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Die Schule der Vampire

Beginn: 05.05.2009

Ende: 16.08.2009
 

Kapitel 1: Die Schule der Vampire
 

„Vampire sind durch die Bank weg leidenschaftliche Liebhaber. Habt ihr das verstanden?“

Eifriges Nicken der Schüler hinter besagten Bänken. Natürlich notierte sich niemand diesen Unsinn. Jeder Einzelne von ihnen besaß ein hervorragendes Gedächtnis, das jedoch, wie er gelegentlich bedauerte, auf unbedingte Nutzung angewiesen war und leider etwas zu häufig im entscheidenden Moment erhebliche Lücken aufwies. Vampir oder nicht – Kinder blieben eben Kinder. Allerdings hatte die Freude am Thema, ebenso wie die Überflüssigkeit des Notizen anfertigens, vorrangig damit zu tun, dass die meisten der hier Anwesenden bereits so ihre eigenen Erfahrungen gesammelt hatten. Spätestens seit der Meister auf die Idee gekommen war, sie in ein Wohnheim zu stecken. Was den obersten und mächtigsten aller Schattengänger betraf, konnte man nicht einmal sicher sein, dass nicht auch das Teil seines Plans zur Bildung des hochgeschätzten Nachwuchses war. Früh übt sich, was ein Meister werden will, hatte er gesagt und wenn er an die letzten Tage und Nächte zurückdachte, so musste Luca unweigerlich eine Bedeutungsänderung feststellen. Zum Leidwesen aller involvierten Erwachsenen – im Sinne einer Lehr- und Beschützertätigkeit selbstverständlich – hatten die Jungvampire, die in jeglicher Hinsicht frühreif waren, noch nicht gelernt ihre Stimmen zu dämpfen. Gut möglich, dass er das demnächst an einem praktischen Beispiel würde demonstrieren müssen. Beim bloßen Gedanken daran schauderte er. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Vertretern seiner Art schätzte er Privatsphäre. Nicht unbedingt die der anderen – schon gar nicht, wenn es sich dabei um Menschen handelte – seine eigene dagegen schon. Und er hatte weiß Gott, der Teufel oder sonst wer keine Lust dazu, es hier auf dem Lehrertisch zu tun und dann zu verhindern, dass das Ganze in eine Orgie ausartete. Er musterte seine Schützlinge, deren Alter optisch von etwa 13 bis 19 Jahren reichte. Eine explosive Mischung, wie er wusste. Es hätte ihn interessiert zu erfahren, WEM er diesen ganzen Unsinn zu verdanken hatte, aber diesen Wunsch würde man ihm wohl nicht erfüllen. Und durch logische Schlussfolgerungen würde er der Lösung des Rätsels wohl auch nicht näher kommen. Vampire waren nicht gerade für ihr rationales Denken bekannt und davon abgesehen gab es einfach zu viele Möglichkeiten. Neben den üblichen, für Fehlentscheidungen bekannten Persönlichkeiten gab es leider noch eine Vielzahl anderer denkbarer Verantwortlicher. Sadisten, Neider, verschmähte Liebhaber – er war nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt, wenngleich er für einen Vampir seines Alters und Standes beinahe noch in die Kategorie ‘vorbildlich‘ einzuordnen gewesen wäre. Dummerweise jedoch nur nach den moralischen Vorstellungen der Menschen. Und damit war er vermutlich bei den Hauptschuldigen angekommen. Es war schon vorher schlimm genug gewesen, aber seit eine neue Welle der Vampirbücher den Markt überschwemmt hatte, herrschte das reinste Chaos. Wie ihre dämonischen und wohl auch göttlichen Verwandten waren sie vom Glauben der Menschen abhängig. Natürlich nicht im selben Maße, aber eben doch auf diesen angewiesen. Allerdings hatte dies bei ihnen nicht zur Geburt von Vampiren geführt, die zwar einen anderen Namen trugen, aber im Grunde ein und dieselbe Person waren - was seines Wissens nach in den Gefilden der Götter durchaus der Fall war. Allerdings hieß das nicht, dass die Folgen weniger gravierend waren. Dank der blühenden Fantasie der Flügellosen gab