gemecker anhören, weil ihr nie das Make-up oder die Frisur gefiel. Aber was tat man nicht alles für Geld?

Stephania platzierte ihren grazilen Körper auf einem der Stühle. „Los, mach schon. Du wirst schließlich dafür bezahlt.“

Selena presste die Lippen zusammen und fing an sie zustylen.
 


 

Zum Schluss zog sie eine dünne, elegante Linie mit dem Eyeliner. Diese sah haargenau so aus, wie jene auf dem linken Augenlid. Anschließend fasste Selena die schwarzen Locken von der Schauspielerin in einen lockeren Zopf zusammen.

„Fertig.“

Stephania betrachtete sich skeptisch im Spiegel – kein ungewohnter Anblick für Selena. „Das Puder ist zu dunkel und die Eyelinerstriche ungleich. Wieder mal nur mittelmäßige Leistung.“

Selenas Lippen formten einen dünnen Strich. Das würde jeder, wenn man bedachte, dass nur Stephania an ihrer Arbeit rummeckerte und alle anderen mehr als zufrieden damit waren?

Selena entschuldigte sich jetzt auch nicht dafür - wieso auch? - sondern räumte schweigend ihre Sachen zusammen. Stephania stand dann auf und stöckelte davon.

„Blöde eingebildete Mistkuh…“, murmelte Selena und klappte den Deckel ihrer Box zu.
 

Einer der Eyeliner fiel herunter und kullerte Richtung Tür. Seufzend wollte Seelna ihm nach, als graue Stiefelspitzen in der Tür auftauchten und eine Hand ihn aufhob. „Was schimpfst du schon wieder, Seli?“

„Rat drei Mal.“

„Hm…“ Tony tat so, als würde sie überlegen. „Ah, natürlich. Ich hab’s. Du wolltest gestern Dosenerbsen im Supermarkt kaufen, hast aber gesehen, dass sie nicht mehr im Angebot sind und bist ausgerastet.“

Selena musste darauf lachen und Tony stimmte kurz darauf mit ein.
 

Tony Carter war so ziemlich die einzige, die Selena in der Liste 'Meine Freunde' verzeichnen konnte. Sie war wie gesagt die Szenenbildnerin und die beiden waren zusammen an dieses Set gekommen, hatten sich kennengelernt und schon nach wenigen Stunden angefreundet.

Tony war zwar vier Jahre älter als Selena, aber das machte rein gar nichts. Vor knapp einer Woche hatte Tony Geburtstag gehabt und sie hatten ordentlich einen drauf gemacht. Und am nächsten Morgen hatte sie Dustin noch vor acht Uhr geweckt. Dustin war Tonys vier jähriger Sohn. Ein lebhafter Junge, der genauso aussah wie die Mutter – hellblondes Haar, hellgrüne Augen und helle Haut kennzeichneten beide.

Wer jedoch der Vater war wusste Selena nicht. Tony hatte noch nie ein Wort darüber verloren und hatte es sicherlich auch nicht vor. Er schien nicht zu existieren und auch klein Dustin wusste nichts über ihn.

Was Selena jedoch über sie wusste war, dass Tony ursprünglich aus Alaska kam – genauer gesagt aus der kleinen Stadt Skwentna, die nicht mehr als 150 Einwohner hatte - und noch nicht lange hier war, bevor sie sich kennenlernten.
 

„Also“, begann Tony, als sie sich beruhigt hatten, „was war wirklich los?“

Selena's Stimmung war sofort wieder gesunken. „Stephania war los. So wie jeden Tag.“

„Ach, das kleine Miststück kommt doch sowieso nicht mehr allzu lange her. Ich hab gehört, dass Erik sie gefeuert hat und deswegen ihre Rolle bald sterben wird.“

Erik war ihr gemeinsamer Chef und Produzent am Set. Ihm hatte Selena diesen Job zu verdanken. Aber es freute sie für die schwarzhaarige Hexe, dass sie bald nicht mehr hier sein würde.

„Na ja, ich muss dann mal das Set vorbereiten. Ich bring dann gleich frischen Kaffee mit. Willst du auch Erbsen, ich meine, da du gestern keine gekriegt hast –“

Selena warf mit einem Kamm nach Tony, welche lachend aus der Tür verschwand.
 

Nachdem Selena die anderen Schauspieler versorgt hatte und die Filmklappe zum letzten Mal fiel, räumte sie ihre Sachen ordentlich zusammen und schnappte sich ihre Tasche. Mittlerweile war es später Nachmittag und Selena glaubte, sie konnte ihr Bett rufen hören. Wie sehr freute sie sich jetzt auf die schönen weichen Laken, eine kuschelige Decke und pure Stille.

Davor würde sie sich noch eine heiße Dusche gönnen und sich bei dem Griechen nebenan einen Salat mit Schafskäse bestellen und sich Gyros mit Zaziki genehmigen.

Tony kam wieder herein und nahm ebenfalls ihre Tasche, die sie immer bei Selena abstellte. „So, ich muss dann mal los. Dustin aus der Kindertagesstätte abholen. Wahrscheinlich ist er mal wieder der letzte.“

„Richte ihm schöne Grüße von mir aus. Und gib ihm ein Küsschen.“

Sie lächelte sanft. „Wird gemacht. Also dann, bis morgen.“ Nach einer kurzen Umarmung eilte Tony nach draußen.

Selena knipste die Lichter aus, ging raus und schloss die Tür zu. Niemand sollte unbefugt in ihren Raum eindringen. Sie hasste sowas einfach. Vor allem, da manche hier gerne rumschnüffelten.
 

Nachdem sie Erik noch kurz einen schönen, restlichen Tag gewünscht hatte verließ sie das Gebäude und bemerkte, dass es schon wieder dämmerte.

Es war Mitte April und normal sollten die Tage schon länger sein. Aber hier in Chicago – noch dazu an einem sehr bewölkten Tag – gab es auch Ausnahmen. Da ging die Sonne nicht erst halb neun unter, nein, sondern Stunden früher.

Selena hasste die Dunkelheit. Diese erinnerte sie unweigerlich immer wieder an diesen Traum, der eine nicht mindere dunkle Ausstrahlung hatte.

Mit schnellen Schritten passierte Selena eine Nebenstraße. Irgendetwas war heute anders. Sie kam sich beobachtet vor. Vielleicht war sie auch nur paranoid, aber ihr Gefühl hatte sie noch nie getäuscht.

Selena stoppte kurz ihre Schritte und besah sich ein Plakat an der Straßenlaterne, nur um unauffällig hinter sich schauen zu können.

Mist, ich sehe rein gar nichts. Es war zu dunkel. Auch konnte sie nicht die Schemen einer Gestalt ausmachen, glücklicherweise. Sie sollte sich wahrscheinlich nicht unnötig verrückt machen.

Trotzdem schlug ihr Herz schneller als sie ihren Weg fortsetzte.

Ruhig bleiben, ermahnte Selena sich selbst. Du bist gleich zu Hause, Selena, und dort kann dir nichts mehr passieren. Falls dich wirklich etwas verfolgen sollte.
 

„Schwachsinn…“, murmelte sie, als Selena ihre Plakat-Anstarr-Technik nach fünf Minuten wiederholte. „Da ist rein gar nichts.“

Gleich würde sie zu Hause sein und das ganze wäre vergessen. Das Blut rauschte ihr zwar in den Ohren und ihr Herz pochte immer noch aufgeregt vor sich hin, aber innerlich wusste sie, dass sie gleich in Sicherheit war.

Selena drehte sich wieder zurück und ging einen Schritt, als sie gegen etwas stieß. Überrascht hob sie den Kopf und ihr entglitten sämtliche Gesichtszüge.

Adrenalin floss plötzlich durch ihre Adern und sie wollte sich umdrehen und wegrennen, aber er hielt sie am Arm fest. „Nicht doch, Selena. Jetzt, wo wir uns gerade wiedersehen, willst du abhauen.“

Sie blickte ihn distanziert an. Er hatte sie also verfolgt – hatte sie ihr Gefühl doch nicht getäuscht. Aber was wollte er plötzlich von ihr? Nach den Jahren der Trennung, in denen sie sich nicht noch einmal gesehen hatten?

Oder besser gefragt, wie hatte er sie hier gefunden, obwohl sie beide in New York gewohnt hatten?

Aber eines interessierte Selena noch mehr. „Was willst du, Norman?“

Er lächelte gewissenhaft und seine Augen blitzten auf. Das wäre der Moment gewesen wegzulaufen, wenn er nicht ihren Arm festhalten würde.

„Das, meine Liebe, erklär ich dir gleich.“

Selena schluckte und Panik stieg in ihr auf. Die Vergangenheit hatte sie gefunden.
 


 

To be continued.

Fateful acquaintance

Schicksalhaftes Kennenlernen
 


 


 

„Mann kann sich wohl den Weg wählen, aber nicht die Menschen, denen man begegnet.“
 

- Arthur Schnitzler
 


 


 

Jetzt, als sie in seine leblosen, schwarzen Augen blickte fielen ihr auf einmal ein dutzend Gründe ein, wieso sie sich von ihm getrennt hatte.

Sein gefühlloser, harter Charakter, seine unheilvolle Ausstrahlung und schlimme Beleidigungen fielen ihr ein. Weg waren alle schönen und positiven Momente mit ihm.

Für ihn war Selena in den letzten Zügen ihrer Beziehung nur noch eine griechische Volksschlampe gewesen.

Ja, sie war nun mal eine Halbgriechin. Durch ihre Adern floss griechisches Blut und sie war stolz darauf. Sehr stolz. Selena liebte ihre Abstammung. Die Griechen waren seither ein stolzes Volk und vor allem in der Antike hatte ihre Kultur einen Höhepunkt. Sie hatten soviel geschaffen. Und auch so viel verloren. Trotzdem galten die Griechen als Väter des heutigen Europas. In ihren Verfassungen waren schon damals Grundzüge der Demokratie zu erkennen.

Aber Norman hasste natürlich alles, was vor seiner Zeit war. Wieso verband er sie bitte mit dem antiken Griechenland nur weil ihre Mutter eine Griechin war?

Selena hatte diesen Mann nie wirklich verstanden und jetzt wollte sie es nicht mehr.
 

„Endlich habe ich dich gefunden“, flüsterte Norman an ihr Ohr und trat um Selena herum. Dabei wanderten seine Augen auf und ab. Er begutachtete sie wie ein Stück Vieh auf dem Rindermarkt.

„Wieso hast du mich gesucht?“

Er ignorierte ihre Frage und blieb wieder vor ihr stehen. Ihre Handgelenke hielt er immer noch umschlossen und selbst wenn Selena es versucht hätte, sie hätte sich nicht befreien können. Norman hatte einfach zu viel Kraft.

„Du hast versucht, dich vor mir zu verstecken“, meinte er und Selena war verwirrt. Wieso sollte sie das tun? Er war doch damals spurlos verschwunden nach ihrer Trennung. Selbst wenn sie gewollt und ihn aufgesucht hätte, gefunden hätte sie Norman ja doch nicht. „Böses Mädchen.“

„Du bist anders.“ Diese schlichte Feststellung stimmte. Norman hatte vorher nie so geredet. Irgendwas musste passiert sein, dass er noch verkorkster war als vorher. Und sie dachte schon, dass ginge nicht mehr. Da hatte sie wohl falsch gedacht.

„Ich habe mich geändert, Selena.“ Das kaufte sie ihm sogar ab. „Zum positiven.“ Das eher nicht.

„Niemand, der sich zum positiven ändert, überfällt seine Ex abends auf der Straße und hält sie fest. Was soll daran bitte positiv sein, Norman?“

Wieder blitzten seine schwarzen Augen auf und es schien, als würde irgendetwas knapp unter seiner Oberfläche sitzen. Nur darauf wartend, dass Norman es raus ließe.
 

Plötzlich stieg ihr ein Geruch in die Nase, die Selena sonst nur aus dem Zoo kannte. Es roch auf einmal nach Wildkatze.

Nein, eher Berglöwe, schoss es ihr durch den Kopf und ihre Stirn legte sich in Falten.

Es stank fürchterlich nach Puma, aber wo kam dieser Geruch so plötzlich her? Der Zoo war in einem ganz anderen Stadtteil von Chicago.

Normans Grinsen brachte Selena nur noch mehr durcheinander. „Reiz mich nur weiter, da steh ich drauf.“

„Perverser“, murmelte sie, was Norman aber zu hören schien, da auf einmal fürchterlich meine Handgelenke schmerzten, die er immer noch fest umklammert hielt. Als würde er mit spitzen Nadeln durch meine Haut bis auf die Knochen stechen.

Nein, keine Nadeln – Krallen.

Woher sie nur die ganze Zeit diese sonderbaren Gedanken hatte, wusste sie nicht. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Aber ihr Gehirn weigerte sich in der Sache weiterzudenken. Selena hatte im Moment größere Probleme als meine schmerzenden Handgelenke.

„Norman, was willst du nun?“, zischte sie durch die Lippen, was ihn nur noch mehr ein Grinsen entlockte.

Oh, natürlich. Er hatte sich zum positiven geändert, stand aber darauf, wenn er ihr offensichtliche Schmerzen zufügte. Er war es nicht einmal mehr würdig beim Namen genannt zu werden. Monster würde viel besser passen.
 

Blitzschnell ließ er eines ihrer Handgelenke los, aber nur um beide zusammen mit einer Hand festzuhalten. Mit seiner nun freien Hand hob er ihr Kinn an und kam ihrem Gesicht näher. „Ich will dich, Selena“, flüsterte er heiß gegen ihre Lippen.

Selena zog ihren Kopf nach links zurück, weswegen er ihr Kinn loslassen musste. „Ich will dich zurück und du wirst zu mir zurückkommen.“

„Du bist krank, Norman. Einfach nur krank. Ich werde niemals wieder mit dir zusammen sein. Nie wieder freiwillig, in meinem ganzen Leben.“

„Oh, du verstehst mich falsch, Schätzchen.“ Mit einem groben Ruck zog er sie an seine Brust und hielt sie fest. „Du wirst zu mir zurückkommen. Und wenn nicht freiwillig, dann zwing ich dich.“

Panik stieg in ihr auf. „Du kannst mich nicht zwingen… ich…ich zeig dich an!“

Ein Lachen erklang leise aus seiner Kehle. Und dann wurde es lauter. Er lachte wirklich! „Was ist daran so lustig?!“

Sein Lachen erstarb und unsanft zog er ihren Kopf hoch. „Du hast keine Ahnung, was ich alles kann, Selena.“ Danach kam es ihr so vor, als würde er knurren.

Wie ein gefährliches Raubtier

Selena hatte wirklich keine Ahnung, zu was er mittlerweile alles in Stande war. Aber er scherzte nicht. Kein bisschen. Und seine komischen Verhaltensweisen jagten ihr Angst ein.

Sie musste weg von ihm.
 

Ohne zu wissen, was sie tat, zog Selena ihr Knie ruckartig hoch und traf ihn genau da, wo es am meisten weh tat bei einem Mann. Zischend ließ er sie schlagartig los und ging in die Knie. Diese Chance nutzte sie sofort aus.

Selena drehte sich um und rannte davon. Versuchte Distanz zwischen ihn und sich selbst zu bringen.

Wie aus dem nichts stand er plötzlich vor ihr und Selena lief direkt in seine Arme. Verwirrt versuchte sie sich aus seinem starken Griff zu befreien aber er packte sie nur noch fester, sodass sie am nächsten Morgen dort bestimmt blaue Flecke entdecken konnte.

Diesmal schien es, als spürte Selena Krallen in ihrem Rücken. Der Gestank nach Wildkatze wurde stärker und Norman knurrte an ihrem Ohr. „Versuch das nicht noch einmal. Ansonsten bring ich dich um.“

Selena schluckte und spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen.

Er war so widersprüchlich. Er sagt, er habe sich zum Positiven geändert, drohte ihr aber sie umzubringen, sollte sie vor ihm flüchten oder ihn angreifen.

Panisch versuchte Selena an ihm vorbeizuschauen, aber sie sah nur seine Schultern, seine Haare oder generell sein Gesicht. Wenn sie nach Hilfe schreien würde, würde sie vermutlich niemand hören und Norman würde es rechtzeitig verhindern. Es gab keinen Ausweg. Sie sollte sich ihrem Schicksal fügen.

Oder ihren persönlichen Fluch anwenden. Aber Selena hatte sich dann nicht unter Kontrolle. Und sie wollte nicht, dass wieder Menschen starben. Sie hatte riesige Angst.
 

Urplötzlich kam ein anderer Geruch dazu. Ein sehr gegensätzlicher Duft. Die Wildkatze wurde überdeckt. Es roch nach nassem Hund.

Nein, einem Wolf.

Warum sie diese Gerüche nur so genau einem Tier zuordnen konnte? Häufige Ferienarbeit im Zoo trug daran Schuld. Irgendwann wusste man einfach so etwas.

Norman knurrte gefährlich und ließ etwas von ihr ab.

Eine tiefe Stimme ertönte hinter Selenas Rücken, wenige Meter von ihnen entfernt. „Lass sie los, Missgeburt.“

„Verzieh dich. Du hast hier gar nichts zu sagen.“

Ein Knurren erklang, aber es kam nicht von Norman. Es raschelte und Norman ließ sie rasant los. Irgendetwas hatte ihn dazu veranlasst, sich von ihr zu entfernen. Oder besser irgendwer. Der Mann hinter ihr.

Selena stand wie angewurzelt da. Konnte sich keinen Zentimeter von Norman wegbewegen. Zu ihrem scheinbaren Retter flüchtete sie ebenfalls nicht. Wer wusste schon, ob er sie wirklich gerettet hatte oder schlimmeres mit ihr vor hatte?

Dafür kam er aber vor und nahm ihr somit ihre Entscheidung ab, zu wem ich gehen sollte. Als er in ihr Blickfeld trat erschrak Selena.

Er war viel größer als sie mit ihren einhundertfünfundsechzig Zentimetern, mit denen sie generell nicht die Größte war. Aber er war mit Sicherheit über einen Meter neunzig groß und somit, im Gegensatz zu ihr, ein Riese. Er trug eine Lederjacke und normale Jeans, die ihm locker auf der Hüfte hingen. Sein rabenschwarzes Haar ging ihm fast bis in den Nacken und in dem schwachen Licht der Straßenlaterne konnte sie erkennen, dass seine Haut leicht sonnengebräunt war.
 

Eine Hand lässig in der Hosentasche und die andere um etwas in seiner Jackentasche geschlossen stand er schräg vor ihr und sah Norman an. „Werden wir ja sehen, wer sich hier verzieht. Sie hat dir klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass du sie ihn Ruhe lassen sollst.“

Selena wurde mit einem Schlag klar, dass er mehr mitbekommen hatte, als nur die letzten Sekunden. Und er hatte die ganze Zeit nicht eingegriffen – also wieso gerade jetzt?

An seiner Stimmgebung konnte sie erkennen, dass er kein gebürtiger Amerikaner war. Selena würde auf irgendwas Hispanisches tippen. Sein Akzent klang jedenfalls danach.

Normans Augen funkelten indes hasserfüllt, dabei schien er den Mann nicht einmal zu kennen. „Das geht nur sie und mich etwas an.“

Der Mann schnaubte. „Das bezweifle ich.“ Er zog seine Hand aus der Jackentasche und ich sah nur etwas aufblitzen. Norman fauchte unmenschlich und zischte mir ein “Wir sehen uns wieder“ zu, bevor er urplötzlich verschwunden war. Wie von Zauberhand im Erdboden versunken.

Ungläubig blinzelte Selena und starrte auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Nichts. Der Boden schien unberührt. Norman war weg. Und mit ihm war der Gestank nach Berglöwe verschwunden.
 

Der Mann drehte sich zu ihr herum, und sie konnte endlich in sein Gesicht blicken. Seine Augen waren dunkelblau und eines davon wurde halb von schwarzen Haaren verdeckt. Er hatte hohe Wangenknochen und volle Lippen. Er war wirklich hübsch und Selena konnte sich schon denken, dass er, wenn er keine Frau, Verlobte oder Freundin zu Hause sitzen hatte, mit Sicherheit sich nicht vor weiblichen Schönheiten retten konnte. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihn angestarrt hatte und blinzelte. „Ähm, ja. Danke.“

Er nickte knapp. „Schon gut. Hat er Ihnen etwas getan?“

Selena schüttelte ihren Kopf. „Nein, aber er hatte es sicherlich vor.“

Er legte den Kopf leicht schräg, was sie irgendwie an einen Hund erinnerte. „Was macht Sie da so sicher?“

Sie straffte ihren Schultern und wollte nicht verletzlich wirken. Immerhin hatte sie diesen fürchterlichen Mann einmal geliebt – zum Glück war dies vorbei. „Er ist mein Exfreund.“

Darauf sagte er nichts sondern steckte das blinzende Ding weg und fuhr sich durch das Pony. Selena beobachtete ihn dabei genau, was ihm nicht entgangen zu sein schien. „Sie sollten nach Hause. Machen Sie sich keine Sorgen. So schnell wird er Ihnen nicht wieder auflauern.“
 

Ein knappes Nicken brachte sie zustande, doch dann bemerkte sie, dass er gehen wollte.

„Warten Sie!“, rief sie und er drehte sich wieder zu mir um. Ein fragender Ausdruck stand in seinem Gesicht. Merkwürdigerweise wirkten seine Augen nun heller. Das Blau schien nicht mehr fast schwarz sondern kobaltblau. Und als Selena noch einen Moment länger in seine Augen sah kam es ihr so vor, als würden sie sich weiter erhellen.

Mit einem kleinen Kopfschütteln beendete sie den Augenkontakt. Wahrscheinlich war sie zu erschöpft durch die ganze Aufregung und den harten Tag.

Dann musste Selena sich kurz sortieren. „Verraten Sie mir Ihren Namen?“

Er schien überrascht zu sein. Aber er antwortete schließlich doch. „Alessio.“

Sie lächelte. „Dann danke ich Ihnen sehr, Alessio.“

Seine Augen suchten ihr Gesicht ab. Wonach wusste sie nicht genau. Danach nickte er. „Gern geschehen. Wie ist Ihr Name?“

„Ich heiße Selena.“

„Selena…“ Als er ihren Namen aussprach spürte sie irgendetwas tief in ihr. Aber sie konnte es einfach nicht deuten. Und wie er sie anschließend ansah – es war merkwürdig und traumhaft zugleich. Durch seinen Akzent und seine besonders schöne Stimme wirkte ihr Name wie ein lieblicher Zauber.

Dann schaute er Selena direkt in die Augen und seine Augen waren wieder deutlich heller. In sanftes aquamarinblau blickte sie jetzt.

„Ich muss jetzt los. Vielleicht sieht man sich einmal wieder“, sagte er und Selena bedauerte sofort, dass er schon gehen musste.

„Dann werde ich Sie nicht weiter aufhalten wollen.“

„Das haben Sie nicht. In keinster Weise.“ Alessio nahm ihre rechte Hand und führte sie zu seinem Mund. Sanft legte er seine Lippen auf ihren Handrücken und ließ ihre Hand dann wieder sinken.

Ungläubig schaute Selena ihn an. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.“

Er wirkte zwar nicht so, aber sie glaubte ihn. In seinen Augen stand die ganze Zeit pure Ehrlichkeit. Ein Lächeln schlich sich auf Selenas Lippen. „Ebenfalls.“
 

Dann ließ er ihre Hand los. „Ich hoffe wirklich, wir sehen uns eines Tages wieder“, flüsterte er und drehte sich um. Nach einigen Sekunden wollte Selena ihm nachsehen, aber er war bereits verschwunden.

Genauso spurlos wie vor ihm Norman war er einfach weg. Und mit ihm der Geruch nach Wolf.

Allein stand Selena nun in der dunklen Gasse und schloss die Augen. Sie musste erst einmal alles, was gerade passiert war verarbeiten, bevor sie die letzten Schritte zu ihrer Wohnung gehen konnte.

Ohne es zu bemerken streichelte sie über ihren Handrücken – da, wo kurz davor die weichen Lippen dieses unglaublich schönen Mannes, namens Alessio, lagen.

