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Götterhauch

Löwenherz Chroniken III
von

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Familie Lionheart

Es erschien ihm fast schon unwirklich, als er seine Wohnung wenige Stunden später wieder verließ.

Seine Wohnung... der Gedanke, so viel Furcht er ihm noch vor wenigen Stunden bereitet hatte, so glücklich machte er ihn nun.

Eine eigene Wohnung bedeutete Freiheit und Ruhe, Dinge, die er zuvor nie wirklich gekannt hatte. Doch nun war er entschieden, es auszukosten solange es ging.

Aber zuerst würde er das erste Familienabendessen genießen, an das er sich erinnerte. Während er durch die Straßen lief, betrachtete er interessiert, was es zu sehen gab. An der Straße reihten sich mehrere Läden und Lokale mit riesigen Schaufenstern. In jedem einzelnen gab es andere interessante Dinge, die Anthonys Blick auf sich zogen, doch er lief weiter, um rechtzeitig anzukommen. Aber er nahm sich vor, auf dem Rückweg stehenzubleiben.

Die Leute, die vor den Geschäften standen, ignorierten ihn entweder und schenkten ihm nur hin und wieder einen flüchtigen, schmunzelnden Blick, ehe sie sich wieder auf etwas anderes konzentrierten. Vermutlich war man einen so außergewöhnlichen Anblick schon gewöhnt, immerhin war es eine große Stadt.

Schließlich endete die Einkaufsstraße an einer Brücke, die über einen klaren Fluss führte. Während Anthony darüber lief, sah er zum Ufer des Gewässers – und blieb plötzlich stehen. Gras wurde von einer Schicht Kies abgelöst, die schließlich ins Wasser mündete. An einer Stelle lagen mehrere Felsen – und auf diesen befand sich das, was Anthonys Aufmerksamkeit auf sich zog.

Es war ein recht dünner, blonder Junge, der mit einer Angel auf den Felsen saß und stetig ins Wasser starrte. Er schien in seinem Alter zu sein, was auch der Grund für Anthonys Interesse war. Möglicherweise sah er dort gerade einen seiner neuen Mitschüler sitzen. Sollte er etwas zu ihm hinüberrufen? Nein, möglicherweise würde das seine Fische verscheuchen und ihn nur unnötig verärgern.

Doch noch bevor er eine Entscheidung getroffen hatte, wandte der Blonde ihm den Blick zu. Den Gesichtsausdruck konnte er zwar nicht genau erkennen, aber scheinbar amüsiert lächelnd winkte er zu ihm hinüber. Nur zögernd erwiderte er das Winken.

Schließlich wandte der Fremde sich wieder ab und starrte erneut aufs Wasser.

Anthony beobachtete ihn noch einen Moment, bevor er sich daran erinnerte, dass er noch einen Termin hatte und seinen Weg fortsetzte.

Direkt nach der Brücke begann das Wohngebiet, das überraschend still dalag, während er hindurchschlenderte. Er stellte sich vor, wie die Familien, die in diesen Häusern und Wohnungen lebten, gerade zusammensaßen und sich über die Woche unterhielten – taten Familien so etwas überhaupt?

Er wusste es nicht und vermutlich würde er es auch nie erfahren.

Um von den trüben Gedanken abzukommen, fragte er sich, wie die Frau des Direktors wohl war. Da sie Erzieherin war, bestand die Chance, dass sie eine äußerst strenge Person war – zumindest eine der beiden Erzieherinnen im Heim war es gewesen. Er erinnerte sich gern an die freundliche Erzieherin zurück, zu schade, dass sie in Rente gegangen war.

Wenn die Frau des Direktors nur halb so nett war wie diese Erzieherin von damals, würde Anthony sie mögen – es kam nur noch darauf an, dass sie ihn auch mochte.

Er schüttelte den Gedanken wieder ab. Sie würde nichts mit ihm zu tun haben, also kam es auch nicht darauf an, ob sie ihn mochte oder nicht.

Viel interessanter war da doch: Wie waren seine Töchter? Und wie alt waren sie?

Natürlich hatte Anthony nicht gefragt, aber er würde zu gerne mehr über sie wissen. Es schien dem Direktor unangenehm zu sein, dass er sie kennenlernen könnte, also mussten sie seltsam sein.