es die wildesten Arten von Vampiren. Tageslichtresistente – er selbst gehörte auch dazu, machte für gewöhnlich aber keinen Gebrauch davon – und Nicht-resistente. Geflügelte – je nachdem im Fledermaus- oder gefallener Engel-Stil – und Flügellose. Alternde und nicht alternde und so weiter und so fort. Im Moment waren sie kurz davor den vegetarischen Vampir zu erfinden. Er schauderte. Welch absurde Vorstellung! Jeder der glaubte sie könnten sich – womöglich dauerhaft! – von Pflanzensäften, Milch oder ausschließlich anderen proteinreichen Substanzen ernähren, der hatte ganz offensichtlich ihr ureigenstes Wesen vergessen. Aber womöglich würden sie es eines Tages tatsächlich schaffen ihn zu erfinden. Nur um bald darauf festzustellen, dass es diese Art Vampir bereits gab – und dass er im Allgemeinen Blattlaus genannt wurde. Ein Wesen, mit dem er nun wirklich nicht verglichen werden wollte. Auch die Angelegenheit mit dem Licht, Kreuzen, Weihwasser und dergleichen war in ihrer individuellen Ausprägung zumindest für die Betroffenen nicht unbedingt von Vorteil. Unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen oder einen Vampir handelte, hatte man nämlich meist nur eine Chance sich über das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein einer Resistenz klar zu werden. Und für mindestens eine der beiden Seiten endete dieser Erkenntnisprozess recht häufig tödlich. Aber wie auch immer. Jedenfalls hatte man beschlossen, wenn dies schon bei den Erwachsenen unmöglich zu sein schien, doch wenigstens die neue Generation entsprechend zu erziehen. Inklusive des Respekts vor allen toten, untoten und lebenden Kreaturen. Haha. Er fragte sich ob er in irgendeiner Weise den Eindruck erweckte Wunder vollbringen zu können. Er gehörte zu den Vampiren, die ein Spiegelbild besaßen, doch bis jetzt hatte er nichts dergleichen an sich feststellen können. Aber der Auftrag war mehr oder weniger eindeutig. Sie sollten die verschiedenen Welten kennenlernen und begreifen, was nach Meinung der Experten einen echten Vampir ausmachte. Nicht dass es jemand gewusst hätte oder in irgendeiner Weise Einigkeit darüber bestand, aber man hatte sich immerhin auf ein vielseitiges Dokument geeinigt, das einen ganzen Katalog von Regeln und Verhaltensweisen beschrieb, die man als angemessen oder dringend notwendig erachtete. Fast jeder ihm bekannte Vampir und ganz sicher jeder hier in der Schule anwesende Vampir war des Lesens mächtig und so hätte ein Selbststudium sicher vollständig genügt. Die einzige Herausforderung wäre es gewesen, die zumeist Jugendlichen dazu zu bewegen, sich die Lektüre zu Gemüte zu führen. Was zugegebenermaßen einiger Geduld bedurft hätte, da sich jeder Wirtschaftswälzer angenehmer las als diese sterbenslangweilige Endlosgeschichte. Aber was das anging bestand für sie ja keinerlei Gefahr. Im Allgemeinen starben Vampire nicht so schnell und hatten, anders als ihr menschliches Äquivalent, dementsprechend viel Zeit sich zu belesen. Natürlich konnte man das Ganze auch unter verschwörungstheoretischer Perspektive erörtern, aber nüchtern betrachtet zeigte die Tatsache, dass man stattdessen eine ganze Schule ins Leben gerufen hatte, vor allem eines. Ihre verwandtschaftliche Nähe zu den Menschen. Weshalb eine einfache Lösung finden, wenn man es ohne weiteres unnötig kompliziert machen konnte? Vielleicht war es aber auch nur eine Art Mode. Soweit er wusste wurde im Himmel gerade ein ähnliches Projekt durchgeführt. Allerdings – und das war einer der Hauptgründe für seinen Ärger – hatte man dort wenigstens auf die Rangunterschiede geachtet. Im Klartext hieß das, man hatte einen einfachen Naturgeist mit der Schulung und Aufzucht des