Ein leises Seufzen entglitt ihr. Dann straffte Selena ihre Schultern und verließ die Gasse, ohne zu wissen, dass sie noch immer beobachtet wurde.
 

Was Selena jedoch nicht wusste, war, dass sie Alessio schon bald wiedertreffen würde. Und genauso wie Alessio würde auch Norman erneut in ihr Leben treten.

Das Schicksal ließ sie einfach nicht im Stich.

Aber nur einer der beiden würde die Nacht über in ihren Gedanken und in ihren Träumen sein. Denn unglaublicherweise träumte sie einmal nicht von Kampf zwischen Berglöwe und Wolf, wobei letzterer starb.

Sondern von ihm.
 


 

To be continued.

Hijacking

Entführung
 


 


 

„Die Liebe zu verlieren ist der einzige Verlust, den wir in diesem Leben fürchten müssen.“

- unbekannt
 


 


 

24. April, 1. Jahr
 


 

Eine Woche nach ihrer Begegnung mit Alessio hatten Tony und Selena den Tag frei. Dieser Mann und diese Begegnung waren ihr des Öfteren im Kopf herumgespukt. Manchmal bemerkte sie selbst nicht, dass sie zu ihm abdriftete.

So wie jetzt. Ohne es zu wissen hielt sie Ausschau nach ihm, was aber dafür Tony nicht entgangen zu sein schien.

„Wen oder was suchst du, Seli?“

Selena sah sofort zu ihr und dann zu Dustin, als er an ihrer Hand zog. „Ja, wen suchst du, Seli?“ Mit seinen hellgrünen Augen blickte er sie neugierig an, so wie es nur ein Kind konnte, und Selena musste lächeln.

„Schau nach vorn, Dustin. Nicht das du stürzt“, ermahnte Tony ihren vierjährigen Sohn.

„Ja, Mami.“

Aber Tonys Blick blieb weiter auf ihr liegen. „Also? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“ Eigentlich war es sehr absurd von ihr, nach ihm Ausschau zu halten oder immerzu ihre Gedanken an ihn zu verschwenden. Im Endeffekt würde sie ihn sowieso nicht wiedersehen. Und wenn doch, so gut wie er aussah, wäre er sicher schon zehn Mal verheiratet, als sich für sie zu interessieren. Falls er es nicht schon war.

Tonys Blick war aufmerksam auf Selena gerichtet. Als würde sie versuchen wollen in ihren Kopf zu schauen und ihre Gedanken zu lesen.

Dustin blieb plötzlich stehen. „Mami, schau mal!“ Er ließ Selenas Hand los und zeigte mit seinen kleinen Fingern auf ein Schaufenster eines Plüschtiergeschäftes. Genauer gesagt, zeigte er auf einen kleinen Wolf aus Plüsch.

Die scheinen mich ja zu verfolgen, dachte Selena grimmig.

„Wartest du kurz hier?“, wandte sich Tony fragend an ihre Freundin. „Dustin und ich gehen da mal kurz rein.“

„Juchu!“, kam es von ihm und seine Mutter lächelte.

Dann gingen sie hinein und Selena blieb allein vor dem Laden stehen und wartete.
 

Sie waren mit Tonys Auto etwas raus aus dem belebten Chicago gefahren und befanden sich in einer, trotzdem noch großen Stadt, namens Schaumburg, deren Highway Richtung Chicago führte. Jedoch war es hier ruhiger als im Zentrum der City.

Hier gab es, unter anderem, die Woodfield Mall, die über zweihundertfünfundachtzig Läden besaß, die jährlich von fast dreißig Millionen Menschen besucht wurden. Sie galt als eines der weltweit größten Einkaufszentren. Man kann per Auto, aber auch genauso mit öffentlichen Verkehrsmitteln die fast fünfzig Kilometer vom Stadtzentrum Chicagos hierher zurücklegen.

Die Mehrwertsteuereinnahmen, die aus diesem und dem Einkaufszentrum Gurnee Mills im Vorort Gurnee kamen, begünstigten nicht die Stadt Chicago, sondern verblieben in den vergleichsweise wohlhabenden Vororten.
 

Es war früher Nachmittag und milde achtzehn Grad Celsius an einem frühsommerlichen Tag Ende Aprils. Man merkte jeden Tag ein bisschen mehr, dass es mit großen Schritten auf den Sommer zuging.

Viele Anwohner nutzten das schöne Wetter und ihren freien Samstag aus und waren unterwegs. So wie die drei.

Selena blickte hinauf zur Sonne und schloss die Augen. Ihre Strahlen waren angenehm warm und sie hatte sofort Lust auf mehr. Heimweh nach der Wärme in Griechenland überfiel sie plötzlich.
 

Seufzend wendete Selena ihren Blick wieder gen Boden und fing an, andere Leute zu beobachten, was sie meistens tat, wenn sie wartete.

Darin war sie auch außerordentlich gut und mit Tony zusammen interpretieren die Freundinnen liebend gern Situationen anderer Leute. Meistens jedoch falsch.

Zuerst sah Selena ein altes Ehepaar, aus einem Teeladen kommen. Die Frau redete auf ihren Mann ein und schien, schon fast hysterisch, ihn zu schimpfen. Er trug ihre Handtasche und ließ alles stumm über sich ergehen.

„Ehekrach beim Teekauf…“, murmelte Selena. „Würde bestimmt der nächste Kassenschlager in den Kinos werden.“

Ein Junge auf einem Skateboard rauschte an ihnen vorbei und die Frau begann sofort über diesen zu meckern. Da er aber Kopfhörer trug, bekam er davon rein gar nichts mit und bog um eine Ecke.

„Genauso langweilig.“
 

Dann sah Selena ein junges Pärchen. Beide waren nicht älter als Mitte Zwanzig. Er trug lässige Desingerjeans und ein schwarzes Shirt, was seine Armmuskeln betonte. Er wirkte schon von hier hinten hübsch und äußert sexy. Da sie sich aber auf der anderen Straßenseite befanden konnte sie nur dunkelbraune Haare und einen leicht gebräunten Teint ausmachen.

Seine Freundin war ebenfalls eine natürliche Schönheit. Mit schwarzem Haar, dunkler Haut und einer fröhlichen Ausstrahlung bezauberte sie sicher viele. So wie ihren Freund in diesem Moment.

Sie gingen Hand in Hand nebeneinander her und die junge Frau strahlte eine unglaubliche, innere Ruhe aus, so etwas gab es fast gar nicht.

Außer… „…sie ist schwanger.“ Auch jetzt erst fiel Selena ihr beachtlicherBauch auf, den man eigentlich nicht übersehen konnte. Mit Sicherheit war sie schon im siebten oder achten Monat.
 

„Seli, schau mal!“ Durch Dustin riss sie sich von den beiden los und drehte sich zu ihm um. Er streckte ihr seine Hände entgegen, in denen er den kleinen Plüschwolf hielt.

„Wow, der ist ja toll.“

Tony stand lächelnd hinter ihm und streichelte ihm über den Kopf. „Aber mehr gibt’s heute nicht.“

Dustin nickte brav und nahm wieder Selenas Hand. Diese lächelte ihn an und sah dann wieder zu dem jungen Paar hinüber.

Die Frau hatte eine ihrer Hände auf ihren Bauch gelegt und reckte sich etwas, um ihren Freund zu küssen.

Selena merkte erst, dass sie geseufzt hatte, als Tony sie verwundert ansah. „Schau doch einfach mal nach da drüben.“

Schweigend sah Tony ebenfalls hin, aber nur sehr kurz. „Wir sollten weiter.“ Etwas, was Selena nicht zuordnen konnte, schwang in ihrer Stimme mit. Schmerz? Enttäuschung? Wut?

Selena vergaß öfters, dass sie nichts über Dustins Vater wusste. Sicherlich hatte Tony ihn geliebt – nur was war dann passiert? Wahrscheinlich nichts positives, wenn sie schon den Anblick eines jungen Paares nicht ertragen konnte.
 

Trotzdem schielte Selena erneut zu dem jungen Paar hinüber und bemerkte, dass sie sich getrennt hatten. Der Mann ging mit raschen Schritten in einen Laden wenige hundert Meter weiter und seine schwangere Freundin stand immer noch vor dem vorherigen Laden und besah sich die Auslagen, die aus Babymode bestanden.

„Na los jetzt.“ Dustin zog an Selenas Hand und hüpfte schon vor Ungeduld. Er sah wirklich süß aus und brachte sie, wie fast immer, zum Lächeln.

Sie kamen aber nur wenige Meter weit, da die Ungeduld in Person doch noch einmal stoppen musste, weil er etwas sah, an dem er einfach nie vorbeikam. „Eis!“

„Ich geb dir Geld für ein Eis“, sagte Selena zu ihm und „Juchu“-schreiend umarmte Dustin ihre Beine. „Danke, Tante Seli.“

„Ach, schon gut.“ Selena gab ihm das Geld und er rannte zum Eiswagen. Er musste sich auf Zehenspitzen stellen, um überhaupt von oben gesehen zu werden.

Tony beobachtete ihren Sohn lächelnd und Selena zunächst auch. Bis sie es nicht mehr aushielt und erneut zu der Frau hinüber sah.
 

Männer in schwarzen Anzügen waren neben ihr aufgetaucht und schienen sie zu bedrängen. Sie hielten sie an den Armen fest und ließen nicht locker, obwohl sie sich versuchte zu wehren. Sie wurde bedroht!

Sie versuchte sich laut bemerkbar zu machen, aber einer der Männer hielt ihren Mund zu. Trotzdem hatte Selena es gehört und auch Tony schien es nicht entgangen zu sein. „Was geht denn da ab?“

Selena sah etwas aufblitzen, was einer der Männer an den Hals der Frau hielt und erstarrte. „Sie haben ein Messer.“

Tony lief schnell zu Dustin, um ihn zu beschützen, falls noch mehr auftauchen sollten oder sie auf die Idee kamen, sie ebenfalls zu bedrohen. Gleichzeitig zog sie ihr Handy aus der Tasche und Selena konnte hören, wie sie die Polizei anrief.

Als Selena sich wieder zu der Frau umdrehte, waren sie und die Männer verschwunden.

„Scheiße. Tony! Sie wurde entführt!“

Erschrocken drehte diese den Kopf in Selenas Richtung, nickte und teilte die neue Erkenntnis sofort der Polizei mit. In Stresssituationen behielt sie immer einen klaren Kopf, was Selena überhaupt nicht konnte. Deswegen stand diese nur fassungslos da.

Dustin drückte sich an seine Mutter. „Was ist los?“ Er begriff die Situation zwar nicht – wie sollte er auch mit seinen vier Jahren! – aber er spürte, dass etwas Schlimmes geschehen war.

Seine Mutter streichelte ihm beruhigend durchs Haar und nickte Selena zu, als sie ihr ein Handzeichen dafür gab, das sie den Freund dieser Frau suchen wollte. Er musste Bescheid wissen und zwar gleich.
 

Selena rannte schnell über die Straße und zu dem Laden, in dem er vor einigen Minuten verschwunden war. Doch bevor sie reingehen konnte, kam er ihr entgegen gestürzt. Grünbraune Augen streiften kurz die von Selena.

„Ihre Freundin – “, begann sie, aber sein Blick wurde nur alarmierter und er drängte sich schnell an ihr vorbei und rannte vor zu dem Laden.

Das einzige, was Selena sofort auffiel, war, dass es höllisch nach Wolf stank.

Wie angewurzelt stand sie da und blickte ihm nach. Sie war unfähig zu handeln. Seinen wütenden und gleichzeitig verzweifelten Schrei konnte sie vernehmen und dann war er verschwunden. Spurlos.

Selena konnte noch immer nicht richtig fassen, was passiert war. Sie war Zeugin einer Entführung geworden und das einzige was sie tat war, geschockt in der Gegend rumzustehen.

Sie betete im Stillen darum, dass alles gut werden würde. Doch sie wusste nicht, was dann geschah.
 


 


 

In den vielen großen und kleinen Vororten von Chicago wohnte meist nur die obere Mittelschicht. Die, die es sich leisten konnten ein Haus zu bauen. Paare mit Kindern, reiche Jungverdiener oder Rentner – die Altersklassen waren bunt gemischt. Was man nicht sah waren Bettler, Heimatlose oder verarmte Familien.

Einer der nördlichen Vororte trug den Namen Lake Vista. Er war zwar noch kein richtiger Vorort, da an vielen Stellen noch gebaut wurde, aber einige Häuser und Betriebe standen schon. Der Antrag auf Dorfgründung wurde von den Anwohnern schon gestellt und musste nur noch von der Leitung Chicagos angenommen werden. Aber niemand machte sich groß Gedanken darüber. Die Menschen bauten fleißig weiter ihre Wohnhäuser und Geschäfte.

Der Name dieses Fleckchen Erde war einfach zu erklären. Man hatte von der Ostseite aus einen direkten Blick auf den See – den Lake Michigan. Es war eine ruhige, idyllische Gegend, wo man friedlich leben konnte.

Jedoch passte etwas gar nicht in das Gesamtbild des kleinen Städtchens. Es war ein Waldstück, ein sehr großes Waldstück. Es wirkte fehl am Platz und schien angelegt. Aber die Menschen machten sich nichts daraus. Es existierte für sie einfach. Und mehr nicht.
 

Aber für andere war es die Heimat. Die Lebensgrundlage.

Für Menschen, die nicht einfach nur Menschen waren. Dieser Ausdruck ist genau genommen falsch für sie.

Diese Wesen hatten das eigentliche Sagen über diese kleine Vorstadt und lebten in dem Waldstück verborgen und geschützt in ihrer Behausung.

Der Wald war groß und tief. Niemand drang wirklich in das Innere ein, außer denen, die den Wald ihr Zuhause nannten. Trotzdem verlief ein Teil des Waldes weiter am See und Bäche sowie kleine Flüsse passierten ihn. Viele kleine Tiere und Vögel wohnten dort. Wenige Rehe und Hirsche besiedelten die Lichtungen. Alles war ein rein klassischer Wald.

Nur eine Sache passte nicht so recht in den Wald. Ein kleines, altes, verlassenes Haus stand auf einer kleinen Lichtung, umgeben von dichten Bäumen. Das Holz war morsch und niemand bewohnte es. Aber dieses Haus hatte besondere Bedeutung. Und es war der Weg zu einem Versteck. Einem unterirdischen Versteck.
 


 

In diesem Versteck war es ruhig und trotz dessen herrschte helle Aufregung. Vor ihrer Nase wurde eine ihrer Frauen entführt. Vier der Krieger waren ausgeschwärmt, um sie zu suchen. Und ihr Ehemann ebenfalls.

Nun waren nur noch drei Leute im Versteck. Diese befanden sich im Überwachungsraum.

Ein Raum, der von Technik nur so strotzte. Dutzende Bildschirme, die an Gerätschaften verkabelt waren standen dort und alle wurden mit einer Tastatur bedient, die sich in einem Tisch, der sich in der Mitte des Raumes befand, eingelassen war. Jedoch konnte man die Bildschirme, Computer und andere Gerätschaften auch per Sprachbefehl betätigen, wofür Headsets verstreut vor den Bildschirmen lagen. Auf jedem Schirm flimmerte etwas anderes. Überwachungskameras, mit verschiedenen Blicken auf das Versteck, Satellitenbilder und diverse Internetseiten der Polizei und anderen Dingen.

Ein Mann saß vor einem dieser Bildschirme. Er hatte ein Headset auf und redete leise mit jemandem. Sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar glänzte im Licht und seine dunkelbraunen Augen waren gebannt auf die Satellitenbilder gerichtet.

Eine Frau mit dunklerer Haut stand bei ihm. Mit den Fingern spielte sie in ihrem schwarzen, bobähnlichen, kurzen Haar. Der Blick aus ihren braunen Augen wirkte besorgt.

Am Tisch gelehnt stand ein zweiter Mann. Seine dunkelblauen, fast schwarzen Augen, waren auf den anderen Mann gerichtet und er biss sich auf die Lippen. Sein Name war Alessio.
 

Der Mann an der Konsole drehte sich zu ihm herum. „Sie haben noch immer nichts gefunden.“

„Das gibt’s doch nicht. Sie ist schon seit Stunden weg.“ Und wenn man ihrem Mann zu glauben schenken darf war es früher Nachmittag gewesen, als sie entführt wurde. Mittlerweile war die Dämmerung schon eingebrochen und der Mond schien hell.

Die Frau meldete sich zu Wort. „Alessio, was wenn wir sie nicht rechtzeitig finden?“ Besorgnis schwang in jedem Wort mit.

Daran wollte er nicht denken. Es würde Jackson kaputt machen, wenn seine Frau und sein ungeborener Sohn nicht gefunden werden oder sie sogar getötet werden würden. Als der Chef dieser Truppe wollte er nicht an die Konsequenzen denken. Alles würde durcheinander geraten.

„Sie finden sie, Rahel. Und zwar lebend.“ Er schnappte sich einen der Drehstühle und setzte sich neben den anderen Mann. „Gibt es schon Neuigkeiten, Ashton?“

Der Mann, dessen Abstammung türkisch war, schüttelte den Kopf. „Brandon hat sich zuletzt gemeldet, ohne Erfolg. Die anderen suchen ebenfalls noch.“

„Da stecken mit Sicherheit die Berglöwen dahinter. Sie wollen uns schwächen“, vermutete Alessio mit wütender, verachtender Stimme und Rahel neben ihm keuchte entsetzt auf.

„Wenn du Recht hast, dann wird sie tot sein, ehe wir sie finden.“

„Nein, wir werden sie lebend finden. Das darf einfach nicht sein.“

Doch sie suchten schon seit Stunden ohne Erfolg und bisher hatte niemand nur eine einzige Spur gefunden. Nicht einmal Jackson, der sich, während der Entführung, nur wenige Meter entfernt befunden und wenige Minuten später die Verfolgung aufgenommen hatte.
 

Alessio konnte sich nicht komplett auf die Suche ihres vermissten Mitglieds konzentrieren. Eine Frau, die er vor genau einer Woche kennengelernt hatte, wollte ihm einfach nicht mehr aus den Kopf gehen. Ihr Name war Selena. Alessio hatte sie vor ihrem, wie sich rausstellte, Exfreund gerettet, der sie zwingen wollte, zu sich zurück zu kommen.

Dieser Exfreund hatte sich als Berglöwensoldat herausgestellt. Alessio hatte nur wenige Stunden später eigenhändig nachgeforscht und war darauf gestoßen. Dass er ein Berglöwe war, hatte er natürlich schon früher gerochen. Der penetrante Gestank konnte nicht ignoriert werden.

Es brachte ihn ins Grübeln, was ein Berglöwe von einer normalen Frau noch wollte.

Falls sie normal war, schoss es ihm durch den Kopf.

Das Tier in ihm wollte zu ihr, nur er konnte es nicht rauslassen. Er hatte Verantwortung zu tragen. Und zum anderen wollte er es nicht. Er wollte nicht an eine Frau gebunden sein. Er hatte vor vielen Jahren gesehen, wohin dies führt.

Seitdem hatte er nur seinen Spaß mit Frauen und das auch nur, wenn er es bitter nötig hatte.
 

Jemand meldete sich, was Alessio durch das leise Knacken in Ashtons Kopfhörern vernehmen konnte und setzte unter seine Gedanken einen Schlussstrich. Zumindest für die nächsten Stunden.

Durch sein stark ausgeprägtes Gehör, konnte er jedes Wort verstehen.

„Ash? Ich hab was gefunden.“

„Sag, wo du bist, Brandon.“

Angesprochener gab die Beschreibung der Umgebung durch während Ashton einen Knopf betätigte und den Sprachbefehl dazu eingab, von dem, was er vernahm. Kurze Zeit später flimmerte auf einem der Bildschirme etwas auf. Es war ein Gebäude und davor stand ein Mann.

„Was ist das, Brandon?“

Er sprach ebenfalls in ein Headset. „Tja das weiß ich selbst noch nicht. Aber ich hab wenige Meter weiter vorn Yaelles Geruch aufgeschnappt und er endet hier vor diesem Eingang.“

„Wir verständigen die anderen. Warte dort solange.“
 

Alle waren zur erreichen außer einer. „Matthew reagiert nicht, Alessio.“

„Dann wird er sich sicher gleich melden.“ Immerhin kannte Alessio seinen besten Freund sehr genau und wusste am besten, wie er tickte.

Rahel verfolgte indes auf dem Bildschirm, wie die anderen Männer sich vor dem Gebäude versammelten und atmete erleichtert auf, als sie ihren Mann Kenneth ebenfalls entdeckte. Unverletzt und in einem Stück. Dabei sah sie, dass einer der Männer sofort reinstürmen wollte und ein anderer alles daran setzte ihn festzuhalten. „Jack wird nicht lange auf ihn warten. Und Brandon kann ihn nicht ewig aufhalten“

Doch es knackte wieder und eine andere Stimme meldete sich zu Wort. „Ich hab sie, Leute. Aber es wird euch nicht gefallen.“

Das war, wie erwartet, Matthew und Alessio ahnte das Schlimmste.
 


 

To be continued.

Say goodbye

Abschied nehmen
 


 


 

„Ein zerbrochener Mensch ist niemals ein Mensch, der in der Mitte steht. Er steht am Anfang oder am Ende.“

- Rainer Haak
 


 


 

Matthews Atem fuhr erschrocken auf. „Das hier ist richtig krass unmenschlich. Das solltest du dir ansehen, Alessio.“

Ashton versuchte schon über den Satelliten Matthews Standpunkt auszumachen. Er fand ihn zwar, aber man konnte rein gar nichts erkennen. Reine Dunkelheit wurde angezeigt.

„Matt, wir können nichts sehen.“

„Hier ist es auch stockdunkel und das Stromaggregat, was ich gefunden hab, ist kaputt. Du musst wirklich herkommen, Al. Aber noch bevor ihr Jack und dem Rest bescheid sagt.“

Alessio nickte Ashton zu, worauf dieser sagte: „Er ist schon auf dem Weg. Ich behalte dich und die anderen im Blick.“

„Geht klar.“ Damit wurde die sprachliche Verbindung erst einmal unterbrochen.

„Ashton, du bleibst mit Rahel hier. Ich schau mir das ganze an und gebe dir dann weitere Anweisungen. Sag den anderen in so fünfzehn bis zwanzig Minuten, sie sollen das Haus erkunden. Und Rahel, du bleibst hier und vor allem bleibst du ruhig.“

„Null problemo. Du bist der Boss.“

Rahel aber nickte nur zaghaft. Man sah ihr die Sorge um ihre Freundin sehr deutlich an.

Und, obwohl Alessio sonst Berührungen scheute wie kein Zweiter, ging er zu ihr und zog sie an seine Brust. Sie brauchte diese Nähe. Und er war nun einmal ihr Anführer. Der Anführer des Rudels. Genau deswegen musste er sich um alle kümmern. Rahel gehörte, trotz ihrer Menschlichkeit, voll und ganz dazu.

Sie ließ ihn dann los und lächelte leicht. „Danke.“

Alessio nickte knapp und machte sich auf den Weg.
 

Er verließ den Raum und schritt an den Wohnungen der Krieger vorbei, immer weiter hinauf.

Dann kam er an einer Tür an, die mit Schlössern und Ketten nur so übersät war. Er löste alles nach und nach und ging durch sie hindurch. Ashton würde im nächsten Moment wieder für die Verriegelung sorgen. So waren sie optimal geschützt.

Eine Art Gang ging von dort aus weiter, steil nach oben. Der wesentliche Unterschied zu vorher war jedoch, dass Erde den Boden und die Wände bildete, letztere wurden mit Holzbalken als Stützen gehalten.

Alessio ließ auch diesen Gang bald hinter sich und kam zu einer Luke, die nach oben führte.

Nachdem er durch diese geschlüpft war, kam er in einen kahlen Keller. Der befand sich genau unter der alten, morschen Holzhütte und hier standen einige Schränke. In jedem davon war Kleidung verstaut. Wenige Schuhe, ein paar Oberteile, aber am meisten Hosen und Shorts. Unterwäsche konnte man gar nicht finden.

