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Whiskey und Schokolade

von

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So wie früher

„Wie geht’s dir?“, frage ich meinen Freund, der immer noch leicht verschlafen wirkt und sich am Frühstückstisch träge die Augen reibt.

„Mir geht’s gut“, entgegnet er und lächelt. „aber dem Wetter wohl nicht so.“

„Bald ist ja auch schon Herbstanfang“, murmele ich und starre bei diesen Worten automatisch hinaus.

„Und irgendwie habe ich den Sommer nicht richtig ausgenutzt“, meint er daraufhin. „Naja… außer, dass ich mich verliebt hab’ und mir ne neue Beziehung an Land gezogen habe, he he“, fügt er glucksend an, während ich dümmlich grinsen muss.
 

Ich schaue sein männliches Gesicht an, betrachte ihn, wie er einen weiteren Schluck Kaffee nimmt. Er zwinkert mir zu und ich muss sagen, dass mich das gar nicht mehr so aus der Bahn wirft und irritiert wie vorher. Sagen wir mal so: ich lerne langsam, damit umzugehen, mit dieser flirtigen Art meines Freundes – die ja tatsächlich irgendwie seinen Charme ausmacht.
 

„Verdammt, ich penn gleich ein…“, sagt Christian, nachdem wir den Frühstückstisch wieder hergerichtet haben.

„Noch mal ins Bett?“, schlage ich vor und wenige Sekunden später befinden wir uns tatsächlich wieder zwischen der aufgewühlten Bettwäsche.
 

Ich bin glatt aufgeregt wie ein kleiner Schuljunge, als Christian zwischen meine Schenkel rutscht und seine eigene Mitte an meinem Schritt reibt und seine Hände dabei unter mein Shirt verschwinden. Seine Berührungen kitzeln ganz leicht, sie schicken ein Prickeln auf die Reise über meine gesamte Haut. Ich fasse in sein strubbeliges Haar und ziehe seinen Kopf näher. Etwas harsch prallen unsere Lippen aufeinander und ich öffne umgehend meine Lippen, will seine Zunge schmecken, sie umtänzeln, an ihr saugen.
 

„Gott, wieso sind wir eigentlich nicht sofort in die Kiste gesprungen?“, wispere ich, während Christian mit seinen Fingern meine Brustwarzen zum Verhärten bringt, als wir beide nach Luft schnappen. Doch kaum habe ich jenen Satz ausgesprochen, bricht Christian sein Vorgehen einfach ab und zieht seine Hände von meiner nackten Haut zurück. Etwas irritiert blinzele ich. Habe ich etwas Falsches gesagt? „Was… was ist?“
 

Er setzte sich auf und schaut mich an. Dann lacht er. Etwas kühl. „Meinst du das ernst?“, fragt er mich daraufhin und ich kann gar nicht reagieren, weil die Verwirrung mich seltsamerweise gelähmt hat. „Ähm…“, macht er als ich nichts sage und seine Stimme gewinnt wieder etwas an Milde. „Weißt du… jedes Mal, wenn ich irgendwie nen Schritt weitergehen wollte, bist du mir ausgewichen.“
 

„Was?“
 

„Ja… entweder bist du von mir abgerückt, oder du hast deine Hände von mir genommen, oder du hast einfach komplett weg geschaut…“, erklärt er und kratzt sich nun etwas verlegen am Hinterkopf. „Deswegen war ich auch so überrascht, als du plötzlich so wild warst, als wir dann endlich Sex hatten…“ Sein Grinsen ist sachte und warm. „Ich hatte ja schon fast gedacht, dass du mich irgendwie nicht antörnend findest…“
 

„Was? Nein! Ganz im Gegenteil!“, schießt es aus mir heraus wie aus einer Pistole. Wir lachen beide – etwas unsicher. Oh Mann, wie kann das alles nur sein…?
 

„Naja, ist ja auch egal“, sagt er. „mach dir einfach keinen Kopf mehr drum, jetzt haben wir ja ein normales und ziemlich geiles Liebesleben.“ Das selbstsichere Grinsen tritt wieder auf sein Gesicht. „und es war ja eh von Anfang an etwas kompliziert mit uns beiden. Vielleicht ja auch, weil ich eben nicht von Anfang an klar gemacht hab, was ich eigentlich von dir will.“
 

„Wieso eigentlich nicht?“, frage ich ihn ohne darüber nachzudenken und für einen kurzen Moment scheint er sich ertappt zu fühlen; sein Blick ist etwas irritiert und gleichzeitig nachdenklich.
 

„Äh“, macht er. „Naja, ich hab’s dir doch eigentlich schon gesagt: ich wusste ja, dass du irgendwie noch nicht so wirklich über’n Berg warst wegen deiner letzten Beziehung. Ich… Leon hat mir damals erzählt, dass du noch extrem an ihm hängst, als wir uns halt ein Mal etwas länger und intensiver über Ex-Beziehungen unterhalten haben und dass es zwischen euch dann halt eben auch echt kompliziert war, nachdem du wieder nach Deutschland gekommen bist und… naja, das hatte ich dann ja auch selbst gemerkt beim Freiluftkino war’s halt zum Beispiel extrem…“
 

„Was war extrem?“, höre ich mich selbst fragen, vielleicht ein wenig pampig. Christian hält inne.
 

„Na, wie du Martin mit deinen Blicken getötet hast und wie es dir absolut nicht gepasst hat, dass die beiden da zusammen aufgekreuzt sind. Obwohl du sie selbst eingeladen hattest!“, fügt er mit Nachdruck an und ich muss seufzen.
 

„Ja. Ja, das war sehr… masochistisch“, gebe ich zu. Warum sollte ich lügen? War ne Scheißaktion, wusste ich im Nachhinein auch. „Ähm, apropos…“, sage ich dann und blicke meinen Freund vorsichtig wieder an, weil ich es ihm sagen muss und weil ich auf diese Konversation plötzlich doch keinen Bock mehr habe. „Wir sind heute eingeladen. Bei Leon. Die anderen sind wohl auch alle da, er hat’s geschafft, das Referendariat an unserer alten Schule zu bekommen“, erkläre ich.
 

„Ah, cool. Wann geht’s los?“, fragt er – und ist dabei keine Spur verärgert. Ich entlasse den Atem, den ich eben noch angehalten habe und schimpfe mit mir selbst.

Leon ist zwar mein Ex, aber eben auch mein bester Freund und ich sollte mich einfach freuen, dass Christian keine Probleme mit dieser Konstellation hat! Mit diesem Gedanken rutsche ich wieder näher an ihn heran und hauche ihm einen Kuss auf den Mund, nach dem er mich umgehend mit seinen starken Armen packt und mich schon wieder mit meinem Rücken gegen die Matratze drückt, sich auf mich legt.
 

„18 Uhr“, antworte ich ruhig auf seine Frage, während er leichte Küsse entlang meines Halses verteilt und ich dabei erzittere.

„Okay“, haucht er. „Können wir vorher noch bei mir vorbeischauen, damit ich frische Klamotten holen kann?“

„Klar…!“ Ich grinse und genieße seine Liebkosungen, halte ihn fest in meinen Armen und atme seinen Duft ein. Somit bleibt er auch diese Nacht bei mir…
 

Dieses Wissen stimmt mich glücklich. Christians Anwesenheit macht mich froh. Wir kuscheln, wir gucken zusammen fern, ich bin wieder ganz der verliebte Teenager und ich finde das einfach klasse. Einige Stunden später halten wir dann auch an seiner Wohnung.

Sven ist da. Er ignoriert uns zwar nicht, dass er allerdings nicht zu viel Zeit in unserer Nähe verbringen möchte, macht er allerdings auch klar; begrüßt uns nur knapp, mit einem freundlichen Lächeln, das trotzdem ziemlich gequält wirkt. Dann haut er sich vor den Fernseher, während wir in Christians Zimmer treten und dieser beginnt, wahllos Klamotten in seinen Rucksack zu stecken. Ich hingegen starre wieder diese Fotowand an – und verdränge die Gedanken daran, dass hier irgendwo ein Ex-Freund und zahlreiche Ex-Freundinnen versteckt sein könnten. Nein, sicherlich abgebildet sind.
 

War ich eigentlich schon immer so eifersüchtig?
 

„Wir können, Babe“, schreckt Christian mich auf und gibt mir gleichzeitig auch noch einen Klaps auf den Hintern.