Nachwuchses bedacht, während man hier, nach welchen Kriterien auch immer, eine Auswahl getroffen hatte, die wohl nur für die Verantwortlichen selbst einen tieferen Sinn ergab. Er beneidete Petrus nicht um seine Aufgabe. Schattenwesen beizubringen was es hieß böse zu sein hatte ja noch einen gewissen Reiz, aber den kindlichen Cherubin die Welt zu erklären erschien ihm wenig inspirierend. Andererseits – er ließ seinen Blick über die Anwesenden gleiten – waren sie mit ziemlicher Sicherheit ein dankbareres Publikum. Allerdings war bei genauerem Hinsehen auch in Petrus‘ Fall nicht klar, weshalb die Wahl auf ihn gefallen war. Sah man einmal von seinem niedrigen Rang und der offensichtlichen Unlust der Himmlischen ab, sich um den eigenen Nachwuchs zu kümmern, waren ihm die Motive nicht ganz klar. Zumal der Wetterpatron keine ausgeprägte Liebe zu den Göttern zu verspüren schien. Auch wenn es mittlerweile angeblich eine Ausnahme gab. Seit er erfahren hatte, dass der Witterungsbeauftragte mit einem ähnlichen Schicksal gestraft war wie er selbst, hatte er begonnen sich für ihn zu interessieren. Selbstverständlich aus rein beruflichen Gründen. Er selbst war ihm nie begegnet, was nicht weiter verwunderlich war, da Petrus als überaus menschenscheu galt und auch sonst eher ein Einsiedlerdasein zu führen schien. Äußerlich, so sagte man, war er eher unauffällig und hatte wohl auch sonst nicht viel mit den Himmlischen gemein. Dementsprechend wurde er bei Vertretern der dunklen Seite nicht gerade hoch gehandelt. Er war einfach zu gewöhnlich. Luca glaubte nicht recht daran. Er traute dem Wetterpatron einiges zu und war sich fast sicher, dass es überaus anregend sein konnte sich näher mit ihm zu befassen.

Von den oberen Rängen, in denen die Älteren Platz genommen hatten, erklang mit einem Mal eine Melodie und nur wenig später folgten jene Zeilen, die er so sehr hasste: „My name is Luka. I life on the second floor...“

Ein Insider, den mittlerweile jedoch fast jeder kannte. Eine bösartige Anspielung auf seinen Namen, darauf wie man ihn behandelte und eine noch viel bösartigere auf den Umstand, dass er trotz seines Ranges für eine als wichtig verkaufte niedere Arbeit eingeteilt worden war. Er verzog keine Miene als er aufsah. Der Gesang verebbte beinahe augenblicklich. Eine einzige Stimme blieb. Eine männliche Stimme, deren Beschreibung mehr als anspruchsvoll gewesen wäre und die fähig war, die Luft vibrieren zu lassen. Im Augenblick brachte sie allerdings lediglich seine Nerven zum vibrieren. Einer der zahlreichen hoffnungslosen Abkömmlinge des Hauptclans und damit höheren Ranges als er selbst. Und bedauerlicherweise wusste der andere das auch. Allerdings unterschätzte ihn dieses Exemplar und vergaß ganz offensichtlich, dass ihm als Lehrenden ein paar sehr interessante und überaus nützliche Sonderrechte zugestanden worden waren. Uneingeschränktes Verfügungsrecht zum Beispiel – zu erläutern was genau das bedeutete wäre ein äußerst erquicklicher Vortrag gewesen – und fast uneingeschränkte Befehlsgewalt. Interessant wenn man bedachte, dass es eine der wichtigsten Lektionen war, dass man lediglich den Ranghöheren Respekt zu zollen und ihren Anweisungen Folge zu leisten hatte. Er betrachtete den Jüngeren mit gekonnt gleichgültigem Blick. Schwarzes Haar, stechend blaue Augen und eine betont lässige Körperhaltung – wenn man das, was er da tat, überhaupt noch als Haltung bezeichnen konnte – und ein nicht selten anzüglicher, gieriger Blick. Ein Blick, der erstaunlich oft auf ihn gerichtet war. Ein bisschen zu oft für einen Zufall. