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Whiskey und Schokolade

von

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Schokotorte und Käsekuchen

Mein Herz fängt an wild gegen meine Brust zu hämmern. Durch diesen fast schon makellosen Anblick drängt sich mir direkt eine wichtige und durchaus unangenehme Frage auf: …ist Martin wirklich nicht da? Ich Trottel habe es natürlich nicht geschafft, meine Freunde noch mal richtig anzusprechen, weil ich keinen Mut fassen konnte. Weil ich dieses Gespräch immerzu verdrängt habe. Und nun stehe ich hier, blicke Leon in die Augen, lächle und bin mega-nervös, weil ich nicht weiß, was mich erwartet. Beinahe lasse ich die Kameratasche fallen, als ich meine Wohnung betrete. Und ein weiterer Gedanke erfasst mich, den ich am liebsten direkt wieder abschütteln würde: schon komisch, dass Leon es ist, der mir die Tür öffnet.
 

Wie früher.
 

„Heeeeeeeeey“, grölt Ben auch schon direkt im Flur. „Du bist zu früh!“

„Soll ich wieder gehen?“

„Ja!“

„..was?“

Mein Mitbewohner lacht und umarmt mich. „Mann, das war ein Scherz!“, erklärt er lachend und ich muss blinzeln.

„Ich geh eben nur mal eben meine Taschen abladen, ja?“, informiere ich Ben, der mir daraufhin zunickt.

„Sind eh noch nicht alle da“, gibt er mir zu verstehen und ich schlendere den Flur hinunter. Die Kameratasche lege ich auf den Schreibtisch. Ein Klopfen ertönt und ich wirbele herum. Leon steht lässig an den Türrahmen gelehnt und lächelt mich milde an.

„Kann ich reinkommen?“, fragt er in ruhigem Ton.

„Du stehst doch eh schon im Raum“, scherze ich grinsend, die Augen nicht von ihm nehmend, während er mein Zimmer betritt und sich zum ersten Mal in meinem neuen Reich umsieht. Er lässt seine Augen entlang der Fotocollage über dem Fernseher wandern. Er grinst dabei. Dann will er etwas sagen, doch er lässt es bleiben. Blickt stattdessen unser – mein – Bett an und die wenigen Dekosachen, die ich so aufgestellt habe. Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, oder ob er tatsächlich diese alte Campingkanne länger betrachtet als alles andere…
 

Gewillt, diesen Gedankengang abzuschütteln, wende ich mich meinem Rechner zu, der mittlerweile hochgefahren ist und ziehe die heutigen Bilder auf die Festplatte.

„Sind die von heute? Ben meinte ja, du hättest heute deinen ersten Job für SMACK gehabt…?“, fragte Leon mich und kommt näher.

„Ja, das war so ne Charity-Modenschau“, erkläre ich ihm, irgendwie froh über sein Interesse. Wie ein kleines Kind. „Schnapp dir den Stuhl“, sage ich ihm und deute auf den Klappstuhl, der an der Wand steht. Leon setzt sich neben mich und wir beginnen, uns die Fotos auf dem großen Monitor anzuschauen. Bei „Bibo“ muss er lachen.

„Wie geil ist das denn?“, postuliert er immer noch lachend.

Ich will ihn fragen.

Es wäre so einfach.

‚Ist Martin da?’ – eine Frage in drei Wörter gepackt. Doch nach den ersten fünf Bildern schon werden wir unterbrochen, denn schon platzt Ben rein. Und ich habe die Frage noch immer nicht gestellt.
 

„Ey, Leon, ich brauch dich mal, okay? Sind jetzt alle da“, lauten Bens leicht genervten Worte.

„Äh, alles klar“, antwortet er und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich starre Ben an.

„Ihr habt jetzt aber nicht irgendeine große Überraschung geplant, oder?“, frage ich ihn kühl.

„Nein. Nur eine kleine. Nichts Besonderes. Es wird dich schon nicht umbringen, Koschinski, okay?“, antwortete er im selben Ton.

„Schon klar.“
 

Ich bleibe allein im Raum zurück und versuche mir einzureden, dass ich Leons Aftershaveduft NICHT gut finde. Hastig mache ich mich an die schnelle Bearbeitung der Bilder und schicke die besten an die Redaktion, die wiederum davon die besten auswählen wird. Das Foto vom Engel-Mann ist dabei. Das mit den spielenden Kindern.
 

Time to party, sage ich mir und werfe noch mal eine schnellen Blick in den Spiegel. Meine Haare sind definitiv zu lang. Ich muss unbedingt einen Termin bei Mike machen! Der Rest? Passt irgendwie. Ich trage eine ausgewaschene, schwarze Jeanshose und ein weißes, stinknormales T-Shirt. Ich habe keine Lust, mich irgendwie aufzustylen. Doch prompt bleibe ich mitten im Raum stehen. Ohne nachzudenken schlüpfe ich eilig in die dunkelblaue enge Jeanshose, die meinen Hintern betont und wechsle auch noch das Shirt, tausche das weiße gegen das in dunkel lila mit dem schwarzen Kopfhörer Aufdruck; ich kämme mir sogar noch schnell die Haare.

Dass ich das wegen Martin gemacht habe, möchte ich mir nicht eingestehen.

Doch natürlich ist es so.
 

Aus dem Wohnzimmer dringen bereits aufgebrachte Stimmen, ich meine Ole und Mike streiten zu hören, vermischt mit gedämpfter Musik. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich lag richtig. Ole und Mike stehen etwas abseits und „unterhalten“ sich aufgebracht. Auf dem Sofa sitzen Michi und Leon, daneben noch meine ehemaligen Schulfreunde Anne und Hannes – die immer mit Leon und mir in diesen Zeiten auf dem Schulhof zusammengehalten haben; und dann ist da noch Ben, der beim Fernseher mit Tina und Karolina steht.
 

Karolina ist es auch, die mich zuerst erblickt. Eine russischstämmige, junge Frau Ende 20, mit knallroten kurzen Haaren und einer exquisiten Figur; mit mandelförmigen dunkelbraunen Schokoaugen und prallen Lippen. Männer sind verrückt nach ihr - Und sie steht nur auf Frauen.

„Manuel!“, ruft sie aus mit diesem scharfen Akzent. Sie kommt energisch auf mich zu, ihr schwarzes Minikleid betont ihre runden Hüften und ihre Brüste wippen auf und ab bei jedem ihrer Schritte. „Du Ferkel, schaust mir schon wieder auf den Busen!“, scherzt sie und wir müssen beide lachen. Sie umarmt mich fest.

„Hey, Karolinchen, schön dich zu sehen!“

„Ich habe bekommen deine Postkarte“, erklärt sie mir fröhlich und ich liebe es, wenn sie die deutsche Satzkonstruktion durcheinander bringt.