„Hey!“, meckere ich gespielt, obwohl ich das eigentlich genossen habe…

Sven verabschiedet sich von uns mit einem knappen ‚bis dann!’.
 

„Meinst du… Sven kriegt sich irgendwann wieder ein?“, frage ich Christian vorsichtig, als er den Motor startet. Er zuckt mit den Schultern

„Ich hoffe es. Ich denke, ich muss in den kommenden Wochen noch mal ein ernstes Gespräch mit ihm führen, aber ich warte erstmal ab, dass er auf mich zu kommt.“

„Mhm…“, mache ich in Gedanken versunken.
 

Ben ist zuhause, als wir ankommen und mein Freund und mein Mitbewohner begrüßen sich fast schon stürmisch. Die beiden mögen sich irgendwie sehr. Ben fängt sofort an über eine Modifikation in Christians Trainingsplan zu faseln. Richtig, Christian ist ja Mitglied im Complete Fitness – die Mitgliedschaft war ein Geschenk seiner Geschwister zum bestandenen Bachelor.
 

Ich lasse die beiden reden. Es beruhigt und erfreut mich, dass sie auf einer Wellenlänge sind, dass es keine Komplikationen gibt und auch der Rest meines bescheidenen Freundeskreises Christian schon akzeptiert hat. Martin hatten sie schließlich auch mehr oder weniger akzeptiert und ich glaube mittlerweile, dass sie mir nur gesagt haben, sie fänden ihn nicht gerade super, um mich etwas aufzubauen. Ich hätte schließlich ebenso gehandelt.
 

In meinem Zimmer räume ich automatisch ein Regal in meinem Kleiderschrank leer und beginne in Gedanken versunken, Christians Sachen aus dem Rucksack zu fischen. Bis sie alle in meinem Schrank sind und ich erst jetzt realisiere, wie glücklich mich diese triviale Tätigkeit gemacht hat und wie sehr mich die Tatsache erfreut, wieder in festen Händen zu sein, die Tatsache, dass er heute Nacht schon wieder in meinem Bett schläft, dass durch seine Klamotten in meinem Schrank, dieses Zimmer mehr zu unserem Zimmer mutiert ist.
 

Als Christian zu mir kommt, teile ich ihm meine Gefühle durch einen intensiven Kuss mit.

Mein Freund grinst einfach nur und umarmt mich nach unserem Lippenkontakt. Ich atme seinen Duft ein, eine Mischung aus herbem Aroma und seinem seichten Eigenduft. Es geht mir durch Mark und Bein und legt sich zentnerschwer auf meinen Kopf.
 

Ich könnte schon wieder…

Aber wir haben Hunger und entscheiden uns mit Ben eine Kleinigkeit in der Stadt zu essen. Nicht all zu viel, nur ein Snack, schließlich wollte Leon heute für uns kochen und als wir pünktlich um 18 Uhr vor seiner Tür stehen, steigt uns der Chili-Geruch bereits in die Nase.
 

Wow, das ist erst das zweite Mal, dass ich ihn hier besuche. Das erste Mal war in einer kleinen Katastrophe geendet und ich hätte danach wohl nicht im Traum daran gedacht, dass ich das zweite Mal schon mit einem neuen Partner an meiner Seite wiederkehren würde. Doch nun stehe ich hier und blicke in die mir so bekannten Karamellaugen, während Christians schwitzige Hand in meiner ruht und sie subtil drückt.
 

„Hey, kommt rein!“, begrüßt Leon uns freudig.

Zugegeben, in der engen, hellblauen Jeans kombiniert mit dem simplen und ebenso engem schwarzen, dünnen Pullover sieht er einfach nur sexy aus. Ich kann es nicht negieren. Aber das ist doch normal, oder? Ich kann ihn doch nicht von einem Tag auf den anderen hässlich finden und wieso sollte ich ihn irgendwann überhaupt hässlich finden? Leon sieht gut aus, Elias sieht auch gut aus – Christian sieht auch gut aus. Ich seufze innerlich und lasse Christians Hand nicht los, als Leon uns in das Wohnzimmer führt, in dem Ole, Mike, Michi und Mathias auf uns warten.
 

Wo ist Martin?
 

Diese Frage bekomme ich sofort beantwortet, als mir jemand auf die Schulter tippt und ich schon im nächsten Moment in die Hand von Surferboy einklatsche.

„Ich hoffe, ihr habt Hunger“, sagt er und grinst Christian und mich an. „Wir haben nen seeeeehr großen Pott Chili con Carne gekocht.“

„Geil!“, ruft Christian enthusiastisch aus. Martin grinst. Sie sind von selber Größe und mir fällt auf, dass auch ihre Statur ähnlich ist. Das hübschere Gesicht, die schönere Hautfarbe und die angenehmere Stimme besitzt aber definitiv Christian. Und diese grünen Augen kann kaum jemand schlagen.
 

Vergleiche ich Martin und Christian gerade tatsächlich? Ich schüttel den Kopf und die beiden schauen mich etwas irritiert an.
 

Leons Mitbewohner sind im Urlaub, Karolina und Tina arbeiten, die kleine Gesellschaft ist komplett und das Chili con Carne schmeckt auch vorzüglich. Da ich der Fahrer bin, lehne ich freundlich lächelnd das Bier ab, das mir Martin anbietet. Christian aber nimmt es dankend an, meint aber noch zu mir: „Keine Angst, ich schieße mich nicht ab.“ Ich stoße nur symbolisch mit einem einzigen Schluck des Gerstensaftes auf Leons Erfolg an und stopfe mich stattdessen lieber mit Chili voll.
 

Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Ole und Mike hängen dicht beieinander, also fast so wie immer. Dieses Mal scheint die Stimmung aber sehr gelassen zu sein zwischen den beiden. Mike faselt noch irgendetwas davon, Leon endlich die Haare zu schneiden, aber Martin findet die längeren Strähnen scheinbar sehr ansehnlich und ist dagegen. Michi und Mathias spielen das frisch verliebte Pärchen; halten die ganze Zeit über Händchen.
 

Ähm.

Ich blicke herab an mir. Christians Hand liegt auf meinem Oberschenkel. Und eben noch waren unsere Finger miteinander verschränkt.

Ähm, ja…
 

Gespräche entwickeln sich, jeder holt sich einen Nachschlag und als ich mit einem neu gefüllten Teller zurückkomme, ist Martin auf meinen Platz auf dem Sitzkissen neben meinen Freund gerutscht. Die beiden unterhalten sich angeregt über irgendetwas. Auch Michi und Mathias sitzen nun getrennt und Nick Carters neue Flamme führt eine Unterhaltung mit Ben.
 

Also lasse ich mich auf eines der Kissen direkt neben dem Sofa nieder, auf dessen dortigem Ecksitz Mike hängt und mir spielerisch durchs Haar streicht.

„Hast du gerade Chilisoße in meine tolle Frisur geschmiert?“, schelte ich ihn theatralisch und blicke hoch, um ihn lachend die Augen verdrehen zu sehen.

„Nein, aber mit deiner tollen Frisur solltest du bald mal wieder zu mir kommen, du hast schon voll die Ansätze!“, schimpft er grinsend.

„Aye, Captain!“
 

Ich esse auf und plötzlich tritt Leon auf mich zu, entnimmt mir den leeren Teller und verschwindet mit einem gar geheimnisvollen Grinsen in der Küche. Ich runzele die Stirn und bin etwas irritiert. Doch nach einer kurzen Weile, in der ich Mike im Flüstern berichtet habe, wie gut Christian im Bett ist und der Frisör besinnungslos kichert, kommt Leon zurück und in seiner Hand trägt er einen kleinen Kuchenteller, auf dem sich ein Stück Käsekuchen und Schokotorte befinden. Meine Lieblinge! Die Leon stets für mich gebacken hat…!
 

„Hier“, sagt er milde und drückt mir die süßen Sünden in die Hand.

„O Gott, die sehen so gut aus…“, wispere ich fast schon und fange unmittelbar an zu mampfen. Mit vollem Mund registriere ich dann auch, wie Leon sich direkt neben mich setzt. Kurz berühren sich unsere Knie, dann schon treffen sich unsere Augen. Leon lächelt, nimmt einen weiteren Schluck Bier zu sich und dann fordert er mich mit gedämpfter Stimme auf: „Erzähl…“ und sein Blick wandert dabei zwischen Christian und mir hin und her und… ich erzähle es ihm.
 