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass es nur bedingt darauf zurückzuführen war, dass von Schülern nun einmal erwartet wurde, dass sie ihrem Lehrer zumindest einen Teil ihrer hochgeschätzten Aufmerksamkeit schenkten. Im Gegensatz zu vielen anderen war in seinen Augen sogar Interesse zu erkennen, wenn auch in einer Form, die, wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, schon zahlreiche Vampire ins Unglück gestürzt hatte. Er besaß die für Wesen aller Welten überaus nützliche Fähigkeit, ein beliebiges Gegenüber mit bloßen Blicken zu entkleiden und ihm das Gefühl zu geben nackt zu sein. Apropos, die gedankliche Parallele erinnerte ihn an einen Buchtitel, den er kürzlich irgendwo gelesen hatte. Dass echte Vampire Kurven hätten oder so ähnlich. Selbstverständlich galt das auch für die Männer und falsche Vampire waren natürlich dementsprechend eckig. Wie kamen die Menschen nur auf solchen Unsinn? Selbst für einen Marketinggag, oder wie auch immer sie das nannten, fand er es ziemlich platt. Grundsätzlich war gegen ihre Kreativität ja nichts einzuwenden – sie hatten ganz vorzügliche Folterinstrumente hervorgebracht – aber einige ihrer Annahmen waren ebenso kühn wie unzutreffend. Wenn man genauer darüber nachdachte, waren es sogar die meisten. Dass Vampire Knoblauch verabscheuten zum Beispiel. Hatten sie noch nie an einem Menschen gerochen, der zuvor mehrere Knoblauchzehen zu sich genommen oder sich gar damit eingerieben hatte? Vampire besaßen im Allgemeinen einen sehr feinen Geruchssinn, weshalb die meisten penetranten Gerüche für sie grundsätzlich eine gewisse Herausforderung darstellten. Das hatte mit der Knolle an sich wenig zu tun, aber immerhin. Sie lagen zumindest nicht ganz daneben. Aber mit einem hatten sie der Vampir-, ja, vielleicht der gesamten Welt keinen Gefallen getan. Diese kitschigen Vampirstorys! Die meisten seiner Art waren alles andere als romantisch veranlagt, waren eher kühl und reserviert, oder hatten zumindest nicht allzu viel für Romantik übrig. Hinzu kam, dass vor allem die männlichen Vertreter ihrer mystifizierten Rasse das waren, was die Erdenbewohner allgemein als bisexuell bezeichneten. Und ähnlich wie bei den Göttern gab es bei ihnen gerade aufgrund ihrer Lebensspanne kaum Beziehungen für die Ewigkeit. Ein Leben lang zusammenbleiben. Das sagte sich so leicht. Vor allem wenn man im Durchschnitt nicht einmal 80 Jahre alt wurde. Für Vampire war das kein Alter. Es verdiente noch nicht einmal die Bezeichnung. Man musste schon sehr deutlich die Jahrhundertgrenze überschritten haben, um nicht mehr als Jungvampir zu gelten. Die Ältesten von ihnen waren tausende von Jahren alt. Das interessante, weil paradoxe daran war, dass sie erst nachträglich entstanden waren. Irgendwann, zu Zeiten des ersten vermeintlichen Vampirs Dracula, hatten die Menschen begonnen, an Wesen wie sie zu glauben. Und irgendwann hatten sie auch begonnen zu glauben, dass es Vampire quasi vom Anbeginn der Menschheit gegeben hatte. Obwohl das nicht zutreffend war. Die Erdenbewohner hatten offenbar wenig erbauliches daran gefunden, Vampire schon in der Steinzeit oder gar noch früher zu erdenken. Zugegeben, ästhetisch war es nicht, aber auf diese Weise hatten sie es geschafft, dass plötzlich – zumindest im Vergleich zu vorher – Unmengen von alten Vampiren aus allen Ritzen der Welt gekrochen kamen. Ägyptische, griechische, römische... Von babylonischen hatte er nichts gehört, aber das musste nichts heißen. Und von einem Tag auf den anderen war Dracula nicht mehr der erste, der Urvater der Vampire. Plötzlich reichten ihre Wurzeln sehr viel weiter in die Vergangenheit und sie mussten damit leben, dass Wesen, die zuvor nicht einmal existiert hatten, nun die Macht über die vampirische Rasse einforderten. Menschen waren