Alessio ging zu einem von ihnen und zog seine Jacke aus, die er in eine der Fächer legte. Shirt, Hose und Schuhe folgten. Unterwäsche trug er nicht.
 

Er schloss die Augen und dachte an sein anderes Wesen. Sein Tier. Seine andere Erscheinung, die aber trotzdem zu ihm gehörte. Öffnete den Käfig und ließ den Wolf von den Ketten.

Er dachte an weite Wiesen und Felder, wo man kilometerweit laufen konnte. Einfach nur durch die Gegend jagen. Oder auch mal ein Tier erlegen. Das Blut an seiner Zunge schmecken. Den Wind in seinem Fell spüren. Seine Artgenossen durch Heulen zu sich rufen.

Plötzlich wurde ihm ganz kalt, doch dann stieg eine brennende Hitze in ihm auf. Krachend schienen seine Knochen sich zu verschieben und an einer neuen Stelle wieder zusammenzusetzen. Zu etwas neuem. Er stürzte zu Boden – Zweifüßler zu Vierfüßler wobei man nur noch halb so groß war. Aus seiner Haut schoss schwarzes Fell.

Und die Verwandlung war vollendet.

Nun stand statt des nackten Mannes ein schwarzer Wolf dort. Für Alessio schien die Verwandlung anders, als das es ein außenstehender Betrachter sah.

Sie würden von einem grellen Licht zunächst geblendet werden und dann könnten sie beobachten, wie die Person, die sich verwandelte, in tausend glitzernde Teilchen zersetze, nur um kurz darauf sich zu etwas neuem zusammenzusetzen.
 

Er schüttelte sich und trottete den abgehenden Gang hinauf. Dort gab es einen Knopf, den er mit seiner Schnauze betätigte und sich eine Wand beiseite schob.

Schnell lief er durch die, nun geöffnete, Wand, die sich gleich hinter ihm wieder schloss. Alles sah aus, wie vorher. Eine alte Blockhütte. Und nichts weiter.

Da Alessio gerade als einziger aus dem Rudel verwandelt war, nahm er nicht, wie sonst immer, die Gedanken der Anderen wahr. Als Wölfe konnten sie zwar nicht sprechen, aber mit Gesten und vor allem über ihre Gedanken konnten sie sich trotzdem verständigen.

Er verließ die Hütte und schnüffelte auf dem Boden herum. Er suchte diesen einen, bestimmten Geruch, dem er folgen musste. Dann hatte er ihn. Die ersten paar Schritte schnüffelte er weiter, aber er hatte den richtigen. Sofort rannte er los, er musste sich beeilen.

Er rannte raus aus dem Wald und direkt in schier endlose Kornfelder hinein. Nach einigen Kilometern, und immer noch in Kornfeldern, blieb er kurz stehen und heulte in die Nacht hinein. Matthew sollte wissen, dass er fast angekommen war.

Denn der Geruch wurde stärker.
 

Schließlich ließ er die Felder hinter sich und kam in eine alte, verfallene Stadtsiedlung. Sie sah aus, wie ein Ghetto und wahrscheinlich war sie das einmal gewesen.

Alessio verfolgte immer weiter Matthews Spur.

Bis er schließlich ankam. In einer verwickelten, kleinen Gasse hockte Matthew. An einem Ort, an dem Alessio selbst niemals nachgesehen hätte, wäre er nicht dem Geruch gefolgt.

Matthew war in menschlicher Gestalt und hatte eine Shorts angezogen. Seine Bauchmuskeln schienen zu tanzen, als er sich zu Alessio drehte und sich erhob. Der Alpha sah sogar aus dieser Entfernung die indianischen Glaubenssprüche auf Matts linken Oberschenkel, die ihn eindeutig als Wolf identifizierten.

Wenn man übersetzte, dann stand dort: Für die Göttinnen Diana, Holda und Hel, der Artemis, der Hekate und der Nehalennia. Kämpfen. Leben. Siegen. Der Mond ist auf unserer Seite. Und mit ihm seine Macht.

Diese Sprüche hatten damals die ersten ihrer Art aufgeschrieben und seitdem galten sie als heilig. Jeder Wolf, egal ob Krieger oder Zivilist, musste sie auf seinem Körper tragen. Egal wo.

Jetzt erst fiel Alessio die Gestalt auf, die zu Matthews Füßen lag.

Er verwandelte sich wieder in seine menschliche Gestalt zurück, während er auf Matthew zuging.

Seine plötzliche Nacktheit störte ihn nicht. Er und seine Artgenossen waren es gewöhnt, ohne Kleidung durch die Gegend zu laufen. Schon von Geburt an kannten sie es nicht anders. Außer Menschen waren in der Nähe. Aber dies war nicht so. Ihre wölfische Gestalt sowie ihre Verwandlung war nun einmal ein Teil von ihnen.

Jedoch mussten sie im Quartier auf die wenigen Frauen Rücksicht nehmen. Denn die würden nicht unbedingt alle Männer hüllenlos sehen wollen, sondern nur ihren Partner.
 

Doch als er bei seinem Freund stand hielt dieser ihm eine Shorts hin. Woher er diese so plötzlich hatte wusste Alessio nicht.

„Die hab ich auf die Schnelle besorgt für dich“, antwortete er, als könnte er Gedanken lesen. Und besorgt konnte bei Matthew so gut wie alles heißen.

Generell war Matthew Coleman ein ruhiger Gefährte und nicht nur dadurch sehr geheimnisvoll. Sein schwarzes Haar besaß einen blauen Stich und seine Augen waren arktischblau. Durch seine helle Haut kam das Blau besonders stark zum Ausdruck. Woher dieses natürliche Blau jedoch kam, wusste selbst Alessio nicht so Recht. Und das obwohl Matthew einer seiner engsten Freunde war.

Er wusste, dass er irische Vorfahren hatte. Vielleicht kam daher dieser farbliche Zauber – Irland hatte immerhin eine andere Magie als sonstige Länder. Doch gebürtig kam Matthew aus Los Angeles und von dort war er direkt nach Chicago gekommen.

Seine irischen Vorfahren machten sich auch in seiner Liebe zur Musik bemerkbar. Matthews Leidenschaft brachte er in mehreren Instrumenten zum Ausdruck und mit seinem eigenen Jazzclub in der Innenstadt von Lake Vista konnte er diese öffentlich machen. Dieser Club war auch gleichzeitig ein geheimer Treff- und Vergnügungspunkt des Rudels.
 

Alessio nahm die kurze Hose entgegen und streifte sie sich über.

Dann endlich konnte er sich hinhocken und betrachtete die Gestalt am Boden. Oder wohl eher die Leiche.

Er hielt den Atem an. Es handelte sich wahrlich um Yaelle, aber sie so zu sehen jagte selbst ihm einen Schrecken ein. Es war einfach nur inhuman, was man mit ihr getan hatte.

Ihr wurden die Augen ausgestochen und der Brustkorb zerfetzt. Ihr Bauch wurde gewaltsam aufgeschnitten und ihr ungeborener Sohn getötet. Ihre wunderschönen, schwarzen Haare wurden abgeschnitten und bei genauerem Betrachten sah Alessio, dass ihr ein Finger fehlte und er entdeckte die Fesselspuren an den Gelenken. Blaue Flecken übersäten ihren zarten Körper.

Der Alpha fasste ihr an die zerfurchte Wange. „Sie hätte nicht so enden sollen.“

Matthew hockte sich neben ihn. „Es tut mir so leid für Jack.“

Alessio nahm Yaelles leblosen Körper hoch. Sie hatte eine anständige Beerdigung verdient. Mit ihrem aufgeweckten, fröhlichen Charakter hatte sie nicht nur Jackson bezaubert. Sie hat das Rudel in Streitsituationen stets zusammengehalten. Sie würde fehlen.

Und das schmerzte selbst Alessio tief im Innersten. Da, wo seine eigenen Verluste lagen. Er wusste, wie Jackson sich fühlen würde. Und er tat ihm leid.

„Sag Ashton, er soll die anderen ins Quartier rufen. Wir bringen sie mit.“

Matthew tat, was ihm befohlen wurde und dann machten sie sich auf den Weg zurück nach Lake Vista. Durch die tiefschwarze Nacht. Mit einer Leiche.

Und tief in Alessios Innersten wuchs die Frage, was gewesen wäre, wenn er Selena so in seinen Armen halten müsste.
 


 


 

25. April, 1. Jahr
 


 

Am nächsten Abend war ihre Beerdigung. Diese wurde auf traditionelle Weise der Wölfe vollzogen. Für sie war eine normale Beerdigung nicht würdig genug. Immerhin war sie schon einige Jahre in ihr Geheimnis eingeweiht und hatte ihr Leben mit ihrem Gefährten verbracht.

Sie war eine dieser Frauen gewesen. Die Frauen, die für die Gestaltenwandler bestimmt waren. Und die sie als einziges überleben würden.

Gleichzeitig war Yaelle die einzige gewesen, die für Jackson bestimmt gewesen war. Nun war sie tot. Und ihr Gefährte blieb trauernd zurück. Allein.

Sobald die Sonne untergegangen war, hatte Alessio zusammen mit Matthew und Kenneth alles vorbereitet. Jetzt mussten sie nur noch bis Mitternacht warten. Dann konnte es losgehen.
 


 

Als es soweit gekommen war, trat Alessio in die kalte Nachtluft. Er war, genauso wie ein großer Teil seiner Kameraden, verwandelt und als schwarzer Wolf war er fast gar nicht zu erkennen.

Die Bäume wogen sich leicht im Wind und der Mond war fast voll. In drei Tagen war es soweit. Alessio tauchte in die schwarze Umgebung, um sich herum, ein. Man sah nur noch seine leuchtenden Augen.

Er lief zu der Lichtung, in deren Mitte ein großer Haufen Holz angesammelt war. Es wirkte wie ein großer Altar und darauf lag eine samtige Decke aus Purpur. In den Traditionen und der Kultur der Gestaltenwandler war Purpur eine sehr wichtige Farbe. Sie zog sich durch dutzende von Bräuchen und besonders zu Beerdigungen bekam sie eine wichtige Bedeutung. Purpur war die Farbe der Mystik.

Kleine und größere Öllampen hatten sie in die Äste der Bäume rings um die Lichtung gehangen, damit es noch ein wenig mehr Licht gab als nur den Mond.

Alessio erblickte dann die anderen. Kenneth, Matthew, Damian und Ashton waren ebenfalls verwandelt und hatten ihren Platz am Lichtungsrand eingenommen. Er trottete jetzt ebenfalls dort hin und setzte sich.
 

Dann wusste er, dass es Zeit war und begann zu heulen. Die anderen vier stimmten mit ein und so entstand eine Art Wolfsgesang.

Brandon und Jackson betraten die Lichtung. Auf einer Bahre, die mit purpurnem Stoff belegt war, trugen sie Yaelle, welche ebenfalls in selbigen Stoff eingewickelt war. Jackson, als Witwer, trug sie vorn und sein bester Freund Brandon hinten. Beide waren schwarz gekleidet, aber ihre Anzüge besaßen sehr viel Silber. Denn Silber war die Farbe des sich ständig ändernden Mondes und wie die Glaubenssprüche auf ihrer Haut gehörte sie unwiderruflich zu den Wölfen.

Nur die beiden waren in menschlicher Gestalt erschienen, da bei so einer traditionellen Beerdigung nur Familie teilnehmen durfte. Da aber Jackson nicht allein alles machen konnte, half ihm Brandon.

Der Heulgesang der Wölfe endete nicht. Auch nicht, als Jackson und Brandon Yaelle von der Bahre nahmen und sie auf den Altar aus Holz ablegten. Dann nahm Jackson das Tuch von ihrem Gesicht. Das Ritual konnte beginnen.
 

Als Alphawolf trat Alessio als erstes aus der Reihe. Sein Heulen verstummte dabei, doch die anderen machten weiter und ließen sich nicht raus bringen.

Er lief einen kleinen Bogen und schnappte eine magentafarbene Rose auf, von dem kleinen Strauß, der vorher dafür bereitgelegt wurde.

Mit der Rose im Maul – diese war natürlich ohne Dornen – trottete er zu dem Altar. Er senkte seinen Kopf vor Jackson und dann stellte er sich auf die Hinterbeine. Die Vorderpfoten legte er auf das Holz. Darauf öffnete er leicht das Maul und die Rose fiel heraus, auf Yaelles eingepackten Körper.

Ein kurzes, aber dafür klagendes Heulen, kam aus seiner Kehle. Danach wendete er sich ab und ging auf seinen Platz zurück, um dem nächstem die Möglichkeit des Abschiedes zu geben und selbst sich wieder in den Wolfsgesang einzugliedern.

Matthew, Ashton, Kenneth und Damian taten es ihm der Reihe nach gleich. Brandon schloss sich ihnen an, aber als Mensch legte er die Rose auf ihren Körper. Die Hände gefaltet schaute er einen Moment traurig auf Yaelle hinab, betete im Stillen und trat dann zurück.
 

Nun war nur noch Jackson übrig. Menschen durften ja nicht an diesem Ritual teilnehmen, deswegen fehlte Rahel. Sie musste vorher von ihrer Freundin Abschied nehmen und nun zu Hause warten.

Jackson trat zum Altar vor. Seine leeren Augen lagen auf dem Gesicht seiner toten Frau. Er war innerlich zerrissen. Und es fiel ihm schwer, endgültig Abschied zu nehmen.

Aber er musste es tun. Yaelle musste ihren Frieden finden. Erst dann konnte er in seiner Trauer ertrinken.

Jackson nahm die letzten beiden Rosen und legte sie sanft auf Yaelles Körper. Dann sprach er die Abschiedsworte, die bei den Wölfen vorgeschrieben waren: „Diana. Holda. Hel. Artemis. Hekate. Nehalennia.“ Nach jedem Namen riss er ein Rosenblütenblatt der silbern, angesprühten Blume ab und legte es auf verschiedene Stelle von Yaelles Gesicht.

„Sie sollen über dich wachen.“ Er fasste an ihre Wange und schloss die Augen. „Die Macht des Mondes hat nicht gereicht. Du hast den Kampf verloren.“ Seine Stimme brach schmerzhaft ab.

Erst als Brandon ihm die Hand auf die Schulter legte konnte er es beenden. „Von dir bleibt uns so viel zurück. Knhebek.
 

Nach diesem Wort verstummten die Wölfe. Es hieß in der Sprache ihrer indianischen Vorfahren. 'Ich liebe dich.' und beendete den Hauptteil der Zeremonie.

Der oder die Geliebte beendete es immer auf diese Weise.

Brandon reichte Jackson einen Kohleanzünder, der auch sofort in den Holzstapeln platziert wurde. Weitere folgten. Als genug platziert waren brannte Jackson sie schweren Herzens der Reihe nach an und der Altar flammte auf.

Denn das Ende der Zeremonie war die Verbrennung der Leiche. Genau dreißig Minuten würde dies nun dauern und exakt dann würde das Feuer erloschen werden.

Solange heulten Alessio und seine Kameraden wieder ihren Gesang und alle nahmen im stillen Abschied von Yaelle.

Jackson stand die ganze halbe Stunde wie erstarrt dar und blickte wie ein Toter auf das Feuer. Er hatte das ganze immer noch nicht realisiert. Ständig bildete er sich ein, dass seine Yaelle, seine Zukunft, seine Frau, jeden Moment hinter dem nächsten Baum hervorkam, ihn liebevoll anlächelte und ihm beipflichtete, dass das alles nur ein Traum sei.

Er konnte, nein, er wollte nicht realisieren, dass sie nie wieder kommen würde. Sondern das sie tot war.

In seinem Innersten zog sich etwas zusammen. Er würde sie rächen. Sie und ihren ungeborenen Sohn. Er würde ihren Mörder finden, und wenn es sein musste, würde er alle umbringen, die auch nur halbwegs verdächtig waren. Und halbwegs verdächtig waren sämtliche Berglöwen-Offiziere und ihre Untergebenen.

Das schwor er sich in den letzten Momenten, in denen das Feuer noch brannte. Er würde nicht eher ruhen und nicht eher vollkommen den Verstand verlieren und abrutschen ehe das nicht geschehen war. Im Stillen gab er seiner verstorbenen Frau dieses Versprechen.
 

Als Brandon ihn darauf hinwies, dass das Feuer gleich gelöscht werden musste nahm er zwei der Wassereimer, die ebenfalls bereit standen. Gemeinsam mit seinem Freund löschte er die Flammen gleich beim ersten Mal. Sofort verstummte auch der Wolfsgesang und es war Totenstille.

Nachdem weitere Minuten verstrichen und die Asche abgekühlt war, schaufelte Jackson die Asche auf ein purpurnes Tuch und trug es in die Mitte der Lichtung.

Mit einem letzten liebevollen Gebet an seine Frau schüttelte er das Tuch und ihre Asche flog davon, in alle vier Himmelsrichtungen. Dazu trug der leichte Wind bei.

Bei den Wölfen war dies der Glaube daran, dass durch die verstreute Asche eines verstorbenen Angehörigen, dass alte Leben in die Welt verteilt wurde, damit neues entstehen konnte.

Jackson ließ das Tuch sinken, senkte den Kopf und verließ als erstes die Lichtung.
 

Alessio wusste, was für eine schwere Zeit nun auf den Witwer zukommen würde. Er hatte es selbst so ähnlich schon erlebt. Nur war dies lange her und seine Wunden waren etwas verheilt.

Er wusste auch, was dieser plötzliche Verlust für Jackson, und vor allem für das ganze Rudel, bedeuten würde. Ablenkung von den wesentlichen Dingen.

Vielleicht war er egoistisch, wenn er nicht zuerst an Gefühle von Personen, in diesem Fall die Trauer, dachte, sondern zuerst an das Bekämpfen der Feinde, aber so war er nun mal. Nicht umsonst war er das Alphatier. Weil er in fast jeder Situation einen klaren Kopf behielt.

Er würde die Anderen motivieren und auf die Beine bringen – vor allem Jackson und Brandon. Das war seine Aufgabe.

Und er würde nicht scheitern, denn dies war er nicht gewohnt.
 

Aber er selbst durfte sich auch nicht ablenken lassen. Vor allem nicht von dieser schönen Frau namens Selena.

Sie war eine weitere Belastung. Und er würde sie vergessen.

Dass hoffte er zumindest.
 


 

To be continued.

Meet again

Wiedersehen
 


 


 

„Wer einen anderen Menschen kennenlernt, lernt zugleich sich selbst kennen.“

- östliche Weisheit
 


 

30. April, 1. Jahr
 


 

Mittlerweile war fast eine Woche vergangen, nachdem Selena Zeugin einer Entführung auf offener Straße geworden war. Die Polizei hatte bisher nichts Neues herausgefunden. Tony und Selena hatten ihre Aussagen noch am gleichen Tag machen müssen. Gebracht hatte es jedoch nichts. Die junge Frau war immer noch verschwunden.

Sie sah unruhig auf die Uhr am O’Hare International Airport. In ungefähr fünf Minuten würde sie ihre Schwester Helena wieder in die Arme schließen können. Sie wohnte mit ihren elf Jahren natürlich noch bei ihren Eltern, nur leider in New York. Aber da sie seit heute Frühlingsferien hatten, kam sie ihre große Schwester besuchen, für ein paar Tage.

Auch wenn sich das Verhältnis ihrer Eltern wieder etwas gebessert hatte, sie war froh endlich für ein paar Tage dort wegzukommen. Außerdem wollte sie, dass Selena ihr Chicago zeigte.
 

Schließlich kam eine Durchsage, dass das Flugzeug erfolgreich gelandet sei und nach dem weitere, etliche Minuten verstrichen waren, kam ihre Schwester, samt ihrem Gepäck auf Selena zu gerannt. „Seli!“

Diese schloss sie, wenige Augenblicke später, in ihre Arme.

„Ich hab dich vermisst“, sagte Helena und schaute lächelnd zu ihrer Schwester hoch.

„Ich dich auch, Lena.“ Dann erwiderte Selena das Lächeln und nahm ihr Gepäck. „Und hat alles funktioniert?“

„Ja, alles bestens gelaufen.“ Helena schaute zu ihr hoch, als sie nach draußen liefen. „In welchem Stadtteil wohnst du nun eigentlich und wie weit ist es, bis dahin?“

Selena lächelte. Neugierig war ihre kleine Schwester schon immer. „Wir sind jetzt ganz im Nordwesten, im Community Area O’Hare, welches nach dem Flughafen hier benannt ist. Und wir müssen nach Rogers Park, ebenfalls im Norden aber ganz im Osten, unweit vom Lake Michigan.“

„Ah, okay. Und, wie kommen wir da hin?“

„Ich hab uns ein Taxi bestellt. Du kannst natürlich auch circa vierzehn Meilen laufen, wenn du scharf drauf bist.“

„Oh nein! Lieber nicht.“

Selena musste lachen und Helena mit.

Draußen stiegen sie dann in das wartende Taxi und fuhren los.
 


 

Der Staat Illinois, in dem sich auch Chicago befand, war geografisch gesehen, ein wahres Paradies für Flachlandbewohner. Es gab keine Berge und kaum Hügel. Bis zum Mississippi.

Früher bestand das komplette Land aus Prärie und viele Gegenden in Illinois waren es heute noch.

Ließ man Chicago hinter sich, sah man Farmhäuser, welche inmitten von Maisfeldern standen. Silos und Hochspannungsmasten füllten das Bild und waren die einzigen sichtbaren Erhebungen.

In Chicago selbst waren die einzigen Riesen die Wolkenkratzer und am Rande des Lake Michigans gab es nur kaum Bäume, da dort mächtige Steilfelsen in die Höhe ragten.
 

Von Selenas kleiner Mietwohnung aus konnte man diese Steilfelsen betrachten, da sie im dritten Stock wohnte.

Als das Taxi weg war, trug sie die Sachen nach oben während Helena unten wartete. Sie wollte unbedingt noch die Gegend erkunden, weswegen sie sich für einen Spaziergang entschieden hatten, bevor es etwas zu Essen gab.

Als Selena wieder runterkam, saß ihre Schwester wartend auf den Treppenstufen und summte vor sich hin. „Na los, Lena, wir können jetzt los.“

„Na endlich!“, rief Helena aus und sprang auf die Füße. Noch so eine Ungeduld in Person.

Sie nahm Selenas Hand, worauf diese sie verwundert ansah. Immerhin war Helena schon alt genug und da brauchte Selena sie nicht mehr an die Hand zu nehmen.

Aber Helena lächelte sie nur lieb an und zog sie ein Stück vorwärts.

„Ich hab dich lieb, Seli.“

Selena lächelte sanft. „Ich dich auch.“
 


 

Die letzte Nacht hatte Jackson, mal wieder, nach einer Spur des Mörders seiner Frau gesucht, und war sogar fündig geworden. Denn sie hatten die Auswertung der Genproben bekommen und sie durch die Datenbank gejagt, in der dutzende Berglöwen und deren Angestellte verzeichnet waren.

Der Mord wurde von drei menschlichen Lakaien begangen, wobei einer hier im Stadtteil Rogers Park leben sollte.

Alessio hatte sich früh am Morgen freiwillig gemeldet, dass Haus des Mannes ausfindig zu machen und ihn auszufragen. Wenn möglich, ohne Gewalt anzuwenden.

In ihrer Datenbank stand leider nichts genaueres, als der Stadtteil, und so musste er jedes Haus einzeln überprüfen. Ungefähr die Hälfte hatte Alessio nun schon durch.
 

Es war ein sonniger Nachmittag und dutzende Menschen passierten ihn. Autos fuhren vorbei und Eltern mit ihren Kindern vergnügten sich in den Parks.

Alessio versuchte alles auszublenden. Sein Wolf knurrte innerlich bei jedem lauten Fahrzeug, was an ihm vorbeirauschte, da er am liebsten reiß aus nehmen würde. Er war nun mal zur Hälfte ein Tier und liebte die Natur und die Freiheit – die Großstadt aber scheute er dagegen sehr.

Alessio lief um die Ecke, als ihm plötzlich ein Geruch in die Nase stieg. Angespannt blieb er stehen und schaute sich um. Dann sah er sie.

