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Heldenzeit

Spiegelverkehrt & Kryptonit & Vulkado | Oneshot- Sammlung
von

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Perfekt

Zwar kein Einjähriges, aber so ähnlich ;)

Viel Spaß beim Lesen,

Liebe Grüße,

Ur

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Felix war perfekt. Auf eine gewisse, perverse und sehr deprimierende Art und Weise war sein fester Freund die Perfektion in Person. Zumindest fand das Leon.
 

Felix machte niemals Fehler, Felix zeigte selten Schwäche und wenn er sie zeigte, dann machte es nichts, weil er sie so stilvoll zeigte, dass niemand das peinlich finden würde.
 

Felix sah überdurchschnittlich gut aus, war überdurchschnittlich gut in allem, was er tat und irgendwie mochten ihn alle, auch wenn er jedem, der ihn kannte, sicherlich schon mehrmals auf den Wecker gefallen war.
 

Leon fragte sich, ob es auch in Felix’ Leben Momente gab, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte. Momente, in denen er Dinge tat, die ihm vielleicht am nächsten Morgen peinlich waren.
 

»…noch nicht, wann ich wiederkomme.«

Leon blinzelte und hob den Kopf. Felix stand fertig angezogen vor ihm, den Kragen seiner Jacke hochgeklappt und die braunen Haare fransig ins Gesicht hängend. Leon starrte ihn einen Moment lang verständnislos an, wobei er sich insgeheim fragte, wie ein einziger Mensch so schön sein konnte.
 

Sie standen in Leons Zimmer und durch seine abschweifenden Gedanken hatte er irgendwie nicht wirklich mitbekommen, was Felix ihm gerade gesagt hatte.

»Noel, hörst du mir eigentlich zu?«, fragte Felix schmunzelnd, tippte mit dem Zeigefinger Leons Nase an und legte den Kopf schief.

»Eigentlich schon. Aber… was hattest du gerade gesagt?«, fragte er und zog die Nase kraus.
 

»Ich sagte, dass ich noch nicht weiß, wann ich wiederkomme. Es kann später werden«, erklärte Felix geduldig.

Leon wusste einen Moment lang nicht, wovon Felix redete, da er so in seine Gedanken vertieft gewesen war. Aber dann fiel es ihm wieder ein.
 

Die Verlobung von Felix’ Schwester, die sie mit Felix und ihrer anderen Schwester gemeinsam begießen wollten. Und danach würde er wieder hierher kommen, denn Leon hatte – ohne es seinen Eltern zu verraten – Felix seinen Schlüssel geliehen.

»Ja… Vielleicht bin ich ja noch wach«, gab er zurück und Felix grinste, wuschelte ihm durch die Haare, was Leon ein Murren entlockte und dann durchquerte er sein Zimmer, winkte noch einmal an der Tür und verschwand.

Leon hörte unten die Haustür gehen.

Dann war er heute also den ganzen Abend allein zu Hause.
 

Er verbrachte den Abend gelangweilt, allein vor dem Fernseher sitzend und Chips essend. Als er schließlich geduscht hatte, warf er einen letzten Blick auf die Uhr – es war halb eins – und ging ins Bett.
 

Mitten in der Nacht wurde er aus der Tiefschlafphase gerissen, als es neben ihm unerwartet kalt wurde. Er riss die Augen auf und blinzelte verschlafen. Ein wohl bekannter Körper drückte sich von der Seite her an ihn.
 

»Fe…lix?«, nuschelte er verschlafen. Felix’ Stimme seufzte gegen seinen Hals. Leon nahm einen deutlichen Geruch nach Whiskey wahr. Die Müdigkeit kroch ihm aus den Gliedern und er drehte sich ein Stück zur Seite, um Felix ansehen zu können.
 

Felix’ Augen hingen auf Halbmast und er sah ihn halb verträumt, halb glasig an.

»Noel«, nuschelte er und seine kalten Finger huschten über Leons Bauch. Leon blinzelte.

»Bist du… betrunken?«
 

Felix betrunken? Wenn er recht darüber nachdachte… hatte er Felix noch nie wirklich betrunken erlebt.
 

»Nur n bisschen«, lallte Felix und seine Finger hinterließen eine Gänsehaut auf Leons Körper.

»Deine Finger sind kalt«, beschwerte er sich halbherzig. Felix kicherte matt.

»Tut mir Leid… Aber ich… kann einfach meine Finger nicht weg lassen von dir, weißt du…«
 

Leon musste sich in seinem müden Zustand wirklich anstrengen, damit er Felix’ Gelalle verstehen konnte. Der andere schien ja tatsächlich ordentlich getrunken zu haben.
 

»Hmhm«, sagte er also nur, schloss die Augen und dachte, ihre Unterhaltung wäre damit beendet. Pustekuchen. Felix schien heute sehr mitteilsam zu sein.
 

»Noel… weißt du eigentlich, wie unglaublich…unglaublich doll ich in dich verliebt bin?«, fragte Felix heiser gegen seinen Hals. Seine Hände waren irgendwo bei Leons Oberschenkeln angelangt. Leon schluckte, ließ die Augen geschlossen und spürte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Es war nicht so, dass sie in der letzten Zeit vollkommen enthaltsam gewesen wären, aber Leon bekam trotzdem jedes Mal einen halben Herzinfarkt, wenn sie miteinander rummachten.
 

»Ähm… ja…ich denke schon«, sagte er unsicher.

»Und… ich will dich nie mehr hergeben, nie wieder, du bist meins allein…«

Leon fragte sich, ob das nun alles ein Witz war und ob Felix ihn gleich auslachen würde, wenn er vor Verlegenheit und Herzklopfen implodierte.
 

»A…also…«, stammelte er verwirrt, doch Felix schien sich nicht daran zu stören, dass Leon nicht wusste, was er sagen sollte. Er nuschelte weiter gegen Leons Hals und zu seinem Entsetzen spürte Leon, wie Felix’ Finger seine Oberschenkel auseinander drückten. Nicht doch… er war müde und Felix war betrunken, das war vielleicht keine… oh…
 

Felix’ Finger hatten sich in seine Boxershorts geschoben.

»Noel«, säuselte Felix ihm ins Ohr, während er gegen die Hitzewallung ankämpfte, die Felix’ Finger in seinem Schritt auslösten, »ich hab meinen Schwestern erzählt, wie toll ich dich finde… ich hab dich so vermisst… ich muss sicher sterben, wenn du mich irgendwann allein lässt…«
 

Leon keuchte auf und krallte seine Finger ins Laken. Es war noch schwieriger, Felix zuzuhören, wenn der Brünette betrunken und man selbst müde und nun auch noch erregt war. Er schluckte schwer.

»Ich… lass dich nicht…alleine«, presste er zwischen den Zähnen hervor und stöhnte unterdrückt auf, als Felix’ Finger sich in seiner Shorts bewegten.
 

»Du bist viel zu nett zu mir…«, lallte Felix undeutlich und begann, an seinem Ohr zu knabbern. Wieso hatte ihn niemand gewarnt, dass Felix so… anders war, wenn er betrunken war?
 

»Ich hätte nichts dagegen, jetzt mit dir…«, verkündete Felix nahe an seinem Ohr, ehe seine Zunge über Leons Hals glitt.

Er konnte kaum noch denken und dieser Umschwung von Liebesschwüren auf Dirty Talk machte es auch nicht wirklich besser. Abgesehen davon klang Felix’ Ankündigung verdammt nach Sex und von Sex konnte bei ihnen bisher nicht die Rede sein! Er würde gleich sterben, ganz sicher…
 

»Ich bin sowieso ständig…scharf auf dich… eigentlich könnte ich dich den ganzen Tag befummeln und an dir rumknabbern…«, säuselte Felix weiter, während Leon sich unruhig auf dem Laken hin und her wand.
 

Felix’ Hand verschwand aus seiner Shorts und Leon gab ein murrendes Geräusch von sich. Felix rutschte ein wenig näher zu ihm, schob ihm einen seiner kühlen Oberschenkel über die Beine und seufzte leise.
 

»Und…überhaupt… hab ich dir…heute schon oft genug gesagt…dass ich in dich verliebt bin…? Ganz doll…?«

Leon blinzelte. Das… war überhaupt nicht witzig! Felix konnte jetzt nicht einfach einschlafen! Er hatte ein verdammt großes Problem in der Shorts und der Brünette kuschelte sich zufrieden seufzend an ihn und atmete so gleichmäßig, als wäre er bereits eingepennt?
 

Wie war das gerade noch mit zweideutigen Andeutungen gewesen? Das… konnte doch wohl nicht…!

Er knurrte in die Stille hinein und seufzte. Na wunderbar. Wenn er Pech hatte, konnte er mit dieser Riesenlatte erst in zwei Stunden einschlafen. Aufstehen konnte er immerhin auch nicht, weil Felix so dicht bei ihm lag, dass Leon ihn bestimmt wecken würde, wenn er aufstand.
 

Er seufzte leise, warf einen Blick in Felix’ friedlich schlafendes Gesicht und konnte es sich nicht verkneifen, dem anderen kurz durch die Haare zu streichen.

Dann schloss er die Augen, bemühte sich, seine Erregung zu ignorieren und schlief eine halbe Stunde später wieder ein.
 

Am nächsten Morgen wachte er auf und Felix war weg. Zumindest war das Bett leer. Er grummelte leise, drehte sich auf den Bauch und drehte sich gleich wieder zurück. Na wunderbar. Verschlafen fluchte er vor sich hin. Morgenlatte. Das hatte ihm gefehlt. Aber nach Felix’ gestrigem Auftritt war das auch nicht wirklich überraschend. Er wollte sich aufsetzen und ins Bad gehen, als Felix in Boxershorts völlig zerstrubbelt ins Schlafzimmer kam.
 

Als er sah, dass Leon wach war, sah er ihn einen Moment lang an, dann schmiss er sich neben ihm aufs Bett und vergrub sein Gesicht im Kissen.

»Tut mir Leid!«, hörte Leon es dumpf aus dem Kissen kommen, »tut mir wirklich Leid!«
 

Leon wusste nicht wirklich, was Felix meinte, bis es ihm dämmerte. Es war Felix peinlich. Dass er ihn so vollgesäuselt hatte, dass er an ihm herumgefummelt hatte und dabei auch noch eingepennt war. Leon grinste verschlafen.
 

»Schon ok«, nuschelte er und rieb sich die Augen. Felix setzte sich auf und sah ihn an. Er kaute auf seiner Unterlippe herum und war leicht rot im Gesicht.

»Das ist peinlich«, klagte er. Leon musste lachen.

»Vielleicht n bisschen. Aber nur, dass du eingeschlafen bist. Das davor war… vielleicht n bisschen schmalzig, aber es hat mich nicht gestört«, sagte er.
 

Felix grummelte leise und blickte auf die Bettdecke, dann zog er sie weg und betrachtete Leons morgendliches Problem.

»Ok…komm…«, sagte er und griff entschlossen nach Leons Hand. Leon blinzelte verwirrt.

»Wohin?«

»Unter die Dusche. Deine Latte wegmachen. Ich muss mich für gestern gebührend entschuldigen!«

Er zog Leon auf die Beine und aus seinem Zimmer in Richtung Bad. Leon spürte, dass sein Hals ziemlich trocken war. Trotzdem musste er grinsen.
 

Es gab also tatsächlich Dinge, die Felix peinlich waren. Es gab Moment, in denen er die Kontrolle verlor, Momente, in denen er sich nicht so verhielt, wie er es für angemessen hielt. Augenblicke, in denen er stockbesoffen irgendwelche Liebesschwüre flüsterte, seinen Freund befummelte und dann dabei einschlief.
 

Endlich wusste Leon, dass auch Felix nicht unfehlbar war. Das machte ihn zwar nur noch liebenswerter und umwerfender, aber Leon konnte damit leben. Immerhin war Felix sein Freund. Und sie gingen gemeinsam duschen…
 

»Der Tag fängt gut an«, sagte er schmunzelnd.

»Sollte er auch. Heute ist unser Dreimonatiges, Noel!«

Ordentlich

Ich hab zu den beiden auch noch eine Weihnachtsgeschichte auf dem Laptop rumgammeln. Aber so was kann man ja nicht mitten im April hochladen. Hach, eine echte Zwickmühle.

Das hier ist auch wieder so eine Spielerei mit wenig Inhalt aber viel Spaß :D

Ich hoffe, es gefällt!

Liebe Grüße,

Ur

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»Ich betrete deine Wohnung erst wieder, wenn du aufgeräumt hast.«
 

»Was soll das heißen, aufgeräumt?«
 

»Aufgeräumt. Und ausgemistet. Und sauber gemacht! Du kannst ja anrufen, wenn du fertig bist.«
 

Manchmal war Felix wirklich unerbittlich.

Er hatte seine erste eigene Wohnung jetzt seit knapp einem Monat und seit er hier wohnte, war es schon wieder ziemlich… unordentlich geworden.

Leon hasste Aufräumen. Und Ausmisten. Und am allermeisten hasste er es, sauber machen zu müssen. Aber wenn Felix sonst seine Wohnung nicht mehr betreten würde, dann würde er in den sauren Apfel beißen und es einfach tun müssen. Dieses Telefonat hatte heute Morgen stattgefunden. Vor drei Stunden, um genau zu sein.
 

Und seit drei Stunden tigerte er durch seine Wohnung, unschlüssig, wo er anfangen sollte. Er wusste sehr genau, dass Felix sich jeden Winkel seiner Wohnung ansehen würde, er wäre sicherlich extrem pingelig und würde wohlmöglich gleich wieder gehen, wenn Leon seine Wohnung nicht anständig auf Trab brachte.
 

Die Vorstellung, Felix mehrere Tage nicht zu sehen, machte ihn wahnsinnig. Da waren sie gerade mal so kurze Zeit zusammen und Felix strafte ihn mit… nun ja… Felix- Entzug. Das war unmenschlich und eine qualvolle Folter. Jetzt, wo er Felix endlich hatte, wollte er den anderen die ganze Zeit um sich haben. Manchmal ertappte er sich dabei, auf die Uhr zu starren, wenn Felix sagte, er würde schnell unter die Dusche springen.
 

Manchmal, wenn er nachts allein im Bett lag, widerstand er nur mühsam der Versuchung, Felix anzurufen, ihn wach zu klingeln und ihn zu bitten, dass er noch vorbeikommen durfte. Jede Minute ohne Felix war eine glatte Verschwendung. Vor allem war es eine Verschwendung, Felix nicht zu berühren. Oder ihn zu küssen.
 

Während Leon an all diese Arten von Küssen dachte, die Felix in seinem Repertoire hatte, sah er sich in seinem Schlafzimmer um und beschloss schließlich, hier anzufangen.
 

Felix konnte sanft und zärtlich küssen. Das waren Küsse, die seinen ganzen Körper kribbelig machten und seine Knie peinlicherweise weich werden ließen, während sein Herz so heftig hämmerte, dass er sicher war, es müsste jeden Moment implodieren.
 

Felix konnte liebevoll und innig küssen, ihn dabei fest im Arm halten und Leon das Gefühl geben, dass er noch nie richtig umarmt und geküsst worden war, weil er so viel Liebe für Felix in sich spürte, dass sein Körper wohlmöglich jeden Augenblick überquoll.
 

Und Felix konnte extrem stürmisch küssen, so stürmisch und leidenschaftlich und verdammt aufreizend, dass Leon sich jedes Mal einer Ohnmacht nahe fühlte, wenn Felix seine Lippen auf diese Art und Weise in Beschlag nahm.
 

Leon begann, sein Bett abzuziehen. Er warf die Bettwäsche auf einen Haufen und kramte in seinem Schrank nach einem neuen Laken und neuer Bettwäsche.
 

Felix konnte auch auf eine gewisse Art und Weise verspielt küssen. Wenn er ihn ärgern wollte. Dann drückte er seine Lippen nur kurz auf die von Leon, oder glitt mit der Zungenspitze über seine Mundwinkel. Oder er knabberte kurz an Leons Unterlippe. Und dann war der Kuss schon wieder vorbei und Leon grummelte meist ungehalten, was Felix ein Lachen entlockte, ehe er ihn dann richtig küsste.
 

Leon bezog sein Bett neu, verrenkte sich beinahe den Rücken bei dem Versuch, das Laken über die Matratze zu ziehen und stopfte die auf dem Boden liegende Bettwäsche in seinen Wäschekorb. Er ließ den Deckel wieder auf den Wäschekorb fallen, dann nahm er ihn wieder hoch. Starrte in den Korb, knurrte leise und gab sich geschlagen.
 

Er fischte alle dreckige Wäsche aus dem Wäschekorb und schleppte sie ins Bad. Er war noch nie gut darin gewesen, Wäsche zu waschen. Einen Moment lang starrte er unschlüssig auf den Haufen Kleidung am Boden zu seinen Füßen, dann seufzte er und begann nach Farben zu sortieren. Nicht, dass es da viele Farben gab. Schwarz. Weiß. Ein wenig rot und ein wenig blau.
 

Dann stopfte er den größten Haufen – den schwarzen – in die Waschmaschine, kippte etwas von dem Weichspüler und etwas Waschmittel in die Schublade seiner Waschmaschine und drehte sie an. Da konnte er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Während seine Wäsche vor sich hin schleuderte, konnte er seinen Kleiderschrank ausmisten.
 

Gesagt getan. Er öffnete alle vier Flügeltüren seines Kleiderschrankes weit und starrte hinein. Einen Moment lang fragte er sich, wieso er so viele Klamotten hatte. Immerhin war er kein Mädchen. Im nächsten Moment seufzte er ergeben und begann auszusortieren.
 

Peinlicherweise ertappte er sich dabei, wie er sich bei manchen Shirts oder Hemden fragte, ob Felix finden würde, dass er gut darin aussah. Meistens entschied er nach genau diesem Gesichtspunkt, welches Hemd und welches Shirt er behalten würde und welches nicht. Das würde er mit ins Grab nehmen, dieses Geheimnis. Herrgott, er mutierte zu etwas Rosarotem, Fluffigem, Peinlichem… Er hatte kein Wort dafür. Er wusste nur, dass er nie von sich gedacht hätte, jemals so zu werden.
 

Nachdem er den großen Schrank ausgeräumt und ausgemistet hatte, starrte er einen Moment lang in seine Tiefen. Jetzt musste er alles wieder einräumen. Und er hasste es, Klamotten zusammen zu legen. Grummelnd ging er hinüber zu seinem Nachtschrank und kramte seinen iPod daraus hervor, steckte sich die Stöpsel in die Ohren und stopfte den iPod in seine Hosentasche.
 

Er legte seine Klamotten zusammen, saugte Staub, räumte die Schubladen seines Nachtschrankes aus und stopfte alles, was weg konnte, in einen großen, blauen Müllsack. Er überlegte, ob er auch das Fenster putzen sollte, aber das ging eindeutig zu weit.
 

Nachdem er im Schlafzimmer fertig war, siedelte er ins Wohnzimmer um. Ein zweiter Müllsack musste dran glauben, während er seine Schränke ausmistete, Filme in ein Regal sortierte, CDs in ein anderes. Bislang hatte alles einfach irgendwo gestanden, wo er Platz gefunden hatte. Die einzigen Bücher, die er hatte, stopfte er in einen der Schränke, dann entstaubte er die Fensterbank, den Fernseher und die offenen Regale.
 

Er fragte sich, was Felix gerade machte. Ihm graute es jetzt schon vor Küche und Bad. Felix hätte wirklich gnädiger mit ihm sein können. Er war schon jetzt auf Entzug, er wollte Felix wieder bei sich haben. Allein diese Tatsache ließ ihn rot anlaufen, während die Musik in seinen Ohren dröhnte. Er wusch eine Trommel Wäsche nach der anderen, rückte Möbel beiseite, saugte wieder Staub, wischte seinen Couchtisch ab, verbannte seine Pornosammlung in einen Pappkarton und brachte den Karton in den Kellerraum, der zu seiner Wohnung gehörte.
 

Als er abends schließlich duschen ging, hatte er gerade mal zwei seiner Zimmer geschafft. Küche und Bad würden sicherlich ewig dauern… Sein letzter Gedanke, als er schließlich im Bett lag und kurz davor war einzuschlafen, galt Felix.
 

Am nächsten Morgen verpennte er den ganzen Vormittag. Eine Tatsache, für die er sich in den Hintern hätte treten können. Erneut stiefelte er mit iPod in den Ohren durch die Wohnung, schleppte die Müllsäcke in den Flur, machte sich daran, die zwei verkümmerten Pflanzen auf seinem Fensterbrett zu entsorgen und befestigte seine Garderobe wieder richtig an der Wand im Flur, wo sie in Mitleidenschaft gezogen worden war, nachdem er einmal betrunken dagegen gefallen war.
 

Wenn er Felix wieder sah, dann würde er ihn zuallererst ewig lang knutschen. Und ihn festhalten. Und ihm vorhalten, wie sehr er sich hier den Hintern abgeschuftet hatte, um alles in Ordnung zu bringen. Und dann würde Felix sicher leise lachen und ihn fragen, ob er ihn vermisst hatte…
 

Leon wusste jetzt schon, dass er bei dieser Frage rot anlaufen würde, ehe er schließlich brummend zugab, dass er Felix verdammt doll vermisst hatte. Dann würde Felix ihn anstrahlen, ihm sagen, dass er ihn auch vermisst hatte und dann würde er ihn küssen.
 

Leon ertappte sich bei einem verträumten Lächeln, während er die Kücheschränke durchforstete und alte Keksschachteln, Konservendosen und abgelaufene Getränke zwischen seinem Geschirr hervor kramte, das nach keinem erkennbaren System in den Schränken stand.
 

Unweigerlich wanderten seine Gedanken weiter, zu der Tatsache, dass er und Felix noch keinen Sex gehabt hatten. Während er seinen Kühlschrank ausmistete und alle abgelaufenen Lebensmittel wegwarf, ehe er den Kühlschrank schließlich auswischte, dachte er daran, wie es sein würde… Felix so nah zu sein. Sex mit Felix wäre wohlmöglich die größte Nähe, die er jemals zu ihm haben konnte.
 

Hin und wieder fragte er sich, ob er Felix überhaupt jemals nah genug sein konnte.
 

Im nächsten Augenblick fand er sich schon wieder peinlich, murrte ungehalten und fuhr damit fort, seine Küche sauber zu machen.
 

Die Küche nahm seinen ganzen Tag in Anspruch und als er die Müllsäcke schließlich hinunter ins Treppenhaus schleppte, da fragte er sich, wann er das letzte Mal so aufgeräumt hatte. Die Antwort fand sich schnell: Noch nie! Felix bewirkte wahrlich Wunder an ihm…
 

Er träumte von Felix. Felix, der ihn beduselig küsste, ihm sagte, wie sehr er ihn vermisste und sich dann vor ihm auszog. Leon erwachte am nächsten Morgen mit einer ausgewachsenen Morgenlatte und verbrachte einige Zeit unter der Dusche, ehe er sein morgendliches Problem beseitig hatte. Er erinnerte sich an damals, wo er ein Rohr bekommen hatte, nur weil Felix Leons Hand auf seinen nackten Brustkorb gepatscht hatte.
 

Sicher hatte Felix gewusst, weswegen er eine Latte bekommen hatte. Peinlich… wirklich sehr peinlich. Leon fand einen klapprigen Wäscheständer von seiner Mutter, den er noch nie benutzt hatte. Meistens hatte er seine Klamotten über der Heizung trocknen lassen.
 

Nun hängte er die frisch gewaschene Wäsche auf, kam sich vor wie eine Hausfrau und machte sich dann daran, das Bad zu putzen. Er wusste, wieso er das immer vermieden hatte… Bad putzen war eine eklige Angelegenheit, mit Haaren im Ausguss und solcherlei Dingen, die er eigentlich lieber umgangen hätte.
 

Immer an Felix denken, hielt er sich vor, während er seine Dusche putzte. Jetzt wusste er zumindest, wieso er Musiker oder Notar werden wollte und kein Putzmann.
 

Wenn er an Felix dachte, ging zumindest alles etwas leichter von der Hand und als er schließlich sein Badezimmerregal von allen überflüssigen oder leeren Tuben und Flaschen befreit hatte, ließ er sich in seinen Sessel fallen und griff einigermaßen erschöpft, aber zufrieden nach dem Telefon.
 

Es dauerte keine zwei Minuten, da war das Telefonat schon wieder beendet und Leon huschte noch ein letztes Mal durch die Wohnung, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war. Er jedenfalls fand den Zustand seiner Wohnung bemerkenswert, wenn er daran dachte, wie es vorher ausgesehen hatte.
 

Als es an der Tür klingelte, konnte er nicht anders, als etwas extrem Peinliches zu tun. Er riss die Tür auf, huschte auf Socken die Treppen hinunter, bis er Felix erblickte.

»Hi«, sagte Felix lächelnd, aber er kam nicht weit, weil Leon ihn im nächsten Moment gegen die Wand des Treppenhauses schob und heftig küsste.
 

Wie hatte er das vermisst… drei Tage? Nie im Leben, es fühlte sich an wie eine ganze Ewigkeit, seit er Felix das letzte Mal gesehen und geküsst hatte. Felix schien einen Moment lang überrascht, dann lächelte er in den Kuss, schlang seine Arme um Leons Oberkörper und erwiderte den Kuss.
 

Eine ganze Weile lang standen sie da und küssten sich, bis Leon schließlich ganz zittrige Beine bekam und den Kuss schwer atmend löste.

»Hi«, erwiderte er und sah Felix an. Der grinste breit.

»Hast du mich vermisst?«, erkundigte sich Felix zärtlich und wuschelte ihm durch die Haare. Er wurde rot. Wie er es vorausgesehen hatte. Grummelnd starrte er an Felix vorbei auf die Wand.

»Ja… wie verrückt…«, murrte er undeutlich. Felix drückte ihm einen Kuss auf den Hals und griff nach seiner Hand.
 

»Ich schau mir dein Werk mal an«, sagte er scheinheilig. Leon schnaubte.

»Schau aber schnell. Ich muss noch duschen und du kommst mit!«

Felix lachte, zog ihn nach oben und stieß die Tür hinter ihnen zu.

»Ich denke, ich kann den Rundgang auf nach dem Duschen verschieben«, schnurrte er und zog sich eilig Jacke und Schuhe aus, ehe er Leon erneut umarmte, »ich hab dich nämlich auch vermisst Noel…«

Mauern

Ich wache von einem unangenehm vertrauten Geräusch auf. Es ist dämmerig im Zimmer, eine kleine Lampe brennt wie jede Nacht, weil Jana Angst im Dunkeln hat. Ich blinzele den Schlaf aus meinen Augen und setze mich auf. Es ist beschissene Routine geworden. Ein Blick auf den Wecker sagt mir, dass es viertel nach vier ist. Ich bin erst vor zwei Stunden eingeschlafen. Mir tut alles weh, als ich mich aus dem Bett quäle. Um sechs klingelt der Wecker. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bis dahin nicht mehr schlafen werde. Mit schmerzenden Gliedern und einem Stechen in den Rippen klettere ich die Leiter des Stockbettes hinauf und setze mich neben das eingerollte Bündel meiner Schwester unter der Decke. Sie weint im Schlaf. Wie fast jede Nacht.
 

Ich schließe die Augen, strecke die Hand aus und streiche ihr sachte durch die zerzausten Haare, die unter der Decke hervorgucken. Sie zuckt heftig zusammen. Wie immer, wenn irgendwer versucht, sie anzufassen. Solange sie wach ist, bin ich der einzige, der sie anrühren darf. Sonst niemand. Im Schlaf muss ihr Unterbewusstsein erst erkennen, dass ich ihr nichts tun will. Es dauert nur ein paar Sekunden, bis sie sich beruhigt. Ihr Zittern verschwindet allmählich, sie dreht sich im Schlaf auf die andere Seite und ich sehe ihr blasses Gesicht im matten Licht der Lampe, die unten auf dem Schreibtisch leuchtet. Tränenspuren haben sich auf ihren Wangen einen Weg gebahnt und sind fast getrocknet. Ihr Schluchzen hat mich aufgeweckt. Mein Schlaf ist so leicht, ich bin darauf getrimmt beim leisesten Geräusch aufzuwachen. Sei es ein Knacken im Flur, oder ein leises Schluchzen im Bett über mir.
 

