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Karls Geschichte

...mit Karl und Magie und echt miesem Titel
von

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Ritual

Ich mag den Herbst nicht. Okay, eigentlich ist das eine Lüge, ehrlich gesagt sind mir die Jahreszeiten völlig egal, aber ich denke, dass dieser Einstieg zu der Geschichte passt, und vielleicht sogar etwas klug oder tiefgründig klingt. Der Herbst ist eine Zeit des Wandels. Ein Wandel von der Aufregung zur Beruhigung, zur Melancholie, was im Sommer bunt und kräftig war vergilbt, stirbt und verwest. Eine Zeit der Stille, die Insekten schweigen, die Menschen schweigen, und des Alleingangs, der Zurückgezogenheit in die eigenen Gedanken...

Für die Geschichte, die ich erzählen will, scheint mir dieser Anfang irgendwie völlig ungeeignet. Ich wollte auf etwas anderes hinaus, aber anscheinend liegen mir kluge, poetische oder ansonsten anspruchsvolle Anfänge nicht. Dann steige ich eben direkt in die Handlung ein, aber wahrscheinlich sollte ich mich zuerst vorstellen. In zu vielen Geschichten werden die Charaktere erst sehr spät beschrieben, was dazu führt, dass der Leser mit dem Bild, das er sich bisher von der Figur machte, plötzlich völlig falsch liegt. Meine Eltern gaben mir den Namen Karl, wenn euch irgendwann einmal ein fast zwei Meter hoher Typ mit schwarzen Haaren und blauen Augen begegnet, der dazu unrasiert ist und lustlos in Kleidung, die kaum unauffälliger sein könnte, die Straße entlang schlurft, so könnte ich es sein. Begrüßt ihn doch mal, wenn er euch leicht verwirrt anguckt und zögerlich mit „Hi...“ antwortet, so könnt ihr davon ausgehen, zumindest jemanden getroffen zu haben, der mir in einigen Punkten ähnelt.

Es war spät abends im November, klarer Himmel und äußerst kalt. Ich wollte gerade nach Hause, möglichst schnell ins warme Bett und schlafen. Zuvor hatte ich einem Bekannten einen Gefallen getan und zum Wohl der Wale fünf Stunden lang Souvenirs verkauft. Er hatte mich angesprochen, ob ich am Freitag Abend etwas zu tun hätte. Da mir leider nichts einfiel und ich ihm sowieso noch einen Gefallen schuldete, stand ich für eine gefühlte Ewigkeit draußen in der Kälte und improvisierte mit aufgesetztem Lächeln Antworten zu Fragen wie „Warum benötigen die Wale denn Hilfe?“ oder „Wozu genau wird denn das Geld benutzt?“. Zusammen mit der U-Bahnfahrt, auf der mich eine stark parfümierte alte Frau mit gelb-braunen Zähnen zum Eintritt in eine Sekte überreden wollte und ich meine Jacke verlor, verursachte der Tag in meinem Kopf eine ziemlich üble Laune und ich wollte einfach nur noch ins Bett.

Auf dem Weg von der Station nach Hause überquere ich oft das Gelände einer Fabrik, die vor einigen Jahren abgebrannt war. Was sie produzierte weiß ich nicht, ich bin erst vor wenigen Monaten in diese Stadt gezogen und habe mich nie so sehr dafür interessiert, dass ich nachgefragt hätte. Über die Gründe des Brandes scheint jedenfalls nichts bekannt zu sein. Seitdem arbeitet die Natur hartnäckig daran, das Gelände zurückzuerobern, manche Ranken wagen es sogar, die Wand des einsturzgefährdeten Betonkastens hinaufzuklettern. Für mich ist das Gelände eine Abkürzung, die mir fünf Minuten Fußweg erspart. Normalerweise ist die Fabrik nachts komplett in Dunkelheit getaucht und erhebt sich als bedrohlicher schwarzer Klotz in den Himmel, doch an jenem Tag war das nicht der Fall. Aus den Fenstern im Erdgeschoss drang schwach und unregelmäßig Licht sowie ein tiefstimmiger Singsang, den ich keiner Sprache zuordnen konnte. Was sollte das werden, eine Katzenopferung von ein paar Hobbysatanisten? Ich mag Katzen, und meinen Kenntnissen nach ist es auch nicht sehr satanistisch, sie irgendwem zu opfern. Die nörgelnde Stimme, welche nach meinem Bett schrie, wurde von mir in den Hinterkopf verschoben, und ich ließ meine Neugierde und Abenteuerlust die Kontrolle übernehmen, welche sich aufgrund ihres seltenen Einsatzes im Alltag um so mehr freuten. Bereit, jedes feline Wesen, das ich erblicken würde, zu retten, schlich ich mich an eines der glaslosen Fenster und spähte hinein.