Sie sah genauso aus, wie bei ihrer ersten Begegnung. Strähnen ihres langen, schwarzen Haares wehten im leichten Wind. Bis hierher konnte er ihr Shampoo riechen. Erdbeere.

Er vernahm ihr Lachen. Warm und glockenklar klang es in seinen Ohren. Der Wolf in ihm regte sich. Er wollte sie haben. Sie besitzen. Sie sein Eigen nennen.

Nur eines verwirrte ihn: Wieso hatte sie ein Mädchen an ihrer Hand? Also, ihre Tochter konnte sie unmöglich sein, dafür sah das Mädchen schon zu alt aus. Vielleicht ihre Schwester?

Plötzlich fiel Alessio auf, dass er nichts wirklich über sie wusste und konnte dem Drang nicht widerstehen, zu ihr zu gehen. Er wollte über sie bescheid wissen. Seine eigentliche Aufgabe war fürs erste vergessen.
 

Mit schnellen Schritten ging er zu ihr hinüber. „Hallo Selena.“

Überrascht drehte sie sich zu ihm und ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Alessio, schön dich wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits.“ Er nahm ihre Hand, führte sie zu seinem Mund und küsste sanft ihren Handrücken.

Das brachte Farbe auf ihre Wangen. „Das ist meine kleine Schwester, Helena.“

„Hallo Helena.“ Damit wäre für Alessio schon einmal geklärt, was für eine Beziehung die beiden zueinander haben. Ihre kleine Schwester lächelte, mit dem gleichen bezaubernden Lächeln wie es Selena hatte.

„Woher kennt ihr euch?“

„Wir haben uns zufällig kennengelernt“, antwortete Alessio und Selena nickte. Mehr wollte er nicht dazu sagen und, zu seiner Überraschung, sie anscheinend auch nicht.

„Bist du öfters hier in der Gegend unterwegs?“, fragte Selena und sah ihn dabei aus ihren schokoladenfarbenen Augen an, die eine riesige Wärme verstrahlten. Alessio wusste nicht, was er groß getan hatte, dass sie ihm so eine Wärme schenkte, aber ihn beeindruckte es, dass sie so schnell Vertrauen schließen konnte.

Er schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich bin beruflich unterwegs.“

„Oh, ich wohne hier im Bezirk.“ Selena lächelte wieder und irgendwas in ihm regte sich. Sein Wolf winselte und wollte sich am liebsten auf Selena stürzen. Mit einem innerlichen Knurren hielt er ihn zurück.

Das würde er noch öfters machen müssen, an diesem Tag.
 


 

Selena war sehr überrascht gewesen, als Alessio plötzlich vor ihr gestanden hatte. Nicht im Leben hätte sie erwartet, ihn wieder anzutreffen. Aber nun stand er leibhaftig vor ihr.

„Möchtest du uns vielleicht ein Stück begleiten?“, fragte Selena ihn. Sie hatte nicht vor, ihn so schnell wieder gehen zu lassen.

Er schien selbst verwundert zu sein und antwortete ihr zunächst nicht. Anscheinend hätte er diese Frage nicht erwartet. „Gern, ich muss in die gleiche Richtung wie ihr.“ Damit schloss er sich ihnen an.

Helena sah erst zu Selena und dann zu Alessio. „Ich geh schon mal vor, auf den Spielplatz, den ich von hier aus sehe“, sagte sie und rannte schon davon. Anscheinend hatte sie gespürt, dass ihre große Schwester gern mit Alessio allein reden wollte. Sie war nun mal sehr schlau.

Alessio ging neben Selena hier und streifte ihre Hand. Sie wusste nicht, ob es Absicht war, oder ein Versehen, aber in ihr kribbelte es und sie spürte wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Zum Glück konnte man die bei ihren dunklerenTeint kaum erkennen.

„Als was arbeitest du denn, wenn ich fragen darf?“

Selena spürte seinen Blick auf ihr liegen. „Dies und das. Im Moment versuche ich einen Mann ausfindig zu machen.“ Er blieb stehen, zog etwas aus seiner Jackentasche und hielt es ihr hin.

Sie nahm es entgegen. Es war ein Mann darauf abgebildet, der Selena bekannt vorkam. Er war im mittleren Alter, hatte ein Kinnbärtchen und unverkennbare Grübchen. Seine Haare waren pechschwarz und seine Augen leuchteten hellbraun. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: „Ich hab ihn schon mal gesehen“, brachte sie, nur stockend, hervor.

„Er soll im Stadtteil wohnen. Kennst du ihn?“

Selena sah zu ihm auf, direkt in seine blauen Augen. Sie waren heller als das letzte Mal. Sie war sich so sicher, aber das konnte nicht sein. Eigentlich. „Nein, aber ich hab ihn gesehen, vor einigen Tagen, außerhalb der Stadt. Er hat eine Frau bedroht. Moment – arbeitest du bei der Polizei? Suchst du ihn deswegen?“

„So ähnlich.“

Sie wollte darauf schon was erwidern, aber Alessio war schneller: „Er muss zur Rechenschaft gezogen werden für seine Taten.“

Knapp nickte sie. „Ich hab ihn noch nicht wieder gesehen, falls ich es tue, dann -“ Sie brach ab. Wie sollte sie sich bei ihm melden? Fast hätte Selena etwas gesagt, was sie im Nachhinein sicherlich bereut hätte.

„Ähm, dann sag ich auf der Polizeistelle bescheid.“
 

Alessio zog einen Zettel aus seiner Jackentasche, sowie einen Stift und schrieb, ohne jegliche Unterlage, etwas darauf. Dann riss er das Stück Papier ab und reichte es ihr, wie das Foto kurz davor. Darauf stand eine Nummer geschrieben. „Ruf mich lieber darunter an. Ich werde definitiv ran gehen.“

Er hatte Selena wirklich seine Telefonnummer gegeben. Innerlich führte sie einen Freudentanz auf. Doch ihre plötzliche gute Laune bekam einen Dämpfer. Wegen des Mannes und nicht, weil er mit ihr reden wollte. „Werde ich, sollte ich etwas raus finden. Würdest du mir bescheid sagen, wenn der Fall aufgeklärt ist?“

„Werde ich. Du wohnst dort oder?“ Er zeigte auf ein Haus, welches ein ganzes Stück weiter entfernt war. Aber es war das Haus, in dem sie wirklich wohnte.

„Ähm, ja. Da wohne ich. Woher weist du das?“

„War geraten.“ Er sah Selena wieder in die Augen, in denen sie diesmal keine Veränderung feststellen konnte. Wahrscheinlich waren es wirklich nur Halluzinationen gewesen.
 

„Als was arbeitest du?“, fragte er Selena, als sie weiter Richtung Spielplatz gingen.

„Ich bin Visagistin und zurzeit bei einem Filmset tätig.“

„Klingt interessant.“

Verdutzt sah sie zu Alessio auf. „Ernsthaft?“

„Na ja, man sieht jedenfalls, dass du kannst, was du tust.“

Sie fasste dies als Kompliment auf und lächelte. „Danke. Darf ich fragen, woher du eigentlich kommst?“

„Du hast es an meinem Akzent bemerkt“, vermutete er, sprach jedoch gleich weiter: „Ich bin in Italien geboren, Perugia, wenn dir das was sagen sollte.“

„Nein, tut mir leid, nicht wirklich. Aber ich hab gar nicht so falsch gelegen, mit meinem Verdacht, dass es so etwas in der Richtung ist.“ Selena lächelte erneut.

„Woher kommst du?“, fragte er sie jetzt.

„Na ja, ich bin in Griechenland, in der Gemeinde Nea Ionia geboren, ein Vorort von Athen. Meine Mutter ist Griechin, mein Vater aber Amerikaner. Sie haben sich damals kennengelernt, als mein Vater dort Urlaub gemacht hat. Meine Mutter sagt immer, es war wie Liebe auf den ersten Blick.“ Nach diesen Worten machte sie eine kurze Pause, weil Selena sich an sich selbst erinnert fühlte. Sie empfand auch, seit dem ersten Moment an, etwas für Alessio, was sie durch das Kribbeln in ihrem Bauch immer wieder bemerkte.

„Mein Vater hat alles aufgeben und blieb bei meiner Mutter, da sie schon mit mir schwanger war. Als ich sechs war zogen wir zurück in die USA. Und trotzdem kann ich fließend griechisch.“

Als er erst nichts sagte, schlug sie sich in Gedanken gegen die Stirn. „Tut mir leid, ich rede zu viel. Das hat dich sicherlich nicht interessiert.“

Alessio sah sie an mit seinen Augen, die ein helleres blau angenommen hatten, doch Selena versuchte, sich nicht darüber schon wieder den Kopf zu zerbrechen. „Doch, es hat mich interessiert. Ich würde gern alles über dich wissen.“

Das entrang ihr ein kleines Lachen. „So interessant bin ich nicht.“

„Für mich schon.“
 

Abrupt blieb sie stehen und er dann auch. Sie sahen sich eine ganze zeitlang einfach nur tief in die Augen und – diesmal war sie sich sicher! – seine Augen nahmen ein kornblumenblau an und wurden von silbrigen Akzenten durchzogen, die noch nie vorher da gewesen waren.

Sanft wurde Selenas Kinn Kinn angehoben mit seiner Hand, er beugte sich zu ihr herunter und sie konnte zuerst gar nicht glauben was passierte. Er legte seine Lippen auf ihre. Sie waren sanft, aber der Kuss war fest und Selena spürte, was für eine Stärke dahinter stand.

Sie erwiderte den Kuss und zog sich an Alessio ran, legte ihre Arme um seine Hüfte.

Er strich mit seiner anderen Hand zunächst über ihre Wange, dann durch ihre Haare.

Aus einem Kuss wurden zwei. Aus zwei wurden drei. Irgendwann öffnete sie ihre Lippen und er schlüpfte mit seiner Zunge hinein. Ihre Zungen spielten miteinander, eine ganze Zeit lang.

Selena vergas einfach alles um sich herum, gab sich ihm ganz hin und lieferte sich ihren Gefühlen aus.
 


 

Alessio wusste nun eine Menge über Selena, aber was er nun wirklich wusste, war, dass sie sehr gut küssen konnte. Noch immer gaben sie sich einem zärtlichen Zungenkuss hin, der kein Ende zu haben schien.

Alessio genoss die warme Nähe, die sie ihm spendete. Zulange war er allein gewesen, zulange herrschte die Einsamkeit in seinem Herzen. Zulange hielt der Schmerz an.

Immer hatte er mit Frauen nur seinen Spaß gehabt. War es für ihn wieder nur Spaß? Noch nie war er von einer Frau so angetan gewesen, wie von Selena. Woran lag es?

Im Inneren machte ihn eine Frau nur schwach, dass war schon einmal so. Seine kalte, gefühllose Fassade war an ihr zerbrochen.

Sein Wolf knurrte, mal wieder. Er wollte endgültig heraus, wollte sich von Selena durch das Fell streicheln und kraulen lassen, ihr Gesicht ablecken.
 

Als er diese Gedanken, zu spät, bemerkte, löste er sich aus ihrem Kuss und wich ein Stückchen zurück, versuchte den Wolf wieder unter Kontrolle zu kriegen. Er saß zu nah an der Oberfläche und er wollte sich nicht am helligsten Tag, mitten in der Stadt, verwandeln.

Selena schien nichts davon zu bemerken, sie rang nach Atem. Eine sanfte Röte war in ihrem Gesicht zu erkennen. „Das war gut…“, sagte sie und Alessios nahm noch ein Stück Abstand.

Er durfte sich ihr einfach nicht nähern, dass würde nur Unglück bringen. „Ich muss los, tut mir leid.“

„Oh.“ Ein enttäuschter Ausdruck drang in ihre Augen, auch wenn sie versuchte, es zu unterdrücken. „Die Arbeit, ich verstehe. Darf ich dich noch etwas fragen?“

„Schnell.“

Sie schien sich erst einmal überwinden zu müssen. Schließlich verließ die Frage ihren Mund: „Was ist mit deinen Augen? Mir scheint es, als wechseln sie die Intensität.“

Im Inneren war er zutiefst erschrocken. Der Wolf in ihm stellte sein Fell auf und sträubte sich. Er war ein riesiger Idiot! Wie konnte er vergessen, dass sie es entdecken würde? Soviel, wie er in ihrer Gegenwart fühlte, die ganzen verschiedenen Emotionen, hatten seine Augenfarbe sicher so oft geändert, dass er es nicht abstreiten und ihr Halluzinationen einreden konnte.

Er musste weg, bevor noch schlimmeres passierte.

Kurz strich er über ihre Wange, bis er urplötzlich verschwand und Selena verwirrt stehen ließ.
 


 

To be continued.

Distraction

Ablenkung
 


 


 

„In einem Zwiespalt zwischen dem Herzen und dem Verstand, folge dem Herzen.“

- unbekannt
 


 


 

Geistesabwesend strich Selenas sich über ihre Wange, wo sie kurz zuvor noch von Alessio berührt worden war, bevor er sich in Luft aufgelöst hatte. Immer noch starrte sie auf die Stelle, wo er gestanden hatte. Der Geruch nach Wolf, der vor wenigen Minuten plötzlich erschienen war, verblasste langsam, bis er nicht mehr zu riechen war.

Wie machte er das? Und wieso hat er nicht auf ihre Frage geantwortet? Moment, er hatte gar nicht wirklich konkret auf irgendeine Fragen geantwortet, sondern hatte es mit einfach Dingen abgetan.

Wie zum Beispiel seinem Job. Was war los mit ihm? Wieso wollte er nicht, dass sie es wusste? Aber küssen konnte er sie - und wie er küssen konnte. Aber die Wahrheit sagen, konnte er nicht.

Selenas Blick glitt zu dem Foto, welches sie noch immer in den Händen hielt. Was dieser Mann wohl mit der lieblich aussehenden Frau gemacht hatte? Und wie es wohl ihrem Mann erging?

Unter dem Foto hielt sie das Stück Zettel mit der Handynummer von Alessio fest. So ganz konnte sie es noch immer nicht glauben. Sie sollte ihn zwar nur anrufen, sofern sie etwas raus fand, aber es lockte sie jetzt schon, ihn anzurufen, um ihn zu treffen oder einfach nur seine Stimme zu hören.
 

„Seli?“ Angesprochene zuckte leicht zusammen, als sie Helenas Stimme neben sich vernahm.

„Oh, da bist du ja wieder. Hat es Spaß gemacht?“

Misstrauisch sah Helena ihre Schwester an an. „Ja. Wo ist Alessio hin und wieso siehst du so nachdenklich aus?“

Selena biss sich auf die Unterlippe. „Er musste wieder arbeiten.“

Schneller als sie reagieren konnte, zog Helena ihr das Foto, samt der Telefonnummer, aus der Hand und sah es sich an. „Und wer ist das?“

„Ein Mann, den er sucht. Er hat böse Sachen gemacht.“

Dann fand sie die Telefonnummer, hielt sie hoch und grinste. „Und was ist das?“

Selena nahm sie ihr weg. „Nichts für kleine Schwestern.“

„Hat er dich etwa um ein Date gebeten?“ Aufgeregt sah sie ihre Schwester an, doch als diese den Kopf schüttelte, war diese weg. „Was dann?“

„Er will, dass ich ihn anrufe, falls ich den Mann sehen sollte. Mehr nicht.“

„Ach man, Seli, das ist doch nur Taktik. Er hat dir so seine Nummer zugespielt, damit du dich bei ihm meldest. Der Mann da war doch nur Mittel zum Zweck.“ Frech zwinkerte sie Selena zu, worauf diese lachen musste.

„Als ob du mit deinen elf Jahren Ahnung davon hast.“

Helena grinste. „Natürlich. Ich weiß, dass er total nett wirkt. Und hübsch ist er auch.“

„Ja, allerdings…“ Fast schon wehmütig klang ihre Stimme in Selenas eigenen Ohren.

Es war kein Wunder, dass sich das Grinsen ihrer Schwester nur vergrößerte. „Seli ist verliebt! Seli ist verliebt!“

Selena brach in Gelächter aus. „Ich kenne ihn doch gar nicht richtig!“

„Aber er mag dich und du magst ihn. Streite es nicht ab, Seli, ich hab es ganz genau mitgekriegt! Sonst wäre ich doch nicht auf den Spielplatz gegangen und hätte euch allein gelassen.“

„Ich weiß.“ Sanft lächelte sie Helena an. „Du warst schon immer sehr schlau.“

„Ha! Endlich hast du es zugegeben!“ Freudig sprang sie um Selena herum, was diese wieder zum Lachen brachte. Dann zog Selena sie in ihre Arme. „Du aufgedrehter, kleiner Hüpfer. Ich hab dich so vermisst.“

„Ja ja, Seli. Können wir jetzt weiter? Ich verhungere fast.“

Selena verdrehte die Augen und zusammen gingen sie weiter.
 

Das Foto sowie die Telefonnummer hatte Helena ihrer Schwester wiedergegeben. Selena spielte den ganzen restlichen Tag noch mit dem Gedanken, ihn einfach anzurufen, aber sie ließ es. Mit Sicherheit hatte er eine Menge zu tun.

Auch wenn er vielleicht wirklich keine Freundin hatte - welcher Kerl küsst schon eine andere Frau, wenn er eine Freundin hat? – wusste sie immer noch nichts über ihn, und das bereitete ihr langsam Kopfschmerzen.

Helena behauptete zwar, dass er ihr das schon noch sagen würde, aber immer mehr hatte sie das Gefühl, dass irgendwas nicht normal war.

Und sie war fest davon überzeugt, dass herauszufinden.
 


 


 

1. Mai, 1. Jahr
 


 

Am darauf folgenden Abend war Alessio mit seinem schwarzen Motorrad unterwegs, wieder in den Stadtteil Rogers Park. Er hatte noch am vorherigen Tag das Haus des Lakaien gefunden gehabt, aber niemand war dort gewesen.

Über Satellit hatten sie das Haus beobachtet und ungefähr vor zwanzig Minuten war er nach Hause gekommen. Alessio hatte sich sofort bereit erklärt, dorthin zu fahren und ihn festzunehmen.

Wenn Jackson wach gewesen wäre, hätte er sicherlich mit gewollt, aber sie hatten ihn mit, ins Trinken gemischten, Schlaftabletten überlistet. Da er so gut wie nichts aß und nur trank wie ein Verrückter, blieb ihnen nur diese Möglichkeit übrig. Zusammen hatten sie beschlossen, dass er sich etwas ausruhen müsste und so schlief er nun schon drei Stunden lang und würde dies noch bis zum Morgengrauen tun.
 

Einige hundert Meter von besagtem Haus, parkte er und ging die letzten Meter zu Fuß weiter. Das Haus des Lakaien war auch nicht sehr weit von dem entfernt, worin Selena wohnte.

Alessio versetzte dies sowohl einen kleinen Stich, als auch schöne Erinnerungen an ihre letzte Begegnung. Wie sie wohl nach diesem Abgang von ihm dachte?

Er schüttelte leicht den Kopf und versuchte seine Gedanken zu vertreiben. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Sein Wolf knurrte innerlich. Er wollte weiter über diese schöne Frau nachdenken, die Alessio öfter beschäftigte, als ihm lieb war, aber er verdrängte den Wolf wieder und konzentrierte sich auf sein Ziel. Das Haus des Lakaien.

Die Straßenlampe vor dem Haus war ausgefallen, weswegen Alessio in seiner schwarzen Kleidung nicht weiter auffiel. Im Untergeschoss brannte Licht und er ließ es sich nicht nehmen und sah hinein. Was er jedoch sah, raubte ihm kurz den Atem: der Mann, der Yaelle entführt hatte, saß auf dem Sofa. Eine junge Frau schmiegte sich an seine Seite und hielt ein kleines Baby fest, welches seinen Vater anlachte.

Er konnte keinen Mann entführen, der selbst Familie hatte, das widersprach seinen Prinzipien. Aber er hatte geholfen, Yaelle zu entführen. Für welchen Preis?

Er sah, wie der Blick der Frau immer wieder ängstlich zu einem der Fenster wanderte. Und auch der Mann sah angespannt aus und unsicher.

Alessio hatte eine Vorahnung, was das zu bedeuten hatte. Die Berglöwen bedrohten sie, mit Sicherheit. Kein Wunder, dass der Mann bei so etwas half, wenn er Frau und Kind zu Hause hatte.

Nur wie sollte Alessio selbst jetzt weiter vorgehen?
 

Er zog sich vom Fenster zurück und bemerkte zuerst gar nicht, wie seine Füße ihn in eine andere Richtung trugen. Doch als er merkte, dass er immer näher zu Selenas Haus kam, blieb er abrupt stehen.

Ein, schon fast, böses Knurren entglitt ihm und er versuchte, seine Beherrschung beizubehalten. In letzter Zeit konnte seine tierische Seite ihn öfters steuern, als er wollte.

Doch abrupt zog sich der Wolf zurück, als jemand aus dem Quartier via Kopfhörer zu Alessio Kontakt aufnahm. „Und? Wie sieht’s aus?“ Es war Brandons Stimme. Er hatte sich bereit erklärt, auf Jackson aufzupassen, während die anderen weiter nach den Entführern suchten.

„Wir müssen den Plan ändern. Er hat Frau und Kind.“

Er vernahm, wie Brandon seufzte. „So ein Mist. Reden wir sicher morgen drüber, oder?“

„Jap. Ich mach mich dann auf den Weg nach Hause.“

Brandon verabschiedete sich wieder und Alessio richtete seinen Blick wieder gen oben, zu der Wohnung, wo Selena wohnte. Ob sie wohl auch so oft an ihn dachte, wie er an sie?

Das er ihr seine Handynummer gegeben hatte, war berechnet gewesen. Er wusste, dass er den Lakaien allein finden würde. Aber er wollte, dass sie ihn anrufen konnte. Hoffentlich würde sie es irgendwann tun. Sonst würde er verrückt werden und sie heimlich beobachten müssen, um den Drang zu widerstehen, zu ihr zu gehen und sie als Sein anzusehen.
 

Ein Knurren entglitt ihm, mal wieder. Wie kam er auf solche Gedanken? Er hatte wichtigere Dinge zu tun, als auf sie aufzupassen. Aber er würde es sich auch nicht verzeihen, wenn ihr was passieren würde.

Er musste einen Mittelweg finden, dessen war er sich sicher. Nur, gab es den?

Alessio bemerkte zu spät die Gefahr. Als ihm der Gestank in die Nase stieg, blieb ihm nur noch Zeit, sich umzudrehen. Der Berglöwe sprang ihn an und mit einem gewaltigen Fauchen biss er ihm in die Schulter.

Ein Knurren entglitt aus Alessios Kehle. Wenn er sich jetzt verwandelte, wäre es zu auffällig und die Gefahr, dass ihn dabei jemand sah, zu groß. Blitzschnell zog er ein scharfes Messer von seinem Gürtel und rammte es dem Berglöwen in die Brust, bevor dieser ihn noch einmal ernsthaft verletzen konnte.

Mit einem Knurren versuchte der Berglöwe Alessio noch einmal zu beißen, diesmal in die Kehle doch Alessio stieß ihn mit einem Tritt von sich. Das Tier blieb liegen, zu schwach um aufzustehen.

Alessio nutzte dies, ging zu ihm und rammte ihm das Messer noch einmal in die Bauchgegend. Der rasselnde Atem verebbte und der Berglöwe war tot.
 

Alessio ging neben dem Tier auf die Knie und hielt sich seine Schulter fest. Aus der Wunde trat viel Blut, jede Bewegung mit den Knochen tat ihm weh. Der Biss war zu tief, bis nach Hause würde es kritisch werden.

Doch zu Alessios Glück tauchte jemand neben ihm auf und zog ihn hoch. Als er den Kopf zu diesen wandte, stellte er fest, dass es sich um seinen guten Freund Kenneth handelte.

„Ich bring dich nach Hause.“

„Kann ich selbst.“

Kenneth schnaubte. „Dein T-Shirt ist schon blutdurchtränkt.“

Ashton tauchte plötzlich auch bei ihnen auf. „Ich kümmere mich schon um den Berglöwen. Lass dich zusammenflicken, Al.“

Mit einem kurzen Kopfnicken stimmte Alessio schließlich zu.
 