Meine Augen fühlen sich winzig und meine Lider tonnenschwer an. Ich bin zu müde, um innerlich zu fluchen, und zu sehr gewöhnt daran, wenig zu schlafen, um wirklich um die zwei Stunden zu trauern, die ich eigentlich noch in meinem Bett gehabt hätte. Die letzte Nacht, in der ich mehrere Stunden durchgeschlafen habe, ist schon so lange her, dass ich mich nicht mehr dran erinnern kann. Die Wut auf alles und jeden und vor allem auf das Monster zwei Zimmer weiter wird betäubt von den Schmerzen und der Erschöpfung. Ich weiß, dass Jana sich morgen früh hundert Mal dafür entschuldigen wird, dass sie mich geweckt hat. Wie immer. Aber es ist ok, für Jana steh ich gern auf, für Jana würd’ ich versuchen nie wieder einzuschlafen. Manchmal kommt sie nachts in mein Bett wenn sie aufwacht und nicht mehr einschlafen kann. Dann starrt sie mit ihren großen Augen an die Unterseite ihres Bettes und ich weiß, dass sie Angst hat wieder einzuschlafen. Sie hat Angst vor den Träumen. Sie erzählt nie, was sie träumt, aber ich kann es mir vorstellen. Wahrscheinlich träumen wir dasselbe.
 

Meine Finger fühlen sich taub an, während sie ununterbrochen die weichen Haare streicheln. Dann wische ich vorsichtig die Tränenspuren weg. Es kommt nur selten vor, dass meine Schwester im Schlaf so friedlich aussieht wie andere Menschen. Sie lächelt viel zu selten. Lachen tut sie eigentlich nie. Wenn ich könnte, würde ich für sie die Alpträume kurz und klein schlagen, aber alles, was ich tun kann, ist, sie im Wachzustand zu beschützen. Manchmal denke ich, dass ich ein Feigling bin. Ich würde mich eher totprügeln lassen, als zu sehen, wie ihr irgendwer wehtut. Alle körperlichen Schmerzen dieser Welt können mich am Arsch lecken, solange ich weiß, dass ihr nichts passiert. Das ist egoistisch. Ein bisschen. Weil sie so sehr darunter leidet, dass ich für sie kassiere. Aber ich bin schließlich der große Bruder. Große Brüder werden geboren, um die kleinen Geschwister zu beschützen. Und ich halte das alles so lange aus, bis wir hier endlich raus können. Nur noch zwei Jahre, rede ich mir ein. Zwei Jahre noch. Wenn du bis dahin noch nicht ins Koma geprügelt wurdest, denke ich mir, dann suchst du dir einen Job und dann holst du sie hier raus. Ist ja egal wohin wir gehen, Hauptsache weg von hier.
 

Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich die beschissene zwölfte Klasse wiederholen muss. Ich weiß, dass Jana mir das nicht übel nimmt. Aber ich nehm es mir übel. Ein Jahr mehr. Aber bei all der Schlaflosigkeit und den Schmerzen hat es nicht für gute Noten gereicht. Es reicht nie für gute Noten. Ich bin froh, wenn ich das Abi überhaupt mit Hängen und Würgen schaffe. Und heute früh werd ich das erste Mal in diesen beknackten neuen Jahrgang kommen, wo ich niemanden kenne und wo ich alles noch mal machen muss. Alles. Noch ein Jahr mehr in dieser beschissenen Hölle. Wenn ich als Genie geboren worden wäre, dann hätte ich vielleicht eine Klasse überspringen können, anstatt eine zu wiederholen. Ich ertappe mich dabei mir zu wünschen, überhaupt nicht geboren worden zu sein.
 

Der Tagesablauf ist genau geplant. Jana steht um sechs auf und geht ins Bad. Danach schließt sie sich in unserem Zimmer ein und ich gehe ins Bad. Wenn ich schnell genug bin, dann bin ich fertig, bevor er aufsteht. Wir ziehen uns um, packen unseren Kram und verschwinden um viertel vor sieben, noch bevor er richtig wach ist.

»Tut mir Leid, dass du schon wieder so wenig geschlafen hast«, sagt Jana, als wir beim Bäcker unten an der Ecke sitzen – wie jeden Morgen, egal zu welcher Stunde wir Schule haben – und frühstücken.

»Kein Problem«, gebe ich zurück und bemühe mich, nicht zu müde zu klingen. Sie nimmt einen Schluck von ihrer heißen Schokolade. Genau wie ich sieht sie unheimlich müde aus. Selbst, wenn wir einen ganzen Tag Ruhe hätten, um zu schlafen… sobald wir aufstehen und in den Spiegel sehen, sind wir doch wieder nur müde. Müde, als wären wir hundert Jahre alt und bereit zu gehen.
 

»Ich wünsch dir viel Glück für deinen ersten Tag«, sagt sie lächelnd, nachdem wir uns verabschiedet haben. Die Bäckersfrau kennt uns. Manchmal kriegen wir einen Kaffee spendiert. Wir sind immer die ersten im Laden, manchmal stehen wir schon davor, bevor der Bäcker überhaupt geöffnet hat. Sie fragt nie nach, aber manchmal mustert sie uns, als hätte sie eine dumpfe Ahnung davon, wieso wir niemals zu Hause frühstücken. Nicht mal am Wochenende, wenn wir eigentlich ausschlafen könnten.
 

Ich bin noch nie so langsam zur Schule gegangen, glaub ich. Eigentlich mag ich die Schule nicht. Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, ist die Schule der Grund, wieso ich jeden Tag das Haus mit einer guten Ausrede verlassen kann. Ich wünschte nur, die beknackte Anstalt hätte mich in den scheiß dreizehnten Jahrgang gelassen.

Irgendwo auf einem Schmierzettel steht, in welchen Raum ich muss. Als erstes hab ich Politik. Ich kann Politik nicht leiden. All das inhaltslose Geschwafel ist nichts für mich. Wenn ich gekonnt hätte, hätt’ ich es abgewählt. Egal.
 

Raum 141. Ich hocke mich in die Fensterbank vor dem Raum und schließe die Augen. Gleich am ersten Tag in dem blöden neuen Jahrgang hab ich acht Stunden. Ich hab Jana gesagt, sie soll nach der Schule noch mit einer Freundin in die Stadt gehen. Soweit sie mir erzählt hat, fragt Franzi nie nach. Ihre beste Freundin. Die beiden sind noch gar nicht so lange befreundet, aber Jana erzählt viel von ihr. Mit engen Freundschaften hat sie es nicht so, weil die meisten nicht damit umgehen können, dass sie nichts von sich erzählt. Und sie finden es merkwürdig, dass sie sich nicht umarmen lässt. Franzi scheint das alles nicht zu stören. Muss ein nettes Mädchen sein.
 

Wenn ich Glück habe, lässt er uns heute in Frieden. Es wäre nicht übel, nach dem beschissenen Wochenende erstmal ein bisschen Ruhe zu haben. Mir tut immer noch alles weh. Mittwoch hab ich Sport. Eigentlich mag ich Sport, aber ich hasse die Hetzerei zur Umkleide, damit ich immer der erste bin, der sich umzieht. Die Fragen nach den blauen Flecken nerven mich und ich hab keinen Bock jede Woche eine neue Schlägerei zu erfinden. Ich höre Schritte im Gang und öffne die Augen.

Ein brauner Haarschopf, ein blasses Gesicht und grüne Augen schauen mir unsicher entgegen. Wer immer er ist, er bringt ein schüchternes Lächeln zustande, als unsere Blicke sich treffen.

»Hallo«, sagt er.

»Hi«, gebe ich matt zurück und beobachte ihn, wie er seinen Rucksack auf den Boden stellt und sich daneben hockt. Wir sind beide viel zu früh. Vielleicht hat er auch keinen Bock zu Hause zu sein?
 

»Du bist neu, oder?«

Er sieht aus, als würde es ihn alles an Mut kosten, was er hat, um mich das zu fragen. Aber gut, ich bin auch keine soziale Koryphäe.

»Ja. Weil Schule so viel Spaß macht«, gebe ich zurück. Da lächelt er wieder. Heißt wohl, dass er an Schule auch nicht besonders viel Spaß hat.

»Was für Kurse hast du gewählt?«

Seine Hände sind nervös im Schoß ineinander geschlungen. Er sieht aus, als hätte er gleich eine schwere Prüfung vor sich, von der sein Leben abhängt. Komischer Kauz.

»Geschichte, Erdkunde, Deutsch, Chemie und Englisch«, gebe ich zur Auskunft. Es war vielleicht kein cleverer Schachzug dieselben Fächer zu wählen wie letztes Jahr. Aber so bin ich wenigstens Französisch und Kunst losgeworden.
 

»Irghs. Chemie«, kommt die Antwort. Ich glaub mein Mund kann nicht mehr lächeln. Sonst würde ich es jetzt probehalber versuchen.

»Ich bin Benni«, sage ich und schließe erneut die Augen, sodass das blasse Gesicht verschwindet.

»Anjo.«

»Komischer Name«, entwischt es mir und ich hebe ein träges Lid, um zu sehen, wie die Reaktion ausfällt. Aber er lächelt schon wieder.

»Ja, schon. Passt aber ganz gut zu mir, denke ich.«

Im nächsten Moment trifft eine große Traube giggelnder Mädchen ein und wir hören auf miteinander zu reden. In Politik setze ich mich neben ihn. Wenigstens kenn ich seinen Namen. Den vergisst man auch nicht so leicht. Er lässt mich mit in sein Buch gucken, weil ich meins vergessen habe.

Als er umblättert, schaut er auf. Unsere Blicke treffen sich und er lächelt schon wieder. Diesmal nicht mehr ganz so unsicher. Diese Augen sind verflucht grün. So grün, dass man fast drin versinken könnte. Vielleicht auch nicht nur fast… vielleicht…. hat der wirklich so einen hübschen Mund, oder ist mein Gehirn einfach nur müde und komplett durchgedreht?
 

Ich beschließe, ihn den Rest der Stunde nicht mehr anzusehen. Der Gedanke an das Ende der Schule wiegt Tonnen auf meinen Schultern und auf meinen Lidern. Ich will schlafen. Es hilft nicht, dass Anjo gut riecht. Was sollen diese beschissenen Gedanken überhaupt? Was soll das, dass er in der Pause allein auf dem Schulhof hockt, die Augen zu hat und sein blasses Gesicht in die Sonne hält? Was für eine beknackte Idee war das von mir, mich neben ihn zu setzen? Für einen winzigen Moment ist die Tatsache, dass ich sitzen geblieben bin, gar nicht mehr so tragisch. Der Schmerz lässt beinahe ein bisschen nach. Drei Wochen fliegen an mir vorbei in einem Schleier aus Schlägen, Schlaflosigkeit und einem Paar grüner Augen und einem Lächeln, das den Tag jedes Mal ein bisschen rettet. Bis mir klar wird, dass mein Leben gerade dabei ist noch mehr den Bach runter zu gehen.
 

Anjo versteht nicht, wieso ich mich jetzt in der Pause nicht mehr neben ihn setze. Er fragt aber nicht danach. Er sitzt jetzt am anderen Ende des Klassenraumes und sieht mich manchmal an, als wäre ich irgendwas, das er sich zu Weihnachten gewünscht und nicht bekommen hat. Verfluchter Mistdreck. Der Abstand zu ihm hilft mir überhaupt nicht weiter. Aus Müdigkeit und Erschöpfung wird Wut darüber, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle habe. Und dass das ein Kerl ist, der Dinge mit mir anstellt, von denen er vermutlich noch nicht mal irgendwas weiß. Wieso musste ich wiederholen? Wieso musste er mich ansprechen? Mein Kopf ist voll mit Schreien und Jana und dem Erzeuger und jetzt soll ich Anjo auch noch… mögen? Mögen? Wie ich normalerweise Mädchen… Ich könnt kotzen. Ich glaub, ich dreh durch. Mal ganz abgesehen davon, dass ich keinen Nerv dazu habe, plötzlich auf einen Kerl… wie auch immer. Ich werd mich hüten und irgendwen an mich ranlassen. Richtige Freunde kann ich nicht gebrauchen. Oberflächliche Bekanntschaften haben bisher immer gereicht, aber Anjo ist eindeutig nicht der Typ für so was. Wenn er jemanden kennen lernt, dann scheint er das mit Leib und Seele zu tun. Nicht gut für mich. Oder für meine Mauer. Die soll er bitte sehr in Frieden lassen, es ist meine Welt innerhalb der Wände. Da hat er nichts zu suchen.
 

Ich bin sauer auf ihn, weil er mit seinen beknackten grünen Augen direkt in mein demoliertes Inneres zu starren scheint. Wenn er nicht bald aufhört, mich so anzugucken, dann drehe ich durch und laufe Amok. Obwohl ich mich seit Wochen bemühe so zu tun, als würde Anjo gar nicht existieren, schiebt er sich immer wieder in mein Sichtfeld. Ich kann nicht wegsehen, wenn wir im Unterricht zusammen sitzen. Ich muss hinschauen, wenn er in der Pause allein auf dem Schulhof sitzt und in irgendeinem Block herumkritzelt. Weiß der Geier was er da malt. Und es interessiert mich einen Scheißdreck, ob er gut ist in dem, was er tut. Ich bin genug damit beschäftigt darauf Acht zu geben, dass der Erzeuger Jana nichts tut und stattdessen mich verprügelt, weil er unzufrieden mit seinem beschissenen Leben ist. Jeden Tag wird das Verlangen stärker zurück zu schlagen. Ihn anzuschreien. Ihm zu zeigen, dass ich nicht mehr wehrlos bin wie damals, als unsere Ma abgehauen ist. Ich kann’s ihr nicht verübeln. Er hat sie verprügelt und ich wollte sie beschützen. Ging nicht. Ich war zu jung. Also ist sie gegangen und hat uns da gelassen. Wahrscheinlich dachte sie, er würde uns in Frieden lassen. Falsch gedacht.
 

Ich spiele all diese Sachen zum hundertsten Mal in meinem Kopf durch. Sie hat uns nicht mitgenommen, weil sie keinen Job hatte. Keine Möglichkeiten. Sie hatte nichts für uns. Dachte sie. Wenn sie wüsste, dass sie ein schmerzfreies Leben für mich und Jana hätte, eins ohne Tränen und Angst vorm Einschlafen und ohne geprellte Rippen und Krankenhausaufenthalte, ohne Einschließen im Zimmer und ohne den Wunsch, einfach nicht mehr aufzuwachen… vielleicht würde sie uns dann holen. Keine Ahnung. Würd ich das überhaupt wollen? Ob Jana das wollen würde?
 

Er geht immer auf sie los, weil sie aussieht wie unsere Mutter. Als könnte Jana was dafür, dass sie gegangen ist. Dann wird er sauer, weil ich ihn nicht zu ihr lasse. Und dann lässt er seinen Frust an mir aus. Das ist der Preis, den ich zahle, um meine kleine Schwester zu beschützen, aber ich würde es nicht anders wollen. Manchmal sagt sie zu mir, ich soll ihn lassen. Weil sie mich nicht mehr leiden sehen will. Aber das könnte ich nie. Sie ist meine beschissene Welt, mein Leben kreist um sie wie ein Satellit um die Erde und ich werd sie mir nicht von ihm weglassen nehmen. Deswegen schlage ich nie zurück. Wenn ich im Knast lande, dann ist sie allein. Oder das Jugendamt nimmt sie mir weg.

Ich bin ein Egoist. Wer weiß, ob es ihr in einer Pflegefamilie nicht viel besser gehen würde?
 

Ich mache einen riesigen Fehler, als ich nach der nächsten Sportstunde nicht sofort verschwinde. Anjo ist noch da, er zieht sich immer erst um, wenn die anderen schon weg sind. Weiß der Geier wieso. Ich hab bei ihm jedenfalls keine blauen Flecken gesehen. Als ich meine Schuhe angezogen habe und aufsehe, steht Anjo direkt vor mir und ich zucke beinahe zurück, kann mich aber gerade noch zusammen reißen. Seine grünen Augen sind die Hölle. Was starrt er mich so kläglich an?

»Bist du sauer?«

Na toll. Ich stöhne und fahre mir mit der Hand übers Gesicht.

»Nein. Ja.«, sage ich und weiche vorsichtshalber einen Schritt zurück. Zu viel Nähe ist nicht gut.

»Ja, oder nein? Hab ich was… falsch gemacht?«
 

Ich hasse diese leise Stimme. Die bohrt sich in meinen Gehörgang und lässt mich schlucken und… nervös werden? Verfluchte Drecksscheiße.

»Ja, hast du«, maule ich also und nun zuckt er zurück und schaut mich an wie ein getretener Hund. Ich will meine Zunge im Zaum halten, aber meine Kontrolle ist außerhalb der Hölle namens Wohnung nicht vorhanden.

»Ich mag dich zu sehr, klar?«

Oh. Wunderbar. Ich hasse mich und mein Leben. Aber gut. Jetzt kann er mir sagen, dass er nicht auf Kerle steht und dann werde ich sagen, dass es nur ein Witz war und dann ist alles…

»Aber wieso… ist das ein Problem?«

Ähm… hat er mich nicht verstanden?

»Ich mag… dich auch.«
 

Oh. Heilige Maria Mutter Gottes. Nein! NEIN!

»Das… ich… red keinen Stuss!«, motze ich ungehalten und stürme an ihm vorbei, um meinen Rucksack zu schnappen. Mein Herz bricht mir fast die Rippen.

Ich drehe mich zu ihm um, seine Wangen sind gerötet und ich unterdrücke den Drang, es mir anders zu überlegen. Schwul. Ts. Ich nicht. Das ist alles ein Missverständnis. Und er kann schwul sein, so viel er will. Nicht mit mir jedenfalls. Meine Mauern bilden für ihn keine Ausnahme, er soll weg bleiben von mir.

»Erwähn das… nie wieder«, grolle ich und dann verlasse ich die Umkleide.

Verfluchter Mist. Meine Mauern haben noch nie so sehr gewankt wie bei Anjo. Und allein dafür hasse ich ihn.

Verliebt

Und da haben wir auch schon den dritten :) Ich werd mir das mit Weihnachtsding noch mal durch den Kopf gehen lassen. Mitten im April ... :D

Also hier sind Felix' Gedanken, während er Leins Tagebuch liest!

Viel Spaß damit wünsche ich euch (und weil ich jetzt ins Bett gehe, gibt's heute keine Info- ENS).

Liebe Grüße,

Ur

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Er konnte an nichts Anderes mehr denken, als an ihren Kuss. Es war, als hätte das Gefühl von Leons Lippen sich auf seinen Mund tätowiert. Immer, wenn er daran dachte, kribbelte sein Mund wie verrückt und er huschte unterdrückt fluchend durch die Wohnung, unfähig, sich still hinzusetzen und sich auf irgendetwas zu konzentrieren.
 

Und dann schrieb Leon ihm mitten während der Vorlesung – auf die er sich ohnehin nicht konzentrieren konnte – dass er ihm sein Tagebuch geben wollte. Ein Tagebuch. Allein die Tatsache, dass Leon so etwas hatte, war eine wahnsinnige Entdeckung und dass er es nun auch lesen sollte… Er hatte das Handy in seinem Schoß liegen gehabt und antwortete nun hastig auf die SMS. Er konnte das nicht lesen, das war viel zu intim. Aber offensichtlich war Leon bereit zu einer Verzweiflungstat und bestand darauf… und so beschloss Felix nach der Uni zu sich nach Hause gehen, sein eigenes Tagebuch zu holen und dann erst zu Leon zu gehen.
 

Ein schwarzes Notizbuch. Leons Innenleben vor ihm ausgebreitet, auf Papier, in dieser krakeligen Handschrift festgehalten, die er schon so lange kannte und über die er schon so oft gelacht hatte. Und nun riefen die unsauber geschriebenen Worte ein Kribbeln in ihm hervor, wie er es niemals erwartet hatte. Er traute sich kaum, das Buch aufzuschlagen. Schließlich warf er einen kurzen Blick hinüber zu Leon, der direkt neben ihm lag, klappte das Buch auf und begann zu lesen.
 

Liebes Tagebuch,

Heute habe ich den neuen Gitarristen unserer Band kennen gelernt. Ich habe ihn anfangs für ein Mädchen gehalten. Er sieht wirklich kein Stück aus wie ein Mann. Ich fand ihn – oder besser gesagt sie – ziemlich scharf, also hab ich mich neben sie gestellt und gefragt, ob sie am Abend etwas vorhätte. Als sie anfing zu lachen, hab ich gestutzt.

»Nein, habe ich nicht«, hat sie gesagt und nach meiner Hand gegriffen. Ich war ziemlich verwirrt und wusste nicht, was genau das nun werden sollte. Bis sie – oder besser er – meine Hand vollkommen ungeniert in seinen Schritt gedrückt hat. Einen winzigen Moment lang dachte ich, dass SIE es wohl ziemlich nötig haben muss. Bis mir aufgefallen ist, dass sie definitiv kein Mädchen ist.

»Immer noch interessiert?«, hat er geschnurrt und sich über meinen hochroten Kopf halb totgelacht.

Aber das schlimmste daran war, dass ich SEINE Frage eigentlich mit ‚Ja’ hätte beantworten können.
 

Er musste sich ein Lachen verkneifen. Das war so lange her, aber er erinnerte sich genau daran. Das erste Treffen mit Leon. Und er fand es so niedlich, dass Leon sich so dagegen gesträubt hatte, sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Er hätte seine Frage mit Ja beantworten können… hätte er es getan, dann hätten sie nicht zweieinhalb Jahre umeinander herumschleichen müssen.
 

Er las weiter. Viele Einträge, in denen sich Leon darüber mokierte, dass er seine Homosexualität so offen zur Schau trug, dass er öfter mal hier und da, wenn sie gemeinsam mit der Band weggingen, mit einem Kerl herummachte. Er hatte immer gedacht, Leon würde ihn nicht mögen, oder seine Homosexualität abstoßend finden. Aber Leon hatte nur Abstand von ihm gehalten, weil er sich schon damals zu ihm hingezogen gefühlt hatte.
 

Felix atmete tief ein und aus, blätterte Seite um Seite und ließ seine Augen so schnell es ging über die krakelig und manchmal sehr hastig gekritzelten Zeilen huschen.
 

Ich hasse es, wie er dich ansieht. Ich hasse es, wenn er Späße über dich macht, als würdest du mit jedem in die Kiste springen. Und am allermeisten hasse ich es, dass du darauf anspringst, mit ihm flirtest, dir sogar manchmal begehrlich über die Lippen leckst, wenn er dir zu nahe kommt. Warum hast du mich noch nie so angesehen? Ich…
 

Felix stutzte einen Moment lang, weil er im ersten Moment nicht sagen konnte, was an diesem Eintrag anders war, als an denen zuvor. Aber dann erkannte er, dass Leon nun nicht mehr über ‚ihn’ schrieb. Er richtete seine Worte direkt an Felix. Felix’ Herz begann unweigerlich schneller zu schlagen und er musste lächeln.

Leon war so ein Dummkopf, dachte er.
 

Du bist anders. Ich habe versucht, dir so gut es ging aus dem Weg zu gehen, dich zu meiden, seit wir uns in der Zwölften kennen gelernt haben. Das ist nun fast 2 Jahre her. Aber jetzt, wo wir auch noch zusammen auf einer Uni gelandet sind, kann ich dir kaum noch ausweichen. Ich habe das Gefühl, du suchst meine Nähe. Aber ich kann deine Nähe nicht ertragen. Ich will mich zu keinem Mann der Welt hingezogen fühlen, egal wie weiblich er aussieht…
 

Es hätte alles so einfach sein können. Wenn Leon nur nicht so verstockt gewesen wäre…

Er las einige Zeit weiter, bis er schließlich bei einem Eintrag erneut beinahe leise lachen musste. Leon war tatsächlich kaum darin zu übertreffen, das ganz Offensichtliche zu leugnen.
 

Heute war ich das erste Mal mit dir allein. Nicht, dass ich es gewollt hätte. Aber die Anderen haben uns nun einmal dazu verdonnert, im Proberaum aufzuräumen. Es sah auch schon ganz schön beschissen aus und Nicci hasst Unordnung.

Eine halbe Stunde lang hab ich es geschafft, eisern zu schweigen. Und dann… musste ich mir ja auch den Gott verdammten Kopf stoßen.

»Alles ok?«, hast du gefragt und bist zu mir gekommen. Ich wollte nicht, dass du mich anfasst, ich wollte nicht, dass du in meine Nähe kommst. Aber du hast dich neben mich gehockt und mit den Fingerspitzen meine Stirn berührt.

Nichts auf der Welt hätte mich darauf vorbereiten können, wie es sich anfühlt, von deinen Fingerspitzen auf nackter Haut berührt zu werden. Der sentimentale Scheiß, den ich mir hier zusammen schreibe, zeigt jawohl mehr als deutlich, dass mein Gehirn immer noch vernebelt ist. Und das nur, weil du meine Stirn berührt hast. Dabei bin ich ganz anderes gewohnt!
 

‚Sentimentaler Scheiß’ schien einer von Leons Lieblingsausdrücken zu sein und Felix gluckste innerlich. Auch daran erinnerte er sich noch gut. Es war so schön gewesen. So schön, einfach mit Leon dazusitzen und mit ihm zu reden, ohne dass der andere seine Egomasche heraus hängen ließ. Felix seufzte und blätterte weiter.
 

Scheiße. SCHEIßE! Verpiss dich endlich aus meinem Leben, hörst du? Ich will nichts mit dir zu tun haben, du Gott verdammte Schwuchtel! Ich bin nicht schwul! Ich stehe auf Weiber und nicht auf Schwänze. Scheiße! Wieso musst du mich trotzdem so aus der Fassung bringen? Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Und warum um alles in der Welt musst du mich durchschauen, als wär mein Hirn aus Glas?

»Was hast du eigentlich für ein Problem mit mir?«, hast du mich angeschnauzt, als die Anderen schon weg waren. Deine Augen haben so wütend gefunkelt, ich dachte, du würdest mich gleich schlagen. Jeder Schlag wäre besser gewesen, als das, was du mir dann gesagt hast.

»Ich dachte echt, du wärst ok! Aber du bist einfach nur ein Feigling, der es nötig hat, vor Anderen den großen Macker raushängen zu lassen, oder? Kannst du dein Scheiß-Ego nicht mal für zwei Sekunden abstellen? Kannst du nicht mal der sein, der du wirklich bist?«
 

Eigentlich war ihm das damals nur heraus gerutscht. Er war so enttäuscht gewesen, weil er gedacht hatte, jetzt würde alles bergauf gehen. Er hatte gedacht, dass Leon sich nun nicht mehr so arschig ihm gegenüber verhalten würde. Aber das war ein Irrtum gewesen. Und weil Leon ihn an diesem Tag im Proberaum so umgehauen hatte… war er sauer gewesen, weil zwei Tage später davon nichts mehr da gewesen war. Fast war es ein bisschen peinlich, dass er nach einer stundenlangen Unterhaltung mit Leon schon so vernarrt in ihn gewesen war.
 

Der einzige Kerl, bei dem ich so sein kann, wie ich bin, bist du, Scheiß-Schwuchtel!
 

Felix hob die Brauen. Er wusste nicht, ob er sich über das Schimpfwort ärgern, oder ob er sich darüber freuen sollte, dass Leon bei ihm – und natürlich bei Nicci – diese Seite zeigte, die Felix so liebenswert fand.
 

Es ist November. Ich kenne dich jetzt schon ziemlich lange und du bist mir immer noch ein Rätsel. Ich hab das Gefühl, bald zu platzen, wenn ich nicht mit jemandem über dich rede. Normalerweise bin ich mit meinen Problemen immer selbst fertig geworden, manchmal vielleicht mit Niccis Hilfe. Aber dieses Problem ist jetzt schon so lang anhaltend, dass ich mich frage, ob es wirklich noch irgendwann verschwindet.

ANMERKUNG: Ich werde gleich Nicci anrufen und fragen, ob ich vorbei fahren kann. Sie hat gesagt, dass ich immer zu ihr kommen kann, wenn irgendwas ist. Es ist zwar schon sau spät, aber das stört sie sicher nicht. Nicci ist nicht der Typ Mädchen, der dümmlich kichern würde… hoffe ich jedenfalls.
 

Problem. Typisch Leon, dass er das als Problem einstufte. Als wäre die Zuneigung zu Felix eine Art Krankheit. Wie hatte er sich nur jemals in so einen riesigen Deppen verlieben können? Beinahe hätte er über sich selbst gelacht, weil er so verrückt nach Leon war.
 

Ich werd dich schon aus meinem Kopf bekommen… Da kannst du Gift drauf nehmen, Arschloch!
 

Felix fuhr sich durch die Haare und lächelte leicht. Leons Vorhaben hatte nicht geklappt. Ganz eindeutig nicht. Aber er war froh darüber. Froh, dass er selbst nicht der Einzige war, dessen Gefühle über die Jahre nicht abgenommen hatten. Ganz im Gegenteil. Am Anfang war er ein wenig verknallt gewesen. Dann verliebt bis über beide Ohren. Und dann… Leon war der Punkt, um den sein Leben sich drehte. Ihm fielen lauter bescheuerte Metaphern ein, um Leons Platz in seinem Leben zu beschreiben. Allerdings wollte er diese Gedanken nicht weiter ausführen. Es war immer noch Lesen angesagt.
 