Was ich zuerst sah, war tatsächlich ein Mann in schwarzer Robe mit Kapuze, welcher aus einem alt aussehenden Buch rezitierte. Ich war erstaunt darüber, wie stark er dem Stereotyp entsprach. Zu dem Erstaunen mischte sich jedoch auch ein unangenehmeres Gefühl in meinem Bauch, ich hatte nicht wirklich erwartet, den rituellen Handlungen irgendeines Kultes beizuwohnen. Der schwere Gesang mit immer wiederkehrenden Klagen in fremder Sprache und das flackernde Licht, welches durch Feuerschalen verursacht wurde, flößten zugleich Faszination und Angst in meinen Körper, der weiterhin als heimlicher Beobachter hinter dem Fenster kauerte. Während er sang blickte der Mann immer wieder nach vorne, doch als ich meine Augen auch in die Richtung lenken wollte, gelang es mir nicht. Die Situation lähmte mich, meine Gedanken verblassten und die Präsenz des Sängers füllte meinen Geist. Er lehrte mich etwas, eine Geschichte, von Dingen, welche mein Hirn nicht fähig zu begreifen war. Nachdem schon jedes Bewusstsein dem Lied gewichen war spürte ich, wie sich meine Gefühle und jede meiner Sorgen auflösten, das Lied heilte mich, entriss mich der schrecklichen Welt und begrüßte mich in einer neuen, in welcher nur das unendliche Glück auf mich wartete. Dann wand der Mann seinen Kopf in meine Richtung, und unsere Augen trafen sich in einem Moment, in dem ich von ihm die vollständige Erkenntnis erfuhr. Es war alles so einfach, ich fühlte den ganzen Sinn des Universums und den Dingen dahinter in mir selbst, durch das Geschenk seines Blickes erreichte ich Höhen, die der normale Mensch für unmöglich halten musste.

Ohne seinen Gesang zu unterbrechen bedeutete mir mein Herr mit einer Handbewegung, hineinzukommen. Ich kletterte durch das Fenster, ging mit langsamen Schritten, welche jedoch von einer nie gefühlten Leichtigkeit waren, auf ihn zu. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen, denn ich hatte die Unendlichkeit verstanden. Im Gebäude konnte ich im Augenwinkel ungefähr erkennen, worauf mein Herr gestarrt hatte. Auf einem Tisch festgebunden und geknebelt lag ein nackter Mann, in seinen Körper waren lauter fremde Zeichen und Symbole geritzt, aus den frischen Wunden sickerte das Blut. Er musste da liegen, denn er war der Träger, er musste die Wunden tragen, denn das war das Mittel. Aus unzähligen Gefäßen rund um den Tisch wich verschiedenfarbiger Rauch, der sich an das Blut schmiegte und den Strom hinauf in den Körper floss. Es musste so sein, denn das war das Ziel. Mein Herr sang zu mir und erklärte mir, seine Macht war so groß, seine Botschaft so stark, dass die mir völlig fremde Sprache mehr einleuchtete als alles, was ich in meinem Leben zuvor gehört hatte.

Mit einem Mal hatte ich einen Dolch in der Hand. Mein Blick war wieder frei, mein Herr hatte mir die Freiheit geschenkt. Ich sah das wunderschöne Instrument in meiner Hand an, bewegte mich etwas und spürte dabei, dass der Boden klebrig war. Ich senkte den Kopf und sah Unmengen an Blut auf dem Boden, frisch wie aus den Wunden des festgebundenen Mannes. Das Blut rief in mir eine Euphorie hervor, doch was mich noch viel mehr begeisterte, waren die Menschen, die darin lagen. Manche noch ganz, andere völlig zerstückelt, lagen auf dem Boden und lächelten. Ihr Lächeln war ewig, unendlich, sie erfuhren eine Seligkeit, die auch ich erreichen konnte.

Wieder blickte ich auf den Dolch. Mir wurde in unendlicher Güte auch die Möglichkeit geschenkt, zu einem solchen Wesen zu werden. Ein Wesen, weitaus größer und mächtiger als der Mensch, welches jedes Leid durch puren Willen in Freude verwandeln, jeden Störfaktor harmonisch in die neue Welt eingliedern konnte. Ich wusste, ich wollte so ein Wesen sein, und setze den Dolch an meiner Brust an. Als er mich aufschnitt, spürte ich den Schmerz, doch mir war klar, das würde der letzte Schmerz meiner ewigen Existenz sein. Die Klinge drang tief in mich, zerriss die Hülle und alles Leid, ich spuckte Blut auf meine eigenen Arme. Der Körper war mein Kokon, aus dem ich mich befreite und in die weite Welt der Wahrheit aufgenommen wurde, nur noch ein bisschen weiter und ich könnte aus dem Fleisch herausklettern. Die Ungeduld überkam mich. Ich wollte diesen Schmerz nicht mehr, diesen Körper, er war eklig, stank nach Mensch, dem unfähigen Wesen, dass ich sein musste. Ein Schnitt noch und ein weiterer, längs auf meinem Torso, bis mir der Dolch aus der Hand fiel.