Leon hört mir aufmerksam zu, er lächelt, er grinst und er schüttelt lachend den Kopf, als ich ihm schließlich von dieser abgefuckten Party berichte, an der ich mich total zugeschüttet habe und Elias mir zu sehr auf die Pelle gerückt ist und ich in meinem betrunkenen Kopf Christian abgeknutscht habe. Natürlich lasse ich auch nicht aus, dass ich derjenige war, der Elias geneckt und gereizt hat, dass Elias und ich an diesem Abend ebenfalls noch geknutscht hatten – Leon weiß es schließlich bereits; allerdings gehe ich nicht ins Detail, ich springe direkt zu Christians Offensive und unserem verrückten Paintball spielen und dann der Party, die Leon so früh verlassen hatte und dem Pudding, und wie mich meine Gefühle überkamen.
 

Genau bei diesem Punkt der eigentlich kurzen Geschichte steht Mike auf und auf seinen Platz hat sich Christian gesetzt und seine Hand streichelt kurz behutsam über meinen Nacken. Wir tauschen ein Lächeln aus und Leon hakt nach: „Und ihr wart echt Paintball spielen???“
 

Christian lacht und erklärt es ihm und während seiner detaillierten und lustigen Ausführungen über unsere „überragende Baby-Schlacht“, keimt zum ersten Mal an diesem Abend ein wirklich befremdliches Gefühl in mir auf. Langsam lasse ich meinen Blick zwischen Christian und Leon hin und her schweifen; zwischen meinem Verflossenen und meiner neuen Flamme. Wirklich, ein seltsames Gefühl zwischen den beiden zu sitzen. So als würde ich mich physisch zwischen den zwei Teilen meines Lebens befinden...
 

Alles scheint eigentlich wie früher. Ich sitze mit meinen engsten Freunden irgendwo zusammen, wir machen Witze und teilen unsere Anekdoten, Leon ist in meiner Nähe und ich esse den Käsekuchen, den ich seit so vielen Jahren kenne.

Aber Leon und ich sind nicht mehr zusammen. Und das wird mir ziemlich deutlich, durch Christians Hand, die meinen Nacken sachte massiert und durch Martin, der plötzlich neben Leon rutscht. Unser Vierergespann ist komplettiert und mit ihm wird auch das seltsame Gefühl weniger. Vielleicht, weil mir bewusst ist, dass das hier nun die Normalität ist. Eine Realität, die ich die ganze Zeit angestrebt habe.
 

Martin lächelt mir zu.
 

Ich weiß, Martin war bis jetzt nicht begeistert von mir, aber wahrscheinlich liegt es einfach auch an mir und der Art, in der ich ihn angesehen habe – wenn sogar Christian, der mich noch gar nicht gut kannte, es auf Anhieb gemerkt hat, diese Antipathie, den puren Hass, die trotzigen Reaktionen meinerseits. Jetzt blicke ich Surferboy an – ja, diesen Spitznamen wird er leider nicht mehr los – und denke mir: ‚hey, so schlimm ist er gar nicht, gib ihm ne Chance, gib diesem Vierergespann ne Chance’.
 

Das tue ich dann auch. Irgendwann unterhalten sich Leon und Christian über studienrelevante Themen und mein Ex und ich haben die Plätze getauscht; ich spreche tatsächlich mit Martin, in einem netten Ton, ohne mir die ganze Zeit vor die Augen zu führen, dass ich ihn ja so hasse – weil das doch gar nicht stimmt. Er erzählt mir von seinem kleinen Städtchen und der Bankfiliale, in der er arbeitet, von seinen Freunden auf dem Land und der Tatsache, dass er sich versetzen lassen will. Um Leon näher zu sein.
 

„Ihn nicht mal jedes Wochenende sehen zu können ist echt hart“, sagt er schwer seufzend und seine Augen schleichen sich auf Leons Erscheinung. Ein weiterer, kurzer Moment des befremdlichen Schattens, der mich zu verfolgen scheint, keimt auf. Irgendwie ist es trotz der neuen Situation immer noch etwas seltsam einem Martin zuzuhören, wie er über „seinen Leon“ spricht, der so lang eben „mein Leon“ war. Aber dieses Mal laufe ich nicht wie von der Tarantel gestochen davon, oder schieße mich mit Unmengen von Alkohol ab, weil das befremdliche Gefühl momentan nicht mehr ist, als ein unangenehmes Zwicken in meiner Brust. Wie das Ziehen einer Hose, in die man fast schon wieder passt und die nur noch ins Fleisch drückt, wenn man sich hinsetzt oder in die Hocke geht. Seltsamer Vergleich – aber in dem Augenblick erscheint er mir passend.
 

Leon bekundet vor uns allen tausendfach, wie sehr er sich freut, seinen Favoritenplatz ergattert zu haben und redet die anderen Schulen, an denen er sich als Alternative beworben hatte, schlecht. Er ist glücklich, er isst viel zu viel Kuchen und er trinkt ziemlich viel Bier. So wie Mike. Ole ist schon wieder leicht genervt, aber der Frisör macht es ihm heute auch nicht einfach, weil er die ganze Zeit in den Haaren seines Freundes rumfummelt und dabei auch noch Bier auf Oles Hose verschüttet.
 

Nach zwei weiteren Stunden, in denen ich mich auch mit Mathias länger unterhalten habe und feststellen musste, dass er wirklich ein netter Kerl ist, sehe ich Christian und Ben gähnen – und mache es ihnen prompt nach. Ja, es wird Zeit zu gehen. Ole und Mike sind natürlich schon längst abgezogen, aber darüber macht sich momentan keiner Gedanken. Sie haben sich schließlich nicht öffentlich gestritten, es gab keine seltsamen Balkon-Momente wie auf Bens Geburtstagsparty, es ist alles normal, egal wie man diesen Zustand genau definieren möchte.
 

„Abmarsch!“, ordne ich an und wir schlüpfen in unsere Schuhe. Das Wetter heute ist so daneben, dass ich mir sogar einen dickeren Kapuzenpulli eingepackt habe, den ich mir nun überziehe. Ich gehe durch den Flur und öffne die Haustür.
 

Eine Hand packt mich plötzlich an meinem Arm und ich werde fast schon ein wenig brüsk zurückgezogen. Leon drückt mir einen übertrieben schlabbrigen Kuss auf die Wange und es passiert so schnell, dass ich mich gar nicht dagegen wehren kann; dann schon lallt er mir viel zu laut ins Ohr: „Ich bin so froh, dass jetzt endlich alles so wie früher zwischen uns ist.“ Ich halte den Atem an. Dann merkt auch mein Ex seinen Fehler und fängt an zu lachen, während Martin schon seine Arme von hinten um ihn schlingt. Martins Blick trifft auch meinen und Leon erklärt glucksend: „Also, nicht sooo wie früher“, er kichert dümmlich und ich kann diese unangenehme Verlegenheit an seinem umherschweifenden Blick erkennen. „aber halt wieder normal.“
 

„Schließlich hast du ja jetzt auch schon mich ne ganze Weile“, wirft Martin immer noch etwas alarmiert ein, schenkt mir dabei aber einen entschuldigenden, freundlichen Blick. So als würde er damit noch untermauern wollen, dass dies kein Angriff sein soll.

Trotzdem: für wenige Momente klopft mein Herz wild in meiner Brust und ich bin verwirrt. Es ist sogar ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf, den ich zu spüren vermeine, als Leon sich grinsend seinem Freund zuwendet und ihm eigentlich gewollt leise, in der Realität aber ziemlich laut, bekundet: „Und ich liebe dich ja auch, mein Bankfutzi!“
 

Alle sind von diesem simplen Spitznamen amüsiert. Sie lachen. Fast alle. Nur ich nicht. Nur Christian nicht.
 

Ich bin verwirrt und fast schon lasse ich es zu, dass mich diese Zuneigung der beiden auf die Palme bringt, meine jung verschlossenen Wunden wer weiß wieso wieder aufreißt – doch der Anblick meines neuen Freundes unterbricht diesen Prozess ruppig. Seine sonst eigentlich fast immer Selbstsicherheit suggerierende Miene ist fort. Die eben noch deutlich widergespiegelte Fröhlichkeit und Ruhe dahin. Er sieht wieder einmal so zerbrechlich aus, verletzlich – wahrscheinlich zeichnet sich zu einem Bruchteil auch so etwas wie Ärger auf seinem Antlitz ab, ich kann diese Emotion gar nicht deutlich ablesen, denn er dreht sich bereits um und zieht ab.
 