Vielleicht waren sie... krank oder sonst etwas in der Art.

Oder – Anthony musste grinsen, als er daran dachte – der Direktor fürchtete sich, dass sich eine seiner Töchter in ihn verlieben könnte, weswegen er ein solches Treffen verhindern wollte.

Nein, das ist es bestimmt nicht. Aber der Gedanke ist lustig.

Seine Neugier wuchs mit jedem Schritt weiter an und verdrängte seine Nervosität.

Vor einem kleinen Haus blieb er schließlich wieder stehen. Er betrachtete den aus weißen Steinen bestehenden Weg, der zur Tür führte. Das Gebäude und der Vorgarten wirkten genauso spießig, wie man es von dem Direktor erwartete, doch Anthony gefiel es äußerst gut.

Wie im Traum lief er auf die Tür zu. Nach einem kurzen Blick auf den Briefkasten – um sich zu vergewissern, dass es sich auch um das richtige Haus handelte – betätigte er die Klingel.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich die Tür öffnete. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er in die warmherzigen braunen Augen der Frau sah, die ihm geöffnet hatte. Sie lächelte. „Guten Abend. Du musst Anthony sein.“

Ihre Ausstrahlung und ihre leicht dunkle Stimme ließen in ihm den Eindruck entstehen, dass sie eine junge Version seiner beliebten Erzieherin von damals war.

Er nickte hastig. „Ja, genau.“

„Komm doch herein.“

Sie trat einen Schritt zur Seite, damit er hineingehen konnte. Er folgte der Aufforderung ein wenig aufgeregt. Aus der Küche war das leise Brodeln von Wasser zu hören, ansonsten schien aber niemand da zu sein.

„Tut mir Leid, Ray und die Mädchen sind noch etwas einkaufen gegangen.“

Ray? Oh ja, er sagte ja, sein Name wäre Raymond Lionheart.

„Also sind wir erst einmal allein.“

Sie lächelte herzlich, was sämtliches Misstrauen, das noch nicht wurzeln konnte, direkt hinwegfegte. Er erwiderte dieses Lächeln sofort und folgte ihr, als sie ihn mit sich in die Küche winkte, wo sie ihn bat, an einer Theke Platz zu nehmen.

„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich weiterkoche?“

Sie deutete auf die Töpfe, in denen es immer noch lautstark brodelte.

„Aber nein, nicht doch. Lassen Sie sich von mir nicht stören.“

Doch ehe sie sich dem Herd zuwandte, schlug sie sich gegen die Stirn. „Wo bleiben nur meine Manieren?“

Höflich reichte sie ihm ihre Hand. „Mein Name ist Alona Lionheart. Wie du inzwischen weißt, bin ich die Ehefrau des Direktors.“

Es kam ihm vor als müsste sie ein verlegenes Lachen unterdrücken, als sie das letzte Wort sagte. Offenbar fiel es ihr schwer, ihn in dieser Rolle zu sehen – oder sich selbst in der Rolle seiner Frau.

Er schüttelte ihre dargebotene Hand und stellte sich überflüssigerweise selbst vor.

Ob der Direktor schon etwas über mich erzählt hat?

Schließlich wandte sie sich wieder dem Herd zu. Neugierig hob sie den Deckel eines Topfes und schnupperte. „Huh... ich bin ziemlich sicher, dass...“

Sie verstummte, als ihr bewusst wurde, dass ihr jemand zuhörte und machte sich sofort daran, den Inhalt zu würzen und umzurühren. Anthony wurde von plötzlichem Zweifel beseelt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hier zu essen. Offenbar konnte die Köchin nämlich gar nicht kochen.

Nun gut... der Direktor wirkte nicht sonderlich krank... aber vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er nicht wollte, dass ich zum Abendessen komme.

Alona räusperte sich vernehmlich. „Wie gefällt es dir bislang in Lanchest?“

„Ich habe noch nicht viel gesehen, aber bisher finde ich es gut. Ich war noch nie vorher in so einer großen Stadt, dementsprechend ist es auch aufregend.“

„Und dabei hast du bislang nur einen Teil davon gesehen. Von den Wohnheimen bis hierher wirst du wohl durch die alte Einkaufsstraße gegangen sein, hm? Die Stadt bietet aber noch einiges mehr. Vor allem ein ziemlich großes Kaufhaus und... nun, noch einige andere Dinge. Am besten findest du das alles mit ein paar Freunden heraus.“

Freunde, ja... aber die muss man erst einmal finden.