Er las weiter. Einträge über Christian. Darüber, wie Leon Christian am liebsten um die Ecke bringen wollte, weil er so verdammt eifersüchtig auf den anderen war. Er las den Eintrag von dem Tag, als er Christian das erste Mal direkt vor Leons Augen geküsst hatte und seufzte leise. Wenn er es so las, tat es ihm Leid, Leon so provoziert zu haben.
 

Wieso kann es mir nicht egal sein? Das Bild klebt in meinem Kopf wie eines von Niccis verdammten Postern. Ich hasse das. Ich hasse ihn. Ich hasse dich, weil ich dich nicht hassen kann. Verfluchte Scheiße. Ich will ihn zusammen schlagen. Ich werde einfach alle 20 Methoden nacheinander anwenden. Wieso küsst du ihn und mich nicht? Und wieso will ich, dass du mich küsst?

Er soll dir nicht an den Arsch packen. Er soll dich auch nicht ansehen. Mein Gott, was ist nur los mit mir… Wie komm ich weg von diesem ganzen Gefühlsscheiß? Sag’s mir…wie kann ich mein Herz dazu zwingen, damit aufzuhören? Es soll aufhören… es tut weh…
 

Dass Leon sich tatsächlich überhaupt nicht im Klaren darüber gewesen war, was all diese Eifersucht und die Zuneigung bedeuten sollten… Er hatte ja immer gewusst, dass Leon schwer von Begriff war. Aber so schwer?
 

Felix starrte den Eintrag an und kaute auf seiner Unterlippe herum. Draußen war es mittlerweile vollkommen dunkel. Er merkte, dass Leon ihn immer wieder von der Seite ansah, doch er erwiderte die Blicke besser nicht, sonst würde er sich augenblicklich auf den anderen stürzen und ihn besinnungslos knutschen.
 

Als er weiter las, musste er lachen. Leon, der sich vornahm, einen Arzt aufzusuchen, weil er ‚Lampenfieber’ hatte. Felix erinnerte sich noch an den Tag, als er eigentlich sauer auf Leon gewesen war… und dann hatten sie zusammen einen Porno angeschaut und Leon war einfach so niedlich gewesen, dass er nicht mehr hatte sauer sein können. Sein Herz klopfte die ganze Zeit ungehörig schnell und Felix hoffte, dass es sich bald beruhigen würde. Ein so dauerhaft klopfendes Herz war anstrengend.
 

Er wusste noch genau, dass er Leon damals gesagt hatte, dass er ja vielleicht mal irgendwann mit ihm schlafen wollte. Leons Gesichtsausdruck war das Tüpfelchen auf dem I gewesen, nachdem Felix ihm schon angeboten hatte, ihm etwas vorzustöhnen. Wie lange dachte er nun schon darüber nach, mit Leon zu schlafen? Ewig lange. Die Vorstellung machte ihn jedes Mal ganz kribbelig. Aber er sollte jetzt nicht allzu genau darüber nachdenken. Sonst hätte er wohlmöglich ein Problem.
 

Du bist tatsächlich geblieben. Ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt mit mir redest, nachdem du gestern so sauer gewirkt hast. Jetzt liegst du auf der Couch. Ich will das eigentlich nicht schreiben, aber da es ja ohnehin keiner liest, ist es auch egal. Du siehst verdammt und Scheiße noch mal so schön aus. Wenn du eine Frau wärst, wär’ das alles viel einfacher. Dann würde ich dir vielleicht sagen, dass du schön bist. Aber so… ich bin schließlich keine Schwuchtel.

Der Tag war merkwürdig. Aufräumen… Porno-Schauen. Mit dir über Sex reden. Egal, was du sagst oder tust, ich hab immer das Gefühl, dass da mehr hinter steckt, als hätte jede Handlung ’ne tiefere Bedeutung. Die ich natürlich nicht peile. Aber was soll’s.

Ich könnt mich wirklich dran gewöhnen, öfter mal mit dir allein zu sein. Aber das werd ich dir sicher nicht sagen. Nachher stellst du wieder so komische Fragen… z.B. ob ich eifersüchtig bin. Bin ich natürlich… aber das sollst du als Letzter auf diesem beknackten Planeten wissen. Da bleibt noch die Frage, wieso du so merkwürdig reagiert hast, als ich meinte, dass ich noch nie verliebt war. Ist halt so. Auch in dich nicht. Kein Stück. Das ist lediglich – wenn auch unpassendes – sexuelles Interesse. Und na ja… ich kann dich schon gut leiden. So wie Lara eben. Oder so… auch wenn ich bei der nicht eifersüchtig bin… Wie auch immer, ich hab nicht vor, diese ganze Gefühlsduselei zu vertiefen. Wäre ja noch schöner. Ich sollte einfach ins Bett gehen. Und am besten nicht darüber nachdenken, wie es wohl geklungen hätte, wenn du mir dein Stöhnen demonstriert hättest…
 

Felix beschloss, Leon dringend das Wort Schwuchtel abzugewöhnen. Sein Herz hämmerte so doll, es war albern. Aber er musste zittrig lächeln angesichts der Tatsache, dass Leon geschrieben hatte, dass er ihn schön fand. Schön war so ein Wort… nicht hübsch oder gut aussehend oder geil. Nein. Schön.
 

Und egal wie Leon es wohl gemeint haben mochte, Felix’ Definition von ‚schön’ ging über das Äußere eines Menschen hinaus. ‚Schön’ war ein allumfassendes Wort für jemanden, den man mitsamt seinen Macken kannte, hinnahm und liebte. Liebte… auf die eine oder auf die andere Art und Weise.

Er atmete einige Male tief durch und hob das Buch dann wieder vor seine Augen.
 

Ich hab dich nach Hause gefahren. Den Schock am Morgen hab ich immer noch nicht wirklich verdaut. Verdammt, was legst du dich auf mein Bett? Ich hab dir die Decke doch nicht einfach so gegeben. Ich kann so was aushalten. Bin immerhin nicht so zart besaitet wie manch Anderer. Aber nein… und dann bekomm ich auch noch ein Rohr davon, dass du mir meine Hände auf deine Brust klatschst. Weißt du eigentlich, was du mit solchen Aktionen anstellst? Wohl kaum… Ich kenn dich ja, du stehst auf jedes männliche, gut aussehende Drecks- Wesen auf der Welt, nur nicht auf mich. Nicht, dass mich das stören würde… Wär’ ja noch schöner.

Aber jetzt, wo du weg bist, hör ich dein Lachen immer noch. Ehrlich, ich hasse das. Vielleicht sollte ich in Erwägung ziehen, mir einen Therapeuten zu suchen.
 

Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen wollte. Wenn Leon nur gewusst hätte, dass ER das verdammt noch mal einzige männliche Wesen unter der Sonne war, das Felix wirklich interessierte… und er hatte tatsächlich genau das Gegenteil gedacht. Dass Felix an allen interessiert war. Nur an Leon nicht. Es war irgendwie ziemlich schmeichelhaft – und zugegebener Maßen witzig – dass Leon ein Rohr bekommen hatte, nur weil er Felix’ nackten Oberkörper unter den Fingern gespürt hatte.
 

Er vermisste Leon in diesem Moment so sehr, obwohl der andere direkt neben ihm lag… Er könnte sich einfach umdrehen und ihn endlich zu küssen, ihn in den Arm nehmen… Er wollte endlich mit ihm zusammen sein, er wartete schon so verdammt lange darauf! Aber nein. Beherrschung war bisher immer seine Stärke gewesen und er würde erst dieses Tagebuch durchlesen.
 

Wieso um alles in der Welt fühlt es sich so scheiße an, von dir ‚Leon’ genannt zu werden? VERDAMMT! Es ist, als würde ich darauf warten, dass du vor meiner Tür auftauchst und mich wieder ‚Noel’ nennst. Weil du der einzige verfluchte Mensch bist, der mich so nennen darf… Ich würd am liebsten irgendwas kaputt schlagen. Nach der Szene ist die Party echt gelaufen für mich. Nicci war zwar traurig, aber ich bin trotzdem nach Hause gegangen. Ich bin sauer auf mich selbst. Warum gehen diese Gefühle denn nicht einfach weg, sondern werden immer schlimmer? Und wieso will ich deine Stimme hören, die ‚Noel’ sagt? Und warum zum Teufel wünsche ich mir, du wärst hier und alles wäre in Ordnung? Was soll das für ein beschissenes Gefühl sein? Wenn ich jetzt Nicci anrufen würde und ihr das Gefühl erkläre, was würde sie sagen? Ich kann’s mir fast denken. Ich hör ihr Seufzen in meinem Ohr und dann so was wie ‚Ich weiß, dass du das sicher nicht hören willst, Leo. Aber… ich glaub du vermisst ihn!’

NA TOLL! Scheiße! Ich vermisse dich? Hallo? Was soll der Mist? Ich hab noch nie etwas vermisst… höchstens mal als Kind meine Ma oder so’n Scheiß. Aber du bist nicht meine Ma und ich bin kein Kind mehr. Ich HASSE das alles… Und was will der dämliche Gorilla eigentlich von mir? Drei Monate? Als wäre das ein Wettbewerb! Und was weiß der schon? Nichts weiß er!
 

Felix fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und seufzte erneut, dann schluckte er. Ja… er war der einzige Mensch, der Leon ‚Noel’ nennen durfte. Und er fand es niedlich, dass Leon die Tatsache, dass Felix ihn so nannte, so sehr herbeigesehnt hatte. Weil er genau gewusst hatte, dass dieser Name etwas Zärtliches in sich barg. Ob er es nun so interpretiert hatte, oder nicht. Manchmal bemerkte Leon Dinge, ohne zu verstehen, dass er sie bemerkt hatte. Felix gluckste leise über den Vergleich mit Leons Mutter. Die Sache mit dem Deal ignorierte er gekonnt. Er hatte mit Leon abgemacht über nichts in diesem Tagebuch mit ihm zu reden und er konnte ja stattdessen Christian darauf ansprechen.
 

Und da war der Eintrag, nachdem Felix Leon hatte mithören lassen, dass Christian ihm angeblich einen geblasen hatte.

Er schluckte und starrte auf die Seite. Sein Herz hämmerte wie verrückt und alles in ihm kribbelte unablässig wie ein überdimensionaler Ameisenhaufen.
 

Wenn ich ihn das nächste Mal in die Finger bekomme, dann reiße ich ihm jede Gliedmaße einzeln heraus. Ich werd ihn so zurichten, dass nicht mal mehr seine Mutter ihn erkennt. Ich hasse ihn! Wieso lässt er nicht seine Finger von dir? Wieso lässt nicht einfach alle Welt die Finger von dir…

Ich will, dass du mir gehörst…

Ich will… mit dir zusammen sein…

Scheiße… ich bin…

…in dich… verliebt…
 

Da waren sie. Die fünf Worte. Ausgelöst durch die Tatsache, dass er diese Blow- Job Geschichte mit Christian erfunden hatte. In diesem Moment freute sich Felix ungeheuerlich, dass er das damals getan hatte. Natürlich war das irgendwie gemein, aber er konnte kaum ein strahlendes Grinsen unterdrücken, als er die Worte immer und immer wieder las. Er wollte platzen vor Freude. Oder noch besser, er wollte Leon nehmen und ihn stundenlang in Grund und Boden knutschen.
 

Ich hab es Nicci erzählt und sie meint, ich soll mit dir darüber reden. Aber ich kann dir das nicht sagen. Ich… hab Schiss vor der Antwort…
 

Felix seufzte lächelnd.

Er riskierte einen verstohlenen Seitenblick hinüber zu Leon, der ebenfalls ziemlich konzentriert las und sich offenkundig ziemlich damit beeilte. Felix schmunzelte verhalten und machte sich dann ans Weiterlesen.
 

Dir das Handy zu bringen, war meine beste Idee innerhalb mehrerer Monate… Dieses Mal hab ich nur einen kleinen Herzinfarkt bekommen, als ich aufgewacht bin und du neben mir lagst. Und dieses Mal war ich vor dir wach. Mir ist nur wieder aufgefallen wie verdammt schön du bist. Der Tag war so scheiße und dann komm ich abends zu dir und kaum lächelst du mich an und nennst mich Noel, ist meine verfluchte Welt wieder in Ordnung. Ich bin stimmungsabhängig von dir geworden. Aber irgendwie kotzt es mich nicht mehr so an wie früher. Langsam aber sicher finde ich mich damit ab… dass ich verliebt bin. Aber damit umgehen kann ich immer noch nicht. Wenn du mir so nahe bist, dann krieg ich jedes Mal die Krise. Und wenn du mich so ansiehst, geht mir das durch und durch… Was sollte dieser Blick bedeuten, huh? Wenn ich Nicci wäre, dann wüsste ich das sicher… Der werd ich das mit der Badewanne nicht erzählen. Muss ja keiner wissen… Wieso hab ich’s nicht einfach gesagt? Vielleicht würde es mir danach ja wirklich besser gehen? Ich kenn mich mit diesem ganzen Liebes- Scheiß ja nicht aus. Aber wenn Nicci das sagt, stimmt’s sicherlich…

Nett von dir, dass du mich nach Hause gefahren hast. Es hört gar nicht mehr auf zu regnen und ich hab Halsschmerzen. Schöne Scheiße, jetzt werd ich auch noch krank! Und wenn ich krank werde, dann kann ich nicht zur Bandprobe und dann kann ich dich nicht sehen…

Jetzt sollte ich mich unter der Dusche ertränken gehen, oder mich vom Balkon stürzen, dafür, dass ich das hier alles geschrieben habe… Man… was machst du eigentlich mit mir?
 

Dieser Abend war einer der schönsten gewesen, die er überhaupt je mit Leon verbracht hatte. Er wusste noch, wie zwiegespalten er gewesen war, als er Leon pitschnass vor seiner Tür hatte stehen sehen. Aber wie hätte er noch weiterhin sauer sein können? Und dann hatte er Leon zum ersten Mal nackt gesehen. Bei dem Gedanken musste er schon wieder schmunzeln. Er hätte nichts dagegen, Leon noch sehr oft nackt zu sehen. Er ermahnte sich, nicht die ganze Zeit darüber nachzudenken. Er musste lesen…
 

Er las die Einträge von Leons Grippe, dass Leon ihn vermisste und dass er sich deswegen am meisten darüber ärgerte, dass er krank war. Felix’ Grinsen war so breit, dass ihm bald schon die Wangen wehtaten. Er konnte nichts dagegen machen, er war so glücklich, dass er dieses dümmlich- verträumte Dauergrinsen nicht aus seinem Gesicht bekam.
 

Felix las weiter. Leons Ärger darüber, dass er seine Zähne nicht auseinander bekam. Dass er es Felix sagen wollte, aber es einfach nicht hinbekam. Dass er glaubte, vor lauter Verliebtheit zu platzen. Felix wollte sich am liebsten die ganze Zeit durchs Bett wälzen, aber er wollte wenigstens ein bisschen würde bewahren.
 

Nicci hat die Vermutung geäußert, dass du vielleicht in mich verliebt warst. Oder immer noch bist. Ich will das so gern glauben… ich will’s dir endlich sagen, aber ich kann nicht… wenn du wirklich verliebt bist in mich, was ich kaum zu hoffen wage – Herrgott ich labere schon wieder einen sentimentalen Scheiß – dann… wieso… wieso sagst DU dann nichts? Du weißt doch, dass ich schlecht in solchen Sachen bin… bist du vielleicht wirklich auch ein kleines bisschen verliebt in mich?
 

Felix seufzte. Er kam sich vor, wie ein verliebtes Schulmädchen. Aber was machte das schon. Es konnte ihn ohnehin niemand sehen außer Leon und er strahlte das Tagebuch wieder an, als wäre es Leon höchstpersönlich. Der sah schließlich auch nicht viel besser aus als er selbst.

Ja, und WIE er verliebt war. Nicht nur ein kleines bisschen. Ein riesiges bisschen. Sein Herz hämmerte immer noch wie verrückt.
 

Nach Niccis Vermutung, dass du eventuell in mich verliebt sein könntest, habe ich ein wenig auf dein Verhalten gegenüber mir geachtet. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass Nicci sich geirrt hat. Du benimmst dich mir gegenüber ganz normal. Ich weiß nicht, wo Nicci da irgendwelche Zeichen sieht. Ich hasse mein Leben.
 

Felix verkniff sich ein Lachen. Leon war toll. Viel zu toll. Manchmal wusste er ganz genau, wieso er ihn so toll fand. Manchmal wusste er es nicht. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass Leon für ihn der tollste Mensch unter der Sonne war.
 

Ich fahr jetzt zu dir und helfe dir beim Wohnungsputz. Kaum zu fassen, dass ich das freiwillig tue. Aber was macht man nicht alles, um in deiner Nähe zu sein. Herrgott, ich bin ein Idiot. Und rede gefälligst nie wieder mit dieser komischen Stimme mit mir! Die bringt mich durcheinander… außerdem krieg ich bald ’nen Herzstillstand, wenn du so weiter machst. Du wirkst so anhänglich… Ich kann’s kaum ertragen, dich nicht küssen zu dürfen. Und so was von mir, wo ich doch sonst immer nur an Sex interessiert bin.
 

Felix biss sich auf die Unterlippe. Er konnte das überdimensionale Grinsen einfach nicht unterdrücken. Vielleicht sollte er sich den Mund zu tackern.

Leon war so schrecklich niedlich. Und er wusste es nicht mal. Und er dachte nicht an Sex. Zugegebener Maßen war das wirklich ungewöhnlich, aber gleichzeitig fand Felix es so toll, dass er am liebsten das Fenster aufgerissen und es in die Nacht hinaus geschrieen hätte. Seine Augen wurden langsam müde, aber er konnte ohnehin nicht schlafen. Sein Hirn war zu wach und sein Herz vollführte immer noch diesen halsbrecherischen Trommelwirbel. Außerdem lag Leon neben ihm und er wollte ihn unbedingt noch mindestens drei Stunden lang küssen, bevor er überhaupt schlafen ging.
 

Du hast mich geküsst. Ich fühle deine Lippen immer noch. Mein Herz fängt jedes Mal an wie wild zu klopfen, wenn ich die Augen zumach und daran denke. Verliebt… das ist schon gar kein Ausdruck mehr.

Immerhin… Du bekommst mein Tagebuch. Und ich hoffe, dass du mich wegen den ganzen bescheuerten Einträgen nicht hassen wirst. Aber ich krieg meine Zähne nicht auseinander… Ich bin total fertig mit der Welt.
 

Wie sollte er Leon hassen, wo doch selbst in den bescheuerten Einträgen so viel Gefühl steckte, dass es schon wieder niedlich war? Felix spürte, wie sein Körper immer unruhiger wurde.

Seine Hände zitterten, sein ganzer Körper fühlte sich an, als würde er sich jeden Moment auflösen wie eine übergroße Brausetablette in Wasser.

Er wollte ihn umarmen, ihn küssen, ihn endlich für sich haben und ihm sagen, wie sehr er das alles herbeigesehnt hatte… er würde sicher gleich explodieren vor lauter Liebe.

Als er umblätterte, sah er den letzten Eintrag, der dieses Mal direkt an ihn gerichtet war. Er atmete einige Male tief ein und aus und las dann.
 

Lieber Felix,
 

das ist der erste Eintrag, den ich bewusst an dich schreibe, und von dem ich weiß, dass du ihn bald lesen wirst. Du kennst mich besser als die meisten Menschen und weißt deswegen ja auch, dass ich ein Idiot bin, der mit seinen Gefühlen nicht umgehen kann… und ausdrücken kann ich mich auch nicht wirklich.

Ich hab dich am Anfang wirklich verabscheut. Weil ich dich toll fand, obwohl du ein Kerl bist. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis ich das endlich akzeptiert hab. Und als ich endlich kapiert hab, dass ich total verschossen in dich bin, da hatte ich Schiss, es dir zu sagen. Und jetzt wird es langsam Zeit, weil ich mir nicht mehr vorstellen kann, ohne dich zu sein. Ich kann kaum glauben, dass ich diesen ganzen sentimentalen Scheiß hier schreibe… das passt nicht zu mir. Aber du bist der Einzige, der so was aus mir rauskitzeln kann. Deswegen wollte ich dir noch ein letztes Mal schreiben, bevor ich dir das hier in die Hand drücke.

Ganz ehrlich und so wie es eben ist:

Ich bin in dich verliebt.
 

dein Leon
 

Da war er. Der Eintrag. Das Ende ihres langen Weges und der Anfang von etwas, das Felix die Lippen aufeinander pressen und zittrig aufseufzen ließ.

Er las den Eintrag noch mal. Und noch mal. Bestimmt zehn Mal las er die Worte, lachte leise über das durchgestrichene ‚dein’ und starrte das ‚Ich bin in dich verliebt’ so gebannt an, als erwartete er, es würde gleich verschwinden. Dann klappte er das schwarze Notizbuch schließlich zu, drehte sich auf die Seite und wartete darauf, dass Leon endlich fertig gelesen hatte.
 

Endlich hob Leon den Kopf und klappte das Tagebuch zu. Sie sahen sich einen Moment lang an.

»Jetzt muss ich dich erstmal umarmen«, nuschelte Felix leise, rutschte zu Leon hinüber und schmiegte sich an ihn. Sein Herz explodierte fast vor lauter Freude. Endlich, dachte er sich und vergrub sein Gesicht an Leons Hals, endlich hatten sie einander.

Kein Träumer

Fabian ist kein Träumer. Das war er noch nie. Er ist das, was die Leute einen ›Nerd‹ nennen, und wenn man es oft genug gehört hat, dann nennt man sich irgendwann selbst so. Nicht, dass Fabian irgendwas dagegen gehabt hätte, als Nerd bezeichnet zu werden. Letztendlich kommt das Wort aus der englischen Bezeichnung Knurd. Drunk. Nur rückwärts. Für Leute, die keinen Alkohol trinken. Natürlich benutzen die Menschen, die Fabian einen Nerd nennen, diesen Begriff nicht deswegen, weil er sehr selten Alkohol trinkt. Es ist wegen seiner herausragenden Computerkenntnisse und seiner Brille und damals in der Schule war es wegen seiner Hochwasserhosen und weil er Star Wars mochte. Star Wars mag er immer noch. Er ist noch sehr viel besser mit Computern geworden seit damals und mittlerweile verdient er damit sogar eine Stange Geld. Er trägt zugegebenermaßen keine Hochwasserhosen mehr und manchmal tauscht er seine Brille gegen Kontaktlinsen. Aber er ist immer noch derselbe Fabian wie damals. Derselbe Nerd wie damals mit sechzehn, als er sich unrettbar in ein Mädchen vollkommen außerhalb seiner Liga verguckt hat.
 

Ihr Name war Sina und sie war eines von diesen Mädchen… na ja. Eigentlich nicht. Es gibt diese netten Mädchen, die mit jedem befreundet sein wollen und zu jedem nett sind, weil es zum Image gehört. Nebenbei sehen sie auch noch ganz gut aus. Sina wurde von allen Mädchen gehasst und von allen Jungs angehimmelt. Sie war nie zu jedem nett und sie wollte nie von jedem gemocht werden. Und sie sah verteufelt gut aus. So gut, dass man fast glauben konnte, dass sie nicht von dieser Welt war. Sie hatte diese wahnsinnig vollen Lippen und diese stechenden, funkelnden Augen. Und blasse, makellose Haut. Und rotbraune Locken. Fabian ist immer noch der festen Überzeugung, dass er noch nie in seinem Leben ein hübscheres Mädchen gesehen hat als Sina. Sein jüngerer Bruder schwört auf Megan Fox, aber so sehr Fabian auch versucht, irgendeine übermäßig geschminkte Hollywood-Schauspielerin schärfer zu finden, als Sina… es funktioniert nie. Und es hat auch damals mit sechzehn nicht funktioniert, als er versucht hat sich einzureden, dass seine ungesunde Hingabe für dieses Mädchen komplett übertrieben ist.
 

Sina war damals entweder allein in der Schule unterwegs oder sie war von einer Traube Jungs umgeben. Fabian hat sie so oft beobachtet, dass er sie in- und auswendig kannte. Sie hat den Kopf immer ein bisschen höher gehalten als nötig, so als wollte sie der Welt zeigen, dass sie sie mal am Arsch lecken kann. Aber Sina hat nie ihre Gefühle versteckt. Wenn sie jemanden nicht mochte, dann hat sie das gezeigt. Wenn sie schlecht drauf war, dann hat sie nicht künstlich gelächelt. Egal wie sehr die anderen Mädchen sie auch als gekünstelt und gewollt und übertrieben bezeichnet haben, Sina war die ehrlichste Haut in Fabians gesamter Schulzeit. Natürlich konnte er ihr das nie sagen. Wie beeindruckend er sie fand. Und immer noch findet, wenn er es recht bedenkt.
 

Er hat gemerkt, dass diese Sache zwischen den Mädchen im Jahrgang und Sina sich ziemlich unglücklich entwickelt hat, aber dass es so schlimm war… das hat er nie kommen sehen. Erst als Sina anderthalb Wochen nicht zur Schule gekommen ist und einige Mädchen darüber getuschelt haben, dass sie hoffentlich die Schule wechseln würde und dass sie die Finger von Maximilian lassen sollte – einem ziemlich gutaussehenden Typen aus zwei Jahrgängen über ihnen – da war ihm klar geworden, dass Sina nicht einfach nur krank war. Und die Vorstellung, dass er sie nie wieder sehen würde, hat sich schrecklich angefühlt. Wenn er heute darauf zurück blickt, dann fragt er sich gerne, was passiert wäre, wenn er sich getraut hätte, Sina anzusprechen. Wahrscheinlich nichts. Sie hätte ihm klar gemacht, – ehrlich wie sie ist – dass sie nicht interessiert ist und dann wäre er wieder unsichtbar für sie geworden.

Als Sina zurück zur Schule kam, war das eine Mischung aus Entsetzung und unverhohlener Bewunderung, die Fabian erfahren hat. Ihr hübsches Gesicht war zwar unverändert wunderbar, aber die blauen Flecken und die Schürfwunden und die aufgeplatzte Lippe waren noch nicht ganz geheilt. Und man hatte ihr die Haare abgeschnitten. Sehr kurz. Lauter Getuschel ist ihr den Gang entlang gefolgt und Sina ist trotzdem durch die Schule geschritten als wäre sie die Königin des Jahrgangs. Für Fabian ist sie das ohnehin schon gewesen. Aber auch nach diesem offensichtlichen Versuch der Mädchen, Sina hässlicher aussehen zu lassen… Fabian konnte nicht umhin, sie noch umwerfender zu finden. Soweit Fabian weiß, hat Sina keinem der Jungs je gesagt, wer die Mädchen waren, die das getan haben. Einmal hat er sie zu Dennis sagen hören: »Ist doch egal.«
 

Diese Mädchen, die das getan haben, haben nichts gewonnen. Die Jungs fanden sie auch mit abgeraspelten Haaren und aufgeplatzter Lippe noch interessant. Wenn auch aus anderen Gründen als Fabian. Denkt er sich zumindest. Fast drei Jahre lang ist er Sinas Schatten, ohne dass sie davon weiß. Weil ihm klar ist, dass sie viel größer ist als er. Nicht körperlich gesehen, natürlich. Aber sie ist einfach außerhalb seiner Reichweite. Sie ist außerhalb jeder Reichweite, denkt er sich. Egal mit wie vielen Jungs sie knutscht oder redet oder lacht, keiner von denen ist das, was sie wirklich möchte. Das sieht er ihr an. Aber sie wäre schrecklich einsam, wenn sie die Gesellschaft der Jungs nicht hätte und sie zahlt es den Mädchen heim, die sie verprügelt haben, indem sie genauso weiter macht wie vorher.
 

Selbst nachdem sie ihr Abi in der Tasche haben und nachdem Sina auf dem Abiball das schönste Mädchen von allen ist und nachdem Fabian sich sicher ist, dass er sie nie wieder sehen wird… selbst da ist er sich noch sicher, dass er wahrscheinlich nie ein Mädchen finden wird, das Sina ebenbürtig sein kann. Das ist dumm und das weiß er auch. Aber seit Fabian gesehen hat, wie stark Sina ist, hat er sich viel besser mit sich selbst gefühlt. Sie hat ihm gezeigt, dass er sich nicht unterkriegen lassen sollte von diesen Leuten, die ihn in eine Schublade stecken und ihn meiden und ihn lächerlich finden. Nachdem er Sina das letzte Mal gesehen hat, hat er sich vorgenommen nicht zu träumen. Er ist schließlich kein Träumer. Sina wird nie auf einem Jahrgangstreffen auftauchen, wahrscheinlich geht sie in eine andere Stadt und er wird sie niemals wieder sehen. Und alles andere wäre verkehrte Hoffnung und Träumerei. Und das liegt ihm nicht. Kein bisschen. Aber Fabian muss sich unweigerlich eingestehen, dass Sina ihn doch verändert hat. Sie hat ihn nicht nur stärker gemacht. Sondern auch zum Träumer.
 