„Bis dann!“, ist also alles, was ich auf Leons Gefühlsausbruch entgegne. Ja, ich bin ebenso froh und glücklich wie er, auch wenn ich immer noch einen seltsam bitteren Nachgeschmack registriere, dessen Grund ich momentan aber noch nicht genau ausmachen kann und für dessen Findung ich gerade auch keine Zeit aufbringen kann, denn ich haste Christian hinterher und dieser Akt unterbindet nun auch jedwedes weitere Analysieren der momentanen Situation.
 

Ein ganzes Stockwerk tiefer erst hole ich ihn ein. Ich sage nichts, ergreife stumm seine Hand und er bleibt daraufhin kurz stehen. Ich lächle ganz vorsichtig, verschränke unsere Finger ineinander und meine, mein eigenes Herz im Treppenhaus klopfen zu hören. Abgesehen von dem Lachen und Herumalbern von oben und den lauten, polternden Schritten die daraufhin folgen. Als Ben uns erreicht, lächelt auch Christian wieder und mein Mitbewohner beschwert sich laut, dass wir uns nicht im Treppenhaus an die Wäsche gehen sollten.
 

„Keine Sorge, wir warten damit, bis du im Bettchen bist, damit du nicht eifersüchtig wirst“, scherzt Christian grinsend und ist wieder ganz er selbst. Ein kleines Steinchen fällt mir vom Herzen. Wenn ich mich schon ein wenig komisch wegen Leon fühle, wie muss das denn erst für Christian sein, der dieses Wissen mit sich herumträgt, dass Leon und ich fast unser gesamtes gemeinsames Leben geteilt haben und da diese besondere Chemie zwischen uns ist, vielleicht immer noch so etwas wie eine leichte Spannung, die man nun mal nicht ausradieren kann. Die selbst das Band der Freundschaft nicht ganz verdecken kann. Ich seufze und schenke Christian ein weiteres, aufmunterndes Lächeln.
 

Er und Ben kabbeln sich noch ein wenig und bewerfen sich mit leichten Macho-Sprüchen. So wie Leon und Michi sich öfters mit Boyband-Sprüchen bewerfen. Ich lache genüsslich und zuhause setzen wir uns zu dritt auch noch kurz aufs Sofa und lassen den Abend mit einem leckeren Glas Whiskey ausklingen.
 

„Gut, dann fallt mal übereinander her, ich geh’ jetzt pennen“, scherzt Ben noch und verschwindet und Christian zieht mich nach dem Zähneputzen tatsächlich direkt in mein Zimmer; in unser Zimmer.
 

„Törnt es dich nun an, wenn ich dich Manu nenne, oder nicht?“, raunt er, als er mir mein T-Shirt über den Kopf zieht und es achtlos auf den Boden pfeffert. Ich schmunzel und befreie auch seinen Oberkörper vom störenden Stoff.

„Ich find’s einfach nur schön“, entgegne ich und streiche über seine nackte Brust. Ich blicke ihm ins Gesicht und prompt kommen auch schon seine Lippen näher und mit ihnen macht sich auch ein seichtes Kribbeln in meiner Magengegend breit; noch bevor sie meine überhaupt berühren können, noch bevor Christians Zunge sich in meinen Mund schlängelt.
 

Wir küssen uns wie zwei Ausgehungerte und nach und nach bedecken unsere Klamotten den Boden. Nackt und etwas außer Atem stürzen wir uns aufs Bett. Christians Hände erkunden meinen Körper aufs Neue – und ich komme nicht umhin, meine Faszination für diesen silbernen Ring in den Hintergrund zu drängen…
 

Unser Schlaf nach diesen nächtlichen Aktivitäten ist tief und fest.

Und Christian ist begeistert von meiner Fertigkeit mit „dieser flinken Zunge“...
 

Als ich am kommenden Morgen erwache, ist der Platz neben mir jedoch leer. Leicht irritiert tapse ich in die leere Küche, wo ich ein Zettelchen vorfinde.

‚Sind joggen! Ben + Christian’
 

Ich grinse und koche Kaffee, tief erfreut über die Tatsache, dass ich heute nicht in den Laden muss, und dass Christian mich wahrscheinlich nie zum Joggen zwingen wird, weil ich ihm einfach immer meinen Mitbewohner unter die Nase schieben werde. Ein wunderbarer Kompromiss. Überhaupt ist momentan alles wundervoll. Ich bin verliebt, Christian wird in meinen Augen immer toller, ich habe phänomenalen Sex, in meinem Freundeskreis läuft es wunderbar und ich kann mich wieder normal mit Leon auseinander setzen.
 

Leon.

Meine Gedanken wandern zurück zum gestrigen Tag, zu dieser Normalität, die mich ergriffen hat – und diesem seltsamen Gefühl, das ich noch immer nicht ergründet habe.

Ich schmiere mir ein Nutellabrötchen, ich schwelge in Gedanken.
 

Und plötzlich trifft mich die Erkenntnis, wie ein Blitz in einen Baum einschlagen kann, mit voller Wucht und desaströsem Schaden: ich bin unzufrieden, weil Leon – wie es bei Elias zum Teil der Fall war – nicht eifersüchtig ist; dass er keine Anstalten macht, mich spüren zu lassen, dass er Christian für einen Vollpfosten hält – Aus reinem Trotz oder Stolz, oder beidem, gepaart mit einer unvernünftigen und irrationalen Portion Eifersucht.
 

Jesus, nervt mich gerade tatsächlich, dass Leon keine Versuche startet, mich wieder für sich zu gewinnen???
 

Hatte ich auf andeutende Gesten gehofft, auf verräterische Blicke? Ich will ihn doch gar nicht - und er mich schon länger nicht mehr! Freunde wollten wir beide sein und jetzt sind wir es wieder und ich bin mit diesem total tollen Kerl zusammen, der mich zum Lachen bringt, und ich stehe in der Küche und bin angepisst, dass Leon das alles gut findet – obwohl ich doch unter anderem genau diesen Zustand bezwecken wollte!
 

Ich schelte mit mir, gehörig, laut, betitele mich selbst als „größten Idioten aller Zeiten“.
 

Und doch kann ich mich selbst im Endeffekt, nach einem Frühstück, der zweiten Tasse Kaffee und einem Kurzausflug auf den Balkon, irgendwie verstehen.
 

Ist es nicht das, was man sich immer nach einer Beziehung wünscht? Selbst wenn man sie schon verdrängt hat, sich wirklich neu verliebt hat und bereit für ein neues Kapitel ist, es schon angefangen hat? Trägt man nicht doch diese seichten Rachegefühle mit sich, möchte man nicht gerade durch das neugewonnene Selbstwertgefühl, das nur Christian bei mir möglich gemacht hat, seinem Ex dennoch irgendwie zeigen, was dieser verpasst – was dieser hat gehen lassen?
 

Wahrscheinlich.

Naiver Trotz.

Kindische Rachegefühle.
 

Ich muss sie loswerden.
 

Diese seltsamen Eifersuchtsanfälle und die Rückgewinnungsversuche passieren doch meistens eh nur in Filmen. Das hier ist aber keiner, das hier ist mein Leben. Manchmal wünschte ich mir zwar, ich könne das Drehbuch dazu schreiben, aber mein Schicksal hat mir bis jetzt noch keine Chance dazu geboten und ich bezweifle, dass jenes noch geschehen wird.
 

Filmreif gestaltet sich dagegen tatsächlich der Dienstag. Direkt nach dem Aufschließen des Studios zerre ich Anton regelrecht nach hinten und die Neuigkeit strömt wie ein reißender Bach aus meinem Mund: „Ich bin jetzt übrigens wieder vergeben.“

Anton hält inne, die Kaffeetasse direkt an seinen Lippen. „Was? Echt? Seit wann?“, fragt er dann und stellt sie wieder zurück auf den Tisch, ohne einen Schluck gekostet zu haben.