„Das freut mich!“

„Ich hab sie sogar an unseren Schrank geheftet“, erklärt sie weiter und linst dabei verheißungsvoll zu Tina, die nun auch näher kommt. Die beiden sind seit zwei Jahren zusammen. Bei ihren nun geäußerten Worten geht erst einige Sekunden später bei mir der mentale Lichtschalter an.

„Oh!“, mache ich. „Ihr seid zusammen gezogen?“

„Ja!“, quieken die beiden beinahe gleichzeitig. Mädchen.
 

Nun fällt auch Tina mir um den Hals und drückt mir eine längliche schwere Tüte in die Hand.

„Von uns“, erklärt die Blonde, deren Haare ihr nun wirklich fast bis zum Hintern reichen. „Guckst du meinen Hintern an?“, zieht sie mich nun auf und ich verdrehe lachend die Augen.

„Ja, ich bin so scharf auf dich, ich weiß gar nicht, wie ich den Abend überleben soll!“, scherze ich.

„Wir können uns ja gegenseitig schön trinken“, schlägt sie vor. „Also ich trinke mir bei dir Brüste an - und du trinkst sie dir bei mir weg. Oder so.“ Wir prusten los. Die Mädels haben mir eine Flasche Glenfiddich geschenkt. Ich bedanke mich herzlich. Und fühle mich schäbig, weil ich den beiden nur eine kleine Elefantenfigur aus Indien mitgebracht habe…
 

Ich begrüße meine Gäste nacheinander und Ben deckt den Tisch mit viel zu viel Knabberzeug ein. Ich bin auch viel lockerer, jetzt, wo ich Martin nirgendwo entdeckt habe.

Vielleicht kommt er ja noch…?

Diesen Gedanken verdränge ich umgehend. Mein Mitbewohner sagte doch: „Es sind alle da.“

Ben und Ole stehen plötzlich grinsend vor mir und halten ein in buntes Geschenkpapier gewickeltes Paket mit beiden Händen fest. Es ist ziemlich groß.
 

„Ihr seid doch bekloppt…“, murmele ich, da springt Mike mich schon von hinten an und ich falle fast nach vorne um. Ole verdreht die Augen und sein Freund lacht nur. Seine rotbraunen Strähnen kitzeln meine Wangen, er hängt wie ein kleiner Affe auf meinem Rücken. Das ist Mike. 29 Jahre alt und trotzdem wie ein Fünfjähriger.
 

„Das ist von uns allen!“, erklärt er. „Also von Ole, Leon, Ben, Michi und mir!“
 

„Hey, wir haben auch was dazu gegeben!“, höre ich Anne sagen. Anne ist in meinem Alter, 27, sie ist Krankenschwester geworden. Heute trägt sie statt ihres Kittels jedoch eine enganliegende Röhrenjeans und dazu eine schwarze, kurzärmlige Bluse. Die schwarzen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Und eine neue Brille trägt sie auch, mit einem eckigen schwarzen Rahmen. Sie passt hervorragend zu ihrem runden Gesicht.
 

„Hallo Anne!“, witzele ich und sie stemmt die Hände in die Hüften, grinst.

„Hey Manu, vielleicht bekomme ich heute Abend ja noch irgendwann die Gelegenheit, dich zu begrüßen“, witzelt sie. Michi quittiert das nur mit einem „Shhh!“
 

Und ich mache mich daran, das Geschenk aufzumachen, setze mich dazu auf einen der Sessel, räume den Tisch ein wenig frei, damit ich das Paket dort abstellen kann. Im selben Moment fällt mir auf, dass Leon gar nicht mehr auf seinem Platz sitzt. Doch dann höre ich schon seine Stimme hinter mir. „Vorsicht!“, ruft er aus und im nächsten Moment stehen schon ein riesiger Käsekuchen und eine ebenso große Schokotorte auf der Tischplatte. Unsere Blicke treffen sich. Leon lächelt. Er kann verdammt gut backen und ich weiß, dass er für beides verantwortlich ist.
 

Mein Geschenk ist sofort vergessen.

„Oh, Gott, ich muss jetzt erstmal unbedingt ein Stück Käsekuchen mampfen!“, verkünde ich, als Ben direkt mit den Kuchentellern angerannt kommt. Ein großes Raunen geht durch die überschaubare Partymenge. „Mensch, dein Geschenk!“, mault Mike.

„Gleich!“, entgegne ich.

Der Kuchen ist mit dem von der Modenschau absolut nicht vergleichbar. Er schmeckt perfekt. Nicht zu süß und einfach köstlich. Ich liebe Leons Käsekuchen. Und die Schokotorte ist wie immer eine Explosion in meinem Mund.

„Du kriegst noch nen Zuckerschock…“, zieht Leon mich auf, der mir nun wieder auf dem Sofa gegenüber sitzt. Er grinst. Und ich verschlucke mich fast an dem Schokoklumpen in meinem Hals.

„Du kannst so verdammt gut backen…“, murmele ich, einen Schluck Wasser nehmend.
 

„Wasser, Manuel? Willst du mich verarschen?“, ertönt Oles Stimme und der Gute drückt mir harsch ein Whiskey-Glas in die Hand. Ich lache.

„Und jetzt mach endlich das Geschenk auf!“, mault Mike wieder.

„OK, OK, ich mache es ja schon!“
 

Die Jungs (und das eine Mädel) sind bekloppt.

Sie haben mir ganz viele Kleinigkeiten geschenkt. Und was für welche.

Von Mike habe ich eine vibrierende Haarbürste bekommen und einen Gutschein für einen Haarschnitt. Das gefällt mir! Ole hingegen hat mir ein leeres Fotoalbum geschenkt, mit dem Vermerk, die schönsten Reisebilder hier einzukleben. Ich bedanke mich lächelnd bei den beiden. Von Michi bekomme ich ein uraltes Caught in the Act Album geschenkt und wir alle lachen uns beinah kaputt dabei. „Was ist denn? Das hat Sammlerwert, ja?!“, wehrt der Blondschopf sich grinsend.

Von Anne und Hannes bekomme ich eine Monster-Packung… Kondome mit Schokoladengeschmack und eine Miniaturflasche Whiskey. „Ihr seid bekloppt…“, murmele ich, während alle anderen um mich herum kichern.
 

Dieses Geschenk ist verdammt witzig.

Und es tut verdammt weh.

Und ich muss mich verdammt noch mal zusammenreißen, um den beiden das nicht zu zeigen.

Sie haben es nur gut gemeint. Wir sehen uns nicht oft.

Außerdem bin ich doch über Leon hinweg und irgendwann finde ich sicherlich einen neuen Freund, mit dem ich dann Schoko-Sex haben kann.

Ja.

Genau.
 

Ben schenkt mir einen Kinogutschein für zwei und vermerkt auf einem Post-It. „Entweder für Mr. Right, ansonsten nimmst du MICH mit!“ Grinsend schüttele ich den Kopf.