*
 

Sina hat ihn mehr zum Träumer gemacht, als Fabian ursprünglich gedacht hat. Er jagt immer noch einer Illusion nach. Einer ziemlich peinlichen, um genau zu sein. Diese Illusion beinhaltet das absolut unwahrscheinliche Szenario, dass Sina doch einmal auf einem Jahrgangstreffen auftaucht. Sie muss ja gar nicht mit ihm reden, er würde wahrscheinlich ohnehin kein Wort rausbekommen. Und sie würde sich garantiert nicht an ihn erinnern. Aber einfach zu sehen, ob es ihr gut geht und wie sie sich gemacht hat… und vielleicht ein oder zwei Gesprächsfetzen darüber mit anhören, was sie jetzt macht. Wahrscheinlich hat sie einen Sportler als Freund, der sie im Sommer mit zum Segeln nimmt, und… er sollte wirklich nicht nach sechs Jahren immer noch über Sina nachdenken, in denen sie sich nicht gesehen haben. Fabian weigert sich zuzugeben, dass er immer noch eine Schwäche für Sina hat. Und das nach neun Jahren unerwiderter Begeisterung. Er ist wirklich ein Nerd. Ein ganz schlimmer. Vielleicht ist er tief drinnen sogar psychisch gestört, ein Stalker, ein… Fabian seufzt und starrt in den Spiegel.
 

Seine hellbraunen Haare sind mittlerweile zu lang. Er ist zu faul gewesen, um sich ordentlich zu rasieren und hat einige Dreitagestoppeln am Kinn. Seine Augen sind wie immer langweilig, wässrig blaugrau. Wenn er es recht bedenkt, dann sind seine Haare auch eigentlich gar nicht hellbraun. Sondern hellbraunblondgräulich. Undefinierbar. Seine Jeans ist ziemlich ausgeleiert, aber immerhin reicht sie bis hinunter zu seinen Chucks. Seine Freunde bei der Arbeit haben Witzchen gerissen, dass diese Schuhe wohl sein Versuch sind, ein wenig mehr Mainstream zu werden. Eigentlich mag Fabian diese Dinger einfach nur und sie passen ihm so gut wie sonst keine Schuhe. Immerhin sind sie grau, denkt er ein wenig zynisch, das passt bestens. Er hat seine Brille gegen die Kontaktlinsen getauscht und zupft kurz an seinem dunkelblauen, kurzärmligen Hemd. Dann seufzt er und macht sich auf den Weg in den merkwürdigen Schuppen, in dem sie sich heute zum Jahrgangstreffen verabredet haben. Zeitverschwendung, wirklich.
 

Fabian will eigentlich niemanden von den Leuten sehen, die dort hingehen. Seine wenigen Freunde aus der Schule kennt er heute immer noch, zwei von ihnen arbeiten sogar mit ihm zusammen. Die kann er immer sehen, wenn er Lust hat, und es hilft ja nichts, sich etwas vorzumachen… er geht wegen Sina da hin. Wegen einer Sina-Illusion. Denn Sina ist in den letzten vier Jahren nicht gekommen, wieso sollte sie also diesmal erscheinen?

Es ist wie die letzten Jahre auch. Von hundert Leuten sind etwa vierzig Stück gekommen. Und diese vierzig sind vor allem die, die damals so etwas wie die Jahrgangselite gewesen sind. Die, die auf jeder Party waren, die Netten, die Beliebten. Fabian ist dementsprechend vollkommen fehl am Platz. Die einzigen zwei Leute, die nicht ins Schema passen, sind Kerstin und Caro.
 

Kerstin war schon damals während der Schulzeit offen lesbisch und dementsprechend oftmals Gesprächsstoff. Fabian hat überhaupt nichts gegen Homosexuelle, er ist nur ziemlich verwundert, dass Caro und Kerstin Händchen halten. Caro war nie geoutet. Aber als er die beiden fragt, ob er sich zu ihnen setzen darf, sieht er den Ring an Caros Finger und fragt vorsichtig nach, ob sie verlobt ist. Es stellt sich heraus, dass Caro tatsächlich mit Kerstin verlobt ist und dass die beiden mittlerweile seit drei Jahren zusammen sind. Offiziell ist es aber erst seit ein paar Monaten, weil Caros Familie ziemlich katholisch ist. Fabian ist froh, dass er sich mit Caro und Kerstin unterhalten kann. Die beiden sind tatsächlich nur hier, weil sie den Rest der ›Elite‹ ein bisschen schocken wollten. Und dann… nunja. Dann fragen sie natürlich.

»Und wie kommt’s, dass du hier bist?«, will Caro neugierig wissen. Fabian spürt, wie er rot anläuft und Kerstin und Caro wechseln einen gespannten Blick.
 

»Ähm…«
 

Es ist ihm peinlich den beiden zu erklären, dass er seit fünf Jahren darauf wartet, dass Sina auf einem ihrer Treffen auftaucht. Einfach um damit abzuschließen, was er damals für sie empfunden hat. Fabian ist erwachsen, es ist ja nicht so, als würde er sich tatsächlich Hoffnungen machen…

»Wow«, kommt es in diesem Moment von Kerstin und Fabian will sich schon darüber freuen, dass er die Frage nicht beantworten muss. Sein Blick folgt dem von Kerstin und die Luft scheint plötzlich zu beschließen, dass seine Lungen nicht mehr gut genug für sie sind. Fabian kneift sich unter dem Tisch unauffällig in den Oberschenkel, aber er spürt den Schmerz sehr deutlich. Er ist wach. Er träumt nicht.
 

Sina sieht umwerfend aus. Natürlich sieht sie das. Aber sie ist nicht mehr achtzehn wie damals in der Schule. Sie ist jetzt fünfundzwanzig und noch schöner als damals. Fabian hätte nicht gedacht, dass das möglich wäre. Sie trägt ein schlichtes, schwarzes und sehr kurzes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ihre Füße stecken in ebenfalls schwarzen Highheels und ihre rotbraunen, gewellten Haare fallen ihr bis auf die Schultern hinunter. Sinas Mund ist immer noch genauso voll wie vor fünf Jahren. Ihre Augen sind immer noch grüngrau. Sie lächelt immer noch umwerfend. Und Fabians Herz hämmert so heftig in seinem Brustkorb, dass er garantiert gleich einen Herzinfarkt bekommt. Alle starren sie an. All die Mädchen scheinen den Atem angehalten zu haben. Fabian weiß nicht, ob auch die dabei sind, die Sina damals verprügelt und ihr die Haare abgeschnitten haben, aber wenn ja, dann werden sie sich jetzt wahrscheinlich innerlich winden. Die Kerle sabbern einfach nur so deutlich, dass es Fabian wirklich peinlich ist, einer von ihnen zu sein. Sina ist ja nicht einfach nur hübsch. Sie hat diese wahnsinnige Ausstrahlung, die einem den Atem raubt. Wenn sie einen Raum betritt, dann prickelt die Luft.
 

Fabian kann es nicht fassen, dass sie wirklich hier ist. Er starrt einfach nur zu ihr hinüber, als einige Leute zu ihr hinüber gehen, um sie zu begrüßen. Sina umarmt keinen von ihnen, auch wenn einige der Mädchen Anstalten machen, die Arme nach ihr auszustrecken. Sie hält ihren Kopf immer noch ein bisschen höher als nötig.

»Ich nehme an, deswegen bist du gekommen?«, flüstert Caro ihm ins Ohr und er zuckt kaum merklich zusammen, ehe er ihr einen peinlich berührten Blick zuwirft. Sie kichert nur und sagt nichts weiter dazu, wofür er dankbar ist.
 

Die nächsten zwanzig Minuten verbringt Fabian damit Sina dabei zu beobachten, wie sie mit den Leuten redet, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen wollte. Aber sie lässt sich überhaupt nichts anmerken. Dass sie hierhergekommen ist, ist vor allem für die Mädchen wie ein Schlag ins Gesicht. Fabian sieht es in ihren Mienen, dass sie Sina am liebsten wieder wegschicken würden, weil sie jetzt die volle Aufmerksamkeit aller männlichen Gäste hat. Aber keine von ihnen hat den Schneid Sina wirklich zu zeigen, dass sie sie hier nicht haben wollen. Nachdem Sina sich kurz mit Dana unterhalten hat – eines der unangenehmsten Mädchen in Fabians Erinnerungen – dreht sie sich um und entdeckt seinen Tisch, an dem er mit Kerstin und Caro hockt. Seine Wangen werden heiß und sein Herz stolpert und scheint dann einfach still zu stehen, als Sina zu ihnen herüber kommt. Sie lächelt.
 

»Kann ich mich zu euch setzen?«, fragt sie ohne Umschweife. Kerstin und Caro erwidern das Lächeln, Fabian kann einfach nur mit leicht geöffnetem Mund dasitzen und sich wie ein Idiot benehmen. Er wird keinen Ton rauskriegen. Was hat er sich dabei gedacht Sina noch mal sehen zu wollen? Zum Abschluss seiner vergangenen Schwäche für sie? Von vergangen kann plötzlich überhaupt keine Rede mehr sein, es ist wieder als wäre er sechzehn und Sina säße im Physikunterricht eine Reihe vor ihm, sodass er ihr Parfüm riechen kann. Um Himmels Willen, er ist ein dermaßen peinlicher Stalker…

»Und, was machst du hier, Fabian?«

Seine Welt wankt einen Moment ganz gewaltig. Fünf Jahre ohne Sina, sieben auf einer Schule und vier, in denen er sie stumm angehimmelt hat und sich sicher war, dass sie nicht weiß, dass er existiert. Aber sie kennt seinen Namen.
 

»Du kennst meinen Namen?«

Na toll. Fabian würde sich gern die Zunge abbeißen, stattdessen wird er knallrot. Sina lacht leise.

»Klar. Du hast das beste Abi von den Jungs im Jahrgang gemacht und ein Angebot für ein Stipendium gekriegt. Und du hast dich immer um die ganzen Computer in der Schule gekümmert«, antwortet sie verschmitzt und wendet sich dann dem Kellner zu, der zu ihnen an den Tisch gekommen ist.

»Ein großes Wolters, bitte«, bestellt Sina. Fabian hat in der Zwischenzeit Gelegenheit beeindruckt davon zu sein, dass Sina tatsächlich weiß, dass er sein Abitur mit 1,2 abgeschlossen hat. Sein bester Freund Simon war zweitbester mit 1,6. Von den Mädchen haben auch zwei 1,0 geschafft… Seine Gedanken sind nicht wirklich zurechnungsfähig.
 

Zu Fabians Glück beginnen Sina und Caro eine Unterhaltung über die geplante Hochzeit und Fabian hat die Möglichkeit sich zu ordnen und zuzuhören. Offensichtlich hat Sinas große Schwester auch kürzlich geheiratet und Sina wird jetzt Tante. Er kann seinen Kopf nicht wirklich kontrollieren, aber er stellt sie sich unweigerlich mit Baby im Arm vor. Großartig. Er ist offiziell ein Psychopath. Als Sina ihr Bier bekommt, fällt der Kellner fast in ihren Ausschnitt und Fabian kann es ihm nicht verübeln. Trotzdem wirft er dem jungen Mann einen vorwurfsvollen Blick zu und beobachtet dann, wie Sina das Bier an ihre Lippen setzt und einen Schluck nimmt. Vielleicht ist er besessen oder so was.

»Oh, zu dem Lied will ich tanzen«, sagt Caro plötzlich aufgeregt und zerrt Kerstin ohne Widerstand zu akzeptieren in Richtung Tanzfläche. Fabian ist sich der Blicke von allen anderen bewusst. Er sitzt hier mit Sina. Sina. Allein. Sie trinkt ein Bier und er starrt sie an und alle anderen starren ihn an, weil sie wahrscheinlich erwarten, dass er gleich etwas schrecklich Dummes macht. Er erwartet es ja selbst auch. Irgendwie.
 

»Und, was hast du mit deinem Stipendium angefangen?«, erkundigt sich Sina freundlich bei ihm und scheint vollkommen ungerührt angesichts der Tatsache, dass vierzig Paar Augen auf ihnen ruhen, als wären sie spannender als ein Blockbuster.

»Ich bin immer noch ein Computernerd und verbringe meine Arbeitszeit vor Monitoren, aber es macht mir immer noch genauso viel Spaß wie früher und… ich verdien ziemlich gut damit«, platzt es aus Fabian heraus. Er hat irgendwie das Gefühl, als müsse er Sina darüber informieren, dass er wirklich nicht das Kaliber Kerl ist, mit dem sie sich sonst so unterhält. Aber Sina lächelt nur und nimmt noch einen Schluck Bier.

»Cool. Ich liebe meinen Computer, ich wäre aufgeschmissen ohne ihn. Vorletzte Woche ist er mir mitten in meiner Abschlussarbeit abgestürzt. Gott sei Dank hatte ich alles gesichert. Und nachdem ich ihn aufgeschraubt hatte, hat sich das Problem relativ schnell finden und beheben lassen«, informiert sie Fabian und streicht sich eine Strähne ihrer rotbraunen Haare aus dem Gesicht.
 

Fabian sieht sie an wie eine Erscheinung. Bevor ihm klar wird, dass das womöglich beleidigend klingt, hat er es schon gesagt.

»Du… reparierst deinen eigenen Rechner?«

Sina lacht schon wieder. Es klingt viel zu sehr nach Musik in seinen Ohren. Er wollte doch hierherkommen, um das alles abzuschließen, nicht um sich noch mehr in Sina zu verknallen. Das darf doch alles nicht wahr sein.

»Ich arbeite mit Computern. Ich studier Kommunikationsdesign und ohne diese Dinger bin ich aufgeschmissen. Wäre ja noch schöner, wenn ich jedes Mal hysterisch werden würde wegen sowas. Trinkst du nichts?«

Fabian blinzelt und schüttelt dann den Kopf. Sein inneres Auge ist immer noch mit der Vorstellung beschäftigt, wie Sina ihren Rechner aufschraubt, ohne den PC vorher aus- und wieder anzuschalten. So wie andere Leute das gern versuchen, die keine Ahnung von Technik haben und denen irgendwas kaputt gegangen ist.
 

»Nein. Ich steh nicht so auf Alkohol«, antwortet er. Die meisten Leute finde so etwas merkwürdig…

»Oh. Ok.«

Fabians Gehirn fühlt sich an wie Zuckerwatte. Sinas tiefer Ausschnitt macht ihn arg nervös. Alles an Sina macht ihn nervös. Ein Räuspern lässt ihn zusammen schrecken und er schaut auf. Sören – einer dieser Kerle, die damals cool waren und sich immer noch cool finden – steht neben dem Tisch und grinst Sina an. Sie hebt eine Augenbraue.

»Möchtest du tanzen?«

Wenn Fabian nicht er selbst und ein bisschen selbstbewusster wäre, dann würde er jetzt sagen, dass Sören sich verziehen soll, weil er sich hier gerade mit Sina unterhält. Da er aber der ist, der er ist, betrachtet er nur krampfhaft Sinas Bier und wünscht sich ein größeres Ego, mit dem er Sina zum Tanzen auffordern könnte.

»Nein«, sagt Sina schlicht. Sörens Grinsen verfliegt und er räuspert sich erneut. Fabian sieht, dass sein Selbstbewusstsein schrumpft. Sina sieht ihn geradeheraus an. Andere Mädchen sagen ›Nein‹ mit einem Kichern, als ob sie es eigentlich gar nicht so meinen.

»Ok. Darf ich dir dann wenigstens noch was zu trinken spendieren?«

Sören sieht nicht so aus, als wolle er sobald aufgeben, aber Sina mustert nur stirnrunzelnd ihr halbleeres Glas Bier.
 

»Ich hab noch genug. Außerdem macht es keinen Unterschied, ob du mir was bestellst, oder deine Wettschulden bei Freddy bezahlst, weil ich nicht mit dir tanzen will. Aber du kannst ihm ausrichten, dass ich mit ihm auch nicht tanzen würde«, sagt sie ungerührt und nimmt noch einen Schluck Bier. Sören sieht einen Moment lang so aus, als würde er nicht so recht wissen, ob er Sina gerade richtig verstanden hat. Dann dreht er sich um und zieht murmelnd von dannen. Fabians Welt ist plötzlich sehr viel farbiger als noch vor zwanzig Sekunden.

Freddy, Sören und ein paar Mädchen sehen schon wieder zu ihnen hinüber und Sina seufzt entnervt.

»Ich glaube, ich hab genug provoziert für einen Abend«, sagt sie entschuldigend in Fabians Richtung und hebt ihr Bierglas erneut an die Lippen. Er kann kaum so schnell gucken, da ist das Bier leer und Sina leckt sich etwas Schaum von der Oberlippe. Sein Magen kribbelt.

»Möchtest du noch einmal mit mir tanzen und dann woanders hingehen? Wo man reden kann ohne blöd angestarrt zu werden?«, fragt sie aus heiterem Himmel und lächelt Fabian an.
 

Er fragt sich einen Moment lang, ob sie das nur macht, um Sören und Freddy eins auszuwischen. Aber sie sieht nicht so aus, als würde sie sich dazu zwingen mit Fabian zu tanzen.

»Ich kann nicht wirklich…«, fängt Fabian unsicher an und ihm ist schrecklich heiß. Aber Sinas Lächeln wird breiter und sie steht auf und streckt ihm die Hand hin. Oh Gott. Er wird jeden Augenblick einen glücklichen Tod sterben. Ihre Hand ist zierlich aber sie hat einen festen Händedruck, als sie ihn in Richtung Tanzfläche zieht, wo Kerstin und Caro immer noch eng umschlungen stehen und sehr innig knutschen. Fabian glaubt ›Privat Dancer‹ von Tina Turner zu erkennen. Er kann sich aber nicht wirklich auf die Musik konzentrieren, weil Sina ihre Arme um seinen Nacken schlingt und sich im Takt der Musik mit ihm zu drehen beginnt. Fabian ist heilfroh, dass sie nicht versucht irgendeinen Standardtanzkram auszuprobieren, denn das kann er wirklich nicht. Er hat nie einen Tanzkurs gemacht.
 

Seine Hände auf Sinas Hüfte fühlen sich an, als gehörten sie gar nicht ihm. Fabian revidiert. Er ist vielleicht doch ein Träumer. Ein großer sogar. Wenn es nach ihm ginge, würde der Tanz gar nicht aufhören. Er ist immer noch genauso unrettbar in Sina verschossen wie vor neun Jahren. Das sollte ihn vielleicht beunruhigen, aber eigentlich verwundert es ihn nicht. Und wenn das heute Abend eine winzige Chance für ihn ist, Sina doch besser kennen zu lernen, dann will Fabian sie nutzen. Er holt tief Luft, auch wenn ihm das mit seinem Herz, das offensichtlich seine Luftröhre blockiert, schwer fällt. Und dann fragt er etwas heiser.

»Magst du… Schaukeln?«

Sina lächelt verschmitzt.

»Wer mag Schaukeln denn schon nicht?«, entgegnet sie amüsiert. Die Blicke und das Getuschel der anderen sind ihm ja sowas von egal.

»Ein paar Straßen weiter ist ein Spielplatz«, nuschelt er verlegen.

»Na, dann geh ich mein Bier bezahlen und dann können wir schaukeln gehen«, sagt sie, als das Lied ausgeklungen ist. Fabian sieht ihr nach, als sie zur Bar hinüber geht. Er wird gleich mit Sina im Dunkeln auf einen Spielplatz gehen und schaukeln. Kein Träumer hin oder her, das Träumen hat sich definitiv gelohnt.

Wütend

Leon liebte Felix. Abgöttisch und ungesund doll und mit allem, was dazu gehörte. Und er liebte ihn bedingungslos. Aber zum allerersten Mal in seinem Leben war er wirklich sauer auf ihn. Leon hatte nie gedacht, dass das wirklich passieren konnte und immerhin war es das erste Mal nach sieben Monaten Beziehung passiert. Aber immerhin. Es hatte sich in ihm aufgestaut und schließlich seine Entladung gefunden. Und nun saß er in seiner Wohnung und starrte frustriert und immer noch stumm vor sich hin köchelnd auf seinen Fernseher. Das Abendprogramm war nicht besonders zufrieden stellend und lenkte ihn kein bisschen ab. Also schaltete er den Fernseher schließlich aus. Leise vor sich hin grummelnd tigerte er in seine Küche, starrte in den Kühlschrank, schloss ihn wieder, ging ins Bad und überlegte, ob er Wäsche waschen sollte. Aber er hatte keine Lust. Keine Lust auf gar nichts. Höchstens Felix knutschen, aber auf den war er ja sauer. Was für ein Scheißdreck!
 

Er hatte sich so für diese dämliche Klausur angestrengt. Er hatte eine ganze Woche lang gelernt und auf jedes Treffen mit der Band und mit Felix verzichtet. Normalerweise schaute er sich seine Unterlagen einmal in der Nacht vor der Klausur an… und dann hatte er in diesem verdammten Hörsaal gesessen und er hatte die Hälfte der Fragen nicht gepeilt. Er hatte einfach nicht verstanden, was der elende Dozent von ihm gewollt hatte. Und das hatte ihn geärgert, weil er sich das erste beknackte Mal wirklich für eine Klausur angestrengt hatte. Als er nach Hause kam, blinkte sein Anrufbeantworter.

»Hey Noel, ruf mich zurück, wenn du wieder zu Hause bist! Heut Abend ist Party bei Timo!«

Er stöhnte auf und starrte den Anrufbeantworter an. Seine Lust heute Abend wegzugehen hielt sich in Grenzen. Er war einfach zu schlecht gelaunt.
 

»Hey! Endlich bist du zu Hause, das hat ja ewig gedauert!«

Leon grummelte.

»Ich hab heute Abend keine Lust auf Timos Party«, sagte er gerade heraus und ging mit dem Telefon in die Küche, um sich eine Tiefkühllasagne in den Ofen zu schieben.

»Sei nicht albern, natürlich hast du Lust«, sagte Felix scheinbar bestens gelaunt. Leon verzog das Gesicht.

»Ich hab die Klausur heute total in den Sand gesetzt, ok? Mir ist einfach nicht nach lauter Musik und Schnapsleichen.«

Felix stöhnte.

»Ich bitte dich, das ist doch lächerlich. Was macht denn schon eine versaute Klausur? Du bist doch nicht so ein Streber.«
 

Leon konnte es nicht fassen. Was war an einem ›Nein‹ denn nicht zu verstehen? Er wollte nicht. Und es war nicht albern, wenn er sich über eine in den Sand gesetzte Klausur ärgerte! Felix war eindeutig der strebsamere von ihnen beiden. Der hatte ja gut reden.

»Ich bin kein Streber. Ich bin nur angepisst, weil ich mich angestrengt hab und der blöde Prüfer total unverständliche Fragen gestellt hat…«

Felix seufzte theatralisch.

»Dann kann so ein bisschen feiern dich doch nur aufmuntern. Ich hol dich um acht ab, muss jetzt auflegen. Chris sitzt hier rum und wartet auf mich! Tschüss!«
 

Und dann legte er auf. Leon starrte den Telefonhörer ungläubig an. Erst mal predigte er Felix seit Ewigkeiten, dass er es hasste, wenn er sich mit Christian bei einem der beiden alleine traf. Und dann benahm sich Felix ihm gegenüber immer so, als wäre er ein kleiner Junge, wenn Christian dabei war. Als müsste er Christian zeigen, wie toll er war und wie unterbelichtet Leon war und wie sehr er einen Erwachsenen brauchte, der ihm sagte, wie er sein Leben zu leben hatte. Wütend schmiss er das Telefon auf die Arbeitsplatte und widerstand dem Drang gegen einen seiner Küchenstühle zu treten. Nie nahm Felix ihn ernst. Nie! Es war absolut egal, was Leon sagte, tat oder in welcher Situation sie sich befanden. Felix behandelte ihn ständig, als wäre er absolut lebens- und entscheidungsunfähig.

Er wollte nicht auf diese blöde Party gehen. Es machte ihm etwas aus, dass er die Klausur verbockt hatte. Und es ärgerte ihn, dass Christian in Felix’ Schlafwohnzimmer hockte und wahrscheinlich breit grinste, weil Leon dumm war und Felix nicht.
 

Normalerweise ließ Leon diese Behandlung über sich ergehen. Er war es ja irgendwie gewöhnt. Felix hatte sich ihm gegenüber beinahe immer schon so verhalten. Aber heute. Ja, heute regte es ihn dermaßen auf, er hätte Felix am liebsten geschüttelt und angeschrien. Und das war noch nie der Fall gewesen. Wieso hatte ihn das bisher noch nie gestört? Nicci predigte immer, dass Liebe blind machte. Das musste es dann wohl sein.

Er starrte säuerlich seine Lasagne an, als wäre sie Schuld an all seinem Übel. Er würde Felix noch eine SMS schreiben, damit er nicht wirklich herkam und ihn abholte, denn Leon wollte nicht auf irgendwelche Partys. Er wollte sich in sein Wohnzimmer verkriechen und stumm vor sich hin brodeln. Sex wäre auch nicht schlecht. Aber dafür war er zu wütend auf Felix.
 

Nachdem er seine Lasagne aus dem Ofen geholt hatte, setzte sich an seinen winzigen Tisch, und schaltete Musik an. System of a Down, schön laut. Bestens geeignet gegen Aggressionen. Während er seine Lasagne mit einer Hand in sich hinein schaufelte, tippte er mit der anderen mühsam eine SMS im Takt zu B.Y.O.B.

»Brauchst mich nicht abholen. Ich geh nicht mit. Viel Spaß euch beiden.«

Dann warf er das Handy beiseite und widmete sich mit beiden Händen seiner dampfenden Lasagne. Als er sich auch noch die Zunge verbrannte, war Leon sich sicher, dass dies einer der miserabelsten Tage in seinem Leben sein musste.
 

Um fünf vor acht war er gerade dabei, sich einen Film auszusuchen, den er noch nicht zehn Mal gesehen hatte, da klingelte es an der Tür. Das konnte doch nicht–

Er öffnete die Tür und wurde von einem strahlenden Felix begrüßt.

»Du hast noch deine Jogginghose an«, informierte er ihn. Leon starrte ihn an.

»Ja, ich gehe ja auch nicht mit«, knirschte er und die Wut kochte erneut in ihm hoch. Felix hob die Brauen.

»Aber du kannst doch hier drin nicht versauern, nur weil mal eine Klausur schief gelaufen ist«, sagte er und es klang schon wieder so, als wäre Leon völlig bescheuert. Er atmete einmal tief durch.

»Doch, kann ich. Ich hab keinen Bock«, sagte er möglichst ruhig. Er wollte Felix eigentlich ungern anschreien.

»Ach Mensch, Noel! Hast du deine Tage oder was?«, fragte Felix und klang nun tatsächlich genervt. Leon konnte es nicht fassen. Und in diesem Moment verlor er die Beherrschung.
 

»Du kannst mich mal am Arsch lecken!«, herrschte er Felix an, der erstaunt die Brauen hob, was Leons Zorn nicht im Mindesten milderte.

»Ich hab keinen Bock auf diese Scheißparty und ich hab es satt, dass du mich nie ernst nimmst und immer so tust, als wäre ich fünf! Geh allein mit deinem Gorilla auf diese beknackte Party und lass mich einfach in Ruhe!«

Und mit diesen Worten schlug er Felix die Tür vor der Nase zu und stampfte zurück ins Wohnzimmer.
 

Leon hatte einen Film angeschaut. Dann hatte er es mit einem Porno versucht. Beides hatte nicht funktioniert und das blöde Free- TV war auch nicht besser. Mittlerweile war es halb zwölf und er war immer noch schlecht gelaunt und sauer auf seinen Freund. Das war ein unangenehmes Gefühl und er war es nicht gewöhnt. Aber es störte ihn unheimlich, dass Felix nicht noch einmal geklingelt und sich entschuldigt hatte. Oder ihm eine SMS von der Party geschrieben hatte. Aber vielleicht hatte Felix gar nicht eingesehen, wieso Leon sauer war. Vielleicht war er nun selbst sauer. Na wunderbar. Konnte es noch schlimmer kommen? Wahrscheinlich nicht. Es sei denn, er bestand die Prüfung mit 3,9 und hatte keine Möglichkeit, sie zu wiederholen. Dann doch lieber durchfallen und sie noch mal schreiben.

Um viertel nach zwölf beschloss er, dass er jetzt ins Bett gehen sollte, bevor er noch miesepetriger wurde. Insgeheim hatte er die ganze Zeit auf sein Handy gestarrt und darauf gewartet, ob vielleicht irgendein Lebenszeichen von Felix kam. Aber der meldete sich nicht. Leon hasste sein Leben.
 

Er erwachte von einem Klingeln. Verwirrt blinzelte er und setzte sich auf. Hatte er das geträumt? Aber offenkundig hatte er das nicht, denn es klingelte noch einmal und verpennt stellte Leon fest, dass das seine Türklingel war, die ihn geweckt hatte. Brummend warf er einen Blick auf die Leuchtziffern seines Weckers. Es war halb vier. Eine tolle Zeit, um aus dem Bett geklingelt zu werden.