„Ist noch ganz frisch…“, gebe ich etwas schief grinsend zu und mein Bruder erwidert das Grinsen.

„Hat es dich also tatsächlich endlich erwischt“, sagt er.

„Mhm.“

„Wie heißt denn der Gute?“

„Christian.“
 

„Was?!“, ertönt Wiebkes schrille Stimme direkt hinter mir und ich wirbele herum. „Ähm, sorry, ich wollte euch nicht belauschen, aber ich hab’s zufällig mitbekommen!“, fügt sie etwas hastig an.
 

„Als wenn mein Bruder daraus ein großes Geheimnis machen würde; ich bin sicher, er wollte es euch heute noch erzählen, oder Manuel?“, zieht mein Bruder mich amüsiert auf und ich kann gar nicht antworten, denn Wiebke sabbelt einfach weiter.
 

„Christian? Aber nicht der Christian, oder?“

„Welcher der Christian?“, entgegne ich und stelle mich dumm, denn im gleichen Moment erfasst mich eine ziemlich krasse Panik. Darf ich meinen Kollegen eigentlich verraten, dass Christian mit mir zusammen ist? Ihn outen, verraten, dass er bi ist? Will er das? Ich habe ihn ja gar nicht um Erlaubnis gefragt, ihn darüber in Kenntnis gesetzt und wer weiß, wem die es alles erzählen könnten. Ich komme so richtig ins Schwitzen.
 

Welcher Christian“, äfft Wiebke mich genervt nach. „Tu nicht so!“

„Also ich verstehe immer noch Bahnhof“, äußert Anton sich immer noch sichtlich amüsiert.

„Das ändern wir gleich!“, flötet Wiebke und setzt sich flink an den iMac, den wir hier hinten stehen haben. Ein paar Klicks später hat sie zwei Bilder aufgerufen. Oh nein. Das Gothic-Shooting. Christian in der knappen Latexshorts. Christian mit nacktem Oberkörper, dessen Lippen nur Millimeter von Wiebkes Lippen entfernt sind. Interessiert begutachtet Anton das Bild.
 

Ach, der Christian“, schmunzelt Anton. „war der nicht schon mal hier?“

„Ja, war er, ähm.“ Wie soll ich ihnen nun sagen, dass sie die Klappe halten sollen?
 

„Alter, ich glaub’s nicht!“, ruft Wiebke aus und schwingt sich schwungvoll mit dem Drehstuhl in meine Richtung. Sie lacht, ihr Mund steht offen, ihre Augen leuchten seltsam. Ein Mix aus Überraschung und großer Belustigung. „Christian ist schwul???“

„Mh. Naja. Bi. Und…“

„Also tatsächlich DER Christian!“
 

„Na, das ist ja ein kleiner Casanova!“, meint Nina. Wo kommt die denn plötzlich her??? „Sieht ja ganz schick aus, der Kleine. Ich wusste doch, da ist etwas im Busch.“ Amüsiert kneift sie mich in die Wange.
 

„Argh!“, platzt es aus mir heraus und ich springe genervt auf. „Tut so, als hättet ihr es niemals erfahren!“, brülle ich die kleine Ansammlung an und ihre Reaktion ist nichts anderes als ein irritiertes Starren. Ich seufze und lasse mich wieder auf den Stuhl sinken. „Also, Christian ist bi, aber das weiß halt nicht jeder und so sollte es auch bleiben, okay?“
 

„Wem sollte ich denn eigentlich davon erzählen. Außer Anja“, fügt Anton hinzu.

„Ich schätze Anja ist… okay?“, murmele ich schwach und meine Augen wandern direkt zu Wiebke. „Du erzählst es NIEMANDEM, klar?!“

„…nicht einmal Maya oder Lara?“, hakt sie kleinlaut nach.

„Nein!!!“

„Okay, okay“, sagt sie und lacht genüsslich. „Ist schon gut, Manuel“, fügt sie noch an. „Pass nur auf, sonst schnappe ich ihn dir irgendwann weg“, fügt sie grinsend an und ich schlucke meinen Ärger hinunter, kann meine etwas giftigen Kommentar dann doch nicht lassen.

„Hat’s also doch nicht mehr geklappt mit Tom?“ Ihr blöder Ex.

„Er wollte mich zurück – ich hab ihn aber nicht gelassen“, erklärt sie triumphierend grinsend und verschwindet in den vorderen Bereich. Ich seufze.
 

Wären wir da nicht wieder beim Thema? Eilig verwerfe ich diesen Gedanken.
 

„Na, weiß Mama es schon?“, fragt mein Bruder mich mit diesem breiten Lächeln.

„Ich dachte, ich bin so nett und weihe dich als ersten ein“, sage ich grinsend.

„Ich fühle mich geehrt!“, gibt er im gespielt erhabenen Ton von sich und bringt mich zum Lachen. „Und Manuel“, sagt er, bevor er aufsteht. „Ich freu mich für dich.“

„Danke.“
 

Ich habe ziemlich viel zu tun, bearbeite Hochzeitsbilder, knipse Fotos fürs neue Familienalbum von Unbekannten und als die Mittagspause kommt und ich mit Anton zum Italiener latsche, zücke ich mein Handy aus der Tasche und informiere meinen Freund, dass ich es meinem Bruder und einigen Kollegen – so wie Wiebke – verraten habe und hoffe, dass es OK und er nicht sauer ist.
 

Doch er antwortet nicht.

Anton und ich essen Pizza und ich erzähle nun auch ihm die Story – pikante Details lasse ich aus; eine jugendfreie etwas beschönigte und kurzgefasste Geschichte. Er lacht. Und er sagt, es sei gut, dass sich das Verhältnis zu Leon damit auch normalisiert hat.

Als wir zurückgehen ist immer noch keine SMS von Christian gekommen. Ich seufze schwer – und habe Angst. Am liebsten würde ich ihn umgehend anrufen, aber ich bin mir gar nicht so sicher, was ich ihm eigentlich sagen sollte.
 

„Ich mach mir eben noch nen Kaffee“, verkünde ich und verziehe mich abermals in unseren hinteren Bereich. Wiebkes schallendes Lachen höre ich schon von weitem. Als ich den kleinen Raum endlich betrete, in dem auch die Kaffeemaschine steht, legen sich meine Augen trotzdem auf niemand anderen als Christian. Den Christian.
 

„Ah, da ist er ja!“, ruft Wiebke aus und Christians Augen legen sich nun auf mich. Er grinst. Eine Spur lasziv und auch ein wenig wie ein kleiner Junge, der gerade einen Streich begangen hat.

„Hey!“, grüßt er mich knapp und ich stehe noch immer da wie eine Statue. Langsam nähere ich mich ihm und er zieht mich ohne Vorwarnung auf seinen Schoß und drückt mir einen hastigen Kuss auf die Lippen.

„H-hey, was machst du denn hier?“, frage ich ihn, doch meine Augen ruhen auf Wiebke. Der Gothic-Fan, der auch heute obligatorisch schwarz trägt, grinst mich an.

„Ich wollte mir die SMS sparen und dachte mir, ich antworte wie in antiker Zeit, als man sich Dinge noch ins Gesicht sagte“, meint mein Freund nur und sieht mir grinsend in die Augen. Ich schätze, die Antwort bedeutet wohl: „Ja, alles okay.“
 

Ich atme aus, sehe in das betörende Grün und irgendetwas in mir explodiert richtig. Eine Idee wird in meinem Innern geboren und ich denke einfach gar nicht weiter darüber nach, sondern schnappe mir Christian, murmele ein „ich muss eben was machen“ in Wiebkes Richtung und zerre ihn schon in den Laden.

„Studio frei?“, frage ich Nina und sie nickt einfach nur – etwas alarmiert, aber mit einem dicken Grinsen auf ihrem Gesicht.
 

„Was hast du vor, Herr Fotograf?“, hakt Christian amüsiert nach, lässt sich aber widerstandlos in unser Studio ziehen. Er lässt sich sogar ohne zu protestieren von mir auf den bereitstehenden Stuhl drücken und sagt einfach gar nichts mehr, während ich das Licht einstelle und die Kamera greife und letztendlich verkünde: „Ich muss meiner Mutter noch ihren neuen Schwiegersohn vorstellen.“
 

„Und genau deswegen bewegst du deinen Arsch jetzt auch direkt VOR die Linse!“, ertönt die Stimme meines Bruders direkt neben mir und schon im nächsten Moment nimmt Anton die Kamera aus meiner Hand und schiebt mich direkt auf meinen lachenden Freund zu, der mich dann wiederum unmittelbar auf seinen Schoß zieht. Die Fotosession dauert nicht lang. Aber sie macht Spaß. Allein wegen der Tatsache, dass Christian mir so nahe ist.
 