Dann ist da noch das letzte Geschenk.

Ein 50cm großer Plüschpinguin mit runden blauen Augen.

„Das…“

Es ist genau jenes Model, das ich mir vor Jahren in den Niederlanden gekauft hatte – als Leon und ich mal wieder campen waren - und auf meiner spontanen Weltreise in einem Hotel in Hong Kong verloren habe! Mein Pinguin hieß „Maxi“ und hat mich überall hin begleitet. Auf dem kleinen Kärtchen um den neuen Pinguin gebunden steht in feinen Lettern „Maxi II“ geschrieben. Ich erkenne die Handschrift umgehend. Das Geschenk ist von Leon. Unsere Blicke treffen sich.

„Du ohne Maxi? Das geht nicht“, ist alles was er sagt.

Und ich bin sprachlos. Bin glücklich, ekstatisch und irgendwie doch recht betroffen. Froh über Karolinas spontane Intervention.
 

„Oooooch, wie niedlich!“, zieht sie mich auf und kneift mir in die Backe.

„Hey!“, zische ich lachend.
 

Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen. Und nehme alle in den Arm. Auch Leon. Ich denke nicht nach, während er mir für wenige Sekunden so nah ist. Die Musik läuft weiter, der Alkohol beginnt zu fließen. Anne und Hannes – der Rotschopf, der momentan sicherlich über 120 Kilo wiegt und sich über die Leckereien auf dem Tisch beschwert – fragen mich über die USA aus, weil sie dort vielleicht ihren nächsten Urlaub verbringen wollen. Die beiden sind seit 5 Jahren ein Paar. Sie waren schon zu Schulzeiten um einander herumgeschlichen.
 

Irgendwann sitze ich neben Karolina und Michi auf dem Sofa und Leon gesellt sich zu uns. Wir kennen Karolina schon ziemlich lange, fast drei Jahre jetzt. Wir haben sie mit ihrer damaligen Freundin Babette im Joy kennen gelernt, einer Schwulen- und Lesbendisko. Alle Tische waren besetzt und Karolina gesellte sich zu uns. Zwar wirkt sie immer wie eine richtige Lady, aber sie kann zuweilen schon einen „derben“ Charakter haben und ist Ben sogar manchmal sehr ähnlich. Die beiden verstehen sich sehr gut. Ich mag Karolina auch sehr gern. Sie ist sehr offen und hat auch immer passenderweise ein offenes Ohr.
 

„Weißt du was, Manuel“, wechselt sie plötzlich das Thema und schaut mir direkt in die Augen. „Ich bin echt sauer auf dich!“, erklärt sie und ihr osteuropäischer Akzent dringt hart durch bei diesen Worten. Bei Karolina kann man sich manchmal nicht sicher sein, ob sie gerade sauer oder sarkastisch ist.

„Wieso...?“, frage ich verwundert und Tina zuckt mit den Schultern, als ich ihr einen fragenden Blick zuwerfe.

„Du hast mir gerade mal zwei Postkarten zugeschickt! Und jetzt bist du schon hier eine Woche und nichts!“

„...ich hatte dir ne SMS geschrieben.“

„SMS!“, wiederholt sie lachend. „Dass du gelandet bist und dich bald bei mir melden willst. Aber hast du getan das?“

Ich fühle mich ein wenig ertappt. „Naja, ich wusste halt, dass ich dich hier sehen werde...“ Karolina grinst und hebt ihren Zeigefinger in einer ermahnenden Art und Weise.

„Du drückst dich vor Kontakten!“, diagnostiziert sie fast wie ein Arzt. Ich seufze, während Michi, Tina und Leon mich aufmerksam betrachten. Diese Konversation ist mir ehrlich gesagt etwas unangenehm. Wahrscheinlich hat Karolina recht.
 

„Ihr müsst Manuel einfach unter Druck setzen und ihn zu seinem Glück zwingen“, sagt Michi plötzlich daraufhin und erzählt den anderen von unserem gemeinsamen Skate-Abenteuer im Park. Ich verdrehe die Augen und grinse, während die anderen über meinen Zusammenstoß herrlich lachen. Karolina klopft mir auf die Schultern.

„Gut gemacht“, sagt sie.

„Ja, danke...“
 

„So, das war also der genaue Grund, warum du nicht mit mir Kaffee trinken konntest!“, meint Leon plötzlich in einer Mischung aus Scherz und Vorwurf, der mir im Moment sauer aufstößt.

„Ja“, schnaube ich. „Was dagegen?“

Leon schweigt einige Sekunden lang. Dann entgegnet er etwas verwirrt: „...das war nicht böse gemeint.“

„Hat sich aber so angehört.“

Karolina seufzt. „Jungs, wir wollen feiern.“

„Bewerft euch lieber mit Boyzone-Namen, okay?“, versucht Michi auf scherzende Art und Weise zu schlichten.

„Das ist euer Ding!“, entgegne ich sofort zickig und nehme dem Blonden somit all den Wind aus den Segeln. Keine Ahnung, was mit mir los ist, diese Bemerkungen sprudeln einfach so aus mir heraus. Karolina seufzt ein weiteres Mal und schaut Michi fast schon entschuldigend an.

„Was ist denn los, Manu?“, hakt Leon beinahe schon besorgt nach.

„Nichts! Ich hol jetzt eure Geschenke!“, zische ich und stampfe aus dem Wohnzimmer.
 

Die Zicke in mir ist erwacht.

Herrlich.

Sollte ich mich nicht eigentlich freuen, dass all meine engen Freunde wegen mir hier sind und mir ausdrücken wollen, dass sie mich vermisst haben, dass ihnen viel an mir liegt? Habe ich meine Tage?!
 

Ich erschrecke, als ich erst im Zimmer bemerke, dass Leon mir gefolgt ist; jetzt wo ich mich stürmisch umdrehe und zunächst die Tür schließen will, um einige Minuten alleine zu sein. Seine braunen Augen mustern mich. Er lächelt ganz sanft.

„Was ist los mit dir, Manu?“, fragt er mich mit zärtlicher Stimme.

Ich seufze und lasse mich aufs Bett plumpsen.

„Keine Ahnung...“, gebe ich zu und starre die Wand an. Leon nimmt auf dem blauen Sessel platz. Wir schweigen.

„Ist es wegen mir?“, hakt er nach.

„Nein, wegen des Weihnachtsmanns!“, zische ich und dann wird es wieder still.

„Willst du nicht mehr mit mir befreundet sein, ist es das...?“, kommt es kleinlaut von ihm.