 


 

„Willst du uns wirklich nicht sagen, wie das passiert ist?“ Matthew saß Alessio gegenüber während Kenneth sich um seine Schulterverletzung kümmerte.

Kenneth hatte ihn auf dem Weg zum Quartier nicht gefragt, wie es passiert war. Nur Matthew war neugieriger und er wusste, dass so etwas nicht ohne Grund passierte war. Deswegen ließ er auch nicht locker.

„Ich hab es zu spät bemerkt, mehr nicht.“

Mit einem Schnauben schwieg Matthew erstmal, aber es war für ihn noch lange nicht gegessen.

Kenneth verband derweil seine Schulter. „Was ist nun mit dem Lakaien? Brandon meinte, es gibt ne Planänderung?“

„Allerdings.“ Ein leichtes Knurren entglitt ihm, als der Schmerz ihn wieder leicht durchfuhr. Auch wenn Kenneth versuchte, sanft zu sein, half es nicht, die Schmerzen zu verhindern. „Ich hab in sein Wohnzimmer geschaut. Er hat sowohl Frau als auch ein kleines Kind, gerade mal wenige Monate alt. Sie wirkten unsicher und verängstigt. Das der Berglöwe dort herumgeschlichen ist, bestätigt nur meinen Verdacht.“

„Du meinst, sie werden erpresst?“

„Höchstwahrscheinlich.“ Als Kenneth ihm auf die gesunde Schulter klopfte, setzte er sich auf.

Matthew strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Und wie geht’s jetzt weiter?“

„Wir helfen ihnen. Wir sollten sie ausspionieren und beim richtigen Moment zuschlagen und helfen.“

„Alles klar. Ich sag’s dann den Anderen.“
 

Alessios Wolf war zufrieden. Er würde die Spionage der Kleinfamilie so oft wie möglich übernehmen, so könnte er gleichzeitig ein Auge auf Selena haben und das beruhigte ihn. So würde er sie in Sicherheit wiegen können, ohne dass sie es bemerken würde.

"Deine Wunde wird dir noch einige Tage Schmerzen bereiten und die Narbe wird wahrscheinlich bleiben. Versuch dich etwas zu schonen, in nächster Zeit. Vor allem in den nächsten Stunden, sonst kann die Wunde wieder aufreißen und bluten."

Alessio nickte knapp auf Kenneths Worte.
 

Doch lange sollte es nicht still bei ihnen bleiben: „Sag endlich, wie ist das passiert?“

Alessio warf Matthew einen undefinierbaren Blick zu. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“

„Nein, weil ich weiß, dass dir so etwas nicht einfach so passieren würde. Ich mach mir Sorgen um dich, und Kenneth auch.“

Alessio seufzte. „Na gut. Ich war abgelenkt.“

„Von?“

Jetzt wurde sein Blick etwas sauer. „Ich hab eine Frau kennengelernt, an die ich denken musste.“

Sowohl Matthew, als auch Kenneth, sahen überrascht aus. „Eine Frau?“

„Ja.“

„Hast du das von früher vergessen?“

Jetzt entfuhr Alessio ein gefährliches Knurren. „Das könnte ich niemals vergessen, okay!? Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Wenn es um sie geht, ist mir alles andere egal.“

„Das gefällt mir nicht.“ Matthew änderte seine Position und setzte sich in den Schneidersitz. „Das gefällt mir gar nicht, Al. Sie hat so einen Einfluss auf dich, dass du ernsthaft verletzt wirst. Das ist gefährlich.“

„Das weiß ich selbst. Aber ich kann nichts dagegen machen. Ich kann und will mich nicht von ihr fernhalten.“

Jetzt meldete sich Kenneth mal wieder zu Wort. „Das war bei mir und Rahel doch auch so. Jetzt sind wir schon 62 Jahre zusammen.“

„Ist sie nachher auch eine der besonderen Frauen, die zu uns gehören?“

Alessio zuckte mit den Schultern, doch ihn durchfuhr dabei ein starker Schmerz. Das hatte er ganz vergessen! Er hielt sich die verletzte Schulter. „Ich hab keine Ahnung. Ihr Ex ist ein Berglöwe, aber sie scheint es nicht zu wissen.“

„Al, nur ein kleiner, gut gemeinter Rat. Versuch sie zu vergessen. Du weißt, was auf dem Spiel steht. Ich sag dir das als Freund und als Rudelmitglied. Wir brauchen dich.“

Alessio nickte nur knapp. Er wollte keinen Streit anfangen und wusste selbst, dass er irgendwas tun musste, damit er von Selena loskam.

Irgendwie.
 

„Was ist eigentlich mit dir los, Kenneth?“ Matthew war sehr aufmerksam, wenn es um seine beiden Freunde ging und er hatte auch die Veränderung von ihm gemerkt.

Kenneth seufzte. „Stress mit Rahel.“

„Wieso denn schon wieder?“ Auch Alessio war jetzt interessiert. Kenneth und seine Frau hatten öfters einmal Probleme. Manchmal fragte er sich, ob Rahel die Richtige für seinen Freund war, oder ob er damals zu voreilig gehandelt hatte. Kenneth war öfters unglücklich, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.

„Sie hat mich wieder angelogen, ich weiß es.“

Alessio und Matthew wechselten einen Blick. „Sicher?“

„Ja, sie benimmt sich danach immer anders.“ Kenneths Blick wurde leicht trüb. „Mir tut das weh. Soll sie doch bitte die Wahrheit sagen, egal wie hässlich sie ist. Aber nein.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich komm damit langsam einfach nicht mehr klar.“

Matthew klopfte ihm auf die Schulter. „Komm, lass uns einen Trinken gehen. Ich glaub, ihr beide könnt das gut gebrauchen, um auf andere Gedanken zu kommen, hm?“

Sowohl Alessio und Kenneth stimmten zu.
 

Gemeinsam verließe sie das Hauptquartier und machten sich auf den Weg, in den Jazzclub, welcher Matthew gehörte, ihres kleinen Ortes namens Lake Vista.

Drei Männer, die alle drei das gleiche Geheimnis hatten. Aber drei Männer, die nicht die gleichen Probleme hatten.

Kenneth lebte mit seiner Frau zusammen, die ihn regelmäßig anlog.

Matthew kam nie über den Tod seines besten Freundes hinweg. Er fühlte sich so, als hätte er ihn damals im Stich gelassen. Deswegen versuchte er jetzt umso mehr für Alessio und Kenneth da zu sein.

Und Alessio musste an eine Frau denken, durch die er vielleicht irgendwann dem Tod ins Auge blicken würde. Oder die jedenfalls alte Wunden neu aufreißen würde.

Nein, letzteres hatte sie schon getan.
 


 

To be continued.

Harsh reality

Harte Realität
 


 


 

„Wir suchen die Wahrheit, finden wollen wir sie aber nur dort, wo es uns beliebt.“

- Marie von Ebner-Eschenbach
 


 

4. Mai, 1. Jahr
 


 

An diesen Morgen war Selenas Schwester, nach nur knappen fünf Tagen, fürs erste wieder abgereist. In weniger als zwei Wochen jedoch, würde sie wieder dort sein und dann bis zum Ende ihrer Ferien, Anfang Juni, bleiben.

Selena hatte beschlossen den Rest des Tages nicht zu vertrödeln und hatte sich mit Tony und klein Dustin getroffen gehabt. Sie waren zusammen in den Zoo gegangen, Ironie des Schicksals, Selenas Meinung nach. Dustin haben, auch Ironie des Schicksals, am besten die Wölfe gefallen.

Es war schon fortgeschrittene Zeit, als sie von Tonys Sofa aufstand. „Ich sollte dann mal nach Hause. Es ist schon spät.“ Tony wohnte in West Ridge, dem Bezirk, welcher sich westlich an Rogers Park anschloss. Selena würde ungefähr eine Viertelstunde unterwegs sein, bis sie zu Hause angekommen war.

Tony erhob sich ebenfalls. „Ja, verstehe. Soll ich dich nach Hause fahren?“

„Nein, brauchst du nicht, so weit ist es ja nicht.“

„Ich dachte eher, weil es dunkel und spät ist.“

Selena winkte ab, aber nicht, ohne Bedenken dabei zu haben. Das letzte Mal, als sie allein nach Hause gegangen war, als es bereits dunkel war, hatte sie Norman wieder getroffen. Er hatte ihr riesige Angst eingejagt und wenn Alessio nicht gekommen wäre dann… sie wusste nicht, was dann passiert wäre.

Tony begleitete Selena noch zur Tür, sie umarmten sich und wünschten der jeweils anderen eine gute Nacht. Bisher hatte sie Tony nichts von Alessio erzählt und ihre Begegnung mit Norman nie erwähnt.

Vielleicht hätte sie das tun sollen, wenn sie geahnt hätte, was der Abend noch für sie bereit hielt. Denn das, würde ihr niemand mehr glauben.
 


 


 

Alessio hatte, so wie die letzten paar Tage davor, seinen Posten in der Nähe vom Haus des Lakaien bezogen. Von seinem Standpunkt aus hatte er, sowohl dieses Haus, als auch das Haus von Selena im Blickfeld.

Bei ihr war es schon den ganzen Abend dunkel gewesen. Wahrscheinlich war sie außer Haus. Alessio beunruhigte diese Tatsache schon den halben Abend lang.

Wo steckt sie, verdammt noch mal!

Unruhig glitt sein Blick wieder vom Haus des Lakaien zu ihrem Haus. Sollte er einfach mal hochklettern und nachschauen? Vielleicht war ihr auch was passiert und lag nun bewusstlos in ihrer Wohnung?

Irgendetwas in ihm zog sich zusammen bei diesem abscheulichen Gedanken. Knurrend hielt er sich, gerade so, zurück. Er konnte diesen Posten nicht einfach so verlassen. Das ganze war zu wichtig.

Alessio dachte, er könnte ihr fern bleiben, könnte sie ihr Leben einfach leben lassen, so wie es sich gehörte. Aber je mehr er sich zurückhielt, je mehr er sich von ihr zurückzog, desto stärker wurde das Verlangen, bei ihr zu sein, sie zu besitzen, sie als Sein anzusehen.

Die Sehnsucht nach ihr war immer stärker geworden und erst jetzt wurde er sich ihr bewusst. Es war zu spät. Er konnte sich dieser Frau nicht mehr entziehen, egal was er versuchen würde, es würde scheitern. Dessen war er sich nun sicher.

Denn Gefühle konnte man nicht abstellen, dass hatte er schon sehr früh gelernt.

Sein Wolf war sehr froh, dass sich auch endlich die menschliche Seite zu ihr bekannt hatte. Seiner Meinung nach gehörte Selena schon längst ihnen, und nun wollte er es auch ihr klar machen. Alessio war bemüht, ihn zurückzuhalten.
 

Alessios Nasenflügel blähten sich, als ihm ein sehr vertrauter Geruch in die Nase stieg. Der Wolf in ihm wurde unruhig, und fachte so auch nur Alessios Unruhe weiter an.

Es war Selenas vertrauter Geruch nach ihren Parfum, dem Erdbeershampoo und ihrer persönlichen Note. Da er besser sah, als normale Menschen, konnte er jedes einzelne Detail in der Dunkelheit erkennen. Sie trug in ihren Haaren einen Haarreifen, ihre Jacke war bis oben hin zu und ihre Hände in deren Taschen vergraben.

Sie lief schnell und sah sich nicht um. Wahrscheinlich war sie froh, wenn sie in ihrem Haus ankam. Alessio konnte ihr dies nicht verdenken, es war immerhin stockdunkel und das letzte Mal hatte ihr Exfreund ihr aufgelauert.
 

Ein weiterer Geruch fiel ihm auf und traf Alessio wie einen Blitz. Ein Berglöwe war ganz in der Nähe. Sofort war er alarmiert und sah sich schnell, und trotzdem aufmerksam, um.

Rotschimmerndes Fell blitzte auf, als der Berglöwe einen ungünstigen Schritt nach vorne tat. Geschockt weiteten sich Alessios Augen. Der Berglöwe hatte es auf Selena abgesehen!

Wenn er jetzt ruckartige Bewegungen machte, würde das Tier zuschlagen, und das konnte Alessio nicht zulassen. Mit schnellen, leichten Schritten schlich er sich näher, ließ dabei das Tier nie aus den Augen.

Selena blieb abrupt stehen und sah sich um. Was sollte das werden? Alessio unterdrückte ein Knurren. Das gab es doch nicht! Sie sollte lieber in Sicherheit laufen, anstatt stehenzubleiben.

Aber sie schien etwas zu riechen, wahrscheinlich den Berglöwen – die Viecher stanken auch wie die Pest – und vielleicht auch ihn selbst. Vor Wut hatte sich der Wolf nah an die Oberfläche geschlichen und wartete nur darauf, freigelassen zu werden.

„Hallo? Ist da jemand?“, erklang Selenas Stimme, welche einen ängstlichen Unterton besaß.

Den Berglöwen schien das verrückt zu machen und mit einem Satz war er bei ihr. Als sie das Tier erblickte stieß Selena einen spitzen Schrei aus.

Alessio zog ein Messer aus seiner Scheide und warf es auf den Berglöwen. Nur knapp verfehlte er ihn, aber das Tier sah zu ihm und fletschte die Zähne. Alessio hatte noch nie sein Ziel verfehlt, wieso dann jetzt?

Er machte sich auf einen Kampf bereit, in dem er ausschließlich als Mensch kämpfen konnte. Sonst würde Selena alles erfahren, und das wollte er nicht aufs Spiel setzten.
 


 

Angst und Überraschung überkam Selena, als ein Messer kurz vor dem Berglöwen in den Erdboden stach. Dieser wandte sich von ihr ab und fletschte die Zähne. Sie sah in die gleiche Richtung, wie das Tier, konnte aber nichts erkennen.

Hoffentlich wusste derjenige, was er tat. Ansonsten würde der Berglöwe einen tollen Mitternachtssnack bekommen, der aus ihr und dieser anderen Person bestehen würde.

Selena wich weiter zurück bis zu einer Wand, schaffte so Abstand zwischen sich und dem Tier. Dieses nahm, wie von selbst, Abstand und lief auf die Schatten zu, aus welchen das Messer geflogen kam.

Brüllend stürzte sich der Berglöwe in die Schatten, aber die Person wich geschickt aus und trat in Selenas Richtung. Es war Alessio! Der Berglöwe und er hatten die Plätze getauscht. Nun war das Tier in den Schatten und Alessio vor ihr.

Er wandte Selena den Rücken zu. Seine Kleidung war komplett schwarz. Es wirkte, als würde er im Dienst sein und jemanden beschatten. Das war natürlich nur eine Vermutung ihrerseits.

Er wandte seinen Kopf zu Selena. „Alles in Ordnung?“

Knapp nickte sie. „Noch.“

„Hab keine Angst. Ich beschütze dich.“

Fast wollte sie fragen, wie er das anstellen wollte, als sie die Pistole in seiner Hand sah. Er würde das Tier erschießen?! „Du willst ihn erschießen?“ Selenas Stimme klang panisch.

Alessio sah über die Schulter zu ihr. „Was anderes bleibt mir nicht übrig.“

Selena schluckte. Das hatte das arme Tier nun auch wieder nicht verdient, aber sie sagte nichts. Hoffte lieber, dass Alessio nichts passieren würde.
 

Der Berglöwe trat wieder aus den Schatten und wirkte, als würde er wütender sein, als zuvor. Er sah aus, als würde er Alessio am liebsten gleich fressen wollen.

„Pass bitte auf dich auf…“, flüsterte Selena, aber Alessio schien es trotzdem zu hören, denn seine Haltung veränderte sich dadurch, wurde angespannter.

Mit lautlosen Schritten kam der Berglöwe auf sie zu. Als Alessio die Pistole anhob, stoppte er und ein gefährliches Fauchen erklang aus seiner Kehle.

„Falls irgendetwas schief läuft, dann rennst du nach Hause, Selena. Hast du gehört? So schnell du kannst.“ Sein Blick, genauso wie seine Waffe, blieb auf der Katze.

Selena schluckte und schüttelte aufgebracht den Kopf. „Ich lass dich nicht hier allein.“

„Selena, bitte.“

Doch sie konnte nicht antworten, da der Berglöwe sich schon nach vorne geworfen hatte.

Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und hielt entsetzt die Luft an, als Alessio einen Schuss abfeuerte. Doch das Tier duckte sich unter der Kugel hinweg und setzte erneut zum Sprung an.

Sie konnte Alessio fluchen hören, das Klicken des Magazins. Es war leer. „Selena, lauf!“

Wie angewurzelt stand diese jedoch da, unfähig sich auch nur einem Millimeter weiter weg zu bewegen. Alessio schien das zu bemerken, denn er knurrte. „Jetzt mach schon!“ Einige wenige Schritte konnte sie zurückweichen.
 

Der Berglöwe sprang mit einem Fauchen wieder auf Alessio zu. Ein Satz fegte ihn um. Die Katze schnappte nach seiner Kehle, doch durch wundersame Weise konnte Alessio die Katze mit seinen Armen davon weg halten.

Mit ihren Krallen schlitzte sie ihm seine schwarze Kleidung auf. Leicht sickerte Blut hervor, wo Haut zum Vorschein kam.

Selena tat nichts mehr, sah einfach nur schockiert auf das Szenario, was sich vor ihr bot. Sie sollte laufen und Hilfe holen, oder irgendwas suchen, was sie der Katze über den Schädel hauen konnte, aber sie tat nichts. Nichts, außer geschockt zuzusehen und zu atmen.
 


 


 

Alessio musste sich zurückhalten, sich nicht auf der Stelle in einen Wolf zu verwandeln. Der Berglöwe stank und er lag mit seinem kompletten Gewicht auf seinen Beinen, sodass er ihn nicht davon stoßen konnte.

Er versuchte immer noch wie wild Alessios Kehle durchzubeißen. Nur dessen Arme boten ihm Schutz vor den gefährlichen Zähnen. Er hatte bemerkt, wie die Katze Wunden gerissen hatte, doch ihm blieb keine Zeit. Er musste sich schleunigst etwas einfallen lassen, wenn er lebend aus der Sache raus wollte.

Er bemerkte, dass Selena sich endlich in Bewegung setzte. Doch sie lief nicht schnell nach Hause, um sich da zu verstecken, nein. Sie schien irgendwas zu suchen.

Die Kiefer des Berglöwen schnappten gefährlich nah an seinem Hals zu. Rechtzeitig konnte er die Schnauze noch wegdrücken. Er musste seine Gedanken bei sich behalten. Sonst würde er wirklich draufgehen.

Er konnte nur hoffen, dass die anderen ihn schnell finden würden und ihm halfen, sonst würde das alles in einer riesigen Katastrophe enden.
 

Die Katze schien sich noch schwerer zu machen, sodass Alessio fast die Luft wegblieb. Auch die Kraft in seinen Armen ließ nach. Er unterdrückte ein Knurren. Das war ganz und gar nicht gut.

Sein Wolf saß gefährlich nah an der Oberfläche und seine Haut kribbelte bereits. Ihm würde nichts mehr anderes übrig bleiben.

Er ließ seinen Wolf gewähren, ließ ihn raus. Er hatte keine andere Möglichkeit mehr. Selena war für den Moment vergessen.

Sofort überkam ihn Kälte, keine Sekunde später unglaubliche Hitze. In rasender Geschwindigkeit verschoben sich seine Knochen und im nächsten Moment spürte er sein warmes Fell um sich.

Mit einem Fletschen seinerseits drückte er sich nach oben und biss der Katze mitten ins Gesicht, als sie wieder nach ihm schnappen wollte.

Der Berglöwe sprang zurück, sodass Alessio aufstehen konnte. Kurz darauf entbrannte ein wilder Kampf. Zwischen Katze und Hund.
 


 


 

Selena war schon einige Meter weiter weg, als sie plötzlich ein ekelhaftes Knacken hörte, so als würde jemand Knochen brechen. Panisch sah sie zurück zu Alessio, doch was Selena dann sah, erschreckte sie mehr, als alles andere in ihrem Leben es je zuvor getan hatte.

Da, wo eben noch Alessio lag, setzte sich nun ein schwarzer Wolf zusammen. Dieser fletschte die Zähne und biss dem Berglöwen in die Schnauze. Dieser ließ darauf von ihm ab, der Wolf stand auf und dann stürzten sie sich aufeinander.

Ein wildes Durcheinander herrschte, Fellbüschel flogen nur so umher, ab und an hörte man tierische Kampfgeräusche.

Selena dachte, ihr Herz würde jeden Moment zum Stillstand kommen. So etwas war nicht möglich. Es gab keine logische Erklärung für das, was sie eben gesehen hatte. Alessio konnte sich nicht in diesen Wolf verwandeln, das funktionierte einfach nicht!

Andererseits, sie dürfte auch nicht ihren Fluch besitzen. Sie war irgendwo auch nicht normal, wieso sollte sich Alessio also nicht in einen Wolf – nein, das war einfach zu absurd!

Möglicherweise gab es für sie selbst, sowie für diese Situation gerade eine plausible Erklärung. Sie musste nur gefunden werden.
 

Selena bemerkte, wie sie anfing zu zittern. Die Arme um ihren Körper geschlungen, versuchte sie sich zu beruhigen, aber es half nicht wirklich.

Sie vernahm ein Aufheulen und richtete ihren starren Blick zu den beiden Tieren zurück. Der Berglöwe sackte in sich zusammen. Blutlachen waren auf der Straße verteilt. Das Fell beider Tiere war an vielen Stellen verklebt, mit Blut oder Dreck.

Der schwarze Wolf stand triumphierend mit seinen Vorderpfoten auf dem Körper des toten Berglöwen, als er mit seinen leuchtenden blauen Augen zu ihr blickte. Direkt in ihre Augen.

Selena sah, dass sie menschlich waren.

Alessios Augen.
 


 

To be continued.

Don’t want

Nicht wollen
 


 


 

„Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, begeht einen zweiten.“

- Konfuzius
 


 


 

Alessio sah zu ihr hinüber, sah ihren Schrecken durch ihre geweiteten Augen, roch ihre Angst. Er wollte ihr kein Bedrohungsgefühl geben, dass hatte er nie vor gehabt, im Gegenteil.

Er wollte derjenige sein, der sie schützte. Sie sollte ihn mögen, mit Problemen zu ihm kommen, ihm alles vertrauen können. Sich ihm anvertrauen. Nur ihm.

Aber jetzt, jetzt sah sie ihn ängstlich, abwertend und verschreckt an – all das, was er niemals sehen wollte.

Sie starrten sich einfach nur in die Augen, die Welt um sie herum schien still zu stehen. Keiner von beiden wendete den Blick ab, keiner von beiden wusste, was er tun sollte.

Alessio durchforstete seinen Kopf. Vielleicht war einer der Anderen ebenfalls verwandelt und er konnte die Situation mit Ratschlägen oder Ablenkung irgendwie retten. Doch er hoffte vergeblich.

Schließlich entschloss er sich dafür, dass zu tun, was noch falscher war. Sich zurückzuverwandeln. Dann wusste sie, dass sie es nicht geträumt hatte. Aber er konnte versuchen, mit ihr zu reden. Es war eine Zwickmühle, aber es blieb, für ihn, nichts anderes übrig.
 

Er kletterte von dem leblosen Berglöwen hinunter und stellte sich neben ihn. Selenas Augen folgten ihm. Sie hatten den Blickkontakt immer noch nicht unterbrochen. Doch sie schien fluchtbereit zu sein, denn ihre Haltung war sehr angespannt.

Alessio ließ sich langsam auf den Boden hinab, bis sein Bauch die Erde berührte. Noch immer hielt der Blick stand, doch dann verwandelte er sich. Er konnte Selena eher sehen, als sie ihn. Mit Absicht blieb er in der Hocke, da er nun nichts mehr anhatte. Sie sollte nicht noch mehr verschreckt werden.