Wenn er daran zurückdachte, hatte es in dem Heim, in dem er gewesen war, eigentlich keine Freunde gegeben. Jeder schien gegen jeden gewesen zu sein.

Sie wandte sich wieder ihm zu, als sie wieder mit allem zufrieden war. „Ah, du hattest bislang noch keine Freunde, oder?“

Fragend hob er eine Augenbraue.

Kann sie meine Gedanken lesen?

„Oh, schau nicht so. Ich verrate dir mal etwas, aber das darfst du nicht meinem Mann sagen. Bei ihm bin ich mir nie sicher, was er geheim halten will und was nicht.“

Um seine Neugier wortlos zum Ausdruck zu bringen, stützte Anthony sich mit den Ellenbogen auf die Theke und beugte sich vor. Alonas schelmisches Lächeln nach zu urteilen, schien ihr das zu gefallen. „Ray ist ebenfalls ein Waisenkind, seine Eltern starben bei einem Brand. Er kam daraufhin in dasselbe Heim wie du.“

„Wirklich?“, fragte Anthony überrascht.

„Er war allerdings nicht so lange dort wie du“, fuhr sie direkt fort. „Man stellte recht schnell fest, dass er überdurchschnittlich begabt ist und wurde deswegen vom Direktor der Lanchest-Akademie hierher geholt, wo er zum Söldner ausgebildet wurde. Im Heim war man anscheinend recht froh gewesen, ihn so schnell wie möglich loszuwerden.“

Darum empfand er die Kommunikation mit dem Heim also als unangenehm, er kannte einen Teil der Leute dort.

„Aber darum geht es ja nicht. Ray erzählte mir jedenfalls, dass dieses Heim dafür bekannt ist, soziale Kontakte zwischen den Kindern zu unterbinden und zu torpedieren. Das ging vom Wegschicken von Kindern bis zur Gehirnwäsche.“

„Klingt... grausam...“

Er wollte sich gar nicht vorstellen, dass Menschen so etwas tatsächlich tun könnten. Andererseits waren die Leute in diesem Heim so kaltherzig gewesen, dass es gut möglich gewesen sein könnte.

„Aber warum haben sie das getan?“

Ratlos hob Alona die Schultern. „Ich weiß es nicht... und Ray auch nicht.“

Gab es überhaupt einen tieferen Grund dafür? Möglicherweise hatte man nur verhindern wollen, dass sie sich gegen die Heimleitung verbündeten. Besser, er kümmerte sich nicht mehr darum, das alles lag hinter ihm, in seiner Vergangenheit.

Alona lächelte wieder. „Übrigens hat Ray alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit du nach Lanchest kommen kannst, nachdem die Anfrage gekommen war – und er wollte dich sogar unbedingt selbst vom Bahnhof abholen. Ist er nicht ein ungemein feinfühliger Mann?“

So war er ihm zwar nicht vorgekommen, aber vielleicht schlummerte unter der Oberfläche des Direktors tatsächlich eine solche Person. Sehr lange geredet hatten sie immerhin nicht miteinander.

Wieder schien es als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sie lachte leise. „Ich weiß, er sieht nicht wirklich danach aus und ich habe mir sagen lassen, dass er bei der Arbeit sogar noch kühler wirkt, aber eigentlich ist er ziemlich emotional...“

Nachdenklich hielt sie wieder inne. „Sag ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe.“

„Keine Sorge.“

Es kam ihm seltsam vor, mit dieser Frau, die er erst an diesem Tag kennengelernt hatte, so persönlich über einen Mann zu sprechen, für den dasselbe galt. Früher wäre ihm so etwas nie in den Sinn gekommen. Ob Alona allgemein so offen über ihren Mann sprach?

Jedenfalls wusste er nun, warum er ausgerechnet in Lanchest gelandet war, obwohl das Heim mehrere Anträge versendet hatte und so manch andere Einrichtung ihn wohl auch nehmen wollte. Raymond musste einige Räder geschmiert haben, wie auch immer das gelaufen war. Für ihn selbst schien das alles viel zu kompliziert.