Die Bilder sind schön. Ich schicke meiner Mutter gleich drei direkt von der Arbeit aus. Christian und Anton unterhalten sich kurz, über Nichtigkeiten; das erste Beschnuppern sozusagen und mein Bruder lädt uns zum Essen ein. „Kommt einfach mal irgendwann vorbei, wir können ja grillen oder so.“

An diesem Abend, an dem Christian und ich faul ein paar DVDs gucken und kuscheln, ruft meine Mutter an. „Der ist ja n richtig attraktiver Bursche, was!“, ruft sie aus und Christian und ich müssen lachen.

Sie fragt mich, ob ich glücklich bin. Ich bejahe.

Sie fragt mich, ob alles mit Leon in Ordnung ist. Ich bejahe.

Sie fragt mich, ob ich nun endlich weitermachen kann. Und ich bejahe.
 

In den kommenden Tagen nutzen Christian und ich endlich den Kinogutschein aus, den Ben mir geschenkt hat und Christian schaut beinahe jeden Tag im Laden vorbei, bringt mir Kaffee mit; wir gehen sogar mit Anja und Anton zusammen zum Italiener und blödeln herum. Anja findet ihn „irgendwie süß“ und auch Sören meint „jop, nett.“ Jetzt wissen es alle – und schwören auf Diskretion.

Christian begleitet mich zu einem weiteren SMACK-Job und mimt mal wieder den Bodyguard. Wir gehen sogar schwimmen im See, an einem der helleren Tage und er kriegt mich sogar aufs Fahrrad.
 

Es ist Freitag, als Christian, Wiebke und ich die letzte halbe Stunde vor Ladenschluss am Tisch sitzen und die Zeit totschlagen. Es beginnt mit SmallTalk, windet sich übers Trinken hin zu Sex. Dann passiert es.

„Hey, wenn du doch auch auf Frauen stehst – kann ich nicht dann mit zu euch ins Bett hopsen und wir haben den Dreier unseres Lebens?“, schlägt Wiebke vor – und lacht sich im nächsten Moment schlapp. „Sorry, sorry!“, wendet sie sich an mich. „das war nicht so gemeint, aber dein Gesicht eben war echt Gold wert! O Mann, ich muss endlich mal wieder unter Leute, ich labere in letzter Zeit nur so etwas!“ Sie zwinkert Christian zu. Wir gehen.
 

Im Wagen sprechen wir nicht über diesen Vorfall. Eigentlich sagen wir fast gar nichts, lauschen der Musik. Etwas liegt in der Luft, ich kann es spüren, aber ich will nicht darüber nachdenken. Als wir mein Zimmer betreten, spuckt Christian es schließlich aus, den Gedanken, der ihm wohl seit einiger Zeit im Kopf herumgeistert:

„Du stehst wirklich kein Stück auf Frauen, oder?“
 

Ich schüttel den Kopf. „Irgendwie nicht. Ich wollte eher immer mit den Mädchen was spielen, anstatt sie zu necken und ihnen die Röcke hochzuziehen, was soll ich sagen? Und ich hatte auch nie das Bedürfnis, heimlich Händchen mit einer meiner Spielkameradinnen zu halten.“
 

„Krass.“

„Wieso?“

„Weiß nicht, einfach so: krass.“

„...wenn du meinst“, sage ich schulternzuckend und frage mich, ob das jetzt eine Grundsatzdiskussion wird.
 

„Dann hattest du echt noch keine einzige Freundin?“

„Nein...“

„Also war vor Leon auch nichts mit Beziehungen?“

„Äh, nein?“

„Wow, krass. Und Sex? Einfach nur Sex mit ner Frau? Ist das davor passiert?“, hakt er weiter nach.
 

„Was, hättest du gern noch Wiebke oder irgendeine andere Frau in deinem Bett, oder was?!“, fahre ich ihn genervt an, weil mir der Kragen langsam wirklich platzt, und Christian hebt defensiv beide Hände.

„Das habe ich nie gesagt, ich wollte einfach nur ein bisschen mehr über dich erfahren, bitte entschuldige!“, antwortet er genervt und ich fühle mich wie ein kleines Kind.
 

„Sorry“, murmele ich. „Ist irgendwie noch ein wenig komisch mit jemandem zusammen zu sein, der auch auf… Frauen steht.“

„Ja, das habe ich wohl gemerkt. Als wir essen waren hast du mich mit deinen Blicken fast schon getötet, als ich nett zu der Kellnerin war“, meint er kühl und lässt sich auf den Sessel fallen, knipst die Anlage an und dreht genervt die Lautstärke hinunter. Irgendein Regionalsender läuft und bedudelt uns mit belangloser Chartmusik.

„W-Was?“, pruste ich und lache. Was…?
 

Mein Freund verdreht etwas genervt die Augen und dann seufzt er. „Hast du, Manuel. Oder im Park, als ich wahllos Leute angeguckt habe, weil sie nun mal vor uns und hinter uns und neben uns liefen und ich meine Augen nicht schließen konnte – dein Blick, jedes Mal wenn eine ansehnliche Frau an uns vorbeigegangen ist – der hat echt alles gesagt!“
 

Ich schlucke, bin ganz still, versetze mich in diese Lage zurück, wandere zurück in der knappen Zeit. Das leichte Ziehen in meiner Brust ist eine Zustimmung. Ja, hab ich, weil es mich nervt, dass er sie „ansehnlich“ findet, dass ich nicht nur durch attraktive Männer gefährdet bin, sondern auch noch durch das andere Geschlecht. Und das macht mir viel mehr Sorgen: Frauen können ihm das bieten, was ich nicht kann. Ich bin keine Frau. Sie lösen in ihm völlig andere Gefühle aus. Ihre Anatomie ist anders… der Sex ist anders, der Umgang, die Chemie.
 

Ich erschrecke, als er sich plötzlich zu mir aufs Bett setzt. Unsere Blicke treffen sich.

„Manu…“, sagt er leise und streicht mit seiner Handfläche über meinen Oberarm. „Was soll ich machen?“

„W-Weswegen…?“, murmele ich erstaunt, genieße gleichzeitig seine zärtliche Berührung, seine Nähe.

„Damit das aufhört und damit du checkst, dass ich wirklich nur dich will und dass ich zwar normalerweise auch auf Frauen stehe – aber momentan nicht auf der Suche nach einer bin und mich auch nicht in eine vergucken könnte. Weil ich nämlich total in dich verliebt bin, du dumme Nuss.“
 

Ich lache, unsicher und leise und doch auch irgendwie ein wenig glücklich und Christian beugt sich vor und küsst mich.

Ich glaube... ich muss noch viel an mir arbeiten.
 

Mit besagter Devise gehe ich an die kommenden Tage heran.

Ich sehe so viel von Christian, dass ich kaum Zeit mehr für andere habe, Michi beschwert sich nicht – der macht gerade dasselbe durch und turtelt wohl herum mit Mathias. Mike allerdings gibt mir zu verstehen, dass er sich zwar freut, wir aber unbedingt wieder etwas zusammen unternehmen müssen, als ich auf seinem Stuhl sitze und er mir die Haare wieder hübsch macht. Ich verspreche es ihm und auch Karolina meldet sich bei mir und meint, Christian und ich sollen doch vorbeikommen.
 

So viel vor!
 

Es ist ein Mittwoch, an dem ich im Laden stehe und Kaffee trinke, als mir bewusst wird, dass ich Leon seit dem Chili con Carne-Abend nicht mehr gesehen habe. Ich halte inne und ein seltsam unangenehmes Gefühl kriecht meine Venen entlang und nistet sich in meiner Brust ein. Es ist ein leichtes Ziehen, das sich bemerkbar macht und meine Gedanken wild durcheinander laufen lässt.