Er sah sie blinzeln und dann, als sie ihn wieder sah, die Augen weiten. Ihre Lippen zitterten, sowie ihre Hand, die sie zur Faust ballte. „Das… das ist unmöglich…“ Sie wich einen Schritt zurück

„Selena.“ Sie zuckte zusammen, als sie ihren Namen aus seinem Mund hörte. Das versetzte ihm einen Stich im Herzen, den er zu ignorieren versuchte. „Ich weiß, es sieht unglaublich aus und du bist verängstigt, weist nicht, was das soll. Lass es mich erklären.“

„Nein!“ Fast schon hysterisch entglitt ihr diese Antwort.

Alessio würde am liebsten zu ihr gehen und sie einfach in seine Arme schließen. Aber da er nackt war, vermied er es. Er musste es so schaffen, sie zu beruhigen.

„Selena –“

„Halt den Mund!“, schrie sie ihn an. „Ich will keine Lügen mehr hören!“

Verzweifelt strich er seine Haare zurück, die ihm in die Augen hingen und von Blut und Dreck verklebt waren. Sie sahen nicht besser aus, wie der Rest seines Körpers. Er musste einen erschreckenden Anblick bieten. „Ich habe dich nie angelogen.“

„Das ist schon wieder eine Lüge!“

„Schrei doch bitte nicht so herum, oder möchtest du, dass andere aufmerksam werden?“

Sie warf aufgebracht die Hände in die Luft. „Ja, wieso nicht?!“

Alessio legte leicht den Kopf schräg. „Wie willst du ihn das ganze erklären?“

„Ich?! Wieso ich? Du bist doch der Irre. Du siehst auch so aus. Zeig ihnen doch einfach auch deinen netten Zaubertrick, ich bin sicher, sie können dich voll und ganz verstehen!“
 

Alessio war bewusst, dass Selena unter Schock stand. Trotzdem trafen ihre Worte ihn tief, und machten ihn zeitgleich wütend. „Ich kann nichts dazu.“

„Wozu kannst du nichts?!“

Jetzt entglitt ihm ein gefährliches Knurren, was sie sofort verstummen ließ. Aus ihren Augen verschwand die Wut und die Angst kam hervor. „Ich bin so geboren. Was erwartest du eigentlich im Moment von mir? Sollte ich gleich bei unserem ersten Treffen sagen, dass ich eine tierische Seite habe, einen Wolf? Du hättest mich, genauso wie jetzt, für verrückt erklärt. So dankst du mir also, und das, obwohl ich dich die ganze Zeit nur beschützt habe!“

Er sah, wie sie förmlich an Ort und Stelle erstarrte. „Du hast was…“. Nur ein leises Flüstern, aber Alessio verstand es bestens.

„Was hast du denn gedacht?“

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Wieso?“

Jetzt traute er sich doch und stand auf. Er sah sofort, wie ihre Augen seinen Körper begutachteten. Es sah aus, als müsste sie sich regelrecht zwingen, wieder in sein Gesicht zu gucken.

Dann stand er vor ihr. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf. Es entstand wieder ein tiefer Blickkontakt. Als könnte der jeweils andere in die Seele seines Gegenübers schauen.

„Wieso…“, flüsterte sie wieder, doch er antwortete nicht. „Alessio?“

„Du brauchst nun mal Schutz.“

Enttäuschung lag in ihrem Blick und sie wich von ihm zurück, doch dies hatte er nicht gewollt. „Selena.“

„Du lügst mich schon wieder an. Und wenn du nicht lügst, dann verschweigst du mir auf jeden Fall die Wahrheit.“

Mit Tränen in den Augen, die plötzlich hervor geschossen waren, drehte sie sich weg und wollte wegrennen, doch Alessio reagierte schneller als sie.
 


 


 

Sie wollte nicht mehr hier sein. Sie wollte nur noch weg von diesem Mann, der, auf irgendeine Weise und, ohne dass sie es bemerkt hatte, ihr Herz gestohlen hatte. Er log ihr mitten ins Gesicht, er hatte sie hintergangen, getäuscht und er war vor allem nicht normal.

Doch Selena hatte keine Möglichkeit davonzulaufen. Er hielt sie fest und presste sie an seinen Körper. Sein Arm lag um ihren Bauch. Sie versuchte ihn wegzuschieben, aber es gelang ihr nicht. Die Tränen rannen noch immer über ihre Wangen, tropften auf seinen Arm.

Selena wollte nur noch weg. Alessio hatte sie zu tief verletzt. Sie brauchte Abstand. Wieso verstand er das nicht?

„Selena, jetzt weine doch nicht.“ Sie spürte seine Finger über ihre rechte Wange gleiten. Er wischte ihr mit einer so sanften Geste die Tränen weg, dass sie sich am liebsten umgedreht und ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Aber sie tat es nicht. Auf irgendeine Weise wollte sie es nicht.

„Lass mich los, Alessio“ Ihre Stimme klang nicht so selbstsicher, wie sie es sich vorgestellt hatte. Man konnte ihre verletzte Seite heraushören.

„Hör mir doch bitte, bitte Selena, nur kurz zu. Lass es mich dir doch bitte erklären.“

„Nein! Ich will nicht!“ Sie schlug hinter sich, hatte völlig vergessen, dass er nackt war. Die Wirkung, die sein Körper auf sie hatte, ignorierte sie. Vergaß die körperliche Anziehung. Sie wollte nur noch weg von Alessio. Sie wollte allein sein.
 

Endlich löste sich der Arm um ihren Bauch und Selena stolperte nach vorne. Bevor sie auf die Knie fallen konnte, konnte sie sich mit den Händen abfangen und war schnell wieder aufgesprungen.

„Selena!“ Sie vernahm Alessios Stimme. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich auf sie zu bewegte.

„Lass mich in Ruhe!“ Selena rannte los, so schnell sie konnte, so weit weg von ihm wie möglich. Bis zu ihrer Wohnung war es nicht mehr sehr weit.

Schon im Laufen fischte sie mit zittrigen Händen ihren Schlüssel aus der Jackentasche und noch bevor sie zum stehen kam, war die Tür offen. Selena stürzte in den Flur des Hauses und drückte sich gegen die Haustür, damit diese schneller zufiel.

Als das Türklicken kam, atmete sie auf, doch gleichzeitig entwich ihr ein Schluchzen.

Dieser Mann hatte nichts für sie übrig. Er war ein Lügner. Und sie war zu geblendet von seinem Äußeren gewesen. Sie hatte sich Dinge eingebildet und vorgestellt, die niemals waren oder seien werden.

Selena rannte die Treppe hoch, bis zu der Tür ihrer Wohnung, schloss auf, ging hinein und als auch diese Tür geschlossen war, ließ sie sich einfach auf den Boden sinken und weinte.

Versuchte ihren Kummer unter einer Flut Tränen zu ersticken. Aber er wollte nicht weg. Nein, er blieb.
 


 


 

Er stand noch immer an der Stelle, an der Selena vor ihm geflüchtet war. Keinen Zentimeter war er abgewichen und noch immer starrte er in die Richtung, in die sie verschwunden war.

Er hatte es wirklich vergeigt. Sie dachte nun, er sei ein Lügner. Aber er hatte nie gelogen. Natürlich hatte er ihr sein Wesen verschwiegen, sie hätte ihm doch sowieso nicht geglaubt.

Knurrend versuchte er, sich zu fangen, seine Gefühle zu ordnen. Aber es war schwierig. Seit langer Zeit viel es ihm schwierig, diese Empfindungen zu kontrollieren.

Selena wollte ihn mit Sicherheit nicht mehr sehen, nur er wusste, er konnte und er wollte sich nicht mehr von ihr fernhalten. Er wollte, dass sie ihn akzeptierte, so wie er war. Dass sie für ihn empfand. Zunächst Freundschaft, aber was er sich wirklich wünschte, war Liebe.

Alessio störte es im Moment herzlich wenig, dass er nackt in der Gegend herumstand und sein Körper so aussah, als hätte er gerade einen Mord begangen, was er ja auch in irgendeiner Weise getan hatte.
 

Sein Blick wanderte zu dem toten Berglöwen. Er sollte die Leiche so schnell wie möglich verschwinden lassen. Wie sollte er jemanden erklären, wieso hier ein toter Berglöwe lag und er aussah, als wäre er durch die Hölle gegangen?

Das erinnerte ihn sofort an Selenas Worte: Du bist doch der Irre. Du siehst auch so aus. Zeig ihnen doch einfach auch deinen netten Zaubertrick, ich bin sicher, sie können dich voll und ganz verstehen!

Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, unterdrückte gleichzeitig die Wut, die wieder über ihn kam. Nie hatte eine Frau es gewagt, so mit ihm zu reden. Selbst die wenigsten Männer taten dies. Aber Selena hatte bewiesen, dass sie Mut hatte. Sie war nicht sofort abgehauen, sondern hat Stellungnahme genommen und er konnte wenigstens versuchen, ihr alles zu erklären. Auch wenn es am Ende weniger funktioniert hat.

Langsam lief er zu dem Tier hinüber und ging vor ihm in die Hocke. Als er dessen Lider hob, um sich die Augen anzuschauen, sah er, dass es sich definitiv um einen Wandler handelte. Dem Körperbau nach, war es ein Männchen. Er hatte so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Einen weiteren Berglöwen vernichtet und Selena beschützt.

Auch wenn er sie dadurch vielleicht verloren hatte, was er nie gewollt hat. Aber vielleicht war es besser für ihn. Besser für sie.
 

„Na, na, na, was sehen meine Augen denn da?“, ertönte eine hämische Stimme, nur wenige Meter von Alessio entfernt. Ein tiefes Grollen kam darauf aus seiner Kehle und seine Nackenhaare stellten sich auf. Alles in ihm schrie: Feind! Und so war es auch.

Alessio hob den Kopf und sah in zwei Augenpaare - ein schwarzes und ein blaugraues. Sie standen beide auf der anderen Seite der Leiche. Ein kaltes Grinsen schlich sich auf Alessios Gesicht. „Ich hab einen von euch umgebracht, dass siehst du hier, Samuel.“

Der Angesprochene konterte mit einem katzenhaften Fauchen. „Dafür wirst du büßen, dass weißt du. Aber nicht jetzt. Es wirkt, als hättest du schon so genug seelischen Schmerz zu verarbeiten.“ Diesmal war er es, der grinste.

Alessio knurrte leicht. Samuel Richardt war einer seiner größeren Feinde, der Chef des Berglöwenstützpunktes von Chicago. Immer wieder versuchte der Kater ihr Versteck zu finden, und andersherum war es nicht besser. Was Alessio über ihn wusste, war, dass er aus England, genauer gesagt aus Nottingham, kam, was man an seinem Akzent erraten konnte. Es gab fast niemanden, den er mochte. Und er wusste ebenfalls, dass Samuel ihn hasste, abgrundtief.

Dieser Hass spiegelte sich auch jetzt in dessen schwarzen Augen wider. „Hast du keine Angst? Du bist allein hier und wir sind immerhin zu zweit. Du bist angeschlagen, wir nicht.“

Mit wir spielte Samuel auf seinen Kumpanen an. Dieser hörte auf den Namen Tristan und war einer der engsten und einzigen Freunde von Samuel. Er unterstand ihm auch direkt und war sein Stellvertreter.

„Sam, ich denke, wir sollten ihn nicht extra noch provozieren. Wer weiß, wo der Rest ist.“ Alessio mochte beide nicht sonderlich, aber Tristan schon ein Stück mehr als Samuel. Er war nicht so hitzköpfig und dachte eher sachlich, als sein Boss.

Knurrend fuhr Samuel zu seinem Freund herum. „Vielleicht hast du Recht, aber so schnell bekommen wir diese Gelegenheit nicht wieder.“
 

Alessio erhob sich und baute sich nun vor ihnen auf. Der Gestank der Berglöwen verleitete seinen Wolf regelrecht dazu, sich wieder zu verwandeln und sie in Stücke zu reißen. Seine Wut, auf sich selbst und auf Selena fachte das ganze noch weiter an.

Auch Samuel nahm Kampfstellung ein, bis Tristan ihn an der Schulter anfasste. „Nicht.“

Dieses winzige Wort und diese kleine Geste zwischen den beiden erinnerte Alessio unweigerlich an früher. Damals, als er herausfand, dass sein bester Freund zu den Feinden gewechselt war. Das dieser für die Auslöschung seiner Familie verantwortlich war. Das dieser sie verraten hatte. Bis Alessio handelte. Und dieses Handeln bereute er noch bis heute.

Doch daran konnte er, im Angesicht zweier Feinde, jetzt nicht denken! Er musste sich konzentrieren.

Tristan zog wieder an Samuels Schulter, bis dieser schließlich sagte: „Wir werden noch weitere Chancen haben, dich zu töten, Alessio. Jetzt wäre es unfair, mit deinem seelischen Schmerz wäre es doch ein Kinderspiel für uns. Wir sehen uns schon bald wieder, verlass dich darauf.“

So schnell wie sie gekommen waren, waren sie wieder verschwunden. Der Berglöwengestank verschwand langsam und auch Alessios Wolf beruhigte sich.

Jedoch nur in der Hinsicht auf die Berglöwen. Sobald er an Selena dachte, waren die Wut, der Schmerz und die Enttäuschung wieder da.

Und würde vielleicht für immer da bleiben.
 


 

To be continued.

Persuasion

Überredungskünste
 


 

„Taten überreden eher als Worte.“

- Andrew Carnegie
 


 

15. Mai, 1. Jahr
 


 

In ihren Augen waren Wölfe immer wunderschöne Tiere gewesen. Sie können eine Geschwindigkeit von bis zu vierzig Meilen die Stunde erreichen und fünfundzwanzig Meilen am Tag zurücklegen. Sie sind bekannt dafür, dass sie ihre Beute erst einmal fünf Meilen weit verfolgen. Gute Kämpfer und noch bessere Killer sind sie – wie Selena am eigenen Leib erfahren hatte.

Schon seit fast zwei Wochen hatte sie Alessio nicht mehr gesehen. Doch das machte ihr nichts aus. Ihre letzte Begegnung war ihr noch gut im Gedächtnis geblieben.

Sie fühlte sich immer noch so hintergangen, wenn sie daran dachte. Nachforschungen hatten ergeben, dass Alessio ein Werwolf war. Und sie bezweifelte diese Existenz kein Stück mehr, immerhin hatte sie es mit eigenen Augen gesehen.

Sie sah nun jeden Wolf anders. Und diese wunderschönen Geschöpfe, die sie einst so bewundert hatte, waren in ihren Augen nur noch Lügen.
 

Doch merkwürdigerweise fühlte sie sich in den letzten Tagen so anders. So leer, als würde ihr irgendetwas Wichtiges fehlen. Des Öfteren starrte sie auch die Handynummer von Alessio an und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, ihn einfach anzurufen, um wieder seine Stimme hören zu können.

Kopfschüttelnd rührte sie weiter die Tomatensoße, die sie für das Mittagessen zubereitete. Ihre Schwester Helena war wieder bei ihr, dementsprechend fiel das Essen so aus, wie die Kleinere es wollte.

Helena betrat jetzt auch die Küche und sah ihre große Schwester von der Seite einfach nur an.

Selena wurde darauf aufmerksam und sah kurz zu ihr. „Was ist denn?“

„Hattest du mal wieder ein Date mit Alessio?“ Unschuldig lächelte sie.

Selena packte den Kochlöffel etwas fester an. Ein Date hatte sie noch nie mit ihm gehabt und nun würde sie vermutlich auch nie eines mit ihm haben. „Nein, hatte ich nicht.“

„Wieso das denn nicht? Ist er doch nicht so toll?“

Selena seufzte. „Lena, ich möchte nicht darüber reden. Alessio hat mir weh getan, okay? Vermutlich kann ich ihm das nicht verzeihen.“

„Hat er eine andere Freundin?“

„Ja“, log sie jetzt. Selena konnte ihrer Schwester doch niemals die Wahrheit sagen. Sie würde sie für verrückt erklären! „Ich habe mich in ihm getäuscht und fertig. Das Thema ist bei mir abgeschlossen.“

„Du wirkst aber nicht so.“

Verdammt, wieso ist sie nur so schlau?, schoss es Selena durch den Kopf, während sie den Herd ausschaltete.
 

„Treff dich doch mit ihm.“

Selena sah ihre kleine Schwester an. „Helena, ich möchte nicht. Es wäre schön, wenn du mich nicht weiter an ihn erinnern würdest. Darauf kann ich gern verzichten.“

Helena schnaubte kurz, bevor sie die Küche verließ und kurz darauf mit dem Telefon wieder kam.

„Was wird das denn jetzt?“, fragte Selena, als sie die Teller aus dem Schrank holte.

Helena wedelte mit einem Zettel vor ihrer Nase rum. „Ich ruf ihn jetzt an.“

Vor Schreck ließ Selena die Teller fallen, welche auf dem Boden in dutzende Teile zersplitterten. „Was?“

„Du hast schon richtig gehört. Wenn du zu feige bist ihn anzurufen, dann tu ich das eben.“ Sie begann die Nummer einzugeben, als Selena ihr das Telefon aus der Hand riss. „Man, Seli. Sonst wird das nie was.“

„Versteh doch, es soll nichts mehr werden. Es ist abgehakt für mich, okay? Häng dich da doch einfach nicht mehr rein, Lena.“

Helena sah ihre Schwester erst einige Sekunden an, bevor sie seelenruhig sagte: „Ich kenne dich, Seli. Du tust so, als wäre es dir egal, als wäre er dir egal, aber das ist nicht so. Egal was da vorgefallen ist, es beschäftigt dich. Vielleicht hättest du gern, dass es dir gleich wäre, aber es ist nun mal nicht so.“

Verblüfft über die Ansprache ihrer Schwester sah Selena sie einfach nur an. Bis sie schließlich „Du hast recht“ hervorbrachte.
 

Helena hielt ihrer Schwester die Nummer unter die Nase. „Ruf ihn an und tu, was du tun musst.“ Als Selena schon widersprechen wollte, fügte sie hinzu: „Wenn du’s nicht probierst, weist du nicht, was vielleicht hätte passieren können.“

Und genau dieser Satz war der ausschlaggebende Punkt für Selena, den Mut zu fassen, Alessio anzurufen. Auch wenn sie immer noch ihre Zweifel hatte, Helena hatte recht: sie sollte es versuchen und das irgendwie klären. Falls es zu klären ging.

„Ich geh auch raus, wenn dir das lieber ist.“ Helena schnappte sich schon ihre Schuhe und zog sie ruckzuck an.

Selena lächelte. „Danke, Lena. Für das ganze.“

Ihre Schwester erwiderte das Lächeln. „Gern, Seli. Ich bin auf dem Spielplatz, so eine halbe Stunde.“ Mit diesen Worten flitzte sie aus der Wohnung.
 

Nun war Selena allein und sah auf das Stück Papier hinunter, auf dem diese Handynummer stand. Elf Zahlen. Sie hatte sich diese Zahlen schon so oft angeschaut, dass sie sie fast auswendig kannte.

Ihr Herz klopfte, als sie diese Zahlen in ihr Handy eingab. Dann zögerte sie. Konnte sie wirklich bei ihm anrufen? Was würde er wohl sagen? Würde er überhaupt abnehmen?

Ihre Hände zitterten, als sie das Handy an ihr Ohr hielt. Es kam ein Freizeichen. Dann ein weiteres. Und noch eins. Selena bekam Zweifel und Enttäuschung machte sich in ihr breit. Er wollte nicht mit ihr reden.

Doch gerade als sie auflegen wollte hörte sie seine Stimme: „Hallo?“

Ihr Herz schlug schneller und aufgeregt nahm sie ihr Handy wieder an ihr Ohr. Doch kein Ton verließ ihre Lippen. Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein! Jetzt hatte sie schon den Mut ergriffen und er war wirklich dran gegangen, und jetzt das!

„Wenn Sie nichts sagen wollen, dann lege ich wieder auf.“

Genau das wollte Selena nicht. „Hallo Alessio.“ Das war auch nicht gerade Glanzleistung von ihr gewesen. Jetzt wusste er ja nicht einmal, mit wem er überhaupt sprach. Aber da hatte sie sich getäuscht. Denn er hatte sie erkannt.

„Selena.“ Doch seine Stimme klang plötzlich verändert. Bevor sie etwas gesagt hatte, war sie sachlich, eher geschäftsmäßig gewesen. Doch jetzt klang sie so, als müsste er sich beherrschen, nicht von seinen Gefühlen überrannt zu werden. „Wieso rufst du an?“

„Na ja…“, fing sie an, doch dann stockte sie. Was sollte sie ihm sagen? Dass alles blöd gelaufen war? Sie unfaire Dinge zu ihm gesagt hat? Sie trotzdem verletzt war, dass er gelogen hatte? Dass sie ihn vermisste? Immerzu an ihn dachte? Ihn brauchte? „Ich hab in den letzten Tagen viel nachgedacht.“

Es raschelte am anderen Ende. Dann antwortete Alessio mit belegter Stimme: „Und?“
 

Sie biss sich auf die Lippen. „Ich würde gern noch einmal mit dir reden über diese Nacht. Ich sehe jetzt einiges anders als zu diesem Zeitpunkt.“

Sie hörte sein leises Seufzen. „Du machst es mir wirklich nicht einfach. Ich konnte einen großen Teil deiner Reaktionen verstehen, einen anderen nicht. Auch ich habe darüber nachgedacht. Und du hast mich mit den einen oder anderen Worten auch verletzt. Aber, ich bin nun mal nicht perfekt, Selena. Das war ich nie.“

„Es tut mir leid, dass ich dich als Irrer beschimpft habe und –“ Doch sie wurde unterbrochen von ihm: „Du hast dich in einem Schockzustand befunden. Jeder hätte so etwas wie du gesagt, oder so reagiert, glaub mir. Ich habe das schon oft erlebt.“

Selenas Alarmglocken schrillten. Wie er das wohl meinte? Er hatte das schon oft erlebt. Mit wie vielen Frauen hatte er das schon durchgemacht? Eifersucht stieg in ihr auf. „Darf ich dich etwas fragen?“

„Ja.“

„Kam so etwas schon öfter mit Frauen vor?“

Schweigen kam ihr entgegen. Sofort festigte sich ihre Meinung. Sie hatte recht, so etwas kam bei ihm schon viel öfter vor. Deswegen hatte er sich sicherlich auch nicht gemeldet. Dann antwortete er: „Nein, nur mit einer einzigen, und nun dir. Bevor du wieder behauptest, dass ich lüge, ich habe es nie getan und ich schwöre dabei auf alles, was mir lieb ist.“

„Ich glaube dir.“ Das tat sie wirklich. Sie wusste nicht genau wieso, aber sie vertraute ihm. Aber eine Sache musste sie noch unbedingt wissen. „Wieso hast du mich beschützt?“

Wieder schlug ihr Stille entgegen. Selena konnte das Blut in ihren Ohren rauschen hören und ihre Beine zitterten leicht. Diese Situation ging ihr nervlich viel zu nah. Deswegen ließ sie sich auf den Boden sinken und wartete auf seine Antwort.

„Können wir uns vielleicht treffen? Ich würde dir das, wenn dann, gern persönlich erklären. Ich möchte dir so vieles erklären und zeigen. Wenn du einverstanden bist.“

Sofort war sie hellhörig. „Erfahre ich dann mehr über dich?“

Seine knappe Antwort überzeugte sie: „Ja, das wirst du.“
 

„Wann treffen wir uns, und wo?“

Als Alessio antwortete, war seine Stimme voller Enthusiasmus und Selena bildete sich sogar ein, Freude und neue Hoffnung herauszuhören. „Ich komme zu dir und hole dich ab, sobald ich Zeit habe.“

Jetzt musste sie ganz auf ihn vertrauen, dass er sein Wort hielt. Denn, falls er es nicht hielt, würde sie nicht wieder bei ihm anrufen. Sie war nicht der Typ Frau, der Männern hinterherlief. „Ist okay. Und, wenn ich nicht zu Hause bin, wenn du vorbeikommst?“

„Lass das ganz meine Sorge sein. – Ich muss jetzt auflegen. Ich habe mich sehr gefreut, dass du mich angerufen hast. Ich habe mich nicht getraut, dich aufzusuchen. Bis dann.“ Bevor sie antworten konnte, hatte Alessio aufgelegt.

