Zum Inhalt der Seite

Das Spiel ohne Ball

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Lösung

„Es tut mir so Leid, Toris“, sagte Alfred leise, und es war das erste Mal, dass Toris ihn schuldbewusst erlebte. Mit einer unguten Vorahnung sah er vom Abwasch auf.

„Was ist denn los?“

Alfred hob den Blick vom Küchenfußboden und sah ihn an. „Hör mir zu, Toris“, sagte er, kam auf ihn zu und griff nach seinen Schultern. „Ich kann es mir nicht mehr leisten, dich zu bezahlen. Es ist... es tut mir Leid. Meine Finanzen lassen es nicht länger zu, dass...“

Fassungslos starrte Toris ihn an. Er war hin und her gerissen zwischen Angst und unsinniger, ungläubiger Freude.

„Aber... was soll denn dann aus mir werden?“

„Ich weiß es nicht. Du musst es selbst entscheiden, Toris. Aber...“ Widerwillig hielt Alfred ihm einen Briefumschlag hin. Der Stempel darauf zeigte einen doppelköpfigen Adler. „Das hier war heute morgen in der Post. Der Brief war an mich adressiert, aber...“

„Was steht darin?“, fragte Toris und wusste, dass es nichts Gutes sein konnte.

„Nun... Ivan macht dir ein höfliches Angebot, wieder zurück zu kommen. Du kannst bei ihm wohnen und für ihn arbeiten. Er würde für dich sorgen.“

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde“, flüsterte Toris und fühlte sich, als würde sich der Raum um ihn herum drehen. Er schwankte leicht. Alfred griff fester nach seinen Schultern und schob ihn hinüber zu einem Stuhl am Küchentisch.

„Es tut mir Leid“, sagte er noch einmal und setzte sich ihm gegenüber. „Toris... ich rate dir nicht, zu Ivan zu gehen, aber ich rate dir auch nicht, ihn zu ignorieren. Es klingt zwar alles andere als heldenhaft, das zu sagen, aber... ich habe keine Ahnung, was du tun solltest, Toris. Du musst es selbst entscheiden. Wahrscheinlich bist du es, der am Besten weiß, was gut für dich ist.“

Toris betrachtete seine Hände, die auf der Tischplatte lagen. Sie zitterten leicht. Behutsam schob Alfred ihm den Brief zu.

„Nimm ihn mit“, murmelte er. „Bevor dir gar nichts mehr einfällt. Und ich gebe dir meine Telefonnummer, falls du reden willst. Ich bin immer für dich da, Toris, daran wird sich nichts ändern. Aber... du kannst nicht mehr hier wohnen. Es geht nicht mehr.“

„Ich habe verstanden“, sagte Toris mit belegter Stimme und stand auf. Ein leichtes Lächeln zog über sein Gesicht. Hätte er nicht gelächelt, wäre er vielleicht in Tränen ausgebrochen. „Ich werde dann mal nach oben gehen und packen.“

Alfred erwiderte sein Lächeln traurig. „Du bist tough, Toris“, sagte er leise. „Du schaffst das.“

Toris riss seinen Blick von ihm los und drehte sich schnell um, nur für den Fall, dass ihm doch die Tränen kamen. Es war seltsam, wie einige Probleme sich einfach in Luft auflösten. Er hatte geglaubt, sich niemals von Alfred trennen zu können, da er es nicht übers Herz bringen würde, und nun setzte Alfred ihn vor die Tür. Einfach so. So einfach.

Er wusste nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte. Wäre er sich sicher gewesen, dass Alfred nichts hörte, hätte er beides getan.
 

„Pass auf dich auf“, sagte Alfred und umarmte ihn zum Abschied. Seine Arme waren kräftig und er klopfte einige Male auf Toris' Rücken, bevor er ihn wieder los ließ.

Toris lächelte ihn an. „Ich komme schon zurecht.“

„Ruf an, wenn du in Übersee angekommen bist.“

„Du bist es doch hier, der in Übersee ist.“

Sie lachten, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten. Ein kühler Wind strich über den Bahnsteig und über sie hinweg. Der Sommer war erstaunlich schnell vergangen, dachte Toris. Er zog seinen Mantel fester um sich und schauderte leicht.

„Also dann...“, sagte Alfred.

Das Schweigen zwischen ihnen war dicht und drückend. Toris ließ seinen Blick an den Bahngleisen entlang wandern und hielt nach dem Zug Ausschau. Ein kleiner Schatten zeigte sich weit hinten, doch er war sich nicht sicher, ob es der Zug war.

„Es war eine großartige Zeit mit dir, Toris“, sagte Alfred und schlug ihm auf die Schulter. „Ich lasse es dich wissen, wenn ich wieder einen Hausangestellten brauchen kann, okay?“

Eigentlich habe ich nicht vor, für den Rest meines Lebens für irgendjemanden den Hausangestellten zu spielen, dachte Toris, doch er sprach es nicht aus. Stattdessen lächelte er Alfred an und griff fester nach dem Koffer in seiner Hand.