Die ganze Zeit über hat Leon versucht, die Freundschaft zu mir aufrecht zu erhalten, ist auf mich zugetreten und hat probiert, den Kontakt zwischen uns nicht abbrechen zu lassen. Es hat nicht funktioniert. Wegen mir. Weil ich uns immer wieder gegen die Wand habe laufen lassen. Aber jetzt? Jetzt ist es anders. Und jetzt verstehe ich auch, dass es zunächst auch an mir liegen wird, diese Freundschaft wieder zu beleben; es ist ein Rollentausch sozusagen. Jetzt muss ich auf Leon zugehen.
 

Ich wähle seine Nummer, noch bevor ich meine Gedanken fortführen kann.

„Hey, Manu!“, grüßt er mich freundlich.

„Hi! Wie geht’s dir?“

„Gut geht’s mir, ich faulenze gerade. Und du? Hart am arbeiten?“
 

Es fühlt sich vertraut an – und doch irgendwie neu; dieser Smalltalk, der sich entwickelt und es ist erstaunlich, wie leicht es uns doch fällt, über Martin und Christian zu sprechen. Wie es den beiden geht, was sie gerade machen.
 

„Hey, hast du Lust heute ins Fizz zu gehen?“, frage ich ihn nach ungefähr zehn Minuten.

„Äh – klar!“, antwortet er unmittelbar. Wir legen auf und ich muss lächeln. Ja, so ist es gut, Manu.
 

Fühlt es sich seltsam an, mich nach Feierabend auf den Weg zum Treffpunkt mit Leon zu machen, während ich Christian eine SMS schreibe und ihm nochmals viel Spaß beim Playstation-Abend mit seinen Kommilitonen wünsche? Irgendwie ja und irgendwie nein. Es ist endlich so, wie es sein sollte. Ein bisschen alt und ein bisschen neu.
 

Ich passiere den Bahnhof, weiche den in beide Richtungen strömenden Individuen aus. Carry steht schon bei mir zuhause und ich genieße diesen kleinen Spaziergang, das triviale, rege Treiben der kleinen Stadt, das von einer skurrilen Mischung aus aufgebrachten Stimmen, in verschiedenen Zungen, Schreien, mechanischen Durchsagen und leiser Musik verschiedener Richtungen untermauert wird. Nur wenige Schritte bringen mich zu diesem kleinen Laden. Wie oft wir uns da schon abgeschossen haben. Oder vorgeglüht haben. Das Lokal existiert seit unserem 17. Lebensjahr an gleicher Stelle. Kurz bleibe ich stehen.
 

Nein. Eigentlich sind es nicht diese weit reichenden Erinnerungen, die gerade mein Gedächtnis streifen, viel mehr ist es die letzte Episode, die wir beide, Leon und ich, hier erlebt haben; kurz nach meiner Rückkehr, der Missbrauch meiner Melodie. Scar Tissue auf Leons Handy, ausgelöst durch den Anruf Surferboys. Martins.
 

Ich betrete das mir so bekannte Lokal. Es ist nicht gerade viel los heute. Dennoch sitzt Leon ziemlich weit hinten, unweit des großen Aquariums. Seine Lippen gleiten in ein Lächeln, als er mich erkennt. Grüßend hebt er dir Hand und ich nicke ihm zu, setze mich in Bewegung, rutsche auf dem Stuhl ihm gegenüber. Seine Haare sind zu einem Zopf gebunden, ein dunkelblauer Pullover ziert seinen Oberkörper.
 

„Hattest du heute viel zu tun?“, fragt er mich.

Ich nicke. „Irgendwie schon, so langsam könnte auch das Wochenende kommen. Wie schaut's bei dir aus?“

Leon zuckt mit den Schultern. „Ich habe eigentlich noch sehr viele Bücher, die ich durchlesen will. Muss mich ja langsam schon vorbereiten aufs Referendariat“, sagt er dann grinsend.

„Wann geht’s los?“, hake ich nach.

„Ach, erst im Februar eigentlich“, entgegnet er lachend und ich stimme mit ein.
 

Die Bedienung kommt und wir haben die Karten noch nicht einmal aus ihrem kläglich-kleinen Ständer befreit. Ich sehe Leon in die Augen. Wir tauschen nur diesen einen Blick aus. Dann ergreife ich das Wort und ordere - 'so wie immer' – den Jumbo, mit zwei Strohhalmen. Und es tut nicht weh. Und es fühlt sich nicht seltsam oder unpassend an. Es ist einfach nur ein bunter Cocktail in einer großen Vase, den wir uns in angenehmer Atmosphäre teilen.
 

Wir reden. Über Ben, über Michi und Mathias, über Anton und Anja, über den Laden, die Uni. Über Christian.

„Ich muss zugeben...“, sagt Leon plötzlich, als wir unseren zweiten Jumbo trinken. „dass ich sehr überrascht war, als du mir plötzlich per Chat gesagt hast, du seist mit Christian zusammen.“

Ich höre auf zu schlürfen.

„Ich war selbst überrascht, dass ich mit ihm zusammengekommen bin“, sage ich dann trocken – und wir beide prusten los. „Wusstest du eigentlich, dass er was von mir wollte?“, frage ich schließlich, doch mein Ex schüttelt den Kopf.

„Ne, wir haben n paar Mal über dich gesprochen, aber er hat nie so gewirkt, als würde er irgendwelche Details wissen wollen und er hat auch nie etwas direkt gesagt oder so...“

„Ja, hm.“

„Ich wusste halt nur, dass er bi ist und Single...“
 

Ich spiele mit dem bunten Regenschirmchen und zerreiße es aus Versehen.

„Ja, das ist er wohl. Und das weiß auch nicht unbedingt jeder“, sage ich schließlich auf Leons Äußerung.

„Ich weiß. Das sagte er.“
 

Wir schweigen.

„Ist nicht immer einfach, oder?“, fragt Leon plötzlich und bevor ich antworten kann, fährt er schon fort. „Ist bei mir ja genauso. In Martins Freundeskreis weiß fast niemand, dass er schwul ist, deswegen ist er ja auch ständig bei mir – in seinem dämlichen Dorf wär das halt nicht drin“, fügt er etwas sarkastisch an.

„Oh“, sage ich und weiß für wenige Sekunden nicht, was ich sagen soll. Zudem kann ich dieses leichte Glücksgefühl nicht zurückhalten. Wahrscheinlich ist noch ein winziger Teil des rachesüchtigen Ex-Freundes nicht komplett in mir ausgebrannt. Aber dann ist das Gefühl so schnell wieder weg, wie es aufgetaucht ist. „Aber Martin nimmt eure Beziehung so ernst, dass er sogar hierher ziehen will, damit ihr euch öfter sehen könnt!“, entgegne ich fest und Leon lächelt.

„Ich weiß, das ist total süß...“

„...aber?“, hake ich nach, denn diesen leicht zweifelnden Blick kenne ich einfach zu gut. Ich weiß, dass da noch etwas kommt.
 

Leon seufzt. „Versteh' das nicht falsch, aber ich bin direkt von zuhause aus mit dir zusammengezogen, dann wieder direkt zurück ins Elternhaus und jetzt erst, mit knapp 28, lebe ich zum ersten Mal allein – naja, allein, in einer WG, aber du weißt, was ich meine.“ Ich nicke. „und irgendwie gefällt mir das, diese Unabhängigkeit, die ich vorher eben nicht haben konnte. Ich weiß nicht, ob ich das so schnell aufgeben will und Martin hat schon Andeutungen gemacht, dass man dann ja zusammenziehen könnte...“
 

„Oh“, mache ich. Mit dieser Offenbarung hatte ich nicht gerechnet. Das kleine Rachegefühl von eben keimt wieder auf. Und ebbt eine Millisekunde später schon wieder ab. Unabhängigkeit. War das vielleicht der Grund für unsere Trennung?
 

Nein. Nicht mehr darüber nachdenken, schelte ich mich und werfe Leon ein aufmunterndes Lächeln zu.

Was war, ist nicht mehr wichtig. Es ist ein Teil unseres Lebens – aber eben ein abgeschlossener. Was zählt ist die Gegenwart: das hier und jetzt. Was wichtig ist, ist die Momente so schön wie möglich zu gestalten und sie auszukosten.
 

„Ich denke, das werdet ihr beide noch klären“, sage ich beschwichtigend und leere unseren Drink.
 

„O Gott, wir trinken heute so schnell“, bemerkt mein Ex lachend.

„Noch einen?“, ziehe ich ihn neckend auf.