Die Haustür wurde geöffnet, Raymonds Stimme erklang im Flur: „Ihr bekommt überragend viel Taschengeld, so wie freie Kost und Logis, warum sollte ich euch dann noch etwas kaufen?“

„Aber Dad!“, kam sofort der lautstarke Protest.

„Kein Aber“, wehrte er direkt ab. „Lernt endlich, wie man...“

Er unterbrach sich abrupt, als er in die Küche trat und Anthony erblickte. Sofort kehrte er in die neutrale Professionalität von vorhin zurück – auch wenn es seinem Gast schwerfiel, ihm diese nach dem Kleidungswechsel zu glauben. Zwar wirkten der dunkle Pullover und die dazu passende Hose zwar immer noch spießig, aber weitaus weniger als der Anzug von vorhin.

„Du bist pünktlich“, sagte der Direktor leicht lächelnd. „Gut für dich.“

Anthony stand sofort auf. „Guten Abend.“

Raymond nickte ihm nur zu und ging um die Theke herum, um Alona eine Tasche zu geben.

Anthony blickte derweil zur Tür. Im ersten Moment glaubte er, doppelt zu sehen, doch bei genauerem Hinsehen erkannte er die Unterschiede zwischen den beiden Mädchen, die tatsächlich in seinem Alter zu sein schienen. Ihre schwarzen Haare hatten nicht ganz dieselbe Länge und auch ihre Augen unterschieden sich voneinander. Die blauen Iriden der einen blickten so kühl wie die von Raymond, die neugierigen braunen der anderen dagegen eiferten ihrer Mutter nach.

Ansonsten waren Gesichtsform, Körperbau und im Moment sogar die Haltung der beiden genau dieselbe – und sie beide blickten ihm entgegen.

Das Schweigen zwischen ihnen hielt solange an, bis Raymond wieder dazukam. „Anthony, das sind meine Töchter. Heather“ – er deutete auf die Braunäugige – „und Leen“ – er deutete auf die Blauäugige – „sie sind beide in deinem Alter und sogar in deiner Klasse. Mädchen, das ist Anthony.“

Beide sahen wortlos von ihrem Vater wieder zu dem Jungen, dem kalte Schauer über den Rücken liefen, als sie so synchron den Blick wandten. Da immer noch keine der beiden etwas sagte, hob er schließlich die Hand. „He...“

Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete er, dass er nun endgültig unten durch wäre bei den beiden, doch da begann Heather plötzlich zu lächeln. „Willkommen.“

Leen schnaubte leise und wandte den Blick zur Seite. „Hallo...“

Ihre Stimmen klangen ebenfalls ungeheuer ähnlich, doch auch abseits der Tatsache, dass die eine ihn herzlich begrüßte und die andere nicht, konnte er bereits sagen, dass Heathers Stimme ein wenig dunkler war, was sie etwas älter wirken ließ als ihre Schwester.

„Mädchen, geht ihr mal den Tisch decken?“, bat Raymond. „Und nehmt Anthony mit.“

Beide nickten einstimmig, bedeuteten dem Jungen, ihnen zu folgen und gingen dann durch einen Durchgang in ein Esszimmer hinüber.

Raymond sah ihnen mit gerunzelter Stirn hinterher. Als er sich sicher war, dass sie sich außer Hörweite befanden und noch dazu das Klappern von Geschirr vernehmbar wurde, wandte er sich Alona zu. „Und? Was denkst du?“

Ihr Lächeln hatte einem sorgenvollen Blick Platz gemacht, den er aber nicht sehen konnte, da sie mit dem Rücken zu ihm stand, um erneut im Essen zu rühren. „Ich hasse es, das sagen zu müssen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist.“

Mit Erstaunen stellte er fest, dass ihre Stimme kaum merkbar zu zittern begonnen hatte.

„Du kennst ihn kaum... und doch magst du ihn schon?“

„Ich kann mir nicht helfen... er wirkt so nett und naiv... und eigentlich genau wie du damals.“

Sein Gesicht nahm augenblicklich einen leicht rosa Schimmer an. „S-sag doch nicht so etwas. Das macht es mir nicht leichter...“

Erneut legte sie alles wieder auf seinen Platz, dann wandte sie sich ihm zu. „Du weiß ja noch nicht, was sie mit ihm vorhaben, oder?“

Er schüttelte mit dem Kopf. „Ich werde erst nachher zu ihnen gehen und mit ihnen reden. Mir war wichtig, dass du ihn dir vorher ansiehst. Als Hexe konntest du eher einschätzen, ob er der Richtige ist.“

„Ich wünschte nur, er wäre es nicht“, seufzte sie.