Ich sehe Leon an. Er wirkt nicht gerade glücklich. „Nein, das ist es nicht...“, antworte ich ihm nach einer kurzen Weile. Ich habe keine Ahnung, wie genau ich meine Gefühle beschreiben soll. „Ich muss nur wieder klarkommen, okay? Ich bin gerade erst hier und alle wollen direkt ein Stückchen von mir haben und ich habe mich noch nicht mal akklimatisiert! Und du kommst an und schleppst mich direkt ins Fizz, wo wir diesen beschissenen Pärchendrink trinken. Was soll das?“, fahre ich ihn an, und rutsche in einen Schneidersitz auf meinem Bett.

„Ich will einfach nur die Freundschaft mit dir am Leben erhalten!“, zischt er direkt ein wenig erbost zurück und seufzt laut. „Du warst ein ganzes Jahr weg, Mann! So lange waren wir noch nie getrennt!“

„Wir sind aber getrennt, Leon“, sage ich kühl, wahrscheinlich eher zu mir selbst, als zu ihm, doch laut genug, damit er es auch hört.
 

Wow, unsere erste richtige Konversation über unsere Beziehung seit der Trennung wohl...
 

„Das weiß ich wohl am besten, Manuel“, verkündet er trocken. Dann schweigen wir wieder einige Sekunden lang. „Aber du bist immer noch mein bester Freund und... immer noch ein wichtiger Teil in meinem Leben, kapier das endlich. Nur weil wir nicht mehr zusammen sind, will ich nicht alles über Bord schmeißen. Ich hab Angst, dass wir uns so sehr auseinanderleben, dass selbst unsere Freundschaft keinen Sinn mehr hat. Du hast dich so selten bei mir gemeldet das vergangene Jahr, weißt du, wie scheiße das war?!“

„Weißt du wie scheiße das war, als du mir deinen behinderten neuen Freund vorstellen wolltest, als ich noch lange nicht so weit war?!“, brülle ich ihn jetzt an. Er schreckt bei meiner Lautstärke sogar ein wenig zusammen.

„...das tut mir leid... Ich wusste nicht, dass... dass du noch nicht so weit warst...“, stammelt er leise. Dann wird er lauter. „Woher auch?! Du hast mir ja nichts gesagt! Ich kann keine Gedanken lesen!“

Natürlich kann er das nicht.

Aber... es hätte ihm auffallen müssen!
 

Die Stimmung ist eiskalt. Dabei ist es doch meine Willkommensparty. Ich habe keine Lust, alte Wunden aufzupulen. Ich möchte lieber ein Pflaster drauf kleben.

Sei die klügere Zahnbürste, sage ich mir.
 

„Leon... lass uns das einfach erst mal vergessen, okay?“, murmele ich, nachdem wir wieder mal still gewesen sind. Er seufzt, lehnt sich in dem Sessel zurück und fährt sich mit beiden Händen durchs Gesicht, so als würde er versuchen die Müdigkeit und den Zorn von seiner Haut zu streichen. Langsam richten sich seine Augen auf mich.

„Ich hab Angst, dich komplett zu verlieren“, sagt er dann plötzlich. Ganz offen. Es ist eine simple Äußerung. Sie wirft mich nicht einmal komplett aus der Bahn. Auch wenn sich seine Worte seltsam schön anhören.

„Ich dich doch auch nicht…“, gebe nun also auch ich offen zu.

„Sorry, wenn ich dich hier mit einigen Dingen überrumpelt habe…“, fährt er ruhig fort. „Das mit Martin, das kann auch noch warten. Als wir im Fizz waren… Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass er auftauchen wird. Ich hatte ihm auch Bescheid gegeben, aber er ist stur, und, ist ja auch egal. Tut mir leid, OK?“
 

Ich hatte Leon doch eigentlich gesagt, dass ich Martin kennenlernen will… Ja, dass das wohl nicht so ist, hat mein bester Freund wohl erkannt. Schneller als ich es mir eingestehen wollte. So richtig. Ich Waschlappen.

„Ist schon in Ordnung. Es ist nur… Ich glaube ich muss jetzt erst mal mit all den Erinnerungen klar kommen. Als ich weg war, war auch alles in Ordnung und alles klar und so. Aber momentan kommt es mir halt vor, als wäre ich gar nicht weg gewesen. Was krass ist, weil ich ja knapp ein Jahr unterwegs war, verstehst du?“
 

Leon nickt bedächtig, lässt seine Augen erneut über die Fotocollage wandern.

„Ich verstehe dich“, sagt er dann letztendlich und schenkt mir ein vages Lächeln. „Wenn du möchtest, dann lassen wir das auch mit dem Kaffee. Ja?“

„…mal sehen, okay? Lass mich das spontan entscheiden, wäre das in Ordnung?“, lenke ich ein. Ich will Leon ja wirklich nicht verlieren. Als festen Freund habe ich ihn schon verloren. Aber als beste Freunde haben wir immer noch eine Chance.

„Gut“, sagt er.

„Und jetzt: Gescheeenkeee!“
 

Da Leon eh in meinem Zimmer ist, bekommt er seins als erstes. Seine Augen strahlen. Er ist völlig gaga. Er liebt die Buddha-Statue. Quietschend fällt er mir um den Hals. Mädchen. Ich grinse. Und bin über unser kleines Gespräch sogar ziemlich erfreut. Ja, meine Stimmung hat sich echt gebessert. Auch die restlichen Gäste sind alle froh über meine Mitbringsel. Ben fährt total auf Popeye ab und gibt ihm gleich den Ehrenplatz neben unserem großen Fernseher im Wohnzimmer.

„Geil“, sagt er und geht gleich in die Muckipose wie sein Comic-Vorbild.

Ich trinke Whiskey. Mit Ben. Mit Michi. Mit Karolina. Mit Anne.
 

Irgendwann dreht Ben die Musik lauter und Karolina und ich tanzen total bekloppt miteinander. Sie lacht laut dabei und reißt alle mit. Nach einer Stunde sind wir sogar so weit, gemeinschaftlich „Macarena“ zu tanzen. Naja. Hannes setzt aus und lacht sich auf dem Sofa kaputt, filmt uns sogar mit seinem schicken Smartphone.
 

Karolina lästert über Babette und Tina erzählt mir von ihrem neuen Job in einem Café, in dem alles pink und rosa ist und das von Hello Kitty Fans frequentiert wird. Ben versucht mich im ziemlich fortgeschrittenen Zustand davon zu überzeugen, dass ich Talent fürs Inline-Skating habe und Michi schläft irgendwann auf Oles Schulter kurz ein, was Mike irgendwie nervt, auch wenn Körperkontakt hier unter uns etwas völlig Normales ist. Vor allem, wenn wir von Mike und Michi sprechen… Unser Lieblingspärchen fetzt sich mal wieder ein wenig pathetisch und Karolina verdreht demonstrativ die Augen.
 

Wir essen Pizza.

Wir trinken Whiskey. Ich trinke Whiskey. Keine Ahnung, was die anderen trinken. Wir haben Bier, Sekt und irgendwelche Fruchtsachen da.
 