Wenn das ein Klingelstreich war, dann würde er die besoffenen Jugendlichen finden und ihnen das Leben zur Hölle machen. Die mussten sich schließlich nicht mit Strafrechtklausuren rumschlagen und… mit… Felix.

Felix, der da gerade die Treppen herauf kam. Offensichtlich bemühte er sich, nicht zu torkeln, aber das gelang ihm nur zur Hälfte.

»Es ist halb vier«, knurrte Leon verschlafen und rieb sich wie zur Bestätigung seiner Worte über die noch verklebten Augen. Felix schaffte es bis auf den letzten Treppenabsatz, dann warf er sich Leon um den Hals.
 

Er stand da und war einfach nur irritiert. Felix roch nach Whiskey und Felix und Leon musste sich arg zusammen reißen, um nicht seine Arme um ihn zu legen und ihn auf der Stelle besinnungslos zu knutschen. Durfte man seinen Freund vermissen, wenn man auf ihn sauer war und ihn nur einen halben Tag lang nicht gesehen hatte?

Er schob Felix von sich und schloss mit skeptischer Miene die Tür. Felix hatte auf seinen Uhrzeit- Hinweis nichts gesagt und nun starrte er ihn aus glasigen Augen an.

»Willst du Schluss machen?«, fragte Felix mit erstickter Stimme und deutlich lallend. Hä? Leon starrte seinen Freund verständnislos an. Hier stand er in Shorts, total müde und zerwühlt, und Felix war betrunken und fragte ihn, ob er Schluss machen wollte?

»Was? Nein! Wieso denn?«, gab er vollkommen verwirrt zurück.
 

Felix seufzte leise und sah ihn an. Leon wurde allmählich ungeduldig.

»Weswegen bist du hier? Es ist halb vier, ich bin müde«, sagte er ungnädig und verschränkte die Arme vor der Brust. Felix holte tief Luft.

»Tut mir echt Leid. Wegen vorhin. Und wegen immer«, sagte er und klang richtig weinerlich. Leon hatte seinen Freund nun schon mehrmals betrunken erlebt und meistens wurde Felix dann anhänglich, verschmust oder wahlweise auch notgeil.

»Aha. Und das sagst du mir jetzt? Total voll?«, wollte er knatschig wissen. Felix sah betreten aus, aber dann sprudelte ein wahrer Wortwasserfall aus ihm heraus und Leon hatte Mühe ihm zu folgen, da er nicht nur extrem schnell sprach, sondern auch lallte.
 

»Ich musste mir erstmal Mut antrinken, um mich zu entschuldigen. Ich bin immer so stolz und kann mich so schlecht… du weißt schon. Und dann hab ich mit Chris geredet und er meinte, dass du Recht hast, weil ich dich immer als blöd hinstelle, wenn wir unter Leuten sind und dass ich dich nie ernst nehme, auch wenn ich das eigentlich sollte und dann meinte er, ich soll nicht so viel trinken, aber ich musste ja viel trinken, sonst würde ich jetzt nicht hier stehen und… ich will echt nicht, dass du sauer bist, das ist das aller allerschlimmste, was mir je passiert ist und ich liebe dich… und… bitte mach nicht Schluss mit mir, weil ich immer so scheiße zu dir bin…«

Er holte tief Luft, als sein Sermon beendet war. Leon blinzelte ihn an. Vielleicht würde er Christian doch irgendwann tolerieren können. Mögen wäre zu viel gesagt. Aber ihn einfach nicht mehr komplett scheiße finden, das wäre eventuell drin.
 

»Ich will doch gar nicht Schluss machen«, wiederholte er und kratzte sich am Hinterkopf. Er hatte keine Ahnung, was er zu diesen alkoholisierten Offenbarungen sagen sollte. Immerhin war er noch nie sauer auf Felix gewesen und wusste nicht, wie man eine Entschuldigung anständig annahm.

»Bist du noch sauer?«, fragte Felix mit erstickter Stimme. Wie er da stand, leicht wankend und mit kläglichem Gesichtsausdruck, konnte Leon ihm überhaupt nicht mehr böse sein.

»Nein«, brummte er. Auf Felix’ Gesicht breitete sich ein Strahlen aus und erneut warf er sich Leon um den Hals und begann ihn übermütig abzuküssen. Automatisch wurde Leon heiß.

»Hey… hey, was wird das jetzt?«, fragte er zwischen zwei nach Whiskey schmeckenden Küssen. Felix lachte ausgelassen und drückte sich fest an ihn.

»Versöhnungssex! Was sonst?«

Und während Felix ihn erneut stürmisch küsste und nach hinten in Richtung Bett schob, da überlegte Leon benebelt, ob er von jetzt an nicht öfter wütend auf Felix sein sollte. Oder er könnte ja zumindest so tun als ob…

Traurig

Für alle, die genauso mies im Trösten sind, wie Leon und ich :3

Viel Spaß damit und liebe Grüße,

Ur

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Er hatte immer gewusst, dass er im Trösten mies war. Mieser als mies. Um genau zu sein, musste er der mieseste Tröster sein, den die Welt je gesehen hatte.

Das konnte vielleicht daran liegen, dass er nie gelernt hatte, wie man es machte. Vielleicht war sein Charakter auch einfach nicht dafür geschaffen, so etwas zu lernen? Er wusste es nicht.

Und so hoffte er einfach, dass er möglichst nie wieder in die Situation kommen würde, Jemanden trösten zu müssen.
 

Er hatte schon damals, als Nicci vor ihm wegen Lennard geweint hatte, Blut und Wasser geschwitzt und alles, was er hinbekommen hatte, war ein ›Das wird schon wieder‹ und eine nicht sonderlich zärtliche Umarmung gewesen.

Nicci und Felix.

Die beiden wichtigsten Menschen in seinem beknackten Leben, die er niemals weinen sehen wollte. Also sollte Nicci einfach bis an ihr Lebensende glücklich mit Lennard zusammen sein und… am besten sollten die beiden einfach nie einen Grund zum Weinen haben.
 

Ihm war es lieber, wenn Felix sauer war. Dann motzte er lautstark herum, fluchte ununterbrochen… dagegen hatte Leon überhaupt nichts, denn das machte er ja selbst. Nicci in Tränen hatte er einmal gerade so überstanden.

Allerdings brachte die Vorstellung, Felix könnte jemals weinen, ihn beinahe um. Er würde dann sicher einen Herzinfarkt erleiden und tot umfallen. Und dann wäre er ein noch miserablerer Tröster als damals bei Nicci.

Er würde einfach hoffen, dass niemals der Tag kommen würde, an dem Felix weinte.
 

Sie waren nun vier Monate zusammen und kürzlich hatte er mit Felix über ihre Familien geredet. Felix hatte ihm angedroht, ihn seinen Eltern vorstellen zu wollen.

»Wie schön«, war alles gewesen, was ihm dazu eingefallen war, wobei er geflissentlich seine Nervosität angesichts dieses Themas verborgen hatte.

Felix hatte ihm gesagt, dass er ein Familienmensch sei, dass er seine Familie schätzte und dass er, auch wenn er zum Beispiel mit seinen Tanten nicht sonderlich gut auskam, seine Oma mütterlicherseits abgöttisch liebte.

Leon war immer bemüht, sich alles zu merken, was Felix ihm sagte. Bei Felix wusste man nie, ob er nicht vielleicht irgendwann beiläufig etwas von unsagbarer Wichtigkeit einstreute und später darauf zurückkam… Das wollte Leon lieber nicht riskieren.
 

Es war an einem Mittwoch, als Leon zu Felix’ Wohnung fuhr, um ihm dabei zu helfen, einen neuen Schrank zusammen zu bauen. Er schloss die Wohnungstür auf – Felix hatte ihm seinen Wohnungsschlüssel anvertraut – und zog seine Schuhe aus. Felix’ Stimme kam aus dem Wohnzimmer und Leon ging davon aus, dass sein Freund telefonierte.

Er pellte sich aus seiner Jacke und wartete im Türrahmen lehnend darauf, dass Felix, der mit dem Rücken zu ihm stand, fertig wurde.
 

»Ja… alles klar. Ok… danke, dass du mich angerufen hast… bis dann…«

Leon runzelte die Stirn. Irgendwie klang Felix… niedergeschlagen?

Als Felix sich umdrehte, den Hörer noch in der Hand, zuckte er zusammen. Offenbar hatte er nicht gehört, dass Leon die Tür aufgeschlossen hatte. Jetzt stand er da, starrte Leon an, als hätte er ihn noch nie gesehen, und dem Bassisten wurde langsam mulmig zumute. Was war nun los?

Er räusperte sich verlegen und fuhr sich durch die Haare.

»Du siehst mich an, als wäre ich ein Alien«, meinte er und trat ins Wohnzimmer. Felix legte den Kopf schief und seufzte, dann räusperte er sich ebenfalls und brachte ein – für Felix völlig untypisches – zittriges Lachen hervor.

Leon begann, sich ernsthaft zu gruseln.
 

»Ach ja… Schrank zusammen bauen«, sagte Felix mit erstickter Stimme. Leon blinzelte.

»Ist… ist alles ok?«, fragte er mit einem ziemlich unangenehmen Kloß im Hals. Felix holte tief Luft, dann schüttelte er den Kopf.

Leons Herz rutschte ihm irgendwo zwischen die Knie. Aber er wusste, auch wenn er Schiss vor der Antwort hatte, dass er fragen musste. Und dass er hier nicht wie ein Depp stehen bleiben sollte.
 

Seine Beine fühlten sich wie Blei an, als er ums Sofa herum und zu Felix hinüber ging, der immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da stand und sich nicht rührte. Leon blieb vor ihm stehen und musterte das hübsche Gesicht.

»Was ist los?«, fragte er heiser.

Er wusste genau, was er jetzt tun sollte. Aber noch nie war es so schwer gewesen, Felix zu umarmen. Er kam sich dämlich vor, vielleicht wollte Felix überhaupt nicht umarmt werden. Er wusste ja nicht mal, was eigentlich los war.
 

Aber als er zögernd die Arme hob, das letzte Stück Abstand zwischen ihnen überbrückte und Felix vorsichtig umarmte, kam endlich Bewegung in den Größeren und im nächsten Moment fand sich Leon in einer ziemlich verzweifelt wirkenden Umklammerung wieder.

Felix hatte sein Gesicht in Leons Halsbeuge vergraben, seine Finger lagen irgendwo zwischen Leons Schulterblättern und Leon schluckte leicht, während er – so beruhigend wie er es eben konnte – mit den Fingern über Felix’ Rücken strich.
 

»Meine… Mutter hat eben angerufen«, nuschelte Felix undeutlich gegen Leons Halsbeuge. Leon schloss die Augen und bemühte sich, so ruhig wie möglich zu bleiben. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Felix leicht zitterte.

»Oma ist im Krankenhaus…«

Oh… nicht doch. Leons Gedächtnis spulte schnell zurück, schneller als ihm lieb war. Die Mutter von Felix’ Mutter. Felix’ Lieblingsoma. Felix, der ihm breit grinsend erklärte, dass er seine Oma abgöttisch liebte. Nicht gut.

»Wes…weswegen?«, krächzte Leon heiser und seine Finger hielten im Streicheln inne.
 

»Schlaganfall«, kam die dumpfe Antwort.

Herrgott… wieso hatte ihm nie jemand gesagt, was man in solchen Situationen am besten tun sollte? Oder was man tun konnte? Er dachte angestrengt nach. Eigentlich wollte er irgendetwas Tröstendes sagen, aber was konnte man sagen? Nicci wusste das sicher, doch er konnte Nicci jetzt schlecht anrufen und sie fragen.

Also sagte er das Einzige, was ihm im Moment einfiel:

»Tut mir Leid…«
 

Felix drückte ihn noch ein wenig näher an sich, dann hob er den Kopf ein wenig und gab Leon einen Kuss auf die Wange.

Im nächsten Moment spürte Leon deutlich, dass sein Hals da, wo Felix’ Gesicht gerade noch gelegen hatte, nass war. Oh nein… nein, das war nicht gut, das war das schlimmste…

Er tastete nach Felixs Gesicht, legte seine Hände links und rechts an die Wangen seines Freundes und zwang ihn, den Kopf zu heben und ihn anzusehen.
 

Sein erster Gedanke war, dass Felix immer noch schön war, selbst wenn er weinte. Sein zweiter Gedanke war, dass er sich womöglich noch nie so hilflos gefühlt hatte wie mit einem weinenden Felix von Angesicht zu Angesicht.
 

Er starrte einen Moment lang in die leicht geröteten Augen, aus denen ab und an eine Träne quoll und die Wangen hinunter lief.

Scheiße…

»Ich… also… ich könnte dir einen Tee kochen… oder ich fahr dich ins Krankenhaus, willst du hinfahren?«, fragte er völlig zusammenhangslos und Felix gab einen erstickten Laut von sich, halb Lachen, halb Schluchzen.
 

»Du musst nicht…«, begann er krächzend, doch Leon schüttelte hastig den Kopf und zog seine Hände von Felix’ Gesicht.

»Also, dann fahre ich dich gleich hin. Wir können deinen Schrank wann anders aufbauen und du wolltest mich deinen Eltern ja sowieso vorstellen… Ich versuche auch, nicht allzu sehr wie ein Trottel dazustehen…«

»Noel…«, murmelte Felix und Leon verstummte augenblicklich. Felix schaffte ein kleines Lächeln.

»Ehrlich… ich weiß, dass du grad überfordert bist… aber ich würd’ trotzdem von niemand anderem getröstet werden wollen… du bist toll…«
 

Leon lief rot an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Felix gab ihm einen kurzen Kuss und wischte sich über die Augen.

»Ich zieh mir Schuhe an«, sagte er und seine Stimme klang nicht mehr ganz so brüchig. Leon atmete tief ein und aus, dann folgte er Felix in den Flur.

Vielleicht, dachte er und schlüpfte in seine Schuhe, vielleicht lernte er irgendwann doch noch, wie man die wichtigsten Menschen im Leben am besten tröstete.

Verspielt

Mein kleines Weihnachtsgeschenk für Myrin, die sich etwas mit Leon & Felix und dem Stichwort Spiele gewünscht hat. Ich hoffe, dass es dir gefällt.
 

Frohe Weihnachten!

<3

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Felix mochte Spiele.
 

Das war schon so gewesen, als Leon ihn kennen gelernt hatte. Ob es sich dabei nun um irgendwelche Blödeleien, Schere-Stein-Papier, Wetten, Sex oder Kartenspiele handelte, es spielte keine Rolle. Als sie noch nicht zusammen gewesen waren, hatte Leon herzlich wenig davon mitbekommen, da er sich meist darum bemüht hatte, Felix aus dem Weg zu gehen. Aber nun, da sie zusammen waren, bekam er die komplette Breitseite von Felix’ Spiel›sucht‹ zu spüren. Allein die unzähligen Male, die Felix ihn schon gezwungen hatte, Schere-Stein-Papier zu spielen und so irgendwelche Entscheidungen zu treffen…
 

»Wer geht einkaufen?«

»Schere-Stein-Papier!«
 

»Wer macht den Abwasch?«

»Schere-Stein-Papier!«
 

»Wer entscheidet, wo wir Silvester feiern?«

»Schere-Stein-Papier!«
 

Felix hatte sich auch schon mal einen Witz erlaubt. Leon hatte das überhaupt nicht lustig gefunden, als er ausgesprochen scharf auf seinen Freund gewesen war und sie beide unglücklicherweise in der Stimmung gewesen waren, oben zu liegen.
 

»Wir könnten…«

»Garantiert nicht!«
 

Felix hatte daraufhin nur gelacht und letztendlich hatte Leon doch unten gelegen. Er verlor ohnehin immer bei Schere-Stein-Papier, deshalb hätte es auch keinen Sinn gehabt, sich nachträglich darüber zu ärgern. Leon ignorierte das Funkeln in Felix’ Augen jedes Mal so gut es ging, wenn es einen ruhigen Nachmittag mit Faulenzen, Filmgucken und Chips gab. Felix war, was das Verspielte anging, ein bisschen wie ein übergroßer Kater.
 

»Mir ist langweilig«, sagte Felix eines Abends, als der Fernseher nicht viel hergab und Leon aufgrund von Kopfschmerzen sich nicht sonderlich aktiv fühlte.

»Spiel Gitarre…«, murmelte er. Er lag bäuchlings auf seinem Bett und Felix hockte neben ihm. Manchmal ging es Leon ein wenig auf den Wecker, dass sein Freund dauerhaft bei ihm herumhockte und dann auch noch unterhalten werden wollte – ob Leon ihn nun eingeladen hatte oder nicht.

»Keine Lust«, erwiderte Felix und er klang dabei beinahe ein wenig nölig, wie ein kleines Kind, das von seinen Eltern beschäftigt werden wollte. Leon drückte sein Gesicht ins Kissen und grummelte lautlos. Einen Moment lang herrschte Schweigen und Leon hätte sich beinahe der Illusion hingegeben, dass Felix wahlweise eine Beschäftigung gefunden hatte, oder sich vielleicht dazu entschied, sich einfach schweigend neben ihn zu legen und ihn zu bemitleiden. Diese Kopfschmerzen machten ihn noch wahnsinnig.
 

Tatsächlich hatte Felix eine Beschäftigung gefunden. Leon zuckte ein wenig erschrocken zusammen, als er plötzlich Finger unter seinem T-Shirt spürte und sich ein Paar sehr weicher Lippen auf seinen Nacken legten.

»Felix«, sagte er dumpf ins Kissen.

»Noel?«, kam es genuschelt zurück.

»Nenn mich nicht so…«
 

Felix lachte leise in seinen Nacken und Leon bekam prompt eine Gänsehaut. Er hatte Kopfschmerzen. Konnte er nicht einfach hier liegen und schweigend leiden?

»Ich hab mal gehört, Sex hilft gegen Kopfschmerzen«, schnurrte Felix grinsend und Leon spürte unweigerlich, wie Hitze in ihm aufstieg. Wahrscheinlich würde er auch in fünf Jahren noch genauso scharf auf Felix sein wie jetzt.

»Hmpf.«
 

Leon wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich gegen Felix zu wehren. Wenn Felix wollte, dann kostete es ihn höchstens eine halbe Minute, bis er Leon ebenfalls soweit hatte, dass er wollte.

»Mir wäre eine Aspirin lieber«, ächzte Leon und drehte sich unter Felix auf den Rücken, sodass sein Freund beinahe von ihm herunter kippte. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen. Felix schob seine Unterlippe vor.

»Eine Tablette ist dir lieber als Sex mit mir?«, fragte er gespielt beleidigt. Leon stöhnte.

»Ja, gerade sch–«

Nach fast zwei Jahren Beziehung waren Felix’ Lippen immer noch die Sünde pur. Und seine Küsse waren immer noch umwerfend. Vielleicht waren sie sogar noch besser geworden? Leon versuchte gar nicht erst darüber weiter nachzudenken, er schlang seine Arme um Felix und erwiderte den Kuss. Sein Kopf pochte unangenehm, aber der Schmerz schien beinahe unbedeutend zu werden. Diese Küsse lenkten ihn eindeutig wunderbar ab. Ganz zu schweigen von Felix’ Unterkörper, der sich so aufreizend gegen seinen bewegte…
 

»Wir könnten Strip-Poker spielen!«

Leon hielt mit seinen Händen inne, die gerade noch ausgesprochen begeistert Felix’ Rücken gestreichelt hatten.

»Bitte was?«

Felix’ Gesicht schwebte wenige Zentimeter über seinem und sein Grinsen war ausgesprochen diabolisch.

»Strip-Poker. Wer verliert, muss was ausziehen. Socken zählen nicht.«

Leon starrte ihn an. Er wusste gerade wirklich nicht, ob er Felix erwürgen, oder ob er ihn aufs Bett drücken und vögeln wollte. Beides schien ausgesprochen verlockend zu sein.

»Ich hoffe dir ist klar, dass meine Geduld heute am seidenen Faden hängt«, knurrte er und sah Felix so grimmig wie möglich an. Doch wie immer ließ sich sein Freund nicht davon beeindrucken. Er grinste nur noch breiter.
 

»Komm schon«, schnurrte er mit seiner ›Wenn du artig bist, tu ich alles, was du willst‹-Stimme. Leon ließ sich davon schon lange nicht mehr täuschen, aber trotzdem bekam Felix ihn jedes Mal damit rum. Immerhin hatte er die Illusion verloren, dass Felix wirklich alles tat, was er wollte, wenn er nur erst das tat, was Felix wollte. Alles in allem war Felix ein mieser Manipulator. Peinlich genug, dass Leon ihm immer noch zu Füßen lag.
 

Er bekam eine Gänsehaut, als Felix ihm ausgesprochen ausführlich am Ohrläppchen herumknabberte.

»Wenn ich jetzt ›ja‹ sage, latscht du dann für mich zur Apotheke?«

Felix lachte leise.

»Wenn du willst«, kam die gegrinste Antwort. Leon wusste in etwa, was in Felix’ Kopf vor sich ging.

Wenn wir beide nackt sind, will er sowieso nicht mehr, dass ich zur Apotheke gehe.

Aber diesmal würde er durchhalten. Es konnte ja nicht sein, dass er sich jedes Mal von Felix unterbuttern ließ!

»Also schön. Strip-Poker«, lenkte er ein. Dumpf hoffte er, dass es nicht zu lange dauern würde und er möglichst halbwegs angezogen blieb. Anschließend würde er dann endlich seine Tabletten bekommen und wenn seine Kopfschmerzen dann verschwunden waren, konnte er Felix immer noch zurück ins Bett bugsieren.
 

Eine dreiviertel Stunde später war klar, dass Leons Plan gerade den Bach hinunter ging. Er saß nur noch in Shorts bekleidet vor seinem Freund, der sämtliche Klamotten anhatte.

»Wieso zählen Socken nicht?«, beklagte Leon sich schlecht gelaunt. Er hatte ja gewusst, dass das alles eine miese Idee gewesen war.

»Darum«, entgegnete Felix bestens gelaunt, grinste breit und eröffnete Leon sein Blatt. Wunderbar. Er hatte schon wieder verloren.

»Ich werde mich hier sicher nicht nackt hinsetzen. Mit Socken«, gab er grummelig zurück und klatschte seine Karten auf die Matratze. Sie hatten die Bettdecke beiseite geräumt und spielten auf Leons Bett.

»Du darfst die Socken gern auch ausziehen«, gab Felix scheinheilig zurück. Leon sah deutlich, wie sein Freund ihn musterte. Ihm wurde schon wieder heiß. Und das nur, weil Felix ihn so ansah. Leon las in diesem Blick deutlich, dass Felix ihn gern ansah, nur leider Gottes hatte Leon selbst überhaupt nichts zu gucken.
 

Leon starrte Felix einen Moment lang ungnädig an, dann pulte er sich aus seiner Shorts und den Socken. Wie breit konnte Felix’ Grinsen eigentlich noch werden? Leon schnaubte ungehalten, dann fegte er mit einer fließenden Handbewegung die Karten vom Bett, rappelte sich auf und schubste Felix nach hinten, der ein überraschtes Geräusch von sich gab.

»Elender Sadist«, grollte Leon ungehalten und bevor Felix antworten konnte, presste er seine Lippen auf die seines Freundes und begann zielstrebig damit, Felix’ Hose zu öffnen.

»Ich dachte… ich soll… zur Apotheke…«, kam es genuschelt von Felix, der seine Arme um Leon geschlungen hatte und sich nun genüsslich den Berührungen seines Freundes entgegenstreckte.

»Später«, antwortete Leon knapp. Ihm war klar, dass er Felix’ Spieltrieb schon wieder komplett nachgegeben hatte. Aber dann würde er jetzt halt erst einmal testen, ob Sex wirklich gegen Kopfschmerzen half…

Gerissen

Winzig klein und ohne viel Inhalt, aber ich wollte unbedingt eine kleine Ergänzung zum aktuellen Kapitel von Kryptonit schreiben (Kapitel 32). Den Oneshot widme ich Myrin, meinem fleißigen Betahäschen und arod, die Leon und Felix so schmachtig findet ;)

Viel Freude damit!

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»Ok, ich hab einen Plan gemacht.«
 

Diesen Satz hatte Leon schon so oft gehört und er hatte meistens nichts Gutes zu bedeuten. Felix’ Pläne neigten dazu, eine Prise zu viel Wahnsinn zu beinhalten, als dass man an ihren Erfolg wirklich hätte glauben können. Das schrecklichste daran war allerdings, dass die Pläne meistens funktionierten – auf die eine oder andere Weise. Leon zog eine Augenbraue hoch und musterte Felix skeptisch. Er musste nicht wissen, worum es ging, um misstrauisch zu sein. Felix hatte dieses gewisse Funkeln in den Augen, das Leon zur Genüge kannte.
 

»Tatsächlich«, gab er wenig begeistert zurück. Felix musterte ihn streng, was Leon beinahe zum Lächeln gebracht hätte. Wie konnte er diesen Menschen eigentlich unheimlich, anstrengend und liebenswürdig auf einmal finden?
 

»Ja. Es geht um Chris«, erklärte Felix. Unweigerlich verfinsterte sich Leons Gesichtsausdruck, was Felix selbstverständlich nicht entging. Er verdrehte die Augen.

»Und um Anjo«, fügte er hinzu und Leon entspannte sich ein wenig. Irgendetwas für Christian auszuhecken würde ihm nicht wirklich in den Kram passen und Felix wusste das auch. Aber Leon mochte Anjo. Er freute sich sogar schon auf den Abend von dessen Geburtstagsfeier, obwohl Chris auch dabei sein würde. Leon konnte ihn ja so gut es ging ignorieren.
 

»Anjo ist ganz vernarrt in Chris und Chris ist ein Idiot und hat ein Brett vorm Kopf und die beiden sind einfach so entzückend miteinander«, fuhr Felix fort und ein manisches Glimmen machte sich in seinen Augen bemerkbar, während er gut gelaunt seine Hände rieb. Wenn Felix die perfekte Rolle in einem Theaterstück spielen sollte, dann würde Leon entweder einen Psychopathen oder einen verrückten Wissenschaftler vorschlagen. Wahlweise auch beides in einer Person.
 

»Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas, das in Verbindung mit Chris steht, als entzückend bezeichnen würde«, gab er zurück. Felix seufzte und musterte ihn, als hätte er eins und eins ergibt zwei nicht verstanden.

»Darum geht es doch auch nicht. Du sollst ohnehin niemanden außer mir entzückend finden«, sagte Felix vorwurfsvoll. Leon musste schmunzeln, zog Felix am Handgelenk zu sich und küsste ihn. Sehr lange und ausgiebig. Felix seufzte zufrieden, schlang seine Arme um Leons Nacken und brachte Leon mit seinem ganzen Körper, der sich so hingebungsvoll gegen den seinen schmiegte, dazu, mehr zu wollen, als nur zu knutschen.
 

»Wir werden Chris und Anjo betrunken machen«, nuschelte Felix gegen Leons Lippen.
 

»Hm?«
 

»Auf der Feier. Betrunken. Die beiden. Und dann schauen wir, was draus wird«, erklärte Felix und küsste ihn erneut. Leon hatte keine Ahnung, ob Felix wirklich von ihm erwartete, dass er diese Informationen effektiv verarbeitete, wenn er so geküsst wurde. Sein Gehirn war nicht wirklich in der Lage, beides gleichzeitig zu tun. Küssen und denken. Multitasking war noch nie sein Ding gewesen.
 

»Das ist doch kein Plan«, war alles, was ihm dazu einfiel. Felix gluckste gegen seine feuchten Lippen und kraulte ihn sachte im Nacken. Man könnte meinen, Leon wäre sexuell unterfordert, weil er selbst von solchen Kleinigkeiten scharf wurde. Aber er hatte wirklich genug Sex. Trotzdem. Wenn es an manchen Tagen nach ihm ginge, würden er und Felix überhaupt nicht aufstehen.

»Ein kleiner Plan mit hoffentlich großer Wirkung.«
 

»Könntest du jetzt die Klappe halten und mich küssen?«
 

»Aber ich wollte noch Sina anrufen und die soll Lilli Bescheid sagen… hm… und dann… musst… du Nicci… einweihen… und wir müssen… Chris zum Wetttrinken auffordern…«
 

Leon presste seinen Mund entschlossen auf Felix’ unermüdliche Lippen und vergrub seine linke Hand in den Haaren seines Freundes, um ihn noch näher zu ziehen. Nach einer wunderbaren, viel zu kurzen Ewigkeit, löste sich Felix erneut von ihm.

»Los, ruf Nicci an!«, orderte er.

Leon blinzelte.

»Weswegen?«

Felix betrachtete ihn vorwurfsvoll.
 

»Um sie einzuweihen! Hast du mir nicht zugehört?«
 

Leon fuhr sich durch die Haare und zuckte mit den Schultern.