Aufmunternd strich er ihr über den Arm. „Du hast doch gerade selbst gesagt, dass wir nicht wissen, was sie mit ihm tun wollen. Also lass uns abwarten und nicht den Teufel in den Wind malen.“

Trotz der bedrückten Stimmung in der Küche, begann sie zu lachen. „Man malt den Teufel an die Wand und nicht in den Wind.“

„Bist du sicher?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.

Sie nickte lachend und wandte sich wieder den Töpfen zu. „Kannst du nachsehen, wie weit die Kinder sind? Das Essen ist gleich fertig.“
 

Der Raum war gerade groß genug, um einem Tisch, mehreren Stühlen und einem Geschirrschrank Platz zu bieten. Ein Fenster zeigte in den Garten hinaus, doch Anthony hatte im Moment keinen Blick dafür. Er beobachtete stattdessen die beiden Zwillinge, die erstaunlich routiniert den Tisch deckten, offenbar machten sie das öfters.

Ob sie wirklich jeden Abend miteinander aßen? In Büchern taten Familien das, war das im echten Leben auch so?

Ein lautes Klirren lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Einer der Teller war zu Boden gefallen und dort zerbrochen. Beide Mädchen sahen für einen kurzen Augenblick irritiert darauf hinunter, dann kniete sich Leen hin und hielt eine Hand über die Scherben.

„Ähm, soll ich... die Scherben wegräumen?“, fragte Anthony, nachdem er seinen Mut zusammengetrommelt hatte; da Leen nichts weiter tat, schien es ihm als würden die Mädchen die Scherben nicht anfassen wollen.

Heather winkte ab. „Nein, nein. Sieh zu.“

Ein helles Leuchten ging von Leens Hand aus und hüllte die Scherben ein, die sich vor Anthonys erstaunten Augen wieder zu einem vollständigen Teller zusammensetzten.

„W-wie hast du das gemacht?“

Leen nahm den Teller hoch und stellte ihn auf den Tisch, ehe sie sich Anthony zuwandte. „Das war ganz einfach, noch einfacher geht es eigentlich gar nicht mehr.“

Sie machte einen äußerst selbstgefälligen Eindruck, weswegen er gar nicht weiterfragen wollte – aber glücklicherweise sprang Heather direkt ein: „Unsere Mutter ist eine Hexe, wir haben daher einige der Fähigkeiten geerbt.“

Er wusste nicht viel über Hexen, gerade genug, um sich daran zu erinnern, dass sie die einzigen normalen Menschen waren, die Magie im Blut trugen und diese somit wirken konnten.

Dass er einmal echten Hexen begegnen und sie nicht einmal als solche erkennen würde, hätte er zuvor nie gedacht.

„Das ist... cool“, bekundete er ehrlich begeistert.

Die Zwillinge lächelten leicht und beendeten das Tischdecken gerade als Raymond hereinkam.

„Ah, ihr seid fertig“, stellte er zufrieden fest. „Das Essen ist auch gleich soweit. Alles okay, Anthony?“

Der Junge zuckte zusammen und wandte sich ihm sofort zu. „Ja, natürlich, Sir!“

Die Antwort kam schneller als er denken konnte, weswegen ihm das Sir, das von den Erziehern früher stets gefordert worden war, direkt mit herausrutschte.

Raymond runzelte seine Stirn, sagte aber nichts dazu. Stattdessen ging er wieder hinaus.

Leen schmunzelte. „Sir, huh? Papa mag es gar nicht, wenn man ihn so respektvoll anspricht.“

„Oh, wirklich nicht?“

Beim ersten Mal an diesem Nachmittag hatte er eher amüsiert gewirkt, statt genervt.

„Das erinnert ihn wohl an irgend etwas“, stimmte Heather zu. „Also lass das in Zukunft besser.“

Anthony nickte sofort.