erstaunlich begabt, wenn es darum ging, bestehende Ordnungen zu zerstören. Unabhängig davon ob es die eigenen waren oder nicht. Und es hatte sich stets als vorteilhafter erwiesen, wenn man sie dabei unterstützte. Das war weniger enttäuschend und bot weitaus mehr Potential tiefsinnigen Amüsements. Wenn die Menschen ihrer Leidenschaft für Vampirgeschichten allerdings weiterhin in diesem Ausmaße frönten, dann würde es schon sehr bald nicht mehr nötig sein, dass sie einander in Kriegen überaus erfolgreich dezimierten. Das würden die Schattengänger dann für sie erledigen. Aber diese Schnulzenromane waren nichts weiter als eine Modeerscheinung. Dagegen konnte man im Notfall etwas unternehmen. Aber für gewöhnlich lösten sich Probleme dieser Art von allein, wenn auch nicht immer in Wohlgefallen auf. Viel bedrohlicher war der Glaube gewesen, dass jeder von einem Vampir gebissene Mensch infolgedessen selbst zum Vampir würde. Das hatte zu Beginn ihrer Existenz – einer Phase in der sie noch in weitaus größerem Maße vom Glauben der Menschen abhängig gewesen waren als heute – zu einer waren Bevölkerungsexplosion auf Seiten der Vampire und einem drastischen Rückgang auf Seiten ihrer Nahrungsquelle geführt. Nie hatte es Zeiten größerer Vampirjagden gegeben und nie waren sie so nötig gewesen. Mittlerweile hatte sich das gegeben – eine aufgeklärte Welt bedurfte solcher Schreckenslegenden schließlich nicht mehr – und sie waren relativ gleichmäßig über den Globus verteilt. Luca sah auf die Uhr. Der Unruhe seiner Schützlinge nach zu urteilen hätten sie höchstens noch fünf gemeinsame Minuten vor sich gehabt. Tatsächlich waren es fünfzehn und damit Grund genug für ein tiefes Seufzen. Augenblicklich wurde es ruhiger. Allerdings nahm der Schwarzhaarige an, dass dies weniger deshalb geschah, weil man eine unangenehme Reaktion seinerseits fürchtete, sondern vielmehr aufgrund der offenbar überaus anregenden Wirkung, die ein Laut wie dieser haben konnte. Und es schien einige Schüler zu geben, die sehr gespannt auf mehr warteten. Ob Mensch oder Vampir, in dieser Phase der Pubertät schienen sie gleichermaßen auf sexuelle Anspielungen oder solche die man eben in dieser Weise interpretieren konnte, gepolt und fixiert zu sein. Selbstverständlich würde er sie enttäuschen. Es war ihm so herausgerutscht, aber in jedem Fall war es gut zu wissen, dass er nach wie vor in der Lage war, sie mit erstaunlich einfachen Mitteln zur Ruhe zu bewegen. Nichtsdestotrotz war Luca verstimmt. In einem Anflug von Rachsucht bürdete er ihnen für den Rest der Stunde eine der unangenehmeren, weil umfangreichen Aufgaben des Lehrbuches auf – inklusive der Ankündigung das Ergebnis zu bewerten. Die Reaktion der Jungvampire unterschied sich, sofern er das beurteilen konnte, in nichts von der normalsterblicher Kinder. Murren, Jammern, Verweigerungsankündigungen und schließlich missmutiger Gehorsam. Selbstverständlich mit allen Facetten positiver und negativer Ausnahmen. Einen Vorteil allerdings besaßen die adligen Sprösslinge gegenüber den Menschen. Ob sie es nun leugneten oder nicht, insgesamt betrachtet waren sie überaus ehrgeizig. Für viele von ihnen war weniger der Gedanke eines Tadels oder einer schlechten Note, sondern vielmehr der Umstand schlechter zu sein als das Kind der Familie eines inoffiziell oder offiziell verfeindeten Clans schier unerträglich. Etwas, das man sich ohne Schwierigkeit zunutze machen konnte. Und soweit Luca wusste, taten das auch alle anderen Lehrer. Anders war diese Horde pubertierender, störrischer und meist viel zu frühreifer Gören einfach nicht unter Kontrolle zu bekommen. Das kratzende Geräusch von Füllfederhaltern und gespitzten Federkielen drang an sein Ohr und zeugte von der zumindest temporären Folgsamkeit seiner Schüler. Der Punktsieg ging eindeutig an ihn. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass selbst Kira sich über sein Blatt gebeugt hatte und es mit der Spitze einer riesigen schwarzen Gänsefeder, die er für gewöhnlich zum Schreiben nutzte, traktierte. Wahrscheinlich hätte er sogar eine Pfauenfeder benutzt – allein wegen ihrer Schönheit und Auffälligkeit – aber selbst ihm schien einzuleuchten, dass das einfach zu unpraktisch war. Besonders angesichts der räumlichen Nähe zum jeweiligen Sitznachbarn. Die ersten Unterrichtsstunden waren der blanke Horror gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil sich dauernd irgendjemand von einem anderen gestört, belästigt, bedroht, angegriffen, unsittlich berührt und was nicht sonst noch alles gefühlt hatte. Allein die Diskussionen über mögliche Einzelplätze waren unglaublich kräfteraubend gewesen. Aber schließlich hatten sie sich daran gewöhnt und nicht wenige von denen, die sich so vehement dagegen gesträubt hatten, teilten nun mit wenigstens einem ihrer Kameraden weit mehr als nur die Schulbank. Was es unnötig machte, sie über Paarungsverhalten aufzuklären. Sie waren bereits jetzt dabei für eine neue Vampirgeneration zu sorgen und probierten alles was sie kannten und auch das was sie noch nicht kannten in der Praxis aus. Vermutlich war ihr Liebesleben wesentlich erfüllter als seines. Der Gedanke besaß das Potential seine Reststimmung zu ruinieren, also brach er ihn ab und registrierte stattdessen noch einmal mit gewissem Erstaunen, dass Kira sich ernstlich dazu herabließ sich Notizen zu machen. Entweder hatte ihn nun doch – zumindest für den Moment – der Ehrgeiz gepackt oder aber er war eifrig damit beschäftigt Liebesbriefe und Einladungen für die nächste Blutorgie zu verschicken. Aber das würde er schon noch herausfinden. Luca wollte keinen Blickkontakt provozieren, also wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tafel zu und notierte in seiner schönsten Sonntagsschrift die Termine für die praktischen Übungen. Die Listen würde er das nächste Mal herumgehen lassen. Heute fühlte er sich nicht mehr dazu in der Lage sich schwarz auf weiß vor Augen führen zu lassen, wem er da was zu welcher Zeit zeigen und vormachen sollte. Aber vielleicht würde er sich auch kurzfristig für Videoaufnahmen oder Ähnliches entscheiden. Im Grunde brauchten sie diese Übungen überhaupt nicht und selbst wenn, so hätte sie jeder einzelne Vampir in dieser gottverdammten Schule, im Prinzip auf der ganzen Welt, vorführen können. Aber wie üblich war es an ihm hängen geblieben. Das taten offenbar die meisten undankbaren Aufgaben. Man hatte ganz offensichtlich keinen Respekt vor ihm und gab sich augenscheinlich auch nicht übermäßig viel Mühe das zu verbergen. Genau wie der Respekt der Menschen gegenüber der vampirischen Rasse mehr und mehr zu schwinden schien. Der aktuellste Beweis dafür war seiner Meinung nach ein Film, der über mehrere Wochen hinweg die Kinoleinwände beherrscht hatte, ohne es auch nur im Mindesten zu verdienen. Luca war sich nicht mehr sicher, was ihn dazu bewogen hatte sich diese klischeeüberladene Hollywoodschnulze überhaupt anzusehen. Möglicherweise war der Grund dafür der, dass er sich nicht dazu hatte durchringen können die zugrundeliegende Buchreihe zu lesen, er sich aber gern auf dem Laufenden hielt, was die Ansichten der Menschen über Wesen seiner Art betraf. Er hatte also im Kino gesessen und sich gefragt, warum man zwar Popcorn und Getränke inklusive der zugehörigen Behältnisse, nicht aber Tüten zur Sicherung des Mageninhaltes anbot. Wäre die Unglaubwürdigkeit der