»Gehört schon. Aber nicht verarbeitet«, antwortete er ehrlich, was Felix ein Lachen entlockte. Dann schob er Leon in den Flur, damit er Nicci tatsächlich anrufen konnte.

»Ich werd mich schon mal um Sinas Mitwissen kümmern und dann meine Schwester nach diesem tückischen Bowle-Rezept fragen, das mich bei ihrer Verlobung so von den Socken gerissen hat!«
 

Felix verschwand bestens gelaunt, doch dann steckte er noch einmal den Kopf aus der Küche.

»Du musst Chris zum Wetttrinken auffordern. Und ich auch. Und Sina. Chris muss schnell viel trinken, sonst kriegen wir den nie betrunken!«
 

»Gegen den Idioten gewinn ich locker«, schnaubte Leon und griff nach dem Telefon. Felix grinste spitzbübisch, kam ein weiteres Mal zu ihm herüber und biss sachte in Leons Nacken, was ihm eine Gänsehaut bescherte.

»Ich liebe es, wenn du ehrgeizig wirst«, schnurrte er ihm ins Ohr und verschwand dann von Neuem. Leon seufzte. Je schneller er Nicci anrief, desto eher konnte er Felix unter die Dusche schleifen und da anknüpfen, wo sie gerade wegen Felix’ ausgesprochen gerissenem Plan hatten aufhören müssen.

Im selben Boot

Leon hielt nichts davon, schwächere Leute fertig zu machen, oder andere zu verprügeln, weil sie anders waren. Zugegeben, Chris würde er gern verprügeln, aber egal wie überzeugt er von sich selbst war, er musste sich doch eingestehen, dass Chris nicht nur viel größer war als er, sondern auch doppelt so breit und zudem auch noch ein trainierter Boxer. Aber Felix zuliebe würde Leon es sowieso nicht machen. Höchstens, wenn Felix nicht hinsah. Ein Kinnhaken hier, ein Tritt gegen’s Schienbein da. Mehr nicht. Man musste es ja nicht übertreiben.
 

Jedenfalls fand Leon die Drohung Benni gegenüber durchaus berechtigt. Er mochte Anjo. Anjo machte sich nicht ständig über ihn lustig oder beklagte sich, weil er dauernd schlecht gelaunt drein sah. Meistens war Leon gar nicht schlecht gelaunt. Sein Gesicht hatte wohl einfach von Natur aus keinen allzu netten Ausdruck, aber daran konnte er auch nichts ändern. Und Felix und Nicci liebten ihn trotzdem, egal wie grimmig er aussah.

Anjo war nett. Und Leon wusste, dass Anjo es nicht leicht gehabt hatte im Leben. Wie unsensibel Leon auch normalerweise war, er hatte enormen Respekt dafür, dass Anjo trotz all dieser Schrecklichkeiten in seinem Leben nicht ein komplettes, aggressives, in sich zurück gezogenes Wrack geworden war. So wie Benni.
 

Aber Leon hatte noch eine andere Sichtweise auf den Schläger mit der viel zu tief sitzenden Hose und den rebellischen, braunen Augen. Leon wusste haargenau, was in Benni vorging, wenn er Anjo so ansah. Diese Blicke, die deutlich sagten, wie sehr er ihn eigentlich wollte. Aber er erlaubte es sich selbst nicht, ihn zu wollen. Soviel stand fest. Und Leon war ein Meister darin gewesen, seine Gefühle zu verleugnen und sich einzureden, er stünde nicht auf Männer und überhaupt waren Schwule eklig. Lang genug hatte er sich mit diesen Gedanken herum geschlagen. Ganze zwei Jahre hatte es gedauert, bis er es sich endlich eingestanden hatte, dass er Felix wollte. Mehr als sein Image und mehr als ein ›normaler‹ heterosexueller Kerl zu sein.
 

Er wusste sehr genau, dass es Benni genauso ging. Leon hatte für gewöhnlich keinen Röntgenblick, aber er erkannte sich selbst dermaßen deutlich in diesen wütenden Augen, dass er nicht umhin konnte, mit der Erkenntnis erschlagen zu werden. Leon wusste, dass er selbst nicht schwul war. Er stand auf Frauen. Und auf Felix. Es musste bei Benni nicht anders sein. Und nachdem Chris dem Jungen allein mit seinen Blicken seinen nahen Tod angekündigt hatte und ihn anschließend am Kragen packte, da sagte Benni, dass er Anjo nicht mehr wehtun würde. Klar, das wollte er ja wahrscheinlich ohnehin nicht. Die ganze Zeit nicht. Aber Chris verstand das offensichtlich nicht. Gut, Chris war auch einfach ein Idiot. Leon erinnerte sich noch gut daran, wie er damals mit ihm draußen vor der Tür gestanden und ihm gesagt hatte, dass er Felix vögeln würde, wenn Leon sich nicht zusammen riss.
 

Nach dieser ganzen Drohungsszene und nachdem Anjo von der Toilette wieder gekommen war, hatte Leon ein halbes Auge auf Benni und als dieser allein nach draußen ging, folgte Leon ihm. Er war nicht gut mit diesen Sachen und er hatte eigentlich auch keine Ahnung, wieso er sich überhaupt einmischte. Aber wenn es da draußen noch mehr Idioten wie ihn selbst gab, dann fühlte er sich womöglich verantwortlich. Ja, irgendwie saßen er und Benni im selben Boot. Na ja. Leon war schon lange ausgestiegen, aber was machte das schon.
 

Leon fand Benni draußen. Er lehnte an einer der Backsteinmauern der Fabrikhalle und starrte in den dunklen, sternenlosen Himmel, während von drinnen die Musik durch die Nacht pulsierte. Er stellte sich neben ihn und verschränkte die Arme. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Benni ihm den Kopf zuwandte und ihn offenbar erkannte. Aber er sagte nichts, sondern richtete seinen Blick wieder gen Himmel. Nach einer Weile schien ihn das Schweigen jedoch zu beunruhigen.

»Willst du was Bestimmtes?«, fragte er. Leon hob die Brauen aufgrund des angriffslustigen Tons.

»Von dir? Nee«, gab er lapidar zurück und Benni öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut. Aber offensichtlich war ihm Leons Erwiderung zu schwul, als dass er darauf hätte antworten können.
 

»Bist du nicht… der Macker von diesem… lächelnden Psychopathen?«, wollte Benni schließlich wissen und Leon presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen. Natürlich konnte er es nicht gutheißen, dass jemand seinen Felix beleidigte, aber er war weit davon entfernt nicht zu wissen, wie gruselig Felix’ Lächeln sein konnte. Je süßer es wurde, desto mehr musste man um sein Leben fürchten. Oder – in Leons Fall – zumindest um sein Sexleben.

»Ja. Schon«, gab Leon zu. Auch wenn er insgeheim wusste, dass Felix wohl eher sein Macker war als andersherum. Aber das musste Benni ja nicht wissen.

Benni sah aus, als würde er ernsthaft darum kämpfen, keine homophobe Bemerkung zu machen.
 

»Ja, schon klar. Schwule sind eklig und so. Hab ich auch immer gesagt«, meinte er schließlich. Bennis Kopf flog zu ihm herum. Er starrte ihn halb feindselig, halb überrascht an.

»Und das hier soll so ne Art Psycholektion für mich werden, oder was?«, grollte er. Leon hob erneut seine Augenbrauen und starrte Benni nur an. Der entspannte sich langsam aber sicher.

»Mit Psychokram hab ich es nicht so«, antwortete er schließlich und kickte einen Stein in seiner Nähe in den nächstbesten Busch.

»Aber die Wahrheit ist… dass ich erstens nicht schwul bin und es zweitens auch nicht mehr schlimm fände, wenn es doch so wäre«, sagte er. Benni schnaubte.

»Nicht schwul, klar«, höhnte Benni leise. Leon verdrehte die Augen. Aber er durfte nicht lästern, sein Weltbild war früher schließlich auch schwarzweiß kariert gewesen.
 

»Halt einfach die Schnauze und hör zu. Ich bin echt mies in diesem Gefühlsgebrabbel. Aber ich bin nicht schwul. Felix ist nur einfach der beste Mensch auf diesem beschissenen Planeten und deswegen würd ich ihn gegen keine geile Schnitte auf der Welt eintauschen. Und dabei geht’s überhaupt nicht darum, ob er nen Schwanz hat oder keine Möpse oder sonst was. Ich flieg immer noch auf nen großen Vorbau und lange Beine. Aber das ändert nichts dran, dass keiner mit Felix’ Persönlichkeit mithalten kann. Und ich hab sehr genau gesehen, wie du Anjo anstarrst und genauso hab ich Felix früher auch angestarrt. Weil ich ihn toll fand und es gehasst hab, dass ich ihn toll fand. Jedenfalls… ist es die ganze Wut nicht wert«, sagte er, zuckte mit den Schultern und schob seine Hände in die Hosentaschen. Benni starrte stur geradeaus. Leon erkannte deutlich den roten Schimmer auf den blassen Wangen. Fast hätte er gegrinst.
 

»Ich dachte nur, ich sag dir das mal… weil ich früher auch in deinem Boot gesessen hab«, fügte er hinzu. Benni schnaubte schon wieder.

»Du weißt nichts über mich«, gab er zurück.

»Stimmt. Ich will auch gar nichts weiter wissen. Aber dieses eine weiß ich jedenfalls und du weißt es auch und vielleicht solltest du dich einfach mal zusammen reißen und erwachsen werden.«

Und mit diesen Worten stapfte er wieder nach drinnen mit dem dringenden Bedürfnis, Felix sehr ausgiebig zu küssen und ihm unmissverständlich klar zu machen, dass er diesem Boot ganz und gar abgeschworen hatte.

Eifersüchtig

Ich hätte nicht gedacht, dass ich sowas noch mal tun würde, aber ich habe einen Lime geschrieben. Meine Schäfchen sind Schuld, denen dieser Oneshot demnach auch gewidmet ist :)

Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Ur

_________________________
 

Leon nippte an seinem Barcardi. Bunte Lichter zuckten durch den Raum und die Tanzfläche war brechend voll mit sich zur Musik bewegenden Menschen. Er trank bereits seinen siebten Barcardi und war dementsprechend gut gelaunt und seine Sehfähigkeit war ein wenig verlangsamt. Felix hatte sich kurz aufs Klo verabschiedet, obwohl die Zeitangabe ›kurz‹ im Na und!? eher relativ war. Meistens stand man ziemlich lange an, bevor man endlich einmal eine Kabine für sich bekam. Es gab eindeutig zu viele Pärchen hier, die es für eine gute Idee hielten, in einer der Kabinen wild miteinander rumzumachen. Leon fand die Vorstellung, auf einer öffentlichen Toilette mit Felix innige Zungenküsse auszutauschen, nicht sonderlich verlockend. Es war eine jener seltenen Gelegenheiten, an denen sie allein weggingen. Meistens waren Leute dabei, die Felix aus dem Schwulenreferat der Uni kannte, oder aber Chris und seine Konsorten waren dabei. Mittlerweile hatte sich Leon beinahe an Chris‘ Anwesenheit gewöhnt. Zumindest solange, wie Chris nichts zu Felix sagte und keine blöden Bemerkungen über Leon riss.
 

Leon war dauernd eifersüchtig auf alles und jeden. Felix sprach mit einem gutaussehenden Kommilitonen? Leon war eifersüchtig. Felix traf sich mit Chris? Leon war eifersüchtig. Felix brachte seiner Gitarre für eine Viertelstunde mehr Aufmerksamkeit entgegen als Leon? Er war eifersüchtig. Er hatte das Gefühl, dass diese Emotionen nie verschwinden würden. Manchmal hatte er den beunruhigenden Eindruck, dass er von Felix niemals genug haben könnte. Egal wie viel Zeit sie miteinander verbrachten und egal wie nah sie beieinander hockten – oder wahlweise auch Sex hatten – Leon wollte eigentlich gern in Felix hineinkriechen, sich dort zusammen rollen und da bleiben. Diese kitschigen Gedanken behielt er selbstredend immer für sich. Es wäre immerhin noch schöner, wenn er sich von Felix noch mehr weichspülen lassen würde als es ohnehin schon der Fall war. Er hatte sogar eine winzige, romantische Ader an sich entdeckt, die er über zwei Monate lang argwöhnisch beobachtet hatte, eher er ihr nachgegangen war und für Felix gekocht hatte. Zugegebenermaßen, seine Pfannkuchen waren nicht unbedingt die besten Pfannkuchen gewesen, die die Welt je gesehen hatte… eventuell waren sie auch ganz furchtbar geworden, mit zu viel Mehl und zu viel Zucker im Teig, aber Felix hatte alle drei Pfannkuchen aufgegessen und sich noch eine halbe Stunde nach dem Essen über die Kerze auf dem Tisch gefreut.
 

Leon beobachtete kurze Zeit ein heftig knutschendes Pärchen inmitten der tanzenden Menge und er stellte wieder einmal für sich fest, dass er in einem dermaßen gequetschten Gewusel aus Menschen nicht hingebungsvoll mit seinem Freund herummachen wollen würde. Genauso wenig wie auf öffentlichen Toiletten. Wobei auf der Tanzfläche immer noch die Gefahr bestand, dass irgendein von Dreistigkeit besessener Grabscher Felix an den Hintern fasste. Felix war nie eifersüchtig. Und falls er es doch war, dann zeigte er es nicht. Wahrscheinlich wusste er einfach, dass Frauen keinerlei Konkurrenz für ihn darstellten und dass Leon ohnehin an keinem anderen Mann auf dieser Welt interessiert war. Wenn er mit sich selbst zusammen wäre, dann würde es ihm womöglich auch so gehen. Letztendlich war er eben doch ein treudoofer, verliebter Idiot. Aber solange sich diese erniedrigenden Eigenschaften auf Felix bezogen, war alles in Ordnung. Er musste es ja niemandem erzählen – außer Nicci vielleicht, die ihn ohnehin immer durchschaute.
 

»Ist der Hocker hier noch frei?«, erkundigte sich eine ihm unbekannte Stimme in diesem Moment direkt neben seinem Ohr und Leon zuckte ein wenig erschrocken zusammen. Er war dermaßen in Gedanken versunken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie sich ein schwarzhaariger junger Mann mit Nasenring und braungrünen Augen direkt neben ihn gestellt hatte. Er deutete mit einem Lächeln auf den Barhocker, der neben Leon an dem kleinen Stehtisch noch frei war. Leon selbst lehnte an einem zweiten Hocker.

»Ähm…«, begann er ein wenig perplex, weil ihn normalerweise niemand einfach so ansprach und eigentlich war dieser Hocker nicht frei, aber er war zu sehr in Gedanken vertieft gewesen, um jetzt schnell genug zu schalten.

»Cool«, entgegnete der Typ, als hätte Leon ihn herzlich eingeladen, sich zu ihm zu setzen. Er schwang sich auf den Hocker und fächelte sich Luft mit der rechten Hand zu, dann warf er Leon einen gut gelaunten Blick zu.

»Ich bin Arne «, erklärte er und reichte Leon seine Hand über den Tisch. Leon starrte ihn verwirrt an, dann streckte er Arne seine Hand entgegen und schüttelte sie kurz.

»Leon«, sagte er etwas stumpfsinnig und leerte seinen Restbarcardi in einem Zug. Aus den Lautsprechern dröhnte Lady Gagas ›Telephone‹.
 

»Leon«, wiederholte Arne, als wollte er prüfen, wie sich der Name auf seiner Zunge machte. »Bist du öfter hier?«

Bildete Leon es sich nur ein, oder war Arne mit seinem Hocker gerade gefühlte zwei Meter näher an ihn heran gerückt? Vielleicht hatte er schon einen Barcardi zu viel getrunken.

»Ja, schon«, antwortete er und fuhr sich ein wenig unsicher durch die Haare.

»Und was machst du alleine hier?«

Jetzt saß Arne praktisch mit dem Barhocker auf Leons Schoß und Leons Kopf zog sich ein Stück zurück, als sich sein eigentlich ungewolltes Gegenüber vorbeugte.

»Ich…«

Seit wann war er um Antworten verlegen? Vermutlich seit er noch nie von einem anderen Mann angebaggert worden war. Und auch wenn es etwas gedauert hatte, bis Leon es bemerkt hatte, so war es doch ziemlich offensichtlich, dass Arne genau das tat. Er baggerte. Und jetzt hatte er auch noch eine Hand auf dem Knie.
 

»Er ist nicht alleine hier«, ertönte eine ziemlich säuerliche Stimme hinter Leons Rücken hervor und Leon wäre bei seinem angetrunkenen Versuch, sich möglichst schnell zu Felix umzudrehen, beinahe vom Barhocker gefallen. Er ruderte kurz mit den Händen durch die Luft und war ein wenig dankbar, als Felix ihm von hinten die Arme um die Hüfte schlang und ihn festhielt. Felix‘ Kinn legte sich auf seine Schulter und Leon hatte nur eine ungefähre Ahnung, wie sein Freund Arne wohl gerade mustern mochte.

»Oh«, sagte Arne und sah ziemlich enttäuscht aus. Seine braungrünen Augen musterten Felix‘ hübsches Gesicht und er erhob sich geschlagen von dem geklauten Barhocker. Leon atmete erleichtert aus.

»‘tschuldigung«, kam es noch etwas undeutlich von Leons kurzzeitiger Gesellschaft, dann verschwand Arne eilends in der Menge auf der Tanzfläche. Felix rührte sich nicht von der Stelle, sondern drückte sich noch ein wenig fester an Leons Rücken.
 

»Ich will ins Bett«, verkündete Felix‘ Stimme direkt neben Leons Ohr und ein Schauer kroch ihm den Nacken hinunter.

»Ok«, sagte er automatisch und ließ sich vorsichtig von dem Barhocker gleiten, wobei sich Felix‘ Arme von ihm lösten und Leon bedauerte kurz den Verlust der Körperwärme an seiner Rückseite, ehe er sich mit Felix zusammen in Richtung Garderobe bewegte. Felix sprach nicht, während sie für ihre Jacken anstanden, er sprach auch nicht, als sie sich durch die kühle Nacht in Richtung von Leons Wohnung bewegten und das einzige Indiz dafür, dass Felix nicht sauer auf ihn war, waren ihre miteinander verhakten Finger, die Felix ein wenig fester zu halten schien als normalerweise.

»Alles ok?«, fragte Leon eine Ecke vor seiner Haustür.

»Hmhm«, kam es gebrummt von Felix. Felix brummte für gewöhnlich nie, das war eher Leons Ding. Er wollte nicht noch mal nach Felix‘ Laune fragen, also schloss er schweigend die Haustür auf und stieg seinem Freund voran die Treppen hinauf in den ersten Stock, wo sich seine Wohnung befand.
 

Gerade, als er der Wohnungstür einen Stups mit dem Fuß gegeben hatte, damit sie zufiel, fand er sich sehr plötzlich an eben jene geschlossene Tür gedrückt wieder. Ein eindringlich starrendes Paar ihm sehr bekannter, brauner Augen blickte ihm entgegen und Leon schluckte. Er hatte keine Ahnung, was in Felix gefahren war, aber es machte ihn jedes Mal ziemlich kribbelig, wenn Felix derart fordernd wurde.

»Ist wirklich alles ok?«, brachte er hervor und seine Stimme klang eindeutig etwas kratzig. Felix‘ Nasenspitze berührte seine eigene. Ihm wurde in seiner Jacke plötzlich sehr heiß. Ob es gesund war, wenn man nach so langer Zeit einer Beziehung immer noch so nervös wurde…?
 

Leon wurde ziemlich ruppig aus seiner Jacke geschält.

»Schuhe«, sagte Felix knapp und Leon schluckte erneut, ehe er mehr schlecht als recht aus seinen Schuhen schlüpfte und sie mit zwei Tritten in die Flurecke katapultierte.

Felix‘ Lippen geisterten über seinen Mund und Leons Augenlider fielen auf Halbmast, während sich ein altbekanntes Kribbeln in seiner Magengegend breit machte. Eine Zungenspitze huschte über seinen Mundwinkel und er öffnete seine Lippen unweigerlich ein Stück. Felix‘ Finger griffen nach seinen Handgelenken und Leon fand sich im nächsten Augenblick noch dichter an die kalte Wohnungstür gepinnt, seine Arme links und rechts neben seinem Kopf und Felix‘ Knie zwischen seinen Beinen.
 

Eine Zunge huschte über seine Ohrmuschel, Zähne gruben sich in seinen Hals und Leon gab ein erregtes Keuchen von sich und sein Kopf kippte in den Nacken und gegen die Tür. Und dann küsste Felix ihn endlich. Seine vollen Lippen pressten sich fordernd auf Leons Mund und Leon ruckte kurz an seinen Handgelenken, um Felix näher zu sich ziehen zu können, doch Felix ließ nicht locker.

»Stillhalten«, grollte er und – Himmel Herrgott machte es Leon an, wenn Felix diesen Tonfall anschlug – Leon gab seinen Widerstand auf. Seine Hose fühlte sich bereits unanständig eng an und als Felix seinen Oberschenkel gegen Leons Schritt bewegte, entlockte ihm die Reibung von Stoff auf Haut ein unterdrücktes Keuchen.
 

Leon drehte den Kopf zur Seite, als Felix‘ Zunge sich nun mit seinem Hals beschäftigte. Die weichen Lippen tupften Küsse auf sein Schlüsselbein, hinter sein Ohr und auf die aufgeregt pulsierende Halsschlagader.

»Du bist meins«, hörte er Felix‘ leise Stimme und sein warmer Atem bescherte Leon eine Gänsehaut. Vielleicht war es auch der Inhalt der Worte. Sie klangen beinahe ein wenig gefährlich, als würde Felix darauf warten, dass er ihm widersprach. Aber natürlich würde er das nicht tun. Was für ein Unsi–

»Keiner darf dich angraben außer mir«, knurrte er und erst in diesem Moment schlug die Erkenntnis in Leons angetrunkenem Gehirn ein, dass Felix eifersüchtig war. Auf diesen Kerl, dessen Namen Leon schon längst wieder vergessen hatte. War es normal, dass diese Feststellung ihn dermaßen anturnte, dass er am liebsten hier und jetzt seine Hose losgeworden wäre?
 

Als Felix Leons Hände endlich los ließ, schlang er sie sofort um ihn, zog seinen Freund noch näher an sich und presste seine Lippen auf Felix‘ Mund. Felix war eifersüchtig. Wegen ihm. Es schien Felix sehr wichtig zu sein, an Ort und Stelle sein Revier zu markieren. Zumindest saugte er sich an Leons Hals fest und hinterließ sicherlich mehr als einen Knutschfleck in seiner Halsbeuge, aber Leon hatte keine Zeit dazu, sich daran zu stören, weil er sich lieber damit beschäftigte, Felix die Jacke vom Oberkörper zu zerren und anschließend fahrig an seinem Reißverschluss zu nesteln. Er wurde beduselig geküsst und zwar auf eine dermaßen besitzergreifende Art und Weise, wie Felix ihn noch nie vorher geküsst hatte, und Leon hatte den dunklen Eindruck, dass er womöglich jetzt und hier in seiner Hose kommen könnte, wenn Felix ihn lang genug weiter so knutschte. Leon gab die peinlichsten Geräusche von sich, als hätte er seit Jahren keinen Sex mehr bekommen. Aber die Gewissheit, dass Felix eifersüchtig wegen ihm war, legte seine Monate lang trainierte Beherrschung komplett auf Eis. Er drückte sich so nah an Felix wie er nur konnte, seine Finger waren scheinbar nicht imstande genug nackte Haut unter dem Shirt zu berühren und als Felix ihn in Richtung Schlafzimmer zerrte, folgte er seinem Freund nur zu gern.
 

Sie hinterließen eine Spur aus Kleidungsstücken auf dem Fußboden, bis Felix ihn mit einem Ruck nach hinten schubste und Leon auf seinem Bett landete. Er trug nur noch seine Boxershorts und fragte sich beeindruckt, wie er sich auf dem Weg hierher von seinen Socken befreit hatte…

Felix betrachtete ihn durch die die dämmrige Dunkelheit, die nur von einer Straßenlaterne weiter unten gemindert wurde. Seine braunen Augen huschten eingehend über Leons Körper und er spürte, wie er unter dem Blick seines Freundes ganz kribbelig wurde. Das Gefühl wurde noch stärker, als Felix sich langsam vorbeugte und auf allen Vieren über ihn auf das Bett krabbelte. Die hellbraunen Haare fielen ihm ins Gesicht und er musterte Leon nun aus der Nähe.
 

Leon hielt die Luft an, als Felix sich rittlings auf seinen Schoß setzte und mit seinen Fingerspitzen über Leons Oberkörper strich, als wäre er etwas Zerbrechliches, unendlich Wertvolles.

»Felix«, krächzte Leon probehalber, weil er die Spannung kaum noch ertragen konnte. Außerdem trug Felix‘ Gewicht auf seinem Schritt nicht gerade dazu bei, dass sich seine Erregung in irgendeiner Weise minderte.

»Pscht«, nuschelte Felix und legte seine Hände an Leons Wangen. Leon starrte hoch in das Gesicht, das ihm nie langweilig wurde, egal wie lange er es betrachtete. Dann küsste Felix ihn wieder und wieder, bis Leons Gedanken sich komplett abgeschaltet hatten und er nur noch fühlte. Felix‘ Hände an seinen Wangen, die Daumen, die darüber strichen, das Gewicht auf seinem Schoß…
 

Seine Hände schoben sich wie von selbst über Felix‘ nackten Rücken und blieben auf seinem Hintern liegen, um Felix näher zu ziehen. Seinem Freund entwischte ein seltenes Stöhnen und Leon war sich sicher, dass er jeden Augenblick explodieren würde, wenn jetzt nicht auf der Stelle etwas passierte, das ihm Erleichterung verschaffte. Als würde Felix seine Gedanken lesen, dirigierte er Leon vollends aufs Bett und verschwand dabei von Leons Schritt, was ihm ein unwilliges Geräusch einbrachte.

»Hüfte hoch«, verlangte Felix und schob seine Finger unter den Bund von Leons Boxershorts. Leon ließ sein Becken so hastig in die Höhe schnellen, dass es ihm womöglich peinlich gewesen wäre, wenn er imstande gewesen wäre klar zu denken.
 

Im nächsten Augenblick lag er nackt vor Felix und er konnte kaum so schnell schauen, wie Felix sich ebenfalls seiner Unterwäsche entledigte. Felix schien sich vorgenommen zu haben, Leon so wahnsinnig wie möglich zu machen, denn im nächsten Augenblick hatte er Leons Beine auseinander gedrückt und saugte sich an Leons empfindlichster erogener Zone fest.

An der Innenseite der Oberschenkel.

Noch mehr Knutschflecken, dachte er dumpf in den Tiefen seines erlahmten Gehirns. Sein Herz hämmerte, ihm war furchtbar heiß und er konnte es nicht verhindern, dass sein Unterkörper auf der Matratze herum rutschte und vergeblich um Aufmerksamkeit bettelte. Felix war immer schon ein elender Sadist gewesen. Leon nahm sich benebelt vor, es ihm beizeiten heimzuzahlen. Aber nicht jetzt. Jetzt wollte er einfach nur…

»Verdammte scheiße, Felix«, keuchte er und biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass es wehtat, als Felix sich endlich den wichtigen Dingen widmete.
 

Diese Lippen gehörten eindeutig verboten und Leon hatte nach all der Zeit in ihrer Beziehung immer noch nicht herausgefunden, wie Felix diese Dinge mit seiner Zunge anstellte. Leons Welt versank in einer Flut aus Fingern, Felix‘ Mund und seinem eigenen Stöhnen, das er nun bei bestem Willen nicht mehr dämpfen konnte. Und vor allem würde er nicht lange aushalten, wenn Felix mit seinen Fingern…

»Meins«, murmelte Felix gegen seinen Bauch, seine Finger und sein Mund waren plötzlich verschwunden und Leon wurde wieder geküsst. »Meins allein.«

Leon schlang seine Beine um Felix‘ Unterkörper und zog ihn an sich, was auch Felix ein überraschtes Stöhnen entlockte. Leon hob seine Hände, umfasste nun seinerseits Felix‘ Gesicht und starrte in die glasigen Augen über ihm.
 

»Deins allein«, bestätigte er mit rauer Stimme und Felix‘ Gesichtsausdruck wurde von so viel Liebe überschwemmt, dass Leons Herz stolperte und dann noch schneller zu hämmern begann. In diesem Moment schien Felix all seine Beherrschung über Bord zu werfen und Leon bekam nur in einem Schleier aus Erregung mit, wie Felix im Nachtschrank herumkramte. Und dann endlich, endlich, endlich ließ Felix sich von Leon zeigen, dass er tatsächlich nur ihm allein gehörte – und wie war der Idiot überhaupt auf die Idee gekommen, dass das anders sein könnte? So laut wie in dieser Nacht war Felix seit langem nicht mehr gewesen und wie ein Mantra sagte er immer und immer wieder »Meins«, als müsste er sich selbst davon überzeugen. Leon tupfte das Wort mit fahrigen Küssen von Felix‘ Lippen und wäre er nicht so angetrunken und extrem angeturnt von Felix‘ Dominanz gewesen, dann wäre es ihm vermutlich peinlich gewesen, wie schnell er über die Klippe stürzte. Immerhin riss er Felix beinahe sofort mit sich und anschließend lagen sie keuchend nebeneinander und sich an den Händen haltend im Dunkeln auf dem Bett.
 