Weiter sagen musste er nichts, denn Raymond und Alona kamen bereits mit dem Essen herein und stellten dieses auf den Tisch.

„Setzt euch“, forderte die Erzieherin die anderen auf. „Und lasst es euch schmecken.“
 

Drei Stunden, viel Essen und belanglose Gesprächsthemen später, verabschiedete Anthony sich von den Lionhearts, bekam noch die Anweisung, vorsichtig zu sein mit und begab sich wieder auf den Weg zurück in seine Wohnung.

Der Geschmack der Suppe, des Entenfleischs, der Soße, der Klöße und des Rotkohls lag ihm noch auf der Zunge und bildete eine interessante neue Geschmacksrichtung. Alona schien also trotz ihres Verhaltens in der Küche zuvor eine durchaus sehr gute Köchin zu sein.

Raymond hatte ihm noch gesagt, dass sie so etwas nicht jeden Abend aßen, aber dass sie das Abendessen tatsächlich immer gemeinsam einnahmen.

Ein wenig beneidete er die Familie darum, aber was sollte er machen? Er hatte immerhin keine eigene Familie und er konnte schlecht jeden Abend bei den Lionhearts essen, wobei ihm das durchaus gefallen würde. Mit verstreichender Zeit war sein Wohlbefinden gewachsen, am Liebsten wäre er gar nicht gegangen. Selbst Leen schien mit der Zeit ein wenig aufgetaut zu sein, bei genauerem Hinsehen war sie gar nicht so unterkühlt wie sie sich gab. Aber je mehr Zeit vergangen war desto unwohler schien es Raymond und Alona zu werden.

Wenn ich nur wüsste, weswegen... vielleicht mögen sie mich ja gar nicht... Nein, sie schienen ein wenig traurig zu sein, als ich wieder gegangen bin.

Es war noch nicht ganz dunkel, aber dennoch brannten die Straßenlampen, was ein seltsames, traumgleiches Ambiente in Anthonys Augen schaffte und es ihm erlaubte, seine aufgestellten Nackenhärchen zu ignorieren.

Vergnügt folgte er der Straße, bis er wieder zur Brücke kam. Automatisch ging sein Blick wieder zum Fluss, doch der Junge von vorhin war weg. Ob sein Angelversuch erfolgreich gewesen war?

Warum frage ich mich so etwas überhaupt? Mir kann es ja egal sein.

Bei den Quartieren angekommen, dauerte es einige Minuten, bis er das richtige Haus gefunden hatte, da er sich zuvor die Nummer nicht eingeprägt hatte.

Doch schließlich betrat er seine Wohnung wieder, die ihn mit ihrem Geruch nach Neuem begrüßte.

Sein Blick fiel auf den Stundenplan, der immer noch auf seinem Esstisch lag. Heather hatte sich zuvor bereit erklärt, ihn am nächsten Morgen zur Schule zu begleiten, so dass er sich zumindest darum keine Gedanken machen musste. Dafür kam schlagartig die Angst wieder, die sein Inneres mit Eiswasser füllte, so dass sein Magen sich augenblicklich zusammenzog.

Er würde ganz neu auf dieser Schule sein, er würde außer Heather und Leen niemanden in seiner Klasse kennen.

Wie würden die anderen auf ihn reagieren?

Er hoffte, dass sie ihn zumindest ignorieren würden, wenn sie ihn schon nicht mochten.

Doch schließlich schob er all diese Bedenken beiseite und beschloss, ins Bett zu gehen, um am nächsten Morgen auch ausgeschlafen zu sein, wenn er denn schon abgeholt wurde.

Die Erschöpfung machte sich langsam bemerkbar, als er sich umgezogen und die Zähne geputzt hatte. Schließlich ließ er sich ins Bett sinken und war innerhalb kurzer Zeit eingeschlafen.
 

Hätte Anthony geahnt, dass er in diesem Moment von drei Personen auf einem Monitor beobachtet wurde, wäre sein Schlaf mit Sicherheit nicht so tief und friedlich ausgefallen.

Der Raum war in Dunkelheit getaucht, lediglich der Monitor der kompliziert aussehenden elektrischen Anlage tauchte alles in ein geisterhaftes Licht.

Auf einen Knopfdruck der blonden Frau, die als einzige der Anwesenden saß, sprang ein weiterer Monitor an, auf dem kryptische Zeichen erschienen.