„Du musst morgen arbeiten!“, schimpft er grinsend.

„Na und?“
 

Eine dritte Vase wandert auf unseren Tisch und ich stelle fest, dass ich ziemlich betüdelt bin.
 

Wir reden über Karolina und darüber, dass wir bald alle wieder zusammen weggehen müssen. Darüber, dass Leons Mutter mich noch immer zu Kaffee und Kuchen erwartet, über seine ältere Schwester Sandra, über Leons Nichte Emilie. Sie wird bald sechs. Ich habe die beiden schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
 

„Du kannst davon ausgehen, dass du zum Geburtstag eingeladen wirst“, sagt mein Ex lachend.

„O Gott, mit pinkem Papphut und Topfschlagen, oder was?“

„Und wehe du machst nicht mit, dann verhaut Emilie dich.“

„Das befürchte ich auch...“
 

Und dann springt das Thema eben doch wieder zu Christian.

„Der kommt ursprünglich aus Rostock, oder?“, fragt Leon und ich nicke bejahend. „Seid ihr schon hingefahren?“ Ich verneine. „Wie sind denn so seine Leute?“ Ich öffne meinen Mund, um ihm zu antworten – doch muss ich feststellen, dass ich von „seinen Leuten“ lediglich Meilin kenne. Und Sven. Aber der hasst mich scheinbar immer noch und Christian winkt jedes Mal ab, wenn ich ihn nach seinem Bruder frage.
 

Stille.
 

„...ich kenn die noch nicht alle. Ich...“

„Ist schon OK“, meint Leon nur – und redet einfach weiter, weil er auch schon ziemlich einen im Tee hat durch das grelle Gemisch. Er spricht jetzt von Martins Freunden, von lediglich einem Kerl, der mal hier mit war, dem einzig schwulen Freund aus Martins näherer Umgebung. Die restlichen Bekannten scheinen alles Internetbekanntschaften zu sein. Leon redet und redet – und ich kann ihm gar nicht zuhören. Weil mein Herz in diesem unstetigen Rhythmus schlägt und dieses schwere Gefühl, das sich auf meine Schläfen gelegt hat und durch zahlreiche Poren in mein Inneres zu sickern scheint, verlässt mich nicht mehr.
 

Es ist immer noch da, als ich mich von Leon mit einer kräftigen Umarmung verabschiede und in den Bus steige. Es ist immer noch da, als ich mit diesem Schwindelgefühl durch den Flur stolpere und es verschwindet auch nicht in der Dunkelheit meines Zimmers, als ich im Bett liege und mich von Seite zu Seite drehe, rastlos.
 

Fragen rasen durch meinen Kopf.

Will Christian unsere Beziehung verheimlichen? Vor seiner Familie, seinen Freunden aus Rostock, seinen hier wohnenden Bekannten und Kommilitonen? Wo er doch eigentlich so offen ist? Er hat mir noch nicht einmal seine schwulen Bekannten vorgestellt, mit denen er doch an diesem aufschlussreichen Abend im Rainbow's Inn gastierte!

Nein, dieses Gefühl verschwindet einfach nicht.
 

Es wird sogar verstärkt, als ich mein Handy in die Hand nehme und Christian eine SMS schreibe.

„Schämst du dich eigentlich für mich?“
 

Ein simpler Inhalt, dem Stille folgt und nach einer gefühlten Ewigkeit lege ich das Mobiltelefon endlich beiseite. Meine Augenlider sind schwer, es ist bereits nach Mitternacht und ich muss in sieben Stunden bereits aufstehen. Ich bin müde, erschöpft und durcheinander.

Aber ich kann nicht schlafen.
 

Als es 2 Uhr ist vibriert mein Handy und ich bin schlagartig wach.

Christian hat mir geantwortet. Ich schlucke.
 

„Du bist manchmal so eine hohle Nuss.“
 

Und was genau soll mir das jetzt sagen?

Ich brauche eine weitere Ewigkeit, um einzuschlafen.
 

Mittwoch, 15. September

Wenn ich eine hohle Nuss bin, löse ich mich dann in Luft auf, wenn ich geknackt werde?

Ich will, dass Christian hier ist :C

Manuel



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  jyorie
2014-09-14T07:05:29+00:00 14.09.2014 09:05
Hey ৫(”ړ৫)˒˒˒˒

Chris überrascht immer wieder und wirkt dann noch viel erwachsener, als wie man ihn zuvor eingeschätzt hat. z.B. Wie er manche Dinge nicht über SMS regeln will, sonder dieses Dauerstreitgespräch über das Versteckspiel lieber persönlich bespricht. Manchmal kommt es mir so vor, als wenn Chris teils vernüftiger wäre als Manu. *lacht* und dann kommen wieder solche sachen, wie mit dem Besuch von Max. bei dem er sich total abschießt und es für Manu wie ein Griff ins Klo aussieht. Aber – dann zu erfahren, das er sich eine Frau ausgesucht hat, die Vergeben ist und eigentlich nur mit ihr über die anderen gelästert hat, das sind dann wieder so Momente wo man echt schlucken muss. Rührend und irgendwie überwältigend, weil man sich dann mit Manus Wut und trauer konfrontiert sah und es ebenfalls nicht glauben konnte, was Chris da macht. *seuftz* ein Liebesgeständins, Wolke 7 und dann der Totalbsturz mit dem Tod von Leons Opa. Achterbahnen sind gemein!

CuCu Jyorie

Von:  Marubis
2011-11-28T11:46:21+00:00 28.11.2011 12:46
Oh manno man
ich will das es ganz schnell weiter geht
Die Beiden sind aber auch einfach zu süß
Besonders Manu mit seinen komplexen
Aber er hat noch gar nicht ich liebe dich zu Christian gesagt
So ganz über alles ist er noch nicht hinweg
Bin sehr gespannt wie es bald weiter geht
Grüße Kiri
Von:  _A-chan_
2011-08-31T12:07:53+00:00 31.08.2011 14:07
Hi,

ich find´s toll das Manu und Christian zusammen sind. Hoffe die Beziehung überlebt die vorgeschichte mit Leon.

Was ist eigendlich mit Christian los wieso stellt er manu seinen freunden nicht vor? das er sich schämt glaub ich nicht aber was ist sonst los?

Wird Leon Martin das mit seinem Freiheitswunsch erzählen?

Was ist mit Manu warum geht er nicht einfach hin zu Christian und redet mit ihm? Wird sich der Bruder von Christian beruhigen?

Wie ist den seine Meinung über das ganze? Irgendwie weiß ich nur das er dagegen ist aber die begründung fehlt noch.

Ich mag wie du schreibst und die ff verschlinge ich wenn ich den sehe das du sie vortgesetzt hast. *g*
Von:  RockFee
2011-08-24T09:51:48+00:00 24.08.2011 11:51
Das war wieder ein tolles Kapitel! Weil man deine Charaktere so absolut nachvollziehen kann. Manu mit seinem Wunsch, Leon sollte doch wenigstens ein bisschen eifersüchtig sein - wer kennt nicht diese eigentlich kindischen Eitelkeiten? Oder die Unsicherheit gegenüber Christian, der auch auf Frauen steht und ihn vor Familie und seinen Freunden abschottet. Leons Gefühl der Freiheit, ohne Partner zu wohnen.
Aber warum kann Manu nicht reden? Er schafft es immer noch nicht, Leon zu fragen, warum der die Beziehung beendet hat. Er knallt Christian eine SMS vor den Latz, statt sich mit ihm zusammenzusetzen und die Unsicherheiten zu klären.
Ich bin gespannt, wie sich das zwischen Manu und Chris entwickelt. An einer Beziehung muss man natürlich arbeiten und Vertrauen wächst mit der Zeit. Jedenfalls scheint die Zeit des ungetrübten Liebestaumels erst einmal vorbei zu sein.
Tja und Manu und Leon? Irgendetwas ist da noch, aber es wird wohl nicht für ein Aufleben der Liebe reichen. Ich bin ja schon etwas (viel) älter, und ich denke auch noch öfter an vergangene Beziehungen zurück - und ein bisschen Liebe bleibt immer.

lg
Von:  kaya17
2011-08-23T21:48:18+00:00 23.08.2011 23:48
Zwei pappenheimer... wirklich
mal sehen wie das noch weiter geht^^
die haben sicherlich noch einiges zu klären


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