»Du warst noch nie eifersüchtig«, japste Leon und rang nach Atem. Er drehte den Kopf und sah Felix von der Seite an.

»Nee… ist’n Scheißgefühl«, erwiderte Felix und wandte Leon sein Gesicht zu. Er sah beinahe ein wenig verlegen aus und Leon wollte ihn schon wieder beduselig küssen. Stattdessen drückte er kurz Felix‘ Finger.

»So geht’s mir dauernd«, brummte er. Felix lächelte.

»Soll ich dich das nächste Mal auch an die Wohnungstür pinnen, wenn ich eifersüchtig bin?«, erkundigte sich Leon und Felix lächelte verschmitzt.

»Tu dir keinen Zwang an«, schnurrte er und rückte mit dem Kopf ein Stück nach vorn, um Leon einen Kuss auf die Stirn zu geben.

»Ich glaube, dem nächsten Kerl, der dich anbaggert, muss ich eine reinschlagen«, überlegte Felix laut. Leon blinzelte erstaunt, dann presste er die Lippen aufeinander. Es war eindeutig nicht normal, dass er bei der Aussicht darauf schon wieder scharf wurde.

»Ist es blöd, dass ich mich darauf schon freue?«

Immer

»Wieso ziehst du nicht das schwarze Cocktailkleid an?«
 

»Ich darf nicht zu gut aussehen. Gib mir mal das Blaue.«
 

»Wenn du nicht zu gut aussehen sollst, dann geh am besten gar nicht hin.«
 

Unweigerlich muss ich lachen. Chris lehnt an meinem Kleiderschrank und hält mir ein blaues Kleid hin, das ich zweifelnd anhalte, um zu sehen, wie es wirkt. Chris hebt eine Augenbraue, als ich mich aus dem grünen Kleid schäle und stattdessen in das Blaue schlüpfe.

»Schau nicht so kritisch, ok? Ich kann ja nicht in Jeans hingehen«, sage ich und betrachte mich eingehend im Spiegel.

»Ich kann es nicht fassen, dass du Rücksicht auf die Minderwertigkeitskomplexe deiner Schwester nehmen musst, wenn sie heiratet. Ist sie nicht langsam zu alt dafür?«
 

Ich sehe ihn streng an und stemme die Hände in die Hüften.

»Du verstehst das nicht. Sie wird niemals zu alt dafür sein, mir vorzuwerfen, dass ich die besseren Gene abbekommen habe. Ihr Ego muss in etwa die Größe einer Amöbe haben«, sage ich entnervt und ziehe das blaue Kleid wieder aus. Meine Brüste sehen darin zu gut aus, Larissa dreht durch, wenn auch nur ein männlicher Hochzeitsgast in meinen Ausschnitt starrt.

»Aber sie heiratet. Hat der Kerl ihr Selbstbewusstsein nicht ein wenig aufpoliert?«, fragt Chris und hält mir kommentarlos einen knielangen Rock hin.

»Sie dachte am Anfang, er fände mich toller. Sie wollte ihn nicht mal mit nach Hause bringen. Ich hab ihr nie einen Kerl ausgespannt, keine Ahnung wieso sie sich so anstellt. Als würde ich mich auf ihren Matthias werfen und ihn verführen, wo ich doch weiß, dass sie ihn liebt…«
 

Mein bester Freund fährt sich durch die Haare und er sieht eindeutig so aus, als würde er meiner Schwester gern einmal persönlich den Kopf waschen. Das ist voll sein Ding. Anderer Leute Selbstbewusstsein aufpolieren. Aber ich fürchte, dass Larissa ein aussichtsloser Kampf wäre. Seit sie ihre ersten Hormonschübe hatte – also seit sie elf Jahre alt war – befand sie, dass ich hübscher bin als sie. Ich will ja nicht leugnen, dass ich vielleicht die Figur habe, die Männer anziehender finden. Aber sie ist überhaupt nicht hässlich. Ich hab nie verstanden, wieso sie sich so anstellt. Ja, als ich fünfzehn war, hab ich sie regelmäßig aufgezogen, weil sie mit siebzehn noch eine Zahnspange tragen musste und meine Zähne immer makellos waren… aber hey, fast alle Mädchen sind mit fünfzehn kleine Mistbiester und ich war ohnehin dauergereizt, weil die Mädchen in meiner Schule Larissas Meinung geteilt haben. Ich war zu hübsch, deswegen mochten sie mich nicht. Und haben mir das auch dauernd gezeigt. Allerdings führte das bei mir nur zu Trotzreaktionen, sodass ich fast jeden Kerl aus meinem und den beiden anliegenden Jahrgängen mindestens einmal angeflirtet hatte.
 

Angriff ist halt die beste Verteidigung.

»Sie ist doch gar nicht hässlich, ich weiß echt nicht, was sie eigentlich hat«, sagt Chris in diesem Moment und wühlt in meinem Kleiderschrank herum. Dann pflückt er eine rote Bluse heraus und wirft sie mir zu.

»Die beißt sich mit meinen Haaren«, sage ich ungnädig. Er verdreht die Augen.

»Du wolltest doch nicht gut aussehen. Also. Zieh sie an und knöpf sie bis obenhin zu. Ich hab keine Lust mehr Modeberater zu sein«, beklagt er sich und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich mustere ihn und muss schmunzeln. Chris und ich. Wir wären so ein schönes Paar. Wirklich. Wenn er nur nicht stockschwul wäre. Aber eigentlich möchte ich sowieso lieber einen durchschnittlich aussehenden Nerd mit Brille, der mich zu schätzen weiß und auf Händen trägt. Man könnte meinen, dass das mit meinem Aussehen möglich wäre. Scheint es aber doch nicht zu sein, denn ich bin seit Jahren Single und hatte noch nie eine ernsthafte Beziehung. Übrigens bin ich 25 und habe beinahe fertig studiert. So viel zu meiner umwerfenden Schönheit.
 

Chris streckt sich und pustet sich seine braunen Fransen aus dem Gesicht. Er sieht wirklich gut aus. Aber genau wie ich hat er es nicht mit Beziehungen. Ich sage ja, wir wären das perfekte Paar.

»Also schön. Dann eben mit roter Bluse, die sich mit meinen Haaren beißt«, sage ich und schaue mich in meinem mannshohen Spiegel an. Der schwarze Rock ist wahrscheinlich zu eng und die Bluse zu tailliert. Aber ich hab meine rotbraunen Haare zu einem unauffälligen Pferdeschwanz gebunden und bin nicht geschminkt. Leider Gottes habe ich keine flachen Schuhe, die zu so einem Outfit passen. Also müssen es Highheels sein. Ich sehe schon Larissas Blick vor mir und seufze leise.

»Grüß sie von mir«, sagt Chris grinsend und ich schnaube.

»Ich würde dich gern mitnehmen und dich als meinen Freund vorstellen. Sonst darf ich mir von meinen Eltern wieder Seitenhiebe anhören, was für hübsche Enkel ich produzieren könnte«, sage ich schnippisch und er geht mit Unschuldsmiene zur Tür.

»Ich bin…«

»…mit Jakob zum Kaffeetrinken verabredet. Ja ja, schon klar.«
 

Ich greife nach dem Geschenk, das auf meinem Schreibtisch liegt, schlüpfe in die Schuhe, die Larissa hassen wird und nehme meine Handtasche.

»Viel Spaß«, ruft Chris aus dem Bad.

»Halt die Schnauze!«, antworte ich und höre sein Lachen. Er ist ein schrecklicher Mitbewohner. Wenn ich heile wieder zurück bin, dann werde ich ihn zwingen, die Küche zu putzen. Oder einkaufen zu gehen. Oder…
 

Ich lasse mich mit einem Taxi zum Standesamt fahren. Ich bin nicht einmal Trauzeugin. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass meine Schwester mich nicht ausstehen kann. Es ist nicht so, dass wir uns schlecht verstehen. Nur hat sie immer im Hinterkopf, dass ich hübscher bin als sie und das kann sie offenbar unter keinen Umständen ertragen. Ich hätte ihr beizeiten gerne mal gesagt, dass das für mich mindestens genauso anstrengend ist, wie für sie. Allerdings hatte ich immer das Gefühl, dass ich die Schuldige war und ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Mit finsterer Miene werfe ich einen Blick auf die Armbanduhr. Es wird sicherlich eine wunderbare Hochzeit mit vielen Blumen und leckerem Kuchen und Musik. Und ich bin immer noch Single. Das Leben ist doch wirklich ungerecht.
 


 

»Sina, trink nicht so viel Champagner«, sagt Larissa vorwurfsvoll und nimmt mir mein fünftes Glas aus der Hand. Wir stehen in ihrem Garten. G a r t e n. Sie haben ein beknacktes kleines Haus mit einem Namensschild an der Tür und mit einem Buchsbäumchen neben der Fußmatte. Wie ekelhaft idyllisch ist das bitte sehr? Ich könnte wirklich kotzen, und das nicht wegen des Champagners. Der ist nämlich wirklich lecker.

»Wie soll ich den Pulk denn sonst ertragen?«, murmele ich öffne einen Knopf an meiner Bluse. Larissa sieht in ihrem cremefarbenen Kostüm und mit den hochgesteckten Haaren ziemlich gut aus. Besser als ich in meiner roten Bluse auf jeden Fall. Sie seufzt leise und sieht mich an.

»Du hättest jemanden mitbringen können«, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Die Haltung kenne ich. Es ist die ›Du-bist-selber-Schuld‹- Haltung. Ich sehe sie einen Moment lang schweigend an, dann nehme ich ihr das Glas Champagner aus der Hand und trinke es in einem Zug leer.
 

»Habt ihr vor euch nen Hund zu kaufen? Würde super zu diesem Haus passen«, sage ich, um nicht völlig auszurasten und ihr mein nächstes Glas Champagner ins Gesicht zu schütten.

»Nein. Wir wollen keinen Hund. Matthias hat eine Allergie«, sagt sie. Ihre dunklen Haare passen gut zur Farbe des Blazers. Ihre Brüste sind viel kleiner als meine, ihre Beine nicht so lang. Sie hat nicht so einen Schmollmund wie ich und auch nicht so große Augen. Aber das alles bedeutet nicht, dass sie nicht gut aussieht.

»Ach ja«, sage ich desinteressiert und deute unauffällig mit der Hand in Richtung eines Kerls, der sich gerade mit Matthias unterhält und ein Bier trinkt.

»Wer ist das?«, frage ich, weil ich ihn nicht kenne. Sie hebt die Brauen.

»Matthias’ bester Freund Nils. Er ist vergeben, falls du–«
 

Ich schnaube und drehe mich um.

»Halt die Klappe, ok? Mir reicht’s. Ich fahr wieder nach Hause«, blaffe ich sie an und stapfe über den perfekt manikürten Rasen zum Gartentor. Sie hat doch alles. Ein Haus, einen Mann, ein Buchsbäumchen neben der Fußmatte. Was um alles in der Welt habe ich falsch gemacht, dass sie ständig auf mir rumhacken muss? Nur weil ich frage, wer der Typ ist… sie dachte natürlich gleich, dass ich ihn anmachen will. Das denkt sie von jedem Mann in meiner Nähe. Ich hasse es. Dunkel frage ich mich, wieso ich überhaupt hergekommen bin.

Ich hab ihre Blicke im Standesamt schon gesehen. Als würde sie mich dauernd beobachten wollen, nur um sicher zu gehen, dass ich keine Dummheiten anstelle.
 

Ich krame in meiner Handtasche nach dem Handy.

»Sina, würdest du bitte mal stehen bleiben?«

Na klar. Jetzt rennt sie mir noch nach und hält mir eine Gardinenpredigt, weil ich ihre perfekte Hochzeit versaue.

»Ich hab keine Lust mehr, verstehst du? Ich hab keine Lust mehr ständig von dir behandelt zu werden, als wäre ich eine Kriminelle, nur weil ich größere Brüste habe als du!«, schnauze ich sie an und es ist das erste Mal, dass ich es ihr unter die Nase reibe. Das erste Mal, dass ich ihr sage, wie bescheuert ich es finde.

»Du tust immer so, als wärst du so arm dran mit Körbchengröße A und mit kürzeren Beinen. Ständig denkst du, ich würd’ jeden Mann angraben, der mir unter die Augen kommt. Was willst du denn noch? Du hast einen Mann und ein beschissenes Haus und einen blöden, perfekt gestutzten Buchsbaum neben der Fußmatte! Wieso bist du neidisch auf mich, wenn du alles hast, was ich nie haben werde, weil Männer in mir immer nur lange Beine und Brüste sehen?«
 

Sie starrt mich an und blinzelt verwirrt. Dann öffnet sie den Mund, um etwas zu sagen, aber scheinbar fällt ihr nichts ein.

»Ich wurde jahrelang in der Schule fertig gemacht, weil die Mädchen fanden, dass ich zu hübsch bin! Du nicht! Du hattest deine beste Freundin und deine Mädels, mit denen du Pyjamaparties veranstaltet hast und mit denen du Mädchenkram im Fernsehen angucken konntest. Ich hatte immer nur Jungs um mich rum, weil sie mich toll fanden. Weil ich eben hübsch war! Ich hasse es, dass du so tust, als wärst du ein Opfer!«

Mittlerweile schreie ich sie richtig an und sie zuckt zurück.

»Lissa? Ist alles ok?«, höre ich Matthias von hinten rufen. Wütend blinzele ich meine Tränen fort.
 

»Ja… Ja, ich komme gleich!«, antwortet sie über die Schulter, dann dreht sie sich wieder um und holt tief Luft.

»Jens«, sagt sie. Ich hebe die Brauen.

»Was ist mit Jens?«, will ich immer noch wütend wissen und wische mir über die Augen. Wie gut, dass ich heute ungeschminkt bin.

Jens war Larissas Freund, als sie siebzehn war.

»Du weißt, wie verknallt ich in ihn war. Seit Jahren. Und dann hab ich ihn endlich bekommen«, fährt sie fort und betrachtet ihre Fingernägel.

Ja, ich erinnere mich. Sie war seit mehreren Jahren hinter ihm her, aber sie hat ihn nie interessiert. Bis sie dann irgendwann freudestrahlend heim kam und meinte, sie wäre jetzt mit ihm zusammen.

»Er wollte gar nicht mich. Er war hinter dir her. Immer wollte er nur über dich reden und er wollte immer zu uns nach Hause kommen, ich durfte ihn nie besuchen. Am Anfang hab ich das einfach ignoriert, aber… irgendwann ist mir aufgegangen, wieso er immer zu mir nach Hause wollte. Und als ich ihm gesagt habe, dass ich keine Lust mehr habe, dass er meine Schwester angeiert, da sagte er mir, ich sei nicht sein Typ und ohnehin nicht hübsch und könnte dir nie das Wasser reichen…«
 

Ich starre sie an.

»Aber wieso hast du es mir nicht…«, fange ich an, aber ihr Blick sagt mir schon, wieso. Weil es ihr peinlich war. Unangenehm. Sie hat sich bloßgestellt gefühlt und das kann ich verstehen.

»Ich musste so oft Briefe an dich weiterleiten von irgendwelchen Kerlen, die dich toll fanden. Immer, wenn Jungs sich für mich interessiert haben, dann war das nur, weil du meine Schwester warst. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst, aber es war trotzdem nicht einfach. Als ich Matthias kennen gelernt habe, da dachte ich, wenn ich euch vorstelle… dass ihm dann auffällt, wie viel hübscher du bist und dass er sich dann auch nur noch für dich interessiert…«
 

»Aber…«, sage ich und wir stehen nun voreinander, beide mit Tränen in den Augen und sehen uns an. Irgendwie erstaunt, dass wir all das nie übereinander gewusst haben, obwohl wir miteinander aufgewachsen sind.

»Ich hab nie verstanden, wieso du mich beneidest«, sage ich leise und wische mir noch mal über die Augen.

»Ich hätte auch gern eine beste Freundin gehabt. Und ich hätte auch gern jemanden, der mich so liebt wie Matthias dich. Und zwar nicht nur, weil ich hübsch bin, sondern weil… weil ich besonders bin. Und überhaupt… du bist… nicht weniger hübsch als ich«, sage ich. Sie schnaubt leise.

»Natürlich bin ich–«

»Ich finde dich hübsch. Du bist hübsch. Anders hübsch als ich es bin. Und du hast es so viel besser, weil Menschen eher darauf achten, wie schön du… innen bist, als immer nur aufs Äußere zu schauen. Ich wollte immer so gern mit dir tauschen…«
 

Larissa sieht mich einen Moment lang sprachlos an, dann bricht sie in Tränen aus und fällt mir um den Hals. Ich umarme sie und bemühe mich, nicht ihren hübschen Blazer voll zu heulen. Wieso waren wir all die Jahre so neidisch aufeinander? Wenn wir einfach darüber geredet hätten, dann wäre es vielleicht besser gewesen. Dann hätten wir uns sicher besser verstanden. Sie war ihr Leben lang neidisch auf mich. Dabei hatte sie nie einen Grund dazu. Ich habe nur immer vergessen, ihr das zu sagen. Wenn ich es ihr gesagt hätte, dann wäre sie vielleicht nicht immer so wütend auf mich gewesen.

»Die Sache mit Jens tut mir Leid«, schniefe ich, »ich hab nie mit ihm geflirtet, ehrlich…«

»Weiß ich«, schnieft sie zurück. Als wir uns voneinander lösen, müssen wir lachen.

»Wie blöd wir sind«, sage ich und nehme das Taschentuch, dass sie mit hinhält. Dann putzen wir uns synchron die Nase.
 

»Ich wollte dir nicht deine Hochzeit versauen«, meine ich.

»Hast du nicht«, gibt sie zurück und greift nach meiner Hand.
 

»Ich könnte dir einen Buchsbaum kaufen. Für deine Wohnungstür«, schlägt sie vor und ich muss lachen. Hand in Hand gehen wir zurück durchs Gartentor.

»Schon ok. Pflanzen gehen bei mir immer ein«, sage ich und sie kichert leise. Dann wird sie ernst und bleibt neben einem Ginsterbusch stehen.

»Wenn du willst, dann können wir zusammen eine Pyjamaparty feiern und Sex and the City anschauen«, sagt sie unvermittelt. Ich blinzele sie an und dann lache ich erneut und muss schon wieder anfangen zu heulen.

»Sei nicht so nett zu mir«, beklage ich mich und sie wischt sich auch schon wieder die Augen. Meine Güte, so viel geheult hab ich seit Ewigkeiten nicht mehr.

»Ich muss ein paar Jahre gutmachen, in denen ich nicht verstanden hab, dass… na du weißt schon«, meint sie verlegen und ich nicke. Ja, ich weiß schon.

»Und noch was«, meint sie und räuspert sich. Ich sehe sie gespannt an.

»Ich… ähm… sag’s noch nicht Mama und Papa, ok? Das will ich später selber machen… in Ruhe. Aber… ich bin schwanger. Fünfte Woche.«
 

Ich starre sie an. Dann falle ich ihr jubelnd um den Hals.

»Oh mein Gott! Ich werde Tante!«, quietsche ich und sie macht mahnend »Pscht!«

»T’schuldige. Ich meine… ich werde Tante«, flüstere ich und sie nickt schmunzelnd.

»Würdest du… würdest du Taufpatin werden?«

Heulen ist so eine Sache, die ich nie großartig praktiziert habe. Ich bin eigentlich kein richtiges Mädchen. Wie auch immer man ›richtig‹ definieren mag. Aber ich wollte immer gern eins sein und es ist gar nicht so übel, mal ordentlich zu heulen. Und das tue ich schon wieder.

»Ja, klar! Ich will den Namen mit aussuchen! Darf ich? Wie wäre es mit Emily? Oder Sarah?«

Larissa lacht und hakt sich bei mir unter.

»Ich werd drüber nachdenken. Vielleicht wird’s auch ein Junge«, meint sie und zieht mich hinüber zum Buffet.

»Wie ist es dann mit Manuel? Ich find auch Nicolai sehr schön…«

Wer hätte gedacht, dass ich mit fünfundzwanzig noch mal dazu komme, eine beste Freundin zu haben? Eine, die eigentlich immer schon da war.

Sternschnuppen

Für meine My zu Weihnachten! <3

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Ich habe angefangen Sternschnuppen zu sammeln. Es ist schon ziemlich lang her, dass ich damit angefangen habe und zu Beginn hat sich eigentlich nie einer der Sternschnuppenwünsche erfüllt, die ich hatte. Ich war vierzehn, als ich mir das erste Mal was von einer Sternschnuppe gewünscht habe. Es war in der achten Klasse, noch bevor der ganze Terror der Mädchen losging, die der Meinung waren, sie müssten mich verprügeln und mir die Haare abschneiden, um ihren Neid an mir auszulassen.
 

Mit vierzehn habe ich mir eine beste Freundin gewünscht. Irgendwann ist mir klar geworden, dass dieser Wunsch wohl nicht in Erfüllung gehen wird. Spätestens nach dem Vorfall mit dem ungewollten Haarschnitt und dem dazugehörigen Krankenhausaufenthalt habe ich den Wunsch aufgegeben, aber ich hab ihn trotzdem behalten. Aufgehoben, sozusagen. Ein verfallener, unerfüllter Wunsch. Aber nur, weil er nicht erfüllt wird, ist er ja nicht auf einmal ungültig. Er bleibt, auch wenn man sich vornimmt, es sich nicht mehr zu wünschen. Er bleibt, auch wenn man sich irgendwie sicher ist, dass er nie wahr werden wird.
 

Ich war neunzehn, als ich mir das zweite Mal etwas von einer Sternschnuppe gewünscht habe. Es war nach Larissas Verlobung, ich war gerade mit der Schule fertig und habe angefangen, meine Bewerbungen für die Uni zu schreiben. Ich hab mir einen Freund gewünscht, der durchschnittlich aussieht, intelligent und nett ist und mich auf Händen trägt. Wie schon der erste Wunsch ist die zweite Sternschnuppe nicht wahr geworden. Mit dreiundzwanzig hab ich aufgehört zu suchen und zu hoffen und ich habe den Wunsch zu der anderen Sternschnuppe gelegt.
 

Danach hab ich mir gedacht, dass ich mir vielleicht zu große Dinge wünsche. Ich hab zwar keine beste Freundin bekommen, aber dafür einen großartigen besten, schwulen Freund. Vielleicht, hab ich mir gedacht, kommen Wünsche eben manchmal anders, als man denkt. Natürlich bin ich dankbar dafür, dass ich Chris habe und dass er mich mit allen Ecken und Kanten nimmt und liebt. Als ich mich in ihn verknallt habe, war die Welt eine ganze Weile lang ungerecht und anstrengend. Chris ist weder unscheinbar, noch kann er sich auch in mich verlieben.
 

Zwei Sternschnuppen mit ziemlich großen Wünschen, die sich nicht so recht erfüllen wollten. Bis ich fünfundzwanzig geworden bin. Ich habe festgestellt, dass die beste Freundin, die ich so unbedingt wollte, eigentlich schon die ganze Zeit dagewesen ist und es nur ein paar unnötige Missverständnisse gab, die uns voneinander getrennt haben. Meine beste Freundin ist meine große Schwester. Nachdem mir das klar geworden ist, hab ich auch den zweiten Wunsch wieder ausgegraben und ihn bei mir behalten. Ich hab nicht gedacht, dass ich ihn so schnell nach Erfüllung meines ersten Wunsches finden würde. Aber er tauchte auf dem merkwürdigsten Ort auf. Auf einem Jahrgangstreffen, zu dem ich eigentlich nur gegangen bin, um den elendigen Maden, die meine Schulzeit zur Hölle gemacht haben, zu zeigen, dass ich immer noch mit hocherhobenen Kopf durchs Leben gehe, immer noch gut aussehe und sie nichts mit ihrem Terror erreicht haben, außer mich stärker zu machen.
 

Meine zweite Sternschnuppe ist Fabian, der ganz genauso ist, wie ich ihn mir gewünscht habe. Und eigentlich noch besser. Noch besser ist es, dass nicht nur ich in ihn verliebt bin, sondern er auch in mich und als er mir gesagt hat, dass er schon früher in der Schule in mich verliebt war, hab ich ein zweites Mal festgestellt, dass die besten Dinge manchmal direkt vor der eigenen Nase sitzen und man sie einfach nicht sieht. Fabian und Larissa sind wunderbar und als Bonus hab ich Chris und Anjo und einen großartigen Bekanntenkreis, der keine Probleme damit hat, dass ich gut aussehe. Es ist angenehm, mit so vielen Schwulen zusammen zu hocken. Sie interessieren sich herzlich wenig für meine Brüste und meine Beine und das macht mich jedes Mal aufs Neue zufrieden.
 

Meine dritte Sternschnuppe hängt mit der zweiten zusammen. Ich bin achtundzwanzig und seit drei Jahren mit Fabian zusammen. Ich bin Tante von einem entzückenden Jungen namens Julian und meine beste Freundin und große Schwester ist zum zweiten Mal schwanger. Ich liebe Fabian immer noch und bin mir sicher, dass ich ihn nie wieder hergeben will, auch wenn ich weiß, dass ich wahnsinnig anstrengend sein kann. Er verzeiht mir immer viel zu schnell und ich habe mittlerweile sogar gelernt, mich zu entschuldigen. Meine dritte Sternschnuppe ist eine Hochzeit.
 

Ich hab diesmal wirklich Angst, dass sich der Wunsch nicht erfüllt. Die Vorstellung, dass Fabian mich vielleicht nicht auf diese Art und Weise behalten will, wie ich ihn, ist zu furchtbar, um ihn wirklich auszusprechen. Ich tu’s trotzdem und erzähle Chris davon. Er verdreht nur die Augen und nimmt mich in den Arm, um mir zu sagen, dass ich sicherlich keine Angst haben muss. Immerhin ist Fabian seit der neunten Klasse vernarrt in mich, sagt Chris, da wird er jetzt sicherlich nicht damit aufhören.
 

Es stellt sich heraus, dass er Recht hat und meine dritte Sternschnuppe erfüllt sich diesmal so schnell, dass ich überhaupt nicht damit rechne. Ich bin es mittlerweile gewöhnt, jahrelang auf meine Wünsche zu warten, aber Fabian scheint sich vorgenommen zu haben, die Sache zu beschleunigen. Zugegebenermaßen hab ich überlegt, ob ich ihm einfach einen Antrag machen soll, aber irgendwo in mir steckt immer noch das junge Mädchen, das auch mal passiv sein möchte. Fabian scheint das zu wissen.
 

Ich bekomme meine dritte Sternschnuppe in Form von Luftballons vor meinem Fenster. Sie sind bunt und riesig und auf jedem steht »Willst du mich heiraten?« und das Erste, was ich tue, ist, in Tränen auszubrechen. Wie sich herausstellt, steht Fabian vor meiner Zimmertür. Er hat mittlerweile einen Wohnungsschlüssel. Als er klopft und reinkommt, werfe ich mich in seine Arme und sage ihm gefühlte hundert Mal »Ja!«. Dann holen wir die Luftballons ins Zimmer und ich mache einen riesigen Berg Fotos davon. Sie bleiben solange in meiner Zimmerecke stehen, bis das Helium irgendwann aufgegeben hat und die Ballons schrumpfen und zu Boden gehen.
 

Chris verkündet, dass er ausziehen wird. Ich bin wehmütig, aber ich weiß, dass er es für mich macht. Er ist mit dem Studium fertig und weiß nach Fabians Antrag, dass Fabian hier einziehen wird. Ich muss noch mehr weinen und Chris umarmen und ihm drohen, damit er trotzdem ganz oft zu Besuch kommt. Chris sagt, dass er sowieso lernen sollte, allein zu wohnen und das tut er dann auch. Gott sei Dank nicht allzu weit weg von mir. Zwar gehört Fabians Einzug nicht offiziell zu meinen Sternschnuppen, aber ich lege ihn nach Erfüllung zu den anderen Drei. Er zieht in Chris‘ Zimmer. Es ist merkwürdig, wie die Wohnung sich über die Jahre verändert hat. Zuerst war nur ich da, dann Chris, dann kam Anjo. Dann ist Anjo mit Lilli und Benni zusammen gezogen, um an der Kunsthochschule zu studieren. Und jetzt ist Fabian hier.
 