„Kein Zweifel“, sagte der jung aussehende Mann, der wie gebannt auf das Gerät starrte. „Er ist es.“

Raymond schluckte schwer. „Und wie geht es nun weiter?“

Die Situation behagte ihm nicht und dass er den arglos schlafenden Anthony beobachten konnte, half ihm nicht weiter, sondern ließ die Stimme seines schlechten Gewissens lauter werden.

Der andere löste den Blick vom Monitor und sah zu Raymond. Das sanfte Lächeln auf seinem Gesicht, das seine Augen nicht erreichte, konnte den Direktor auch nicht beruhigen.

„Erst einmal werden wir ihn beobachten“, antwortete der Mann. „Du sagtest, er zeigt keine Anzeichen für Aggressivität, also ist es besser, wenn wir abwarten, statt überstürzt zu handeln.“

Raymond verkniff sich das erleichterte Ausatmen, nahm sich aber vor, zu Hause Alona davon zu erzählen, damit sie auch erleichtert sein konnte. „Wie lange werdet ihr ihn beobachten?“

Die Frau drehte ihren Stuhl zu ihnen, amüsiert legte sie die Fingerspitzen aneinander als ob sie das alles nur für ein Spiel halten würde. Selbst ihre blauen Augen glitzerten vergnügt. „So lange wie nötig. Sobald er Anzeichen für Aggressivität zeigt, werden wir ihn in Gewahrsam nehmen und dann entscheiden, wie es weitergeht.“

Ihre Worte beruhigten Raymond ein wenig. Es war also noch nicht hoffnungslos für Anthony, irgendwie würde er den Jungen da durchlotsen können, da war er sich sicher. Er galt nicht umsonst als intelligent, er würde sich etwas einfallen lassen, um ihm zu helfen.

„Ich weiß, dass dir das alles unangenehm ist“, fuhr der andere Mann fort. „Aber ich bin dir zu tiefstem Dank verpflichtet, dass du dich dennoch darauf eingelassen hast, Raymond.“

Höflich verbeugte er sich vor dem Direktor, der peinlich berührt abwinkte. „Lass gut sein, bitte. Ich schuldete dir etwas und das alles ist außerdem sehr wichtig, ich weiß. Aber bitte... versucht zu vermeiden, ihm etwas anzutun.“

Der Andere nickte. „Selbstverständlich. Es liegt mir fern, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Solange es einen anderen Weg gibt, werde ich diesen beschreiten.“

Die höflichen Worte des anderen, die Raymond inzwischen so vertraut waren, legten sich wie Balsam auf seine Seele und ließen die Stimme seines schlechten Gewissens leiser werden.

„Gut“, sagte die Frau schließlich. „Wenn wir das jetzt abgehakt haben, können wir das alles ja besiegeln, nicht wahr?“

Sie stand auf und stellte nach einem letzten Blick auf die Monitore eben diese beiden ab. Lächelnd wandte sie sich wieder den beiden Besuchern zu, ihr langes blondes Haar wirbelte dabei herum. „Lasst uns etwas trinken, Observationen machen mich immer ziemlich durstig.“

Raymond seufzte, lächelte dann aber. „In Ordnung, aber nicht zu lange, ja? Ich muss morgen wieder in die Schule.“

„Du bist der Direktor, mein Bester – ist doch egal, ob du zu spät kommst. Das ist doch der Vorteil, der Chef zu sein.“

Der Andere verzog sein Gesicht. „Ist das der Grund, warum du in deinem eigenen Café nie auftauchst?“

„Ich war erst letzte Woche dort“, verteidigte sie sich.

Raymond hob hastig die Hände. „Ganz ruhig, ganz ruhig. Können wir dann? Ich muss meinen Job ernstnehmen – besonders da meine Vertretung aktuell krank ist.“

Die Frau schnitt den beiden eine Grimasse und ging dann gemeinsam mit ihnen davon.