Mit dem Klirren, als er auf den Boden auftraf, erstarb auch der Gesang. Ich zitterte am ganzen Leib, meine Glieder verkrampften sich. Auf einmal loderten meine frisch zugefügten Wunden in Flammen auf. Ich wollte schreien, brachte jedoch durch das Blut in meinem Hals nur ein Gurgeln hervor, der Schmerz, vorher bereits kaum zu ertragen, vervielfachte sich durch das lodernde Feuer, welches mein Fleisch versengte. Mein Blick raste umher, suchte irgendetwas, was mir helfen könnte, doch an Stelle einer Hilfe sah ich, wie der Rauch aus einem Gefäß über die Blutlache und an mir hochkroch. Er presste sich in meine Wunden, scherte sich nicht um die Flammen, die mich qualvoll verbrannten und beinahe meinen Verstand sprengten. Während der Rauch in mich eindrang spürte ich, wie sich etwas weiteres in mich einnistete. Meine Adern entlang wuchs die Präsenz einer fremdartigen Entität, doch durch die meinen Körper verzehrenden Flammen, die anscheinend mit Freude in quälend langsamer Geschwindigkeit Fleisch und Haut vernichteten, hatte ich keine Zeit, um mich um den Eindringling zu kümmern.

Der Sänger starrte mich fassungslos an, und allmählich gesellte sich zu all den Emotionen, die ich an jenem Tag bereits empfunden hatte, Wut. Die Schmerzen klärten meinen Verstand, vertrieben den Müll, der ihn zuvor vernebelte. Ich wusste nicht, wie es der Typ angestellt hatte, mich derart ins Delirium zu säuseln, doch wegen ihm musste ich diese Schmerzen verspüren, und dafür hatte er meine eigenen Hände benutzt. Entschlossen, den Kerl mindestens eine Faust im Gesicht spüren zu lassen, wankte ich, meine brennenden Wunden so gut es ging ignorierend, auf ihn zu. Seine Augen weiteten sich, er trat einen Schritt zurück – offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich noch immer auf meinen Beinen stand. Mir ging das zwar nicht anders, aber für mich war das ein Vorteil.

Ein Held würde jetzt auf den Bösewicht zugehen und ihn trotz der schrecklichen Pein überwältigen, welche eigentlich auch den letzten Rest seiner Kraft aus ihm sog. Da jedoch kein Held anwesend war und stattdessen ich von irgendeinem Psychokultisten dazu gebracht wurde, mich beinahe selbst umzubringen, funktionierte das mit dem Gehen nicht ganz so gut und ich klappte innerlich fluchend bereits nach wenigen Schritten nach vorne um, begleitet vom höhnischen Gelächter meines Gegners. Genau in jenem Moment erloschen die Flammen auf mir, und was auch mit dem Rauch in mich eingedrungen war, schien nun komplett in mir zu sein. Umgeben vom verschütteten Lebenssaft meiner selbst und mehrerer Leichen lag ich keuchend auf dem Boden und wusste, dies war das Ende. Ich sah die Beine des Sängers auf mich zu kommen. Er griff nach dem Dolch, der neben mir lag. Für mich wäre er in dem Moment unerreichbar gewesen, auch wenn meine Hand nur wenige Zentimeter von der Waffe entfernt war. Meine Reserven waren verbraucht, jeden Rest, den ich an Energie übrig hatte, wurde für ein paar letzte Atemzüge genutzt, die ich mir gönnte.

Als ich die Klinge an meinem Hals spürte, schloss ich die Augen. Ich wartete darauf, dass sie in meine Schlagader glitt und ich die Schmerzen, Eindrücke, Erinnerungen und atmosphärezerstörenden Kommentare in meinem Kopf gegen das eintauschen würde, was auch immer nach dem Tod kam. Doch was ich als nächstes hörte war weder ein Engelschor noch ein Talkshowmoderator, sondern ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Stöhnen, zugleich entfernte sich der Dolch von meinem Hals. Verwundert öffnete ich die Augen und erblickte eine Hand, die etwas vor meinen Mund hielt.

„Beiß drauf!“

Die Stimme war weiblich, relativ jung. Wer auch immer es war, anscheinend war sie auf meiner Seite. Ich betrachtete den Gegenstand, es war eine Art Wurzel.

„Mach schon, ich hab deinen Freund hier zwar umgehauen, aber er steht jeden Moment wieder auf.“

Angestrengt zerrte ich meinen Kiefer auseinander und ließ mir die Wurzel hineinschieben. Sie war voller Dreck und Erde, schmeckte widerlich. Ich biss hinein und eine Art Saft strömte in meine Mundhöhle, saurer Geschmack mischte sich mit Blut und Dreck. Wenige Sekunden, nachdem Zunge und Zahnfleisch die Flüssigkeit berührt hatten, waren sie komplett taub. Zudem spürte ich, wie meine Wahrnehmung langsam abschaltete. Die Bilder vor mir wurden schwarz, was in meine Ohren drang verschwand in einem unförmigen Rauschen, ich fühlte und roch nichts mehr. Zuletzt verabschiedete sich mein Bewusstsein.



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