Ich erzähle ihm von meinen Sternschnuppen und er lächelt. Zwei Wochen später gehen wir Sterne angucken. Hin und wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich frage, ob ich Fabian eigentlich verdient habe. Zweimal hab ich das ihm gegenüber erwähnt und er war bestürzt. Ich glaube, dass er denkt, mich nicht verdient zu haben. Was Humbug ist. Alles in allem sind wir beide ein wenig idiotisch, aber wir sind verlobt. Und Larissa freut sich für mich wie eine Wahnsinnige. Dann erzählt sie mir, dass das zweite Kind wieder ein Junge wird. Sie und Mathias entscheiden sich diesmal für den Namen Kai.
 

Fabian verrät mir beim Sterneschauen, dass er sich auch gern etwas wünschen würde. Ich weiß, dass man eigentlich nicht fragen soll und dass, wenn man es laut sagt, der Wunsch nicht in Erfüllung geht. Aber er verrät mir, dass der Wunsch mit mir zu tun hat und meint, dass ich ihn kennen muss, weil er wissen will, ob ich vielleicht denselben habe.

Fabians erste Sternschnuppe wird meine Vierte.
 

Ich möchte ein Kind mit dir. Oder auch zwei, sagt er. Ich muss schon wieder weinen. Wir liegen eine Stunde lang schweigend und aneinander geschmiegt unter den Sternen und ich kann nicht fassen, wie kitschig das ist. Und verflucht schön. Nach all der Scheiße, die ich in meiner Schulzeit durchgemacht habe, scheint mein Karma mir jetzt besonders viel Freude machen zu wollen. Ich kann es nicht fassen, wie weit ich gekommen bin. Von Mobbing und Einsamkeit und Selbstmordgedanken in der Schulzeit hin zu wunderbaren Freundschaften und einem entzückenden Neffen und dem besten Verlobten der Welt.
 

Ich hab keine Ahnung, ob ich eine gute Mutter sein kann, aber ich möchte so sehr und schließlich hat jede Frau irgendwann damit angefangen. Fabian und ich heiraten ein halbes Jahr später und aus unseren getrennten Zimmern wird ein Schlafzimmer – mein ehemaliges Zimmer. Sein altes Zimmer wird das Kinderzimmer. Wir sind jetzt Sina und Fabian Schleiermacher.
 

Meine vierte und Fabians erste Sternschnuppe kommt vier Monate später zur Welt. Es ist das allerschönste Mädchen, das die Welt je gesehen hat. Wir nennen unsere gemeinsame Sternschnuppe Elena und sie bekommt drei Paten. Larissa, Chris und Simon, Fabians bester Freund. Wir wollen noch ein zweites, aber das hat noch Zeit. Man sollte es mit den Sternschnuppen schließlich nicht übertreiben. Wir sind jetzt Fabian und Sina und Elena Schleiermacher.
 

Ich bin immer noch unheimlich glücklich und stelle fest, dass die Wartezeit auf meine ersten beiden Sternschnuppen im Rückblick nicht allzu schlimm war. Dafür habe ich sie doppelt und dreifach erfüllt bekommen und ich bin unendlich dankbar dafür, jeden einzelnen Tag. Ich rahme mir Bilder für meine Sternschnuppen und hänge sie ins Wohnzimmer. Larissa, Chris und der Rest meines Freundeskreises, der irgendwie eine Bonussternschnuppe ist, Fabian, unsere Hochzeit, Elena.
 

Rechts davon ist noch eine Menge Platz.

Für ein Leben voller Sternschnuppen.

Das Beste zum Schluss

Für meine Lisa <3

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Ich seufze und schaue hinunter auf meine Armbanduhr. Wohnungssuche ist wirklich nicht meine Lieblingsbeschäftigung und ich habe heute bereits den fünften Besichtigungstermin hinter mir. Toiletten und Duschen auf dem Hausflur, ein selbsternannter Vampir und ein Angebot für einen Dreier waren die Krönungen des heutigen Tages und ich bin der Versuchung unterlegen, die Sache mit der WG einfach zu schmeißen und mir was Eigenes zu suchen. Das wäre wahrscheinlich einfacher, aber ich kenne mich. Ich komme aus einem Haushalt mit vier Geschwistern und einem riesigen Berg Haustieren. Wenn ich allein in einer Wohnung hocken müsste, dann würde ich garantiert wahnsinnig werden. Ich krame in meiner Jackentasche nach dem Zettel, auf dem ich die letzte Adresse für heute notiert habe, und werfe dann einen Blick auf die Hausnummer, vor der ich momentan stehe. Schlimmer als vorher kann es doch eigentlich wirklich nicht werden, denke ich mir und hebe die Hand, um auf den Knopf neben dem Namen ›Schleiermacher‹ zu drücken.
 

Es summt beinahe sofort, nachdem ich geklingelt habe. Ich erinnere mich an die Anzeige dieser Wohnung. Es klang alles sehr vielversprechend. Zweier-WG, nicht nur als Zweckgemeinschaft gedacht, Waschmaschine und Internet und sogar eine Spülmaschine – für Leute, die nicht gern abspülen, ist das der Himmel. Die Lage ist gut, auch wenn Parkplätze sicherlich schwer zu finden sind. Und die junge Frau, die in der WG wohnt, klang am Telefon nicht übel.

Als ich oben ankomme, ist die Haustür bereits offen und ich trete in einen schmalen Flur. Links neben der Tür hängt ein Schlüsselbord. Ich registriere eine helle Kommode und ein großes Poster mit Werbung für Calvin Klein, dann ertönt eine verzweifelt genervte Stimme und ich wende den Kopf, um die Besitzerin der Stimme zu mustern.
 

Sie ist ziemlich klein – was neben mir natürlich nichts heißt, aber ich bin ich sicher, dass sie nicht viel größer als einen Meter sechzig ist – und hat das hübscheste Gesicht, das ich je gesehen habe. Volle Lippen, große, von langen Wimpern umrahmte Augen, blasse Haut und rotbraune, leicht gewellte Haare. Wenn ich nicht stockschwul wäre, würde ich jetzt womöglich durch die Zähne pfeifen.

»Nein«, sagt sie. Ich blinzele verwirrt. Sie massiert sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel und schüttelt resigniert den Kopf.

»Das kann nichts werden mit uns«, erklärt sie und ich kann nicht umhin, ziemlich empört dreinzuschauen. Ich hab mich noch nicht mal vorgestellt und sie will mich schon wieder rauswerfen?
 

»Wieso?«, frage ich verwirrt und leicht säuerlich. Sowas ist mir ja noch nie passiert. Sie lässt ihre Hand sinken und seufzt, dann gestikuliert sie zu mir herüber, als würde sie sagen wollen ›Sieh dich doch mal an‹. Ich versteh leider immer noch nicht, was eigentlich ihr Problem ist. Bisher war ich dem Eindruck erlegen, dass ich nicht allzu schlecht aussehe.

»Seien wir ehrlich, wir würden doch sowieso nur miteinander in die Kiste steigen. Und dann ist es komisch, weil wir gevögelt haben und ich will wirklich nicht mit meinem Mitbewohner vögeln«, erklärt sie trocken. Ich starre sie an und weiß nicht, ob ich lachen oder die Augen verdrehen soll. Ich entscheide mich für ein breites Grinsen.

»Wir werden nicht vögeln«, versichere ich ihr. Sie hebt die Brauen. Die Botschaft ist klar. ›Sicher. Hast du mich schon von oben bis unten angeschaut?‹

Diese Frau ist unglaublich. Ich bin fast ein wenig beeindruckt davon, wie sie mit einem simplen Gesichtsausdruck problemlos sprechen kann.
 

»Ich bin schwul«, informiere ich sie trocken und ihr skeptischer Gesichtsausdruck fällt in sich zusammen. Einen Moment lang sieht sie vollkommen verdattert aus, dann breitet sich auf ihrem Gesicht ein Strahlen aus, das die ganze Wohnung erhellt. Zugegebenermaßen hat so noch keine Frau auf diese Eröffnung reagiert.

»Wie wunderbar! Das ist natürlich was anderes. Komm doch rein!«, sagt sie, huscht an mir vorbei und schließt die Tür hinter mir. Ich muss glucksen und ziehe meine Schuhe aus.

»Tut mir Leid wegen der schroffen Begrüßung, aber ich hatte heute schon elf ganz furchtbare Besichtigungen«, erklärt sie mit entschuldigendem Unterton.

»Wem sagst du das. Ich bin nicht sicher, ob du mich toppen kannst. Ich wurde nach einer Badbesichtigung zu einem Dreier eingeladen«, informiere ich sie und ziehe meine Jacke aus. Sie lacht laut und hell und fährt sich durch die gewellten Haare.
 

»Wow. Waren es wenigstens zwei Männer, die dich eingeladen haben?«, erkundigt sie sich amüsiert und ich folge ihr durch den Flur nach links durch eine Tür und stehe im Wohnzimmer. Zwei Fenster führen zur Straße hinaus, ein blaues Sofa nimmt den meisten Platz ein und der Teppichboden ist grau. Es ist ordentlich und sehr gemütlich.

»Nein. Zwei beste Freundinnen«, antworte ich und ziehe bei der Erinnerung daran die Schultern hoch. Sina grinst unheimlich breit.

»Ich bin übrigens Chris«, sage ich, als sie aufs Sofa deutet. Ich setze mich und sie wirft sich in einen ebenfalls blauen Sessel.

»Sina. Aber das weißt du ja schon aus der Anzeige«, gibt sie schmunzelnd zurück und schlägt ihre schlanken Beine übereinander.
 

»Ich glaube, die Einladung zum Dreier kann ich wirklich nicht toppen. Ich hatte einen Kettenraucher, einen Death-Metal-Fan, der gefragt hat, ob man mein Gästezimmer als Proberaum nutzen könnte, und einen Haufen Mädchen, die mich angesehen haben, als wäre ich etwas Schleimiges, Ekliges«, sagt sie in munterem Ton. Ich hebe die Brauen.

»Wieso schauen Mädchen dich an wie was Schleimiges?«, erkundige ich mich und Sina zuckt mit den Schultern.

»Tun die meisten«, sagt sie nur und deutet an sich herunter. Ich kann mir nur ungefähr denken, worum es dabei geht, aber es scheint mir doch für eine gerade mal zweiminütige Unterhaltung zu früh zu sein, um über solchen Kram zu reden.

»Ok. Also, ich finde dich nicht besonders schleimig. Und ich rauche nicht. Und ich höre kein Death Metal«, erkläre ich grinsend. Sina lacht leise.
 

»Das klingt sehr vielversprechend«, gibt sie zwinkernd zurück. »Möchtest du was trinken?«

»Saft… oder so?«, gebe ich zurück. Sie nickt und steht auf, dann verschwindet sie hinter mir und ich drehe mich um, um durch einen Türbogen in der Wand direkt in die Küche zu schauen. Ich hab noch nicht mal das freie Zimmer gesehen und bin jetzt schon viel zu versessen darauf, hier einzuziehen. Vielleicht bin ich nach den Schrecklichkeiten des Tages auch einfach anspruchsloser geworden?

Sina kehrt mit einem Glas O-Saft zurück und stellt ihn vor mir auf den Couchtisch, dann setzt sie sich wieder in ihren Sessel.

»Ok, ich hab mir vorgenommen, von vornherein reinen Tisch zu machen«, sagt sie und ich setze mich etwas gerader hin. Dann greife ich nach meinem Glas und nehme einen Schluck Saft, ohne Sina aus den Augen zu lassen.
 

»Ich bin oft arrogant und zickig und sehr launisch, wenn ich viel Stress in der Uni habe. Ich kann nicht kochen und sehe es nicht ein, den Dreck meines Mitbewohners wegzuräumen. Ich schleppe dauernd wechselnde Kerle mit hierher und schmeiße sie morgens wieder raus. Wenn das ein Problem ist, dann bin ich eindeutig nicht die richtige Mitbewohnerin für dich«, sagt sie in einem sachlichen Ton, als hätte sie mir die Mietpreise vorgelegt.

Ich muss schon wieder grinsen und beschließe, dass ich wohl auch ehrlich sein sollte, wenn sie mir die Karten so offen auf den Tisch legt.

»Ich werde unausstehlich, wenn ich länger keinen Sport gemacht habe. Ich brauch niemanden, der mir hinterher räumt, ich bin mit drei jüngeren Geschwistern aufgewachsen und kann mich deswegen ganz wunderbar selber versorgen. Ich kann auch nicht kochen, aber ich bin auch nicht besonders anspruchsvoll, was Essen angeht. Dass ich schwul bin, weißt du ja schon. Ich mache da keinen Hehl draus. Ich bin Anti-Aggressions-Trainer für gewalttätige Jugendliche und es kann manchmal vorkommen, dass mitten in der Nacht mein Handy klingelt, weil irgendwas passiert ist. Ich schleppe auch oft Kerle mit nach Hause, aber ich hab es nicht mit One-Night-Stands, es sind meistens Affären, die ein paar Monate dauern, bis ich keine Lust mehr habe…«
 

Sina mustert mich einen Moment lang schweigend und dann lächelt sie. Ein ganz ehrliches, herzliches Lächeln.

»Möchtest du den Rest der Wohnung sehen?«, fragt sie, ohne meine Geständnisse zu kommentieren, und erhebt sich. Ich nicke und folge ihr zunächst in die Küche, von der ich ja bereits ein Stück gesehen habe. Ein kleiner, eckiger Tisch mit vier Stühlen steht in der hinteren Ecke der Küche und auch hier ist alles aufgeräumt.

»Spülmaschine«, sagt sie und klopft gegen besagtes Küchengerät. Ich gebe ein schmachtendes Geräusch von mir, was Sina zum Lachen bringt.

Anschließend geht’s ins Bad, das sehr klein ist, aber es hat ein Fenster, eine Dusche und ist hell gefliest.

»Wahrscheinlich müsste noch ein extra Regal an die Wand. Meine Kosmetik nimmt praktisch das ganze Bad ein«, sagt Sina halb entschuldigend. Aber das macht mir nichts. Wenn ich irgendwo mein Deo, mein Duschgel und meinen Rasierer samt Zahnbürste hinstellen kann, bin ich zufrieden.
 

Dunkel wird mir klar, dass ich bereits halb davon ausgehe, hier einzuziehen. Ich hab immer noch nicht das Zimmer gesehen… ich bin ein Vollidiot.

Sie zeigt mir das kleine, gemütliche Gästezimmer und ihr eigenes Zimmer, dessen Wände komplett mit Bildern, Fotos und Zeitschriftenausschnitten beklebt sind. Wahrscheinlich bräuchte man Stunden, um alles zu sehen, aber eventuell hab ich ja Glück und bekomme später noch die Gelegenheit, um mir alles genauer anzusehen.

»Und das hier ist das freie Zimmer«, meint sie und öffnet die letzte Tür.

Wie das Wohnzimmer und Sinas Zimmer hat dieser Raum zwei Fenster, die allerdings in einen Hinterhof hinaus führen. Es ist mit hellem Holzboden ausgelegt und weiß gestrichen. Natürlich ist es bei weitem nicht so groß wie das Zimmer bei meinen Eltern im Haus, aber da hatte ich schließlich einen kompletten, ausgebauten Dachboden. Ich sehe sie von der Seite an und stelle fest, dass sie mich gespannt mustert.
 

»Du hast ‘ne ziemlich geile Wohnung«, sage ich und sie grinst.

»Ich weiß«, gibt sie zurück. Wir gehen zurück ins Wohnzimmer und ich greife nach meinem O-Saft.

»Wie kommt man dazu, Anti-Aggressions-Trainer zu werden?«, erkundigt sie sich interessiert und ich räuspere mich. Dann erzähle ich, was genau ich mache und die Hälfte der Geschichte, wie es dazu gekommen ist. Wir verquatschen uns vollkommen und es ist unheimlich leicht, sich mit Sina zu unterhalten. Ihre Wohnung war meine letzte Besichtigung heute und das ist gut so, denn als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es zwei Stunden später und draußen ist es dunkel.

»Ok, dann werd ich langsam mal«, meine ich, trinke den letzten Rest aus meinem zweiten Glas O-Saft und erhebe mich. Sina nickt und kramt ihr Handy hervor.

»Ah, ich sehe, ich hab deine Nummer schon«, meint sie mit einem prüfenden Blick in ihr Telefonbuch. Ich nicke.

»Ja. Du kannst ja Bescheid sagen, wenn morgen auch nur noch Wahnsinnige zur Besichtigung kommen. Ich würd das Zimmer echt gern haben«, gebe ich zu und sie nickt, während sie das Handy zurück in ihre Hosentasche schiebt.

»Ich sag dir Bescheid. Spätestens Ende der Woche«, verspricht sie. »Und ich drück die Daumen, dass die nächsten Besichtigungen nicht wieder mit Angeboten für Orgien enden.«
 

Einen Moment ist es merkwürdig, als wir im Flur stehen und nicht wissen, wie wir uns verabschieden sollen, aber dann schnaubt Sina und umarmt mich. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihre Arme um meinen Nacken legen zu können, und ich stelle bei dieser Gelegenheit fest, dass sie ziemlich gut riecht. Irgendwie nach einer merkwürdigen Mischung aus Kirsch und Pfefferminz.

»Komm gut nach Hause«, sagt sie. Ich nicke lächelnd.

»War sehr schön, dich kennenzulernen«, gebe ich zurück und sie strahlt und sieht mir nach, als ich die Treppe hinunter gehe. Verfluchte Scheiße, ich will da einziehen. Abgesehen davon, dass die Wohnung klasse und der Mietpreis vollkommen in Ordnung ist, hatte ich eindeutig das Gefühl, dass Sina und ich ziemlich gut zueinander passen. Leider ist es illegal, die anderen Interessenten ausfindig zu machen und verschwinden zu lassen.

Ich bin zwanzig Meter weit gegangen, um zu meinem Auto zu kommen, da piept mein Handy in meiner Hosentasche. Ich krame es hervor und erwarte eine SMS meiner Mutter, die wissen will, ob eine der Wohnungen mir gefallen hat. Weit gefehlt. Die SMS ist von Sina.
 

»Ach scheiß drauf. Ich sag die anderen Besichtigungen ab. Zieh bei mir ein!«
 

Mein Grinsen ist so breit, dass mir beinahe die Wangen wehtun. Ich schließe mein Auto auf und tippe eine hastige Antwort. Es ist gut zu wissen, dass nicht nur ich das Gefühl habe, dass wir irgendwie geklickt haben.
 

»Sehr gerne. Sag Bescheid, wann du Zeit hast, dann komm ich zum Vertrag-Unterschreiben!«
 

Ich grinse immer noch, als ich schon auf halber Strecke zu Hause bin. Wer immer das Sprichwort »Das Beste kommt zum Schluss« erfunden hat, war ein sehr weiser Mensch.

Verzweifelt

Für meinen Ayerkuchen <3

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CHRIS
 

Der Geruch nach Desinfektionsmittel dringt erbarmungslos in meine Nase und ich verziehe das Gesicht. Alles – von den gläsernen Schwingtüren bis hin zu dem zerkratzten Linoleumboden – wirkt beunruhigend steril und schreit von Krankheit und Tod. Ich hab mir nicht mal die Zeit genommen, eine Jacke anzuziehen und fröstele ziemlich, als ich durch den weiß gestrichenen Eingangsbereich haste und ein kleines Wartezimmer finde. Zuerst sticht eine kleine Gruppe Frauen ins Auge. Ich kenne Felix‘ Mutter und seine Schwestern flüchtig. Alle drei Kinder der Familie Prinzler kommen nach ihrer Mutter. Die schmalen Mandelaugen, die vollen Lippen und die dunklen Haare und Iriden haben sie von Frau Prinzler geerbt, die dieser Tage ohnehin schon müde und ein wenig bitter aussieht – die Scheidung von ihrem Mann ist in vollem Gange, kein Wunder also.
 

Stefanie sieht aus, als wäre sie direkt aus dem Hotel, in dem sie arbeitet, hierher gestürmt. Sie hat eine fleckige Schürze um und die Haare in einem unordentlichen Knäuel auf dem Kopf. Christina kaut nervös an ihren Fingernägeln und ihre hohen Schuhe klackern dumpf auf dem mintgrünen Boden, während sie nervös von einem Fuß auf den anderen tritt.

Schließlich fällt mein Blick auf die zusammen gesunkene Figur auf einem der Plastikstühle, die etwas abseits von den anderen hockt. Leon ist leichenblass und hat seine Ellbogen auf den Knien abgestützt. Seine Augen starren ohne zu blinzeln auf den hässlichen Fußboden und er sieht so verloren aus, als hätte sich seine Welt um ihn herum in Luft aufgelöst. Dumpf wird mir klar, dass – egal wie wenig ich Leon leiden kann – Felix gewissermaßen Leons Welt ist. Mal abgesehen von Nicci.
 

»Wie sieht’s aus?«, frage ich Frau Prinzler ohne die Drei großartig zu begrüßen. Ich hab eine SMS von Leons Handy bekommen, die er nicht selber geschrieben hat. Wahrscheinlich war es Steffi oder Christina. Dass Leon überhaupt meine Nummer hat, ist vermutlich nur der Tatsache zu verdanken, dass Felix sie ihm aufgezwungen hat, falls es irgendwann mal Probleme geben sollte oder Leon Felix nicht erreichen kann.

»Felix hatte einen Unfall. Wird im Holwede-Stift operiert.«

Mein Herz hat sich in diesem Moment angefühlt wie ein Backstein. Ich bin hergefahren wie ein Henker und hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen.

»Ihm hat irgend so ein Vollidiot die Vorfahrt genommen. Hinten an der großen Kreuzung beim Theater«, sagt Christina erstickt und etwas dumpf, da ihre Finger ihren Mund nur zur Hälfte verlassen, während sie spricht.
 

»Ist ihm voll in die Seite gefahren. Aber weit und breit keine Spur von dem Kerl. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Der Wagen ist Schrott, weil dann auch noch zwei hinten rauf gefahren sind«, fügt Steffi hinzu und wischt sich die Augen. Sie hat den Arm um ihre Mutter gelegt. Ihre Augen sind rot und geschwollen.

»Sie operieren ihn jetzt. Alles Mögliche eingequetscht, der linke Unterschenkel ist gebrochen. Rippen geprellt. Und ne schwere Gehirnerschütterung…«

Ich habe kaum gemerkt, wie ich die Luft angehalten habe. Jetzt atme ich etwas zittrig aus und balle die Hände zu Fäusten.

»Das Arschloch ist einfach abgehauen?«, frage ich zischelnd. Die drei Frauen nicken gleichzeitig mit finsterer Miene.
 

Ich fahre mir durch die Haare und werfe einen Blick über meine Schulter hin zu Leon.

»Er sieht… fertig aus«, murmele ich leise. Steffi seufzt.

»Hat noch kein Wort gesprochen. Er war schon da, als wir ankamen, aber die Ärzte haben ihm überhaupt nichts gesagt, weil er ja nicht zur Familie gehört«, kommt die leise Antwort. Ich nicke und zögere einen Moment lang. Dann gehe ich hinüber zu Leon und lasse mich auf einen der Plastikstühle neben ihm fallen. Er sieht nicht auf und ich beobachte ihn einen Moment von der Seite. Dass ich Leon nicht leiden kann, ist ja kein großes Geheimnis. Aber ich muss mir unweigerlich vorstellen, wie es wäre, wenn ich so eine Nachricht bekommen würde und Anjo betroffen wäre. Und vermutlich hab ich mit Leon noch nie so mitgefühlt wie in diesem Augenblick. Es fühlt sich scheiße genug an, dass mein bester Freund wegen der Dummheit eines anderen solche Verletzungen erlitten hat.
 

»Hey«, sage ich probehalber. Leon rührt sich erst überhaupt nicht, dann hebt er den Kopf und sieht mich an, als wäre ich ein hellgrünes Alien. Seine dunklen Augen sind umschattet und seine Haut ist blass und gräulich. Um seinen Mund liegt ein angespannter Zug.

Wir starren uns mehrere Sekunden lang an, dann lässt Leon den Kopf wieder sinken und fährt sich mit den Händen durch seine schmutzig blonden Haare.

»Wenn sie den Fahrer finden, können wir losziehen und ihn in den Boden stampfen«, schlafe ich vor. Leon ist beunruhigend, wenn er nicht mal eine Beleidigung für mich auf den Lippen hat. Abgesehen davon will ich mich selber auch ein wenig ablenken. Anjo und Sina wissen auch, dass ich hier bin und sie warten darauf, dass ich ihnen Bescheid sage, sobald ich irgendwas Genaues weiß.
 

Leon gibt ein undeutliches Geräusch von sich. Es klingt zustimmend, schnaubend und ein wenig verzweifelt.

»Christian? Wir gehen uns einen Kaffee holen, ja?«, sagt Frau Prinzler zu mir und ich nicke kurz. Ich will nichts trinken.

»Willst du auch irgendwas?«, frage ich Leon. Er schüttelt den Kopf und kaut nun nervös auf seiner Unterlippe herum.

»Du siehst aus, als würdest du gleich vom Stuhl fallen«, fahre ich fort. Mir ist klar, dass Leon nicht von der Seite vollgequatscht werden will, aber es macht mich unruhig, hier mit ihm allein zu sein und ihn wie ein Häufchen Elend da sitzen zu sehen. Die ganze Situation macht es schwierig, Leon blöd zu finden und das gefällt mir nicht besonders. Wenn Anjo und Sina diesen Gedanken gehört hätten, würden sie jetzt die Augen verdrehen und mich strafend ansehen. Aber immerhin weiß ich, dass diese gewollt aufrecht erhaltene Abneigung auf beiden Seiten vorhanden ist und bisher hab ich mich damit auch sehr wohl gefühlt.
 

»Mein Freund wird gerade operiert«, sagt Leon und er klingt ein bisschen so, als wäre er sich nicht sicher, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Die Worte ›mein Freund‹ klingen merkwürdig aus Leons Mund. Mittlerweile sollte ich mich wirklich daran gewöhnt haben, dass Leon und Felix zusammen sind. Aber nachdem ich die ganze die-beiden-sind-ineinander-verliebt-und-Leon-kriegt-seinen-Hintern-nicht-hoch-Geschichte so ausführlich mitbekommen habe, ist es doch tatsächlich ausgesprochen wunderlich, Leon so offen dazu stehen zu sehen, dass er mit Felix zusammen ist. Ich dachte, als die beiden zusammen gekommen sind, dass es ewig dauern würde, bis Leon sich zusammenreißt und es auch öffentlich zeigen kann. Aber nein. Zwar ist er dauernd rot angelaufen und hat peinlich rumgestottert… aber alles in allem hat er sich doch recht gut geschlagen.
 

»Ich weiß. Mein bester Freund wird auch gerade operiert«, informiere ich Leon. Seine Brauen ziehen sich zusammen und er betrachtet mich ungnädig. Das gefällt mir schon besser.

»Schön für dich, dass du dabei so lässig bleiben kannst«, schnauzt er ungehalten und erhebt sich von seinem Plastikstuhl. Er beginnt im Wartezimmer auf und ab zu schreiten verhakt dauernd seine Finger miteinander, als müsste er sich davon abhalten, vor lauter Frustration auf die nächstbeste Wand einzuschlagen. Es ist wirklich ein beschissenes Gefühl, wenn man nichts machen kann. Nur warten. Warten und rumsitzen und hoffen, dass alles wieder in Ordnung kommt.
 

»Du könntest mir eine reinhauen«, schlage ich vor. Leon bleibt stehen, runzelt die Stirn und sieht mich an, als hätte ich nun in seinen Augen eindeutig den Verstand verloren.

»Was?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Du siehst aus, als müsstest du dich an irgendwas abreagieren«, gebe ich zurück. Eigentlich wollte ich seine Anspannung auf mich lenken, damit er nicht so apathisch da sitzt und sich ein bisschen ablenken kann. Aber jetzt sinkt er wieder völlig in sich zusammen, macht zwei Schritte auf den Stuhl zu, auf dem er vorher gesessen hat, und vergräbt sein Gesicht in den Händen.
 

»Ich will diesen Kerl umbringen«, höre ich die gedämpfte Stimme zwischen den Fingern hervordringen.

»Kann ich nachvollziehen«, gebe ich zurück. Die Vorstellung, dass Felix irgendwo auf einem OP-Tisch liegt, bewusstlos und verletzlich, macht mich wütend. Diese Hilflosigkeit ist furchtbar.

»Er kommt bestimmt auf die Intensiv-Station… Da darf ich gar nicht hin, wenn ich nicht zur Familie gehöre«, nuschelt er. Ich seufze lautlos. Es ist komisch, Worte mit Leon zu wechseln. Und dann auch noch normale Worte. Keine Beleidigungen. Oder schnippische Bemerkungen durch Dritte übereinander. Ich räuspere mich.

»Wenn wir den Ärzten sagen, dass ihr so gut wie verheiratet seid…«

Leon schnaubt.

»Ist doch wahr. Ihr seid wie ein altes Ehepaar.«
 

Ich versuche mir Felix und Leon bei einer Hochzeitsfeier vorzustellen und verziehe