Als der Raum verlassen war, wurde keiner mehr Zeuge davon, wie die Anlage sich scheinbar selbst noch einmal in Gang setzte – nur um ein statisches Rauschen anzuzeigen und dann urplötzlich wieder auszufallen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  MarySae
2011-07-31T10:20:50+00:00 31.07.2011 12:20
Wieder ein interessantes Kapitel *_*
Ich mag Anthonys Gedanken XD Er denkt sich immer so witzige (aber nachvollziehbare) Sachen aus XD (Besonders was er über die Mädchen gedacht hatte ^^)
Aber er scheint eine echt gute Menschenkenntnis zu haben.
Er weiß sofort, wie er sich verhalten muss. Vllt hat er das ja auch im Heim gelernt?

Jedenfalls mag ich die Familie des Direktors ^^
Alona scheint eine ganz nette zu sein. Aber sie redet sehr viel XD Mir als Mann wäre es peinlich, wenn sie jedem gleich meine ganze Lebensgeschichte erzählen würde ^^
Aber interessant, dass sie eine Hexe ist O.o Mal sehen, wie du hexen gestaltest (auch die Mädchen ^^).

Nur dein ganzes geheimnisvolles Zeug ist echt mieß. XD
Die ganze Zeit sowas wie "Er ist es. Kein Zweifel."! Das macht echt neugierig *_*
Blöd, wenn man als Leser noch keine Ahnung hat ^^'

Jetzt frage ich mich nur, was du mit dem letzten Abstaz gemeint hast O.o
Ist ja alles sehr mysteriös ^^
LG; Linami
Von:  sunny12
2010-10-14T17:23:12+00:00 14.10.2010 19:23
hey!
ein tolles kapitel.
gefällt mir, wie du das alles beschrieben hast.
ich finds auch schön, dass anthony sich bei der familie des direktors so wohl gefühlt hat.
ich bin ja mal gespannt, was aus anthony wird und was diese leute da am schluss genau von ihm wollen.
freu mich also schon auf das nächste kapitel
lg sunny12
Von: abgemeldet
2010-10-05T20:32:05+00:00 05.10.2010 22:32
Uff … ich bin total erledigt von der Arbeit. u_u“
Aber dieses Kapi will ich unbedingt heute noch lesen. ^o^
'Familie Lionheart' klingt schon mal sehr gut, da ich den Direktor eh schon sympathisch fand und ich bin ganz neugierig auf seine Familie. =3

> taten Familien so etwas überhaupt?
Meine nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir uns jemals zusammengesetzt und über unseren Tag geredet haben, jeder hat bei uns für sich alleine gegessen. ^^"
Manchmal hätte ich gerne einen 'normalen' Familienalltag gehabt, aber das gehört jetzt nicht hierher. Es hat mich nur so daran erinnert. XD

Alona Lionheart find ich allein schon wegen dem Namen liebenswert, hihi. Aber natürlich mag ich auch ihre Art. Vor allem das sie eigentlich nicht wirklich kochen kann hat viele Pluspunkte gemacht. =3

‚torpedieren’ … was für ein Wort. o.Ô“
Hab ich vorher noch nie gehört. Bedeutet es in etwas ‚annullieren’? ^^
Aber schon krass dieses Waisenheim … damit stimmt doch etwas ganz und gar nicht, vermute ich jedenfalls.

> „Ihr bekommt überragend viel Taschengeld, so wie freie Kost und Logis, warum sollte ich euch dann noch etwas kaufen?“
Oha. ._.“
Ich habe jetzt gerade in meiner Vorstellung zwei überaus verwöhnte Töchter vor mir. Mal sehen, wie die zwei so sind. ^^

Heather und Leen … ich liebe beide Namen! *___*
Heather aus Silent Hill 3 und Leen aus Grandia, hehe. Gute Wahl also. :D
Also am Anfang waren mir die Zwillinge ja unheimlich … aber die scheinen beide ihre ganz besondere Art zu haben, gefällt mir.

> Als Hexe konntest du eher einschätzen, ob er der Richtige ist.“
Das sie eine Hexe ist, habe ich dummerweise schon im Stecki gelesen, darum hat mich das nicht mehr überrascht. ^^
Mich macht vielmehr dir Frage verrückt, wofür Tony der Richtige sein soll. Waaah, ist das spannend. *___*

Das Ray sich keine Sprichwörter merken kann ist richtig süß. :D

Ah, Alona kann doch gut kochen. *anneid*

Wow, der letzte Absatz hat ja noch mal für reichlich Spannung gesorgt. Ganz nach meinem Geschmack. *___*
Meeehr! X3


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