Ein Vampir als Schutzengel
Schon so lange habe ich sie nicht mehr gesehen.
Ich schloss die Augen und vor meinem inneren Auge zeichnete sich ihr Gesicht ab als ob der Tag, an dem ich sie im Mondschein sah noch immer nicht vergangen sei.
Ihre langen schwarzen Haare wehten im Wind und der Mond beschien ihre blütenweiße Haut sowie ihre dunklen Lippen. Ihre Augen blitzen rot im Schein der Straßenlaterne, als sie sich langsam und anmutig nach mir umdrehte. Ihr dunkles Kleid schien sich dabei noch mehr in die schützende Schwärze der Nacht zu hüllen.
Doch ihr so reines Antlitz wurde durch das Rot in ihrem Gesicht besudelt. Das Rot, das langsam von ihren Zähnen tropfte und ihr Kinn hinab lief.
Warum?
Warum nur war sie einer von ihnen?
Mein Leben lang, seit ich denken konnte, bin ich ihr begegnet.
Einmal hatte sie mich beruhigt als mich eine Schlange gebissen hatte. Ich war noch ganz klein und hatte sie mit meinen großen, braunen Augen angestarrt während sie die Wunde versorgte.
Ein anderes Mal, als ich mich in diesem unendlichen Labyrinth aus Ziegeln und Beton, welches manche auch Stadt nennen, verirrt hatte, nahm sie mich an der Hand und führte mich, bis mir die Straßen wieder bekannt waren.
Ich lächelte.
Damals hatte sie nicht einmal gezögert meine Hand zu nehmen. Nie zuvor hatte dies jemand getan.
Sie war doch mein Schutzengel!
Aber nur zu oft zeigt sich, dass hinter der schönen Fassade eines Engels der Dämon lauert.
Und dieser Dämon war grausam. Denn er hatte ihn getötet. Ihn, der mir so viel bedeutete. Er war wie ein Bruder für mich. Doch nun...
Ich öffnete die Augen und sah hinauf in den Himmel. Auch heute Nacht tanzten die Sterne wieder ihren unermüdlichen Tanz über das dunkle Parkett des Firmaments, so wie in jeder Vollmondnacht.
Ich atmete noch einmal die Gerüche des ausklingenden Tages ein und beobachtete die wabernden Schatten unter den Bäumen, welche mit jedem Atemzug größer und größer wurden.
Nicht nur sie ernährten sich von der Dunkelheit.
Ein Heulen hallte durch die Nacht und der Wind peitschte durch die Bäume. Heute Nacht war er so stark und kalt. Es würde sicher einen Sturm geben.
Ich stand auf und ging durch das nasse Gras. Immer am Waldrand entlang.
Ein weiteres Heulen war zu hören, doch diesmal, so konnte ich sicher sein, wurde es nicht vom Wind verursacht.
Schatten regten sich plötzlich zwischen den mächtigen Riesen des Waldes und weitere Stimmen wurden laut.
Die Antwort auf das Heulen kam schnell. Viel schneller als ich es erwartet hatte.
Ich rannte los.
Nun war der Wind und die klamme Kälte noch unangenehmer. Während mich der Wind mit seinen unsichtbaren Geißeln peinigte und das unheilverkündende Heulen noch lauter in meinen Ohren dröhnen ließ, kroch die Kälte in meinen gesamten Körper und beschwor mich stehen zu bleiben und zu ruhen.
Das nasse Laub bremste meine Schritte und ich hoffte, dass ich es noch schaffe. Ich musste es versuchen, bevor die Zahl der Opfer in diesem Krieg noch um ein weiteres erhöht wird.
Ein Keuchen.
Und dann sah ich sie. Sie war umringt von fünf pelzigen Gestalten, welche den Kreis um sie immer enger zogen. Sie hatten den Dämon gefangen!
Nun erfüllte ein weiteres, viel bedrohlicheres Heulen die Luft und ich rannte zum Kreis.
Mein alter Schutzengel fuhr herum. Doch es war zu spät. Die Zähne des pelzigen Ungetüms hatten sich in ihren Hals gegraben und der Lebenssaft, welchen sie geraubt hatte, floss nun aus ihrem Gefängnis und tränkte die Erde in seinen Farben.
Doch noch etwas anderes floh aus ihrer Hülle, etwas, dass mit aller Macht versuchte zu bleiben und den Strom aus Blut zurückzuhalten. Doch dieses etwas war nicht stark genug und so formten die Lippen der Schönen noch ein letztes Wort bevor sie sich für immer schlossen. Aber ihre toten Augen sahen mich immer noch an, so als wollten sie weiter über mich wachen. Sie waren wirklich rot, blutrot.
Ein knurren holte mich zurück und ich sah in die pelzigen Gesichter der Fünf. Jedes Gesicht war mir so vertraut wie mein Eigenes. Ich drehte mich zu ihnen um und noch immer tropfte das Blut meines Opfers von meinen Zähnen.
Doch als ich die Gesichter meiner Freunde genauer betrachtete, wusste ich, was sie wollten.
Und ich wusste noch mehr.
Ich wusste warum mein Engel unseren Anführer getötet hatte und warum sie mich mit ihrem letzten Wort dazu gedrängt hatte zu fliehen. Ich wusste, dass sie mich immer schützen wollte.
Ich wusste dass ich meinen Engel getötet hatte.
Doch das spielte keine Rolle mehr, denn ich werde ihr heute Nacht folgen.
Die Fünf griffen an.