Irgendwann muss ich mein Shirt ausziehen, weil alle mein Tattoo bewundern möchten. Vor allem Karolina gefällt es, auch wenn es „etwas zu weich“ ist, wie sie sagt. „So ein Drachen oder ein Sensenmann wäre viel besser!“
 

Es ist gegen Mitternacht, als mich der Heißhunger in die Küche treibt, wo der Käsekuchen und die Schokotorte hin verlagert wurden… Ich mampfe das bereits zweite Stück Schokotorte, als Leon den Raum betritt, einige Gläser in der Hand haltend, die er nun in die Spülmaschine verfrachtet. Er war immer derjenige, der sich als erstes ums Abräumen gekümmert hat. So fleißig. Und dabei vollkommen lässig. Wie auch jetzt. Grinsend tritt er auf mich zu.

„Schmeckt’s?“, fragt er.

„Ohhh, jaaa…“, entgegne ich.

„Naschkatze!“, zieht er mich auf.

„Tse!“, mache ich und stopfe mir auch das letzte Stückchen des schokoladigen Genusses in den Mund. Jetzt platze ich fast.

„Naschkatzen haben es nicht einfach…“, kommentiert Leon lachend, als ich mir den Bauch festhalte und langgezogen seufze. Ich muss grinsen. Ein schummriges Gefühl hat mich bereits ergriffen. Wie viel habe ich intus? Zu viel. Aber hey, mir geht’s gut!
 

Als ich das nächste Mal auf die Uhr gucke, ist es 3 Uhr morgens. Anne und Hannes sind schon weg. Karolina und Tina stehen engumschlungen im Raum und gleiten regelrecht im Schneckentempo über den Parkettboden, bewegen sich zu der langsamen Musik, die nur noch leise aus den Boxen dringt. Mike und Ole sitzen händchenhaltend auf dem Sofa. Sie reden mit zufallenden Augen über irgendetwas. Michi macht sich gerade fertig, hängt sich seine Umhängetasche um. Wir stehen an der Tür und Leon kommt aus dem Badezimmer.
 

„Ben pennt schon“, informiert er mich.

„Ahhh…“, mache ich. Weil meine Artikulation mich bereits verlassen hat.

„Bis dann“, sagt nun Michi und umarmt mich. Er grinst und geht.

Leon und ich stehen uns gegenüber.

Wir schweigen.

Dann tritt er einen Schritt auf mich zu und umarmt mich.

Ganz fest.

Viel zu lang stehen wir so.

„Bis bald. Meld dich. …wann immer du möchtest“, fügt er an.
 

Und im nächsten Moment liege ich an Maxi II gekuschelt in meinem Bett und heule mir die Seele aus dem Leib.

Aber hey, mir geht’s gut!
 

Natürlich habe ich am kommenden Morgen einen miesen Kater und Ben und ich verbringen fast eine Stunde damit, aufzuräumen. Selbst er macht heute keinen Sport. Stattdessen gucken wir alles, was das Fernsehen zu bieten hat. Ich lese kurz Emails und finde zusprechende Worte des Chefredakteurs. Meine Bilder sind online. Und diese Tatsache erfüllt mich mit einem gewissen kleinen Stolz.
 

Maxi II starrt mich von meinem Bett aus an, während ich am Rechner sitze und den Link zu meinen Bildern per Mail an meine Freunde schicke. Ich seufze. Ich glaube der neue Pinguin wird so etwas wie meine Hass-Liebe, weil ich mich echt freue, wieder einen plüschigen Begleiter zu haben – auch wenn mich das in den Augen einiger vielleicht als Weichei darstellt – und weil ich wiederum den etwas bedrückenden Hintergrund dieses Geschenks nicht ganz von mir schieben kann.
 

Hier sitze ich nun wieder in meinem neuen Zimmer auf meinem altem Sessel, starre in die Glotze, deren Ton abgeschaltet ist, und höre Webradio. Maxi II starrt mich immer noch an. Und ich stelle mir die Frage erneut: Bist du über Leon hinweg?

Endlich kann ich ehrlich zu mir selbst sein: nein.

Ich war es. Ja, ich war es. Fernab von all den Erinnerungen, weit weg von meinem Ex, meinem besten Freund, meiner Jugendliebe. Aber jetzt?
 

Ich muss einsehen, dass der Prozess des Entliebens in der Ferne nicht einmal eingesetzt hat. Es war nur ein Szenario, wie es sich anfühlen könnte, nicht mehr verliebt zu sein, eine Art Simulation. Die Wirklichkeit beginnt jetzt erst. Mein Ausbruch war Verdrängung. Doch das Verdrängte holt mich ein und nun kann ich nicht mehr davonlaufen, sondern muss mich auseinandersetzen mit meinen Gefühlen und mein Leben ordnen.
 

Meine Liste gewünschter Taten ist nicht lang:

1 – meine neu aufgekommenen Gefühle für Leon besiegen

2 – Leon als besten Freund behalten

3 – mich neu verlieben
 

Drei Punkte. Manuel, das packst du!

Ich spreche mir Mut zu, gehe früh schlafen und starte diese Woche sehr selbstbewusst. Nina und Sören sind wieder da. Die frisch gebackene Ehefrau, die es gerade noch geschafft hat als Dreißiger unter die Haube zu kommen – dieses Jahr wird Nina nämlich 40 – begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln. Und ich darf schon wieder Käsekuchen verköstigen. Als einzigem von uns Männern im Laden fällt mir auf, dass unsere Braut eine neue Frisur hat. Blonde Strähnchen lockern ihr tiefbraunes Haar jetzt auf, welches ihr bis zum Kinn reicht. Ein frecher Pony bedeckt ihre braungebrannte Stirn.

„Schicke Haare“, sage ich ihr nach dem ersten Schluck Kaffee.

„Natürlich! Ich wusste, dass es wenigstens dir auffallen würde!“, ruft sie freudig aus mit ihrer lauten Stimme. Nina ist so etwas wie eine Powerfrau. Ihre blauen Augen sind mit schwarzem Kajal umrandet und wirken immer wach. Sie kleidet sich modebewusst, scheint immer gut drauf, besitzt zu allem eine Meinung und findet ihre Körpergröße 42 phänomenal. Eine gute Fotografin ist sie zudem auch.

Sie erzählt von ihren Flitterwochen – Südafrika. Luxushotel. Fünf-Sterne-Hotel mit allem drum und dran. Ein kleiner Traum, den sie sich endlich erfüllt hat. Der fünfjährige Markus ist bei Oma geblieben und hatte auch die Ferien seines Lebens – eine Woche lang Schokopudding und Chips und Fernsehen ohne Limit.
 