„Das würde mich sehr freuen.“

„Da kommt dein Zug“, sagte Alfred und legte die Hand über die Augen, obwohl keine Sonne schien, die ihn hätte blenden können. Toris folgte seinem Blick und hörte das Rattern des Zuges auf den Schienen. Halb wünschte er sich, der Zug würde sie beide nie erreichen. Er hätte ewig hier stehen können, neben Alfred auf dem Bahnsteig. Unauffällig betrachtete er ihn von der Seite her und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen. Die aschblonden Haare, die der Wind durcheinander gebracht hatte, die randlose Brille, die schon leicht abgenutzte Lederjacke mit dem breiten Kragen, die verwaschene Jeans. Seine Augen, blau wie ein weiter Frühlingshimmel, die wachsam auf den sich nähernden Zug gerichtet waren. Toris sah Alfred an und fragte sich, was er bei diesem Anblick fühlte. Nicht viel, stellte er fest. In den letzten Wochen hatte er sich Mühe gegeben, nicht allzu viel über seine Beziehung zu ihm nachzudenken. Das hatte die Sache einfacher gemacht. Oder besser: Es hatte den komplizierten Teil aufgeschoben.

Seine Knie zitterten, als er eine Minute später in den Zug kletterte. Er stellte seinen Koffer auf einer Bank ab, öffnete ein Fenster und lehnte sich hinaus.

„Mach's gut, Toris!“, rief Alfred von unten und winkte. Toris lächelte und winkte zurück.

„Du hast doch meine Nummer?“

„Natürlich.“

„Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Ruf mich jederzeit an, wenn du etwas zu sagen hast, Toris, wirklich jederzeit! Du weißt ja, ich bin ein Held. Ich werde schon damit fertig!“

Toris nickte und wusste nicht, was er sagen sollte. Aus irgendeinem Grund war ihm, als habe er alle Sprachen, die er je gekannt hatte, plötzlich vergessen.

Von irgendwo her erklang ein Pfiff. Die Lok weiter vorn gab ein lautes Schnaufen von sich und mit einem Ruck setzte der Zug sich in Bewegung.

„Viel Glück!“, schrie Alfred über das Rattern auf den Schienen hinweg und winkte. „Alles Gute, Toris! Du schaffst das!“

Toris lehnte sich weiter aus dem Fenster. Er hätte gern etwas gesagt wie Dir auch viel Glück, doch er brachte kein Wort heraus. Etwas Großes schien sich in seiner Kehle festgesetzt zu haben und seine Nase juckte. Bevor er begriff, was das zu bedeuten hatte, stiegen ihm die Tränen in die Augen.

Er hatte nicht weinen wollen, aber plötzlich war der Schmerz da. Es lag nicht daran, dass er sich vor der Zukunft fürchtete, und es waren auch keine Freudentränen, weil er endlich wieder frei war. Das erst recht nicht. Er spürte nur, dass er Alfred viel zu sehr ins Herz geschlossen hatte, noch mehr sogar, als er immer befürchtet hatte. Reichte es nicht, dass Alfred in jeder materiellen Hinsicht Macht über ihn gehabt hatte? Musste die Sache noch dadurch auf die Spitze getrieben werden, dass Toris ihn liebte?

Der Zug wurde schneller. Toris glaubte, Alfreds Stimme noch immer zu hören, doch sehen konnte er ihn nicht mehr durch die Tränen hindurch, die über sein Gesicht liefen. Zitternd zog er sich ins Innere des Waggons zurück und schloss mühsam das Fenster. Neben seinem Koffer ließ er sich auf die Bank sinken, lehnte den Kopf gegen die harte Zugwand und schluchzte in sich hinein. Es war ihm egal, wer zusah. Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr kommen.

Das dachte er.
 

(Ja. Ja, ich weiß, das Ende kam plötzlich. Aber ich habe gesagt, ich halte mich an historische Eckdaten, und da musste es früher oder später genau so enden. Ja.

Schlimmer kann es nicht mehr kommen? Warte ab bis 1940, Toris, bis du Ivans höfliches Angebot annimmst.

Sono finita.)



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  blooodymoon
2011-05-16T13:14:47+00:00 16.05.2011 15:14
Was? o.o
Ich hab zu dem Kapitel noch keine Rewie geschrieben?
Fuck!
Ich wusste, dass ich was vergessen hatte.

Eins vorweg: FORTSETZUNG!!!
Das Kapitel war klasse geschrieben.
Und auch schon verständlich und realistisch.

Und ich mag ja Geschichten, die historisch sehr angelehnt sind oder direkt historisch.
Aber das mit dem Angebot habe ich nicht ganz verstanden, sollte mir da doch nochmal Geschichte dazu durchlesen (wurde Lithauen nicht von Russland erobern?)

Also ich glaub, mehr kann ich auch nicht schreiben. War klasse.

lg tzuki


Zurück