Ihr Herz klopfte wieder wie wild in ihrer Brust. Er hatte sich nicht getraut, sie aufzusuchen? Das klang für sie immer noch unglaublich. Man brauchte sich Alessio nur anzuschauen und wusste, dass er sicherlich alles haben konnte, was er wollte. Und dann traute er sich nicht, sie, Selena Galanis, aufzusuchen?

Sie musste ihm wichtiger sein, als sie gedacht hatte. Oder er hatte eine andere Seite, die sie noch nicht kannte.

In ihrem Bauch kribbelte es. Selena freute sich sehr auf das Wiedersehen mit ihm und auch die Aussprache. Nur eines bereitete ihr Gewissensbisse: er hatte gesagt, dass sie ihn auch verletzt hatte. Womit? Als sie sich entschuldigen wollte, hatte er es abgetan.

Grübelnd saß sie auf den Boden und bemerkte nicht, wie ihre Schwester wiederkam. „Und, wie ist es gelaufen?“

Selena sah zu ihr hinauf. „Hm? – Achso! Tut mir leid. Also, ich werde mich mit ihm treffen.“

Kreischend fiel Helena ihrer Schwester um den Hals, was dieser ein Lachen entlockte. „Wieso rastet du da so aus?“

„Weil ich mich so für dich freue, Seli. Ich finde euch prima zusammen:“ Mit leuchtenden Augen sah sie Selena an. „Wann ist es soweit?“

„Er kommt vorbei, wenn er Zeit hat.“

Helenas Augen wurden größer. „Dann hast du ja ganz schönes Vertrauen in ihn.“

Ja, das musste sie wirklich haben. Doch wo das herkam, konnte sie sich nicht erklären. Genauso wenig, wie dieses Kribbeln im Bauch, was sie bei dem bloßen Gedanken an Alessio verspürte.

Mit einem Lächeln schob sie ihre Schwester etwas von sich. „Komm, jetzt wird aber gegessen. Das Essen ist doch sicherlich schon kalt.“

Helena lachte. „Dann machen wir es eben wieder warm!“

Dadurch musste Selena wieder lachen und Helena stimmte kurz darauf mit ein.
 


 

Gerade als er aufgehört hatte, auf das Telefon zu starren, klopfte es an seine Wohnungstür. Alessio seufzte in Gedanken. Eigentlich hatte er ziemlich deutlich gemacht, dass er nicht gestört werden wollte. „Nein.“

Doch seine Tür öffnete sich. „Ich habe nein gesagt.“

„Entspann dich.“ Matthew kam in den Raum, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. „Du buddelst dich doch sonst nicht so in deiner Wohnung ein.“

„Matt, nerv mich bitte nicht.“

„Mit was?“

Diesmal seufzte Alessio genervt auf. „Mit deiner Ausfragerei. Es ist alles in Ordnung.“

„Du hast Scheiße gebaut.“

Alessio sah seinen Freund an. „Irgendwie schon.“

„Wusste ich’s doch.“ Matthew stieß sich von der Tür ab, schnappte sich den Drehstuhl von Alessios Schreibtisch, setzte sich rittlings drauf und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Rückenlehne ab. „Du kannst mit mir erzählen. Ist besser als Frust in sich rein zu fressen.“

Alessio setzte sich auf. „Weist du noch, als ich zu euch gesagt habe, dass ich da so eine Frau kennengelernt habe?“

Matthews Augen wurden groß. „Ist es ernst geworden?“

„So ähnlich. Sie weiß, was ich bin. Ich habe mich vor ihren Augen zweimal verwandelt. Und jetzt habe ich ihr versprochen, dass ich ihr alles erkläre.“
 

Matthew fasste sich an den Kopf. „Man, Alter, du bist doch sonst nicht so verantwortungslos. Ist sie eine von uns?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Ist sie es wenigstens wert?“

Alessio sah seinem Freund direkt in die Augen und mit einer sicheren Stimme sagte er: „Ja, sie ist es definitiv wert.“
 

To be continued.

Small moment

Kleiner Moment
 


 


 

„Man müsste das Leben so einrichten, dass jeder Moment bedeutungsvoll ist.“

- Iwan Turgenjew
 


 

17. Mai, 1. Jahr
 


 

Tony umarmte ihre Freundin stürmisch und würde sie wohl nicht mehr so leicht loslassen. „Du hättest dich doch ruhig mal melden können, Selena. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“

Selena tätschelte leicht ihren Rücken und löste die Umarmung. „Tut mir leid, aber mir ging es nicht so gut in den letzten Tagen.“

„Tagen? Du warst über eine Woche krank.“

„Jetzt bin ich es doch nicht mehr.“

Tony schnaubte, gespielt entrüstet, und lächelte dann ihre Freundin an. Diese erwiderte das Lächeln.

Selena war, seit einiger Zeit mal wieder, am Filmset. Da ihre kleine Schwester Helena noch immer bei ihr war, hatte sie sie kurzerhand mit zur Arbeit genommen. Denn Tony hatte recht, sie hatte lange gefehlt. Aber nicht wegen Krankheit, außer man bezeichnet Herzschmerz als diese.

In der Zeit ihrer Abwesenheit hatten sie eine weitere Visagistin eingestellt, die schon fröhlich am werkeln war. Selena beobachtete das mit Missmut und etwas Angst. Würde Erik sie rausschmeißen, nur weil sie für einige Tage krank geschrieben war? Wenn diese andere besser war als sie, dann mit Sicherheit.

„Sie ist nicht besser als du.“ Als könnte Tony ihre Gedanken lesen. Erstaunt sah Selena zu ihrer Freundin, die nur schulterzuckend antwortete: „Man sieht dir an, was du denkst.“

Verwirrt wendete sich Selena wieder ab. Manchmal war es mit Tony wirklich merkwürdig. Auf irgendeine Weise war Tony selbst merkwürdig. Selena konnte sich das nie so recht erklären.

Helena kam dazu und zog an ihrer Hand. „Du, Seli, kannst du mir zeigen, was ihr immer so alles hier macht?“

„Klar.“ Sie nahm ihre Schwester an der Hand, damit sie nicht verloren ging und zeigte ihr das Set.
 


 

Als ihre Arbeitszeit offiziell für diesen Tag vorbei war, packten Selena und Tony ihre Sachen zusammen. Zu Selenas Argwohn hatte sie den ganzen Tag über nichts tun dürfen. Wahrscheinlich war die andere Visagistin wirklich einfach besser als sie.

Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe. Wann würde Erik ihr wohl sagen, dass sie nicht mehr gebraucht wurde?

„Hör doch endlich auf darüber nachzudenken“, erklang Tonys Stimme, während sie den Reißverschluss ihrer Tasche zu zog. „Erik schätzt dein Können. Wenn er dich rausschmeißen würde, würde er doch nur Verluste machen.“

Selena nahm ihre Tasche. „Jetzt übertreib bitte nicht.“

„Wenn ich übertreibe, dann sieht das anders aus.“ Tony zwinkerte ihrer Freundin zu, welche sich ein leichtes Lächeln abrang. Aber Selenas Sorge blieb weiterhin bestehen.

Helena zog an ihrer Jacke. „Kommst du dann, Seli? Wir wollten doch noch einkaufen und die Läden machen bald zu.“

„Ich kann euch auch fahren“, warf Tony ein, doch Selena schüttelte den Kopf. „Schon gut, musst du nicht. Hol lieber Dustin und verbring die restlichen Stunden mit ihm.“

Tony lächelte. „Ganz wie ihr meint. Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend.“

„Gleichfalls“, erwiderte Helena und zog ihre große Schwester am Arm mit.
 

Draußen war es kälter als gedacht. Selena zog ihre dünne Jacke enger um sich, da der Wind ziemlich stark blies. Auch Mitte Mai nichts Ungewöhnliches, wie Selena wusste. Auch wenn sie noch nicht so lang in Chicago lebte, sie wusste, was für ein unbeständiges Wetterverhältnis hier herrschte. So kam es auch vor, dass es Anfang Juni schon einmal geschneit hatte.

Auch Helena zitterte leicht. „Wir müssen uns aber beeilen, Seli.“

„Sehe ich auch so, komm.“

Gemeinsam liefen sie, dicht nebeneinander, die Straße hinab. Doch Selena hatte ein merkwürdiges Bauchgefühl. So eines hatte sie schon einmal. Und zwar an dem Abend, an dem Norman sie überfiel und Alessio sie rettete.

Aus Angst nahm sie die Hand ihrer Schwester. Leichte Panik stieg in ihr hoch. Aufmerksam lauschte sie auf jedes kleine Geräusch und sah sich immer wieder aufmerksam um.

„Was ist los, Seli?“

„Nichts. Ich habe nur ein komisches Gefühl.“

„Ich auch“, raunte Helena ihr zu, was Selena nur veranlasste, ihr Tempo zu beschleunigen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz jeden Moment ihren Brustkorb sprengen würde, so kräftig schlug es vor Aufregung.
 

Schnell bogen die Schwestern um die nächste Straßenecke, als plötzlich jemand in ihrem Weg stand. Helena kreischte auf und umschlang sofort Selena, die sie an sich drückte und dem Fremden den Rücken zudrehte, damit er Helena nichts tun konnte. Sie selbst sah über ihre Schulter zu ihm. „Was soll das werden?!“

Das Haar des Fremden besaß im leichten Straßenlicht einen bläulichen Schimmer und dasselbe blau fand sich in seinen Augen wieder, die sie aufmerksam ansahen. Er brach den direkten Blickkontakt nicht ab – er hatte ihn schon die ganze Zeit gehalten. Er war total auf Selena fixiert.

Das war gut, so würde er wenigstens ihre kleine Schwester in Ruhe lassen. Das hoffte Selena jedenfalls. Denn er war einen ganzen Kopf größer als sie und von einer Statur gegen die Selena niemals ankommen würde.

„Sind Sie Selena Galanis?“

Sie schluckte, hielt aber den Blickkontakt weiter stand. Eigentlich wollte sie sich umschauen, ob ihr irgendjemand zur Hilfe kommen könnte, aber sie traute sich nicht diesen Mann aus den Augen zu lassen. Auch um Hilfe schreien kam für sie nicht in Frage. Er könnte sie schneller abwürgen, als dass ein Ton ihre Lippen verlassen hätte.

„Wer will das wissen?“ Ihre Stimme zitterte leicht, was auch ihm nicht entgangen zu sein schien. Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. „Ich möchte Ihnen keine Angst machen.“

„Oh, aber genau das tun Sie.“ Selena bekam das Bedürfnis, zu kichern, aber sie unterdrückte es. Sie hasste ihre Hysterie in solchen Situationen.

„Beruhigen Sie sich bitte. Ich bin ein Freund von Alessio.“
 

Selena wurde hellhörig. Er soll ein Freund von Alessio sein? Na ja, rein vom Körperbau und der Erscheinung her musste sie zugeben, dass sie Freunde sein könnten. Er wirkte auch nicht komplett menschlich. Probehalber schnupperte Selena leicht durch die Luft und konnte einen erdigen Geruch wahrnehmen.

„Sind sie auch ein – na ja, so besonders?“

Er nickte. „Er hat mich gebeten, Sie abzufangen. Mein Name ist Matthew, aber nennen Sie mich ruhig Matt.“

Selena atmete hörbar aus und löste ihre Arme von Helena, die sie vorher schützend um ihre Schwester geschlungen hatte. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen so ganz vertrauen kann.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich werde Ihnen nichts tun. Das ist ein Versprechen. Außerdem würde mir ansonsten Alessio etwas tun.“

Jetzt war es an Selena zu lächeln. Alessio hatte wirklich sein Versprechen gehalten, was er vor zwei Tagen abgegeben hatte. Zwar war er nicht persönlich gekommen, um sie abzuholen, aber was machte das schon? Er hatte immerhin an sie gedacht und das wärmte ihr Herz immer mehr.

Helena sah argwöhnisch zu Matthew hinauf. „Wieso schimmern deine Haare blau?“

Matthew legte den Kopf leicht schräg und lächelte. „Neugierig?“

Helena nickte. Grinsend antwortete er ihr: „Das macht die Tönung.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick sah er zu Selena, die es sofort verstand. Es hatte was mit Magie zu tun.
 

„Und, wie soll das jetzt weiter ablaufen?“

Matthew zog etwas aus seiner Hosentasche, was sich als Handy entpuppte. „Ich werde Alessio anrufen, dass er herkommt. Das wäre vielleicht erst einmal am günstigsten.“

„Ja.“

Selena sah Matthew zu, während er die Nummer wählte. Doch dann drehte er sich weg, lief ein paar Schritte und flüsterte schon fast ins Telefon, wobei Selena kein Wort verstand.

Helena zog an dem Arm ihrer Schwester. Als Selena sie ansah, murmelte sie hinter vorgehaltener Hand: „Ist er wirklich Alessios Freund?“

Selena sah wieder zu Matthew hinüber. „Ich hoffe es.“

Im nächsten Moment klappte Matthew sein Handy zu, steckte es weg und kam zu ihnen zurück. „Er wird bald hier sein und ist schon unterwegs.“

Helena wandte sich an Matthew und stellte ihm eine Frage, aber diese bekam Selena gar nicht mehr mit. Sie war in ihre Gedankenwelt abgedriftet.

Aufmerksam wanderte ihr Blick der Straße entlang. Sie erhoffte jeden Moment, Alessio zu sehen. Schon allein bei dem Gedanken, dass er gleich vor ihr stehen würde, kribbelte es in ihrem Bauch. Auch wenn sie sich gestritten hatten und es nun zu klären versuchten, sie freute sich sehr über das Wiedersehen.

Helena hatte Recht gehabt, sie hätte es sich nie verziehen, wenn sie nicht angerufen hätte. Denn Alessio wollte sich ja mit ihr treffen und er tat es, und zwar jeden Moment.
 

Selena bemerkte gar nicht, wie sich Matthew und Helena etwas entfernt hatten und erst recht bemerkte sie nicht, wie jemand anderes hinter sie getreten war. „Hallo Selena.“

Aus ihrer Traumwelt gerissen, drehte sie sich erschrocken herum und sah in strahlendblaue Augen. Dieser kleine Moment würde immer in ihrem Gedächtnis bleiben, denn seine Augen sprachen Bände.

Es war ein Moment für die Ewigkeit, ein kleiner Moment, den sie für immer in ihrem Herzen behalten und einschließen würde.

Denn es stand Liebe in seinen Augen.
 


 

To be continued.

Shapeshifter

Gestaltwandler
 


 


 

„Wahrheit ist die Übereinstimmung von Denken und Sein.“

- Thomas von Aquin
 


 

Sie blinzelte, als sie dem Blick nicht mehr standhalten konnte und senkte den Kopf. „Alessio.“ Sein Name kam mit einem heiseren Flüstern über ihre Lippen. Sie konnte noch nicht ganz glauben, was sie gesehen hatte.

Oder war es am Ende nur Einbildung gewesen? Sie hatte deutlich Liebe in seinen Augen gesehen. Richtig warm hatten sie sie angestrahlt.

Zögerlich hob sie ihren Kopf wieder, und sah, dass er sich kein Stück bewegt hatte. Seine Augen ruhten immer noch auf ihr. Und in ihnen lagen immer noch die Gefühle, die sie sich ersehnte.

„Du hast dein Versprechen gehalten.“

Er blinzelte, als er ihre Stimme vernahm, so als hätte er sie bisher gar nicht wahrgenommen. Dann lehnte er seine Stirn gegen ihre, wodurch der Abstand zwischen ihnen sehr gering wurde. „Natürlich. Hast du kein Vertrauen in mich?“ Seine leise Stimme strich wie Samt über sie.

„Doch.“ Ihre Stimme war immer noch ein leises Flüstern. Die Luft um sie herum schien unter Strom zu stehen. Die Anspannung war fast greifbar. Sie waren sich so nah wie schon lange nicht mehr. Selena sehnte sich nach ihm, und war froh über die Nähe, die er ihr momentan gab.

„Alessio.“ Sie schloss halb die Augen, während sie gegen seine Lippen flüsterte: „Es tut mir leid.“

Sie spürte eine sanfte Streifung seiner Lippen mit ihren. „Scht…“ Dann küsste er sie so sanft, dass Selena am liebsten geschmolzen wäre. Sie hielt sich an seinen Armen fest und gab sich dem Kuss ganz hin. Sie bot sich Alessio regelrecht dar.
 

Alessios Besinnung kehrte mit einem Schlag zurück. Er wollte gar nicht so weit gehen. Nein, eigentlich war er doch sauer auf sie gewesen. Und jetzt stand er hier und küsste sie. Dass er sie vermisst hatte, stand gar nicht zur Debatte. Aber er hatte gedacht, dass er sich besser unter Kontrolle hätte.

Trotzdem noch sanft, löste er sich von ihr und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. „Ich kann dir verzeihen. Sofern du dazu bereit bist, mir zuzuhören und dir alles erklären zu lassen.“

Selena nickte leicht, worauf er sie auf die Stirn küsste und anschließend los ließ. „Ist Matthew auch ein –“

„Ja. Hat er dir doch gesagt, oder nicht?“

„Schon, aber ich wollte dich noch einmal fragen.“

Alessios Mund umspielte ein kleines Lächeln. „Verstehe.“ Dann wurde er wieder ernst. „Kommst du mit uns mit?“

Sie biss sich auf die Unterlippe und sah zu Helena, die sich aufgeregt mit Matthew unterhielt und wild mit ihren Händen gestikulierte. „Ich muss auf meine Schwester aufpassen.“

„Sie kann auch mit.“

Energisch schüttelte sie ihren Kopf. „Nein. Sie soll nichts darüber erfahren, Alessio. Es ist doch schon für mich zuviel gewesen. Besser sie weiß es niemals.“

„Ich habe nicht vor, ihr irgendetwas davon zu erzählen, oder zu zeigen. Aber sie kommt trotzdem mit.“ Verwirrung schlug ihm aus Selenas Gesicht entgegen, was ihn amüsierte. Mit einem leisen Lachen fuhr er fort: „In ein paar Minuten wird sie so müde sein und so fest schlafen, dass sie rein gar nichts mitbekommen wird. Bis ihr wieder zu Hause seid.“

Selena stockte der Atem. „Ihr wendet Magie an.“

„Nein. Matthew wendet Magie an. Irische Magie. Sie wird erst aufwachen, wenn sie sich in deiner Wohnung befindet, in einem Bett. So können wir euch mitnehmen, ohne das sie irgendetwas mitbekommt.“

„Ist das ungefährlich?“

„Aber ja doch.“ Er sah sie aus seinen kornblumenblauen Augen an. „Ich würde nie irgendetwas tun, was dir oder Menschen, die dir wichtig sind, schaden könnte.“

Ein leises „Danke“ raunte sie ihm zu, bevor sie wieder zu Helena sah.
 

Matthew fing sie gerade auf, als sie zur Seite wegknickte. Selena wollte sich schon in ihre Richtung bewegen, doch Alessio hielt sie sanft fest. Als sie zu ihm emporblickte, deutete er leicht wieder in Matthews Richtung.

Sie sah, wie er Helena ganz sanft hochnahm, als wäre sie zerbrechliches Porzellan. Ihr schien es auf seinen Armen zu gefallen, denn sie kuschelte sich im Schlaf an seine Brust.

Dann kam er zu Alessio und Selena herüber. „Vielleicht sollte ich schon mal vorgehen, Helena soll nicht frieren und ihr wollt mit Sicherheit noch reden.“ Matthew sah Selena an und lächelte sanft. „Mach dir keine Sorgen, bei mir ist sie gut aufgehoben.“

Sie nickte. „Ich vertraue dir.“

„Danke.“ Dann glitt sein Blick zu seinem Freund. „Hals- und Beinbruch. Wir sehen uns dann später.“ Mit diesen Worten ging er weiter, in eine, für Selena, unbestimmte Richtung.

Alessio hielt ihr seine Hand hin. „Komm, wir sollten auch langsam aufbrechen. Es ist schon ein ganzes Stückchen.“

Sie legte ihre Hand in seine. Sie war rau und zeugte von einem harten Leben, aber es war nicht unangenehm. Sie mochte seine Hände. Genau genommen mochte sie ja irgendwie alles an Alessio. Sie hatte noch nie einen Mann getroffen, der so eine Anziehung auf sie ausübte. „Wohin gehen wir denn?“

„Zu unserem Zuhause. Du wirst nach meinen Erzählungen verstehen, wieso wir dort wohnen und nicht woanders.“
 

Sie gingen langsam los, Hand in Hand. Zunächst schwiegen sie sich an. Doch beiden war das Schweigen unangenehm. Selena wartete nur darauf, dass Alessio anfing zu erzählen.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Alessio fuhr sich mit seiner freien Hand durch die Haare. „Vielleicht kannst du mit einer Frage anfangen?“

„Vielleicht erklärst du mir erst einmal, was du nun eigentlich bist.“

„Meine Spezies nennt man Gestaltwandler. Meine Gefährten und ich, wir verwandeln uns in Wölfe, das hast du ja gesehen. Dabei unterscheiden wir uns nur in einer Sachen von echten Wölfen, du erkennst es nur an den Augen.“

„Ja, das ist mir schon aufgefallen. Wie viele seid ihr?“

„Wir sind eigentlich acht Krieger. Einer davon ist mit seiner Frau gerade in seiner Heimat. Dann hat ein weiterer noch eine Frau und der dritte hat seine letztens verloren.“ Tiefe Trauer war am Ende des letzten Satzes aus seiner Stimme zu hören.

Selena drückte sanft seine Hand. Sie wollte ihm damit zeigen, dass er nicht allein war. „Das tut mir leid. Es muss schrecklich sein.“

Alessio nickte. „Vielleicht siehst du ihn, dann verstehst du, was ich meine.“ Er räusperte sich und sah wieder nach vorne. „Jedenfalls gibt es einige von uns, auf der Erde, schon länger als die Menschen. Mittlerweile sind wir nur noch ein kleiner Zusammenschluss von ein paar Tausenden weltweit. Es gibt da noch die anderen Wandler, die Katzen, die sich in Berglöwen verwandeln können. Ihre Anzahl ist etwas größer als unsere. Und wir stehen im Krieg mit ihnen.“

„Wieso?“

„Es geht um die Vorherrschaft, den alten Kampf Katze gegen Hund. Von dem hast du sicherlich schon gehört. Dann streiten wir uns um die gleichen Frauen. Aber vor allem geht es darum, die anderen Spezies auszurotten. Die Menschen wissen davon nichts, und so soll es auch bleiben.“ Er sah sie an. „Fünfundneunzig Prozent von uns werden von klein auf zu Kriegern ausgebildet um später gegen die Berglöwen zu kämpfen. Nur fünf Prozent halten sich aus allem raus und möchten nichts damit zu tun haben.“
 

Selena strich sich einige ihrer Haarsträhnen zurück. „Aber ihr schickt keine Kinder in den Kampf?“

„Nein. So grausam sind wir nicht.“ Er hörte, wie sie erleichtert ausatmete und lächelte leicht. „Kinder sind für uns alles, ein Geschenk. Wir würden sie nicht leichtfertig in den Kampf schicken. Und jeder kann selbst entscheiden, was er später tun möchte. Aber egal, wie man sich entscheidet, wir haben alle einstimmig ein Tattoo.“

Fragend sah sie zu ihm empor. „Ein Tattoo?

Er blieb stehen und da er sie noch immer an der Hand festhielt, musste auch sie stehen bleiben. Sie blickte ihn nur verwirrt an, und ihre Augen nahmen einen erstaunten Ausdruck an, als er seine Jacke aufzog und sein T-Shirt langsam hochzog. Im Schein der Straßenlaterne sah sie oberhalb seines Bauches einen verschnörkelten Schriftzug in einer Sprache, die sie nicht kannte.