Sören spricht immer noch ein wenig nasal. Aber ist wieder ziemlich munter. Der mittvierziger Dauersingle mit wuscheligen blonden Haaren, die in alle Richtungen abstehen, rückt seine Brille mit runden Gläsern auf seiner Nase zurecht, während er Ninas Erzählungen lauscht. Er sieht dem Alt-Hippie Rainer Langhans manchmal verdammt ähnlich, auch wenn er viel jünger ist. Entspannt, als wäre er dauerstoned, ist Sören auch. Das ist eine sehr angenehme Eigenschaft. Vor allem wenn wir Kinder im Studio haben, Sören kriegt das hin, er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und lächelt immerzu lässig.
 

„Jetzt bist du dran!“, fordert Nina mich auf. Und ich erzähle ein wenig über Hong Kong und Japan.

„Warst du denn in einem dieser Maid-Cafés?“, fragt Sören gespannt, wie ein 14-Jähriger, pubertierender Teenager. Er bezieht sich auf diese in Europa so angeprangerten Cosplay-Restaurants, in denen die Kellnerinnen im Dienstmädchenlook rumrennen und der zentrale Aspekt eines feuchten Traumes sind.

„Ja“, antworte ich träge. John fand das spannend. Und ehrlich gesagt waren die Japanerinnen total freundlich und ich konnte sie mit den völlig überdrehten, spanischen Touristen in einem schönen Kontrast ablichten. Wir haben mit John eine Woche lang japanische Teenager in Tokio begleitet, um deren Alltag abzubilden und ihn mit dem deutschen Berliner Durchschnittsteenager zu vergleichen. Er ist sehr anders.

Ich erzähle von den betrunkenen Männern in der Karaokebar, in der wir einen gesamten Abend verbracht haben. Wobei man sich dort eher ein Separée mietet, mit Trinken und Essen und dann, wie wir Deutschen es eher an der Playstation im Privaten machen, vor sich hinträllert.
 

Zu meiner Osteuropageschichte komme ich erst gar nicht. Kunden strömen herein. Sören nimmt sich die Kinder vor, Anton berät ein Paar bezüglich Hochzeitsfotos und ich sortiere Bilderaufträge. Nina räumt hinten ein wenig auf. Und Wiebke hat heute frei.
 

Der Montag vergeht schnell.

Der Dienstag vergeht schnell.

Ich hab mich sogar schon ein Stück weit an Maxi II gewöhnt. Ich habe mit Karolina telefoniert und mit Ben nochmals abgeklärt, dass wir mit den Jungs (und den beiden Mädchen) nächstes Wochenende zur Neueröffnung der Beluga-Bar gehen, die unweit unserer Stammkneipe liegt – die ersten drei Stunden soll es in der neuen Location zwei Freigetränke pro Person und die ganze Nacht freie Kurze geben.
 

Dienstagabend erzähle ich Ben auch bei einem Tee von dem Gespräch mit Leon. Und von meinem Drei-Punkte-Plan. Mein Mitbewohner hört mir ruhig zu, fällt mir nicht ins Wort. Letztendlich seufzt er.

„Irgendwie kann ich das auch verstehen...“, fasst er schließlich zusammen.

„Was?“

„Na, dass dein Herz irgendwie doch wieder ziemlich für Leon schlägt...“, sagt er vorsichtig. Nun seufze ich.

„Ja... Diese Erinnerungen halt...“

„Ja. Ja, klar. Klar. Ist klar.“

„Aber, wie gesagt. Mir ist klar, dass wir nur noch Freunde sein können. Und das will ich nicht aufs Spiel setzen! Ich muss... Ich muss mir halt in den Arsch treten.“

„Ich helfe dir gern“, sagt er nun grinsend. „Wir gehen am Wochenende erstmal schön ins Beluga, tanken da schön Freigetränke und gehen später dann ins Rainbow's Inn“, verkündet er, unsere Stammkneipe, „und dann suchen wir dir einen hübschen Mann zum flirten! Damit du auf andere Gedanken kommst.“

„Machen wir!“, stimme ich fröhlich mit ein.
 

Wieso nur wird mir ganz mulmig bei dieser Äußerung?

Wieso fühlt es sich... falsch an?
 

Maxi II starrt mich an, während ich versuche, auf dem Bett beim Fernsehen zu entspannen. Ich sehe das Plüschtier an.

„Und du denkst, dass das so einfach geht?“, fragt der Pinguin mich.

„Halt die Klappe...“, rate ich ihm. Er schweigt. Und ich finde irgendwann in meine abstrakte Traumwelt.
 

Den gesamten Mittwochmorgen bin ich unschlüssig. Will ich Leon sehen? Will ich es nicht? Ich fühle mich wie ein gecastetes 5-jähriges Mädchen, das auf einer hellen Alpenwiese sitzt und ein Gänseblümchen auseinander friemelt in dieser „er liebt mich, er liebt mich nicht“-Manier. Dass Leon mich nicht mehr liebt weiß ich schon länger. Aber mit dem Verständnis klappt es nicht so ganz, wie ich mir das vorstelle.

Es ist zum Verrücktwerden.

In meine Gedanken vertieft, bekleckere ich mich auch noch mit Tee. Nina schüttelt den Kopf und drückt mir ein Tuch in die Hand.

„Hier, mein Kleiner...“, scherzt sie.

„...danke.“

„Was ist denn los?“, fragt sie herzlich nach.

„Ach... ich weiß nicht, ob ich mich mit Leon treffen soll oder nicht.“
 

Nina kennt die Geschichte. Nicht nur, weil sie eine enge Freundin meiner Mutter ist, sondern auch, weil ich sie hier schon immer als Ersatzmama angesehen habe, wenn meine Mutter mal nicht da war. Wie es auch jetzt der Fall ist.
 

„...magst du ihn nicht mehr?“

„Was? Nein! So ist das nicht...“

Nina denkt nach. „War das Jahr nicht Zeit genug?“

„...irgendwie kommt es mir gar nicht vor, als wäre ich ein Jahr weg gewesen. Aber ich arbeite dran. Am Entlieben. Und am Befreunden.“

Sie nickt nachdenklich.

„Aber der Leon, das ist doch ein sehr guter Freund von dir, oder?“, fragt sie dann.

„Ja.“

„Dann sprich mit ihm darüber.“

„Hab ich schon.“

„Und was sagte er?“

„Dass ich mich melden soll, wann ich es für richtig halte.“

„Dann tu das.“

Das ist alles. Eine Kundin betritt den Laden und Nina ist weg. Entschuldigend blickt sie mich an, mit diesem unausgesprochenen Vermerk 'wir reden noch darüber'.
 

Und ich Trottel bin nur eine Stunde später im Sphinx, dem Café an der Uni und ich warte auf Leon, weil ich sogar 10 Minuten früher da bin. Unbehagen ergreift mich im ersten Moment, in dem ich ihn erblicke. Aber ich schlucke all diese befremdlichen Gefühle hinunter und schalte auf „Freundschaftsmodus“ – das muss ich lernen. Dringend.