Charaktere das einzige Problem gewesen, hätte man es den Machern durchaus verzeihen können. Es war immer schwierig Wesen und Welten darzustellen, deren Existenz man zwar ahnte, die man jedoch nie zu Gesicht bekommen hatte. Besonders dann, wenn es diese Welten tatsächlich auch jenseits jeder Phantasie gab und deren Bewohner unerkannt einen Vergleich ziehen konnten. Nun gut, die wechselnde Augenfarbe kam der Wahrheit ziemlich nahe, wenngleich dafür weniger die Lichtverhältnisse als vielmehr das Erregungsniveau ausschlaggebend war. Neben der offensichtlichen Beschränktheit der jungen Dame, die im Mittelpunkt des Geschehens stand und deren angebliches und vielfach versichertes Vertrauen in ihren ‘Freund‘ in keinster Weise nachvollziehbar war, war der junge Vampir die wohl größte und geschmackloseste Beleidigung, die sich die Menschen ihnen gegenüber seit Jahrzehnten geleistet hatten. Vampire waren – dank der Menschen mittlerweile mit einigen Ausnahmen – schön und achteten für gewöhnlich auch sehr auf ihre Erscheinung. Unter anderem deshalb, weil ihr Jagderfolg nicht unwesentlich davon abhing. Wie auch ihre Fähigkeit sich, soweit als möglich, relativ ungehindert in der Welt der Menschen zu bewegen. Aber dieser lächerliche Elvisverschnitt mit den übertrieben dicken Augenbrauen und den viel zu roten Lippen war eine Unverschämtheit ohnegleichen. Die Handlung war getrost zu vernachlässigen und auch wenn die Idylle der Vampirfamilie durchaus etwas für sich hatte – niemals würden Vampire so etwas wie Baseball spielen! Nicht einmal zur Tarnung. Und sie glitzerten auch nicht in Regenbogenfarben sobald sie der Sonne ausgesetzt waren. Welch absurder Gedanke! Wie hätten sie sich jemals unbemerkt unter Menschen mischen sollen?! Diejenigen die sie vertrugen ohne dabei in Flammen aufzugehen oder zu Staub zu zerfallen, reagierten auf die wärmenden Strahlen genauso wie die Menschen. Mit dem einzigen Unterschied, dass sie für gewöhnlich nicht braun wurden. Und wie waren die Produzenten oder wer auch immer nur auf die Idee gekommen, dass Vampire einen Baum hinaufkletterten wie ein missratener Affe?! Früher einmal waren ihre Vorstellungen romantischer gewesen und sie hatten damit weitaus näher an der Wahrheit gelegen als das heute der Fall war. Vampire waren wie Schatten, wie Tänzer! Grazil und anmutig in ihren Bewegungen – zumindest für die Augen der Sterblichen – auch wenn sie überaus grausam sein konnten. Möglich, dass einige tatsächlich an diesen Trampel erinnerten, aber DAS tat nun wirklich keiner von ihnen. Ihre Sprungkraft machte das unnötig, nicht wenige von ihnen besaßen sogar die Fähigkeit zu fliegen. Und dann die Rettung des Mädchens! Warum in aller Welt sollte jemand, der stark genug war ein Auto zu stoppen und schnell genug die Dame seines Herzens im letzten Augenblick in Sicherheit zu bringen, sich nicht auch rechtzeitig wieder so weit entfernen können, dass nicht der geringste Verdacht auf ihn fiel? Oder ihre Erinnerung manipulieren! Selbst im Affekt hätte jeder echte Vampir vermutlich irgendetwas in dieser Richtung getan. Stattdessen brachte der große Held nichts als ein paar lahme, unglaubwürdige Ausreden zustande. Und aufgrund dieser und ein, zwei anderer seltsamer Umstände schlussfolgerte Superbrain dann, dass es sich bei ihm um einen Vampir handeln musste. Glückwunsch! Ganz so, als ob es das Naheliegendste wäre. Als ob es zu diesem Zeitpunkt nicht eine halbe Million wahrscheinlichere und sinnvollere Erklärungen gegeben hätte! Und davon einmal abgesehen: Warum verletzten sich Menschen eigentlich immer, wenn sie versuchten jemanden zu beschützen? Und warum glaubten sie offenbar ernsthaft daran, dass ein temporärer Streit die Gegenseite davon überzeugen würde, dass eine Schädigung dieser Person ihnen nicht das Geringste bedeuten würde? Für wie dumm hielten sie ihre Feinde eigentlich? Ein weiterer Aspekt, der Luca nicht ganz einleuchten wollte, war die Rolle des Mädchens. Sie war so hübsch wie oberflächlich, so unglaubwürdig wie naiv und trotzdem schien plötzlich alle Welt auf sie fixiert zu sein. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass es Vampiren eine gewissen Freude bereitete anderen ihre Beute streitig zu machen, besonders wenn dem Jäger offenbar viel an ihr lag, aber spätestens wenn es ernst wurde, zog sich der Kontrahent meist zurück. Kämpfe zwischen echten Vampiren konnten sehr unschön enden. Die Unsterblichen starben nicht gerne und schon gar nicht wegen eines simplen Stück Fleisches. Und Schmerzlosigkeit war ein Segen, den weitaus weniger Vampire erhalten hatten als allgemein angenommen wurde. Luca fragte sich ob die Menschen wussten, dass der sanfte, freundliche ‘Vater‘ des Vampirs sowie seine dunkelhaarige Schwester – die einzigen Charaktere die ihm wirklich gefallen hatten – tatsächlich Vampire waren. Noch relativ jung, aber zweifelsohne Vampire. Wie lange die Maskenbildner wohl gebraucht hatten, um sie ein klein wenig menschlicher aussehen zu lassen? Und wie lange würden sie brauchen bis sie herausfanden, dass es sich bei ihnen nicht um die unter dem selben Namen tatsächlich existierenden und optisch durchaus ähnlichen Schauspieler handelte? Wenn sie es einigermaßen geschickt anstellten vermutlich nie. Diesen beiden machte das Rollenspiel einfach zu viel Freude, als dass sie so unvorsichtig gewesen wären sich ertappen zu lassen. Und das entsprechende Geld erhielten die menschlichen Schauspieler ja auch. Warum sich also aufregen, selbst wenn man sich an nichts erinnern konnte und eine Geschichte erzählen, die sowieso niemand glauben würde? Lächeln und winken. Mehr hatten sie letztlich nicht zu tun. Verlogenes Pack. Das einzig wirklich schöne in diesem Film war der mit Lichtgirlanden geschmückte Pavillon in einer der letzten Szenen gewesen. Nicht der schmalzige, einfallslose Dialog des Pärchens hatte ihn bewegt, sondern der Glanz der Lichter und ihre Reflektion auf der spiegelglatten Oberfläche des Wassers. Dieser Moment war es, der ihm im Gedächtnis geblieben war und der ihn hatte bleiben lassen, bis ihn die Reinigungskräfte höflich darauf hinwiesen, dass er den Saal jetzt verlassen müsse.

In der Realität des Klassenzimmers läutete die Pausenglocke und verkündete das Ende eines kräfteraubendes Arbeitstages. Erstaunlicherweise rührte sich niemand. Offenbar hatte einer seiner hochgeschätzten Kollegen und Leidensgenossen ein sehr überzeugendes Machtwort gesprochen und so wagte es niemand, den Raum ohne entsprechende Genehmigung seinerseits zu verlassen. Bis auf einen natürlich. „Was ist?“, fragte Kira in den Raum hinein, während er selbst schon bei der Tür stand. „Ihr dürft einpacken“, sagte Luca, ohne den jungen Mann auch nur eines Blickes zu würdigen. Eifriges Kramen, Rascheln und Schwatzen war die Folge und nach und nach pilgerten die hoffnungsvollen Sprösslinge nach draußen. Als, wie er glaubte, auch der letzte verschwunden war, ließ er sich auf einen Stuhl fallen, legte den Kopf in den Nacken und seufzte tief. Die Augen hielt er geschlossen. „Nicht zu fassen“, fluchte er leise. Als er die Blicke Kiras auf sich gerichtet fühlte, sah er missbilligend in seine Richtung und nur einen Moment später fiel die Tür hinter dem Jungen ins Schloss.
 

Kapitel 1 - ENDE
 

Anmerkung: Für fleißiges Korrekturlesen geht ein herzliches Dankeschön an kurayamide!



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