„Jeder, der als Wolf geboren wird, hat diesen Tattoo irgendwo auf seinem Körper. Es sind unsere Glaubenssprüche, in der Sprache unserer Vorfahren. Die Berglöwen haben auch eines, bei denen ist es eine springende Katze.“

Selena nickte und nachdem Alessio sich wieder angezogen hatte, suchte sie seine Hand. Er erfasste ihre, hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken und dann gingen sie weiter. Alessio mied zwar ihren Blick, doch sie hörte nicht auf, ihn anzulächeln. Ihr war warm geworden, durch seine kleine, herzliche Geste und deswegen verschränkte sie ihre Finger mit seinen. Er ließ es zu.
 

Doch dann bemerkte sie etwas. „Du wirkst so angespannt.“ Erst jetzt fiel Selena auf, dass er noch nie wirklich entspannt gewirkt hat. „Was hast du?“

„Nichts. Es ist nur so, dass mein Wolf sich in der Großstadt nicht so wohl fühlt. Wir lieben mehr die Natur und die Freiheit. Wir sind eben zur Hälfte Tier.“

„Könnt ihr euch eigentlich immer verwandeln? Oder geht das nur bei Vollmond?“

Er schüttelte den Kopf. „Es funktioniert immer. Nur wir beschränken uns auf nachts und da nur auf Ausnahmesituationen. Meistens sind wir anderweitig bewaffnet. Wir vermeiden Verwandlungen in Menschennähe.“ Alessio sah sie direkt an. „Nur bei dir hatte ich damals keine Wahl.“

Sie sah auch zu ihm empor. „Kann man euch einfach so töten?“

Ein unheimliches Grinsen schlich auf sein Gesicht. „Hast du vor, mich abzustechen, wenn ich es nicht erwarte?“

Energisch schüttelte Selena den Kopf. „Nein, ich dachte nur, es wäre vielleicht nicht schlecht, dass zu wissen. Falls mich mal wieder jemand angreift.“

Alessio fiel plötzlich ein, das ja ihr Ex-Freund Norman noch immer hinter ihr her war – und der war einer der Berglöwenwandler. „Nein. Man kann beide Wandlerarten töten, indem man entweder selbst ein Wandler ist oder man eine Waffe hat, in die Chrom eingearbeitet wurde.“

„Chrom? Dieses silbrige Metall?“

„Ja, genau das. Es wirkt richtig giftig auf uns.“ Alessio zog einen Dolch hervor und hielt ihn ihr hin, damit sie ihn sich anschauen konnte. „Das, was hier sich so glänzend durchzieht“, dabei deutete er auf einen dickeren Streifen an der Klinge, der silbern glänzte, „das ist das Chrom. Es ist in all unseren Waffen. In den Dolchen, Messern, Schwertern und allen anderen Nahkampfwaffen. Aber wir pressen es auch in unsere Munition für die Pistolen.“

„Verstehe.“ Selena schien zu überlegen, was Alessio natürlich nicht entging. „Was geht dir durch den Kopf?“ Sie wies ihn mit einer Handbewegung an, ihr den Dolch auszuhändigen. „Den würde ich gern haben. Man weiß ja nie, was passiert.“

Alessio reichte ihr den auch, und sie steckte ihn ein. Auch wenn sie sich anders verteidigen konnte, zum Beispiel mit ihrem persönlichen Fluch, wollte sie es nicht darauf anlegen. Es musste ja nicht wie damals werden.
 

Kopfschüttelnd vertrieb sie die Gespenster der Vergangenheit. Die Gegenwart war nun viel wichtiger. Alessio war viel wichtiger. Das Hier und Jetzt zählte.

Und auf Anhieb fiel ihr auch die nächste Frage für ihn ein. „Bei deinem Tattoo vorhin, da hast du gesagt, dass das in der Sprache eurer Vorfahren sei. Wie lange gibt es euch schon?“

„Das habe ich schon mal so am Rande erwähnt. Uns gibt es schon immer. Wir leben entweder als Tier oder als Mensch versteckt unter anderen und bis auf ein paar kleine Fehler haben Menschen nie von uns erfahren. Durch uns ist dieser Mythos um Werwölfe entstanden, einige konnten sich eben im Laufe der Zeit nicht beherrschen.“

„Und wie lebt ihr so? Mehr als Mensch oder mehr als Wolf?“

„Das ist unterschiedlich, ganz wie wir möchten oder es brauchen. Je öfter wir als Wolf umherstreifen, desto mehr Muskeln sammeln sich mit der Zeit an. Also kannst du das bei jedem selbst ablesen, was er vorzieht.“ Auf ihren stutzigen Blick hin musste er lachen. „Lach mich nicht aus, das ist nun mal merkwürdig.“

Er grinste. „Nein, für uns ist das normal. Meine Gefährten und ich sind eher Menschen als Tiere. Wir essen, zum Beispiel, auch nur sehr selten als Tier.“ Alessio hatte sich schon lang nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Sie hörte ihm zu, sie stellte ihm Fragen und das Beste daran war, sie verabscheute ihn nicht. Nein, sie hielt seine Hand. Seinetwegen könnte es ewig so weiter gehen.
 

„Warte mal.“ Selena wurde etwas langsamer, während sie überlegte. „Wölfe sind doch Rudeltiere. Seid ihr dann so was wie ein Rudel?“

Er nickte. „Ja, so ziemlich. Ich bin, sozusagen, der Alpha. Wir sind wie eine Familie, wir geben uns gegenseitig Halt. Wir sind sehr berührungsfreudig. Im Gegensatz zu den Berglöwen, die sind meistens eher Einzelgänger und werden schneller aggressiver. Aber das liegt auch in der tierischen Natur. Wenn wir verwandelt sind, können wir außerdem in Gedanken kommunizieren, wenn wir wollen. Wir können auch eine Blockade errichten, damit man in Ruhe gelassen wird.“

„Verstehe. Und wie ist das dann so? Ihr habt eine Rangordnung, dass hab ich ja verstanden. Aber kann man auch einfach das Rudel verlassen, oder funktioniert das nicht?“

„Doch. Jeder kann tun und lassen, was er will. Man kann sich in ein Rudel eingliedern, aber man muss nicht. Kinder müssen bis sie achtzehn sind in dem Rudel ihrer Eltern bleiben, dann ist es ihnen freigestellt. Die meisten, die in einem Rudel sind, sind befreundet oder verfolgen das gleiche Ziel. So wie wir. Der stärkste von den Mitgliedern ist dann der Alpha, der über alles wichtige bestimmt. In unserem Fall bin ich das.“
 

Alessio bemerkte, dass sie sich langsam auf den Stadtrand zu bewegten, doch es würde noch zu lange dauern, bis sie erstmal in Lake Vista angekommen sind. Und dann mussten sie noch so weit in den Wald hinein…

Selena schrie auf, als Alessio sie plötzlich an der Hüfte packte. Sie konnte ihn leise lachen hören. „Schrei nicht so, es passiert doch nichts. Spring mal auf.“ Er stand mit dem Rücken zu ihr.

„Du willst mich Huckepack tragen?“

„Ja, das geht schneller.“ Er hielt ihr seine Hände hin. Sie sprang auch auf seinen Rücken und legte die Arme um seinen Hals. Alessio hielt sie mit seinen Händen fest. Dann rannte er los, in die Nacht hinein.
 


 

Selena hatte überhaupt keine Ahnung, wo sie sich befanden, als Alessio sie herab ließ. Natürlich war klar, dass es sich um einen Wald handelte, da sie von sehr dichtem Blattwerk umgeben waren. Aber in welche Richtung sie Chicago verlassen hatten, war ihr ein Rätsel.

Alessio nahm wieder ihre Hand und führte sie weiter in den Wald hinein, vorbei an Bächen und mit Blumen überfüllten Lichtungen, die sie gerade so im Dunkeln erahnen konnte. Sie nahm an, dass es auch nicht weit vom Lake Michigan fort sein musste, da die Siedlung, die sie davor passiert hatten, fast direkt daran lag, was sie am kleinen Hafen erkannt hatte.

„Wieso gehen wir so tief in den Wald hinein?“, fragte Selena ihn schließlich doch. Ihre Neugier hatte mal wieder gesiegt.

„Erinnerst du dich daran, dass ich vorhin gesagt habe, wir lieben die Natur und meiden eher die Großstadt?“

Selena hinderte sich gerade so daran, sich gegen die Stirn zu schlagen. „Natürlich, hast du. Okay, ist es denn noch weit?“

„Nein, ich sehe es schon.“ Er bemerkte, dass sie ihre Augen zusammenkniff und versuchte, etwas zu erkennen. „Vermutlich kannst du noch nichts sehen. Meine Augen sind besser als deine“, sagte er grinsend.

Seufzend murmelte sie ein Wort, was in etwa klang wie: „Gemein.“ Doch plötzlich erahnte sie im Mondlicht Umrisse einer Hütte. „Sag jetzt nicht, dass du dort wohnst.“

Auf sein Lachen hin sah sie ihn skeptisch an. „Nein, aber so ähnlich. Ich zeig es dir.“ Gemeinsam gingen sie zu der Hütte und auch hinein, nachdem Alessio die Tür zur Seite gezogen und sie anschließend wieder eingehangen hatte.
 

„Es ist so dunkel, Alessio.“ Er sah, wie sie dastand und die Arme um ihren eigenen Körper schlang. Er zog darauf ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und entzündete eine der Fackeln, die in der Nähe des Geheimganges hing.

Überrascht über das plötzliche Licht blinzelte sie ein paar Mal. Dann sah sie sich um. „Sieht aus wie eine leere, morsche Hütte.“

„Es ist auch eine leere, morsche Hütte.“ Alessio schlenderte zu einer der Wände hinüber und trat dabei auf eine bestimmte, aber verdeckte Stelle am Boden, sodass eine animierte Tastatur erschien. „Aber nicht mehr lange.“ Er tippte eine komplizierte Zahlen- und Buchstabenkombination ein und eine der Wände schob sich beiseite.

Selena blieb erstaunt der Mund offen stehen. „Ein Geheimgang?“

„Natürlich. Komm, schnell.“ Er nahm ihre Hand und zog sie mit hinein. Kurz darauf schloss sich die Wand hinter ihnen wieder. „So halten wir unerwünschte Besucher von uns fern.“ Er wies sie an weiter zu gehen. Der Gang ging leicht hinab und Selena fiel dann etwas ins Auge. „Kameras?“

„Ja. Für optimalen Schutz. Auch der Wald rund um die Hütte ist verkabelt. Ungefähr im fünf Kilometer Radius.“

„Ihr lasst euch nicht überraschen.“

„Genauso ist es.“ Am Ende des Ganges kamen sie in einen gigantischen Keller, welcher mit dutzenden Schränken gefüllt war. Der Keller war kahl und wirkte sehr kalt. „Hier sind unsere Wechselsachen, falls wir uns schnell verwandeln und raus müssen oder eben rein kommen und etwas zum Anziehen brauchen. Außerdem sind hier auch Waffen, für alle Fälle.“

„Verstehe.“
 

Alessio öffnete dann eine Luke am Boden, die in ein tiefes Nichts zu führen schienen. „Hab keine Angst, ich fang dich unten auf.“

Selena nickte zaghaft, als er die Luke hinab sprang. Sie konnte sich einen winzigen Aufschrei nicht verdrücken. „Alessio? Alles okay?“

„Ja!“ Seine Stimme war leise. Wie es aussah, war das Loch doch tiefer als gedacht. „Spring runter! Und hab keine Angst, ich fange dich auf jeden Fall auf!“

„Falls nicht dann kannst du was erleben.“ Zögerlich setzte sie sich an den Rand der Luke und ließ ihre Beine in die Tiefe baumeln, ganz langsam. Noch einmal holte sie tief Luft, dann stieß sie sich ab. Sie fiel in die schwarze Unergründlichkeit und konnte sich einen Aufschrei wieder einmal nicht verkneifen.

Doch dann wurde sie aufgefangen, von starken Armen. Alessio flüsterte an ihr Ohr: „War das jetzt so schlimm?“

„Ja, verdammt.“ Sie stieß sich leicht von ihm weg. „Schickst du mich als nächstes durch eine Schlangengrube?“

Ein leises Lachen erklang von oben. Er hatte die Luke wieder geschlossen und nahm nun ihre Hand. „Nein. Wahrscheinlich siehst du nichts, deswegen musst du mir vertrauen.“

Sie brummte nur. Er zog sie sanft und bestimmt hinter sich her. „Fass nicht an die Wände, es ist die pure Erde. Nur Holzbalken stützten den Gang.“

„Na super. Vielleicht sterbe ich ja auch als Schuttopfer, weil euer super Gang eingestürzt ist.“

Er seufzte. „Hör auf zu meckern oder ich lasse dich hier stehen.“

Sofort verstummte sie und konzentrierte sich auf den Boden. Es ging ziemlich steil bergab, aber sie stürzte nicht. Alessio führte sie perfekt.
 

Als er plötzlich stehen blieb, rannte sie in ihn hinein. „Aua!“

„Du musst halt schauen, wo du hinläufst.“ Ein Schmunzeln schwang in seiner Antwort mit.

„Ha-ha. Findest du das auch noch komisch?“ Sie hörte irgendetwas mechanisch arbeiten. „Was ist das?“

„Im Augenblick, der Augenscanner. Ich werde genau gescannt, an vielen Stellen. Das ist die letzte Barriere, dann sind wir da.“

Als es wieder mechanisch klickte, Schlösser und Ketten gelöst wurden, strömte gleißendes Licht an ihr vorbei. Sie kniff die Augen zusammen. Alessio zog sie sanft, aber immer noch bestimmt mit herein. Hinter ihnen schloss sich die Tür.

Jetzt standen sie auf einem Gang, von denen ein dutzend Türen abgingen. Der Gang selbst machte irgendwann einen Knick nach rechts weg. Der Boden bestand aus weißem Marmor, was besonders schön und edel aussah. Es passte fast nicht an diesen Ort. Auch die Wände hatten etwas Edles durch die originalgetreuen Wolfsbilder, die wie Höhlenmalerei, nur viel schöner, daran gezaubert wurden. Sie zeigten Wölfe, in verschiedenen Farben, Größen und Posen. Mal spielerisch, mal auf der Jagd, mal schlafend. In allem, was man sich vorstellen konnte.

„Willkommen in unserem Stützpunkt“, raunte Alessio an ihr Ohr.

Selena hauchte nur ein schwaches „Wow“. Dann wurde sie schon sanft von Alessio weitergezogen. „Hey, lass mich doch erstmal richtig ankommen!“

„Die anderen möchten dich aber kennenlernen.“ Er deutete auf die Türen, an denen sie vorbeigingen. „Hier sind die Wohnungen. Jeder Krieger hat seine eigene und in jeder gibt es ein Wohnzimmer, Bad, Schlafzimmer, Küche und noch einem zusätzlichen Raum.“

Sie gingen gemeinsam um die Ecke. „Hier sind noch ein paar Wohnungen. Insgesamt gibt es vierzehn Stück, einige davon sind aber leer. Und hier hinten“, er blieb vor einer Tür stehen „ist unser Techniklabor. Aber das ist jetzt momentan unwichtig.“ Er deutete auf die Tür gegenüber. „Hier, dass ist unser Versammlungsraum.“
 

Selena suchte seine Hand und als sie diese gefunden hatte, öffnete er die Tür und sie traten gemeinsam ein. Selena sah sechs Männer und eine Frau, die sich, mehr oder weniger, angeregt unterhielten.

Als Alessio sich räusperte, brachen sie ab und schauten zu ihnen. „Meine Freunde, das ist Selena.“ Er drückte sanft ihre Hand, als würde er ihre Nervosität merken.

Und dann stellte er ihr seine Gefährten, sein Rudel vor. Zuerst wäre da ein Mann mit schwarzen Haar und hellen, braunen Augen, welcher er ihr als Kenneth bekannt machte. Einen seiner engsten Freunde, wie sie erfuhr. Und die hübsche Brünette, mit der gebräunten Haut und dem bobähnlichen Haarschnitt war seine Frau und Gefährtin, Rahel.

Neben Rahel saß ein Mann mit braunen, etwas längeren Haaren und grauen Augen. Er wurde ihr als Brandon bekannt gemacht.

Zu ihrer Verwunderung kannte sie den Mann, der neben ihm saß. Es war der Mann, dessen Frau damals entführt wurden war. „Ich kenne Sie.“

Er blinzelte ein paar Mal auf ihre Worte hin, so, als wäre er die ganze Zeit nicht anwesend gewesen. Und sein Blick verriet ihr ebenfalls, dass er sie erkannt hatte. „Das ist Jackson. Er hat vor wenigen Wochen seine Frau verloren.“

Ein Schmerz durchfuhr Selena bei Alessios Worten. Sie hatte so gehofft, dass sich alles zum Guten wenden würde. Als sie sich Jackson genauer besah, sah sie auch, was aus ihm dadurch geworden war. Ein regelrechtes Wrack. „Das tut mir so leid.“

Jackson reagierte nicht sondern starrte wieder vor sich hin. Brandon bedachte ihn mit einem besorgten Blick.
 

Alessio strich sanft über ihren Arm. Diese Geste hatte etwas Tröstliches und dafür war Selena ihm sehr dankbar.

Dann stellte er ihr den Rest vor. Matthew, der auf der anderen Seite von Jackson saß, kannte sie ja bereits. Er versicherte ihr noch, dass ihre Schwester friedlich in seiner Wohnung schlief. Sie glaubte ihm. Matthew war kein schlechter Kerl und Alessio vertraute ihm. Wenn er es tat, tat sie es auch.

Neben Matthew saß ein Mann, der sehr südländische Züge hatte. Dunkelbraunes Haar und ebensolche Augen besaß er. Alessio stellte ihn als Ashton vor. Seinen Akzent, als Ashton sie begrüßte, fand sie atemberaubend.

So sehr, dass sie fast nicht bemerkte, dass der letzte Mann etwas abseits saß und sie merkwürdig anstarrte. Er hatte etwas Wildes an sich, sie konnte es nicht erklären. Seine Augen hatten eine merkwürdige Sandfarbe angenommen, sein Haar war schwarz.

„Das ist Damian.“ Alessio flüsterte anschließend an ihr Ohr. „Lass dich nicht abschrecken, er ist allen zuerst misstrauisch. Er hat seine Gründe.“

Sie nickte, zur Bestätigung, dass sie ihn verstanden hatte.

Die beiden setzten sich zu Alessios Familie und sie fingen an zu erzählen, über alles Mögliche. Natürlich beteiligten sich nicht alle an diesem Gespräch, aber das hatte Selena gar nicht erwartet. Wie es schien, wohnten ein paar schwierige Charaktere hier.
 

Nach einiger Zeit – Selena konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, seitdem sie mit Alessio zusammen war – stieß genau dieser sie sanft unter dem Tisch an, beugte sich zu ihr hinüber und flüsterte in ihr Ohr: „Komm, ich möchte dir jetzt etwas zeigen.“

Damit stand er auf, nahm ihre Hand und zog sie sanft und bestimmt hinter sich her. Vorher verabschiedeten sie sich von dem Rest, von dem sich jeder seine eigene Meinung über Selena bildete. Gute und schlechte Meinungen.

Und viele hatten mit Alessios Seelenzustand zu tun. Doch keiner verlor mehr ein Wort darüber.
 


 

To be continued.



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Kommentare zu dieser Fanfic (80)
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Von:  sunny12
2011-07-20T13:14:49+00:00 20.07.2011 15:14
Hey!
Ein super Kapitel. Es hat mir wirklich sehr gut gefallen :)
Schön, dass Alessio und Selena jetzt wieder Kontakt haben und er ihr jetzt endlich alles erklären kann.
Mich würde ja interessieren, was Alessios Rudel über Selena denkt.
Und was hat es jetzt eigentlich mit ihrem Fluch auf sich??

Der Anfang des Kapitels hat mir besonders gut gefallen :)
Beide waren da noch etwas zurückhaltender bis der Abstand zwischen ihnen dann endlich überwunden war.
Ich bin schon gespannt, wie es jetzt weitergeht und was Alessio Selena zeigen will.
Freu mich auf das nächste Kapitel,
lg sunny12
Von:  mudblood
2011-07-20T09:30:40+00:00 20.07.2011 11:30
Wundervolles Kapitel (:

Man wurde echt viel gewahr und wie Allesio und Selena mit einander umgehen ist einfach traumhaft. :3
Von:  fahnm
2011-07-19T19:38:18+00:00 19.07.2011 21:38
Super Kapi^^
Von:  MarySae
2011-07-19T19:33:58+00:00 19.07.2011 21:33
Awww, ein neues Kapitel *_*
Wiedemal klasse!
Das Gespräch der beiden am Anfang fand ich iwie süß ^^ Erst war Selena noch leicht schüchtern und neugierig, doch je länger sie redeten, desto lockerer wurde sie.
Langsam scheint sein Geheimnis sie ja nicht mehr groß zu stören XD
Aber auch Alessio war niedlich! Ist ärgern seine Art ihr zu zeigen, dass er sie mag? ^^
Zumindest bin ich sehr gespannt, was er jetzt mit ihr vorhat O.o Kann ja noch interessant werden :3
LG, Linami
Von:  eden-los
2011-07-19T12:24:16+00:00 19.07.2011 14:24
hach, is ja wie der besuch bei den schwiegereltern... ^^
schön geschrieben. mich würd nur mal interessieren, wann selena endlich mal ihren fluch einsetzt.

lg eden ^^
Von: abgemeldet
2011-06-24T20:10:47+00:00 24.06.2011 22:10
Hallo =)
Ich hab Mexx die letzen Tage etwas links liegen lassen ( was neopets mit einem anstellt, echt erstaunlich ..), deshalb habe ich deine nachricht erst wieder etwas verspätet aufgemacht
naja, jedenfalls hat mir das Kapitel auch sehr gut gefallen.
Das Selena Angst um ihren Job hat, ist definitiv verständlich. Ich meine an ihrer Stelle würde ich mir auch Gedanken machen, vor allem wenn die Neue auch noch so gut ist. Aber ich denke, das renkt sich schon wieder ein.
Der zweite Teil war ja echt erstmal etwas angsteinflösend. Mit dem Typ der da auf einmal rumstand. Ich wäre wahrscheinlich schreiend davongelaufen. Aber zum Glück hat das Selena nicht getan. Der letze Teil war ja schön. Ach, das mit der Liebe in seinen Augen *dahinschmelz*

Freue mich, wies weitergeht,
LD <3
claudi


Von:  Puma_Ace
2011-06-24T11:16:26+00:00 24.06.2011 13:16
das klingt ja schon echt spannend..
und ich freue mich schon wie es weitergehen mag ^^

LG Grimmy
Von:  sunny12
2011-06-20T17:26:29+00:00 20.06.2011 19:26
Oooh, so ein schönes Kapitel :D

Aber erstmal "Hallo!"
Ich fand das Kapitel unglaublich schön :) Besonders den Schluss
Als Matt im ersten Moment vor Selena und Helena stand hab ich schon einen Schreck gekriegt und mein erster Gedanke war: "Hoffentlich kommt Alessio und rettet sie, wenn es sein muss". Aber das war ja Gott sei Dank nicht nötig.
Supi, dass er jetzt zu ihr gekommen ist und sein Versprechen gehalten hat :) Und was sie in seinen Augen gesehen hat, find ich noch viiieeel schöner!
Ich bin schon wieder sehr auf das nächste Kapitel gespannt,
lg sunny12
Von:  MarySae
2011-06-19T20:51:19+00:00 19.06.2011 22:51
Das hat mich jetzt erschreckt. O.o
Dass immer iwo jemand hinter einer Ecke hervorspringen muss. XD

Jedenfalls finde ich es mieß, dass sie sie auf der Arbeit schon erstezt haben.
Klar, ich verstehe, dass dringend eine Visagistin benötigt wird, um weitermachen zu können, aber sie gleich ganz zu ersetzten? Sie hätte ja wieder arbeiten können...
Na hoffen wir mal, dass die Aushilfe wirklich nur eine war...

Das Ende macht mich neugierig <3
Bin sehr gespannt, was da noch passiert. ^^

LG, Linami :D
Von:  fahnm
2011-06-19T20:38:48+00:00 19.06.2011 22:38
Klasse Kapi^^


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