Leon lächelt, kommt im braunen Adidas T-Shirt und trägt eine helle Jeans; die Umhängetasche aus schwarzem Stoff lässig auf den freien Stuhl schmeißend setzt er sich mir gegenüber. „Hey, ich freu mich echt, dass du hier bist!“, eröffnet er mir sofort und bestellt prompt Kaffee für uns beide. „Ich lad dich ein.“

„Danke“, gebe ich zurück. In den ersten Minuten weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Doch dann schaue ich Leon in seine hübschen Augen und so etwas wie Vertrautheit erfasst mich, wie man sie nur bei guten Freunden kennt. Ich laber einfach drauf los und erzähle ihm von Ninas Rückkehr und was für eine tolle Hochzeitsreise sie hatte und Leon berichtet mir von einem neuen Nachhilfeschüler, der absoluter Emo ist und ihn die ganze Zeit von seiner Subkultur überzeugen will.
 

Wir sprechen 30 Minuten. Und ich bin einfach nur… glücklich. Es ist wie früher, nur sind wir eben nicht mehr zusammen. Aber diese Stimmung. Die ist dieselbe.

Doch dann sprechen wir von der Beluga-Bar. Natürlich sagt Leon, dass er mitkommen will. Doch dann wird er plötzlich ganz ruhig.

„Hm?“, hake ich nach und verputze den Cookie, den es zum Kaffee gab als Sonderaktion heute.

„Äh. Martin wollte das Wochenende eigentlich zu mir“, sagt er plötzlich.

Und diese „Stimmung“ ist umgehend nicht mehr vergleichbar mit „früher“. Was hatte ich auch erwartet? Dass ich mir eingestehe, dass ich noch Gefühle für ihn habe, mir vornehme, diese zu bekämpfen und dass es umgehend klappt? Wach auf, Manuel. Das ist kein Film.

„Ja…“, stammele ich nun und weiß nicht, was ich daraufhin sagen soll.

Leon schaut mich ernsthaft an.

„…das wäre nicht so gut, wenn er mitkommt, oder? Sonst… Sonst sage ich ihm halt, dass es nicht geht. Ich will dich nicht überfordern.“
 

Dieser dämliche Stolz, der uns menschliche Männchen im Griff hält…

Kaum habe ich ihm vor einigen Tagen mehr oder weniger offenbart, dass ich noch nicht so weit bin, nehme ich meine eigenen Worte auch schon wieder zurück, weil ich genervt von seiner Aussage bin. ‚Ich will dich nicht überfordern.’ …was soll das?!
 

„Ne. Also. Ne, nimm ihn ruhig mit. Ich sollte ihn wirklich langsam kennenlernen“, sage ich. Meine Hände zittern ein wenig, aber das merkt er nicht. Leon lächelt leicht. Schweigt und sieht mir in die Augen.

„Ihr werdet euch bestimmt verstehen“, meint er dann.

„Das hoffe ich“, sage ich. Das meine ich ehrlich. Ich weiß ja nur halbwegs, wie er aussieht. Ich habe keine Ahnung, wie er drauf ist, was er mag, ob er witzig ist, wie er sich mir gegenüber verhalten wird. Vor allem weiß ich nicht, wie ICH mich verhalten werde…
 

Schon eine verkorkste Vorstellung.

Leon mit jemandem anders.
 

„Bin gleich wieder da“, verkünde ich. Ich muss mir eben das Gesicht waschen, verschwinde im Waschraum. Das kalte Wasser hilft ein bisschen klar zu kommen. Ich sehe mir selbst in meine dunklen Augen. Das packst du, Manuel! Ich zeige meinem Spiegelbild grinsend den Daumen nach oben und der Student hinter mir schaut mich an, als wäre ich ein Idiot. Ich muss lachen.

Mir geht’s wieder ein bisschen besser, als ich zurück zu unserem Tisch zurückgehe. Dort wartet eine kleine Überraschung auf mich. An unserem Tisch sitzt ein Pärchen, das sich mit Leon unterhält. Das Mädchen hat lange braune Haare, die ihr fast zu de Hüften reichen, sie ist Halbasiatin, nur leicht geschminkt, ziemlich dünn. Ihre Haut ist leicht bräunlich und das pinke Sommerkleidchen mit Spaghettiträgern steht ihr gut. Sie lacht herzlich. Ich kenne sie irgendwo her! Und ihr Freund, der seinen Arm jetzt um sie legt und an sich drückt… Das ist doch Mr. Engel!
 

Seine grünen Augen legen sich auf mich, als ich neben seiner Freundin auf dem freien Platz nehme.
 

„Hey, du bist doch… hier, dieser Fotograf!“, spricht er mich an.

„Äh, ihr kennt euch?“, kommt es nun von Leon.

„Das gleich könnte ich ja fast zurückgeben“, meine ich grinsend.

Das Mädchen gibt mir ihre Hand. „Hallo, ich bin Meilin“, stellt sie sich strahlend ohne Akzent vor. Sie ist ein wirklich hübsches Mädchen. Karolina würde voll auf sie abfahren, denke ich mir grinsend, als ich mich mit meinem Namen vorstelle. Schon in der nächsten Sekunde ergreift ihr Freund meine Hand.

„Christian“, stellt er sich vor.

„Manuel.“

Christian lässt seinen Blick kurz zwischen Leon und mir wandern. „Ahhhh“, macht er. „Der langjährige Freund, oder?“, sagt er eher zu Leon als zu mir. Mein Ex nickt und ist etwas peinlich berührt. Dann sieht das Nachwuchsmodel wieder mich an. „Ich kenne deinen Ex aus ner Mathevorlesung“, erklärt er mir frech. Meine Frage ist somit beantwortet. Muss denn alles mit Leon zu tun haben, frage ich mich auf meiner Unterlippe kauend.
 

„Hey, deine Bilder waren echt cool!“, fährt er fort und ich möchte ihm antworten, doch er fällt mir direkt ins Wort. „Warte mal, du hast ein Studio, oder?“, fragt er mich mit einer leichten Begeisterung.

„Äh… ja?“, sage ich. Seine forsche Art bringt mich etwas durcheinander. Wir kennen uns nicht und er behandelt mich sofort wie einen Kumpel. Außerdem hatte ich ihn eher als, naja, schwulen unfreundlich eingeschätzt und er scheint damit kein Problem zu haben. Das Äußere täuscht eben manchmal. Ein Weiberheld scheint er dennoch zu sein. Aber vielleicht ist er ja ausnahmsweise ein treuer Weiberheld? Das Mädel ist das gleiche, das ich neben ihm auf der Modenschau gesehen habe.

„Hier…“, murmelt er, während er eine schwarze dicke Mappe aus seiner Tasche kramt. Ein Portfolio. Er öffnet es. Und fischt drei Bilder der DIN-A-4 Größe raus. Sie sind zerstört. „Hab Kaffee drauf gekippt…“, sagt er, bevor ich meine Gedanken äußern kann. Das Papier ist gewellt. Dennoch kann ich seinen gut trainierten, schlanken, nackten Oberkörper gut erkennen. Eine nette Pose; die Hände auf seiner halb geöffneten Jeans, lässig an die Wand und den Kopf nach hinten gelehnt mit einem Look voller Selbstbewusstsein, der einen Tick lasziv ist. Die zwei weiteren sind ähnlich.

„Ich muss die neu machen, weil ich Trottel die elektronischen Kopien der Bilder gelöscht habe“, erklärt er mir und Meilin lacht.

„Er ist immer so“, erklärt sie.

„Hast du irgendwie diese Woche noch Termine frei?“, fragt er mich. „Leon sagte, du wärst ein klasse Fotograf und die Bilder für SMACK fand ich ziemlich cool.“

Ich schaue Leon an, der mich schief angrinst.

Und ich nutze die Chance für einen kleinen Angriff.

„Klar. Komm einfach vorbei“, sage ich ihm und fische eine Visitenkarte raus.

„Cool! Meilin, mach dann doch auch neue Fotos!“, sagt er zu seiner Freundin.

„Mal schauen.“

„Du hast doch diesen super teuren Bikini jetzt.“

Ich schaue das Pärchen an. „Also super Körper habt ihr beide, da kann man schon vieles mit euch anstellen“, sage ich frech. Meilin und Christian lachen laut. Und ich werfe Leon einen Seitenblick zu; seine Augen sind auf die Christians Fotos geheftet. Ja, Christian sieht gut aus, ist mehr trainiert als Leon und ich kann ja auch endlich VOR Leon sagen, dass andere Männer GEIL aussehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Ha!
 

Nur dass es immer noch Leon ist, der einen festen Freund hat.

Und ich derjenige, der ihm hinterher weint.

…ha…
 

Christian fährt sich durch sein strubbeliges Haar und steht auf. „Komm schon, Baby. Wir müssen gehen!“ Er winkt uns zu und nimmt seine Meilin an die Hand. „Wir sehen uns!“, sagt er grinsend zu mir. Und dann rennen die beiden schon weg, aufgeregt über irgendetwas plappernd.

„Spinner“, quittiere ich leise seinen Abgang und Leon schnaubt amüsiert.

„Der ist wirklich ein bisschen… seltsam.“

„Nachwuchsmodels. Die sind immer so.“

„Ich glaube auch kaum, dass der mal full-time-Model wird“, sagt Leon. „Der ist viel zu durcheinander dafür. Er wird auch deine Visitenkarte verlieren und mich dann nächste Woche in der Vorlesung noch mal fragen und wieder vergessen.“

„Kennst du ihn so gut?“

„Er hat seit sechs Wochen meine HellBoy-DVD…“

Wir lachen.
 

Dann wird es Zeit zu gehen.

Mit gemischten Gefühlen gehe ich zurück ins Studio.
 

Eigentlich war es schön, Leon wieder zu sehen. Andererseits habe ich es nun selbst in die Wege geleitet, Martin kommendes Wochenende kennen zu lernen. Ich beiße mir auf die Zunge. Ich bin noch nicht so weit. Wieso konnte ich nicht über meinen Schatten springen und es Leon ins Gesicht sagen, wenn wir doch angeblich beste Freunde sind?

Zum Kotzen.

Es ist einfach zum Kotzen.
 

Ich gehe nach Hause und haue mich sofort aufs Bett. Maxis Schnabel bohrt sich unangenehm in mein Auge.

„Au…“, maule ich und Maxi II bewegt sich nicht. Wie denn auch. Er ist ein Plüschtier.
 

Mittwoch, 20. Juli

1 – meine neu aufgekommenen Gefühle für Leon besiegen

2 – Leon als besten Freund behalten

3 – mich neu verlieben

Sonderpunkt 4:

4 – mich mit Martin anfreunden.

Gesonderte Kategorie:

1 – Haare schneiden

2 – neue Klamotten kaufen

3 - am Wochenende unwiderstehlich aussehen und mit vielen gut aussehenden Männern flirten

4- Sex. Unbedingt Sex!

5 – aber kein One-Night-Stand

6 – …aber wieso eigentlich nicht?

7 – schlafen gehen.

Manuel



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  jyorie
2014-08-23T08:49:47+00:00 23.08.2014 10:49
Hey ❣◕ ‿ ◕❣

*seuftz* warum gibt es immer so viele Kleinigkeiten
die Manuel an die Zeit von früher erinner müssen?
das ist doch echt schlimm. Wenn er nie zur Ruhe kommt
und gerade das mit den Kuchen (essen,belohnung,wohlfühlen)
solche erinnerungen machen es einem doch echt schwer.

Dafür das er und Leon getrennt sein sollen, hängen sie mir
echt noch zu nahe aufeinander und Leon tut ja immer wieder
sachen die sie gemacht haben als sie zusammen waren, entweder
hat er ihn nie geliebt und es war so etwas wie Freundschaft-plus
oder er will ihn auch zurück haben.

Warum sonst die Lieblingskuchen auf der Party, den Ersatz
für den verlorenen Pinguin und all die vielen „Auffrischungen“
was Manuel jetzt eigentlich nicht mehr von ihm haben kann?

CuCu Jyorie

Von:  Tali
2010-12-05T22:15:32+00:00 05.12.2010 23:15
Ich habe das selbe shirt, welches Manu bei der Feier anhatte, letztens meinem Bruder geschenkt! Sieht echt toll aus!

Ach Manuel! Als ausenstehende Person kann man nur den Kopf schütteln. Man selbst steckt auch nicht in der Situation mit den ganzen Gefühlen.
Es ist großartig, wie du das Ganze so eindrucksvoll beschreibst!
Von:  RockFee
2010-12-05T11:14:02+00:00 05.12.2010 12:14
Wieder so ein schönes Kapitel. Und wieder bin ich beim Lesen nur traurig, Manuel tut mir so leid.

Dieses Kennenlernen von Martin - er hat es sich eingebrockt und da muss er jetzt durch. Vielleicht hilft es ihm beim Loslassen von Leon, auch wenn es ihn erstmal ziemlich niederschmettern wird.

Ich kann Leon nur schwer einschätzen, aber ich vermute mal, er ist wirklich im Großen und Ganzen über Manu weg, sonst könnte er sich nicht so verhalten. Dass er Manus Gefühle nicht erahnen kann, will ich ihm nicht vorwerfen, denn Manu tut ja wirklich so cool wie möglich und will sich nichts anmerken lassen.

Tja, das mit dem Engel-Chaoten war wohl nichts. Ich bin gespannt, welche Rolle der noch spielen wird, aber er scheint hetero und liiert zu sein.

Armer Manu, doch er hat einen wichtigen Vorteil - viele Freunde. Er packt das schon.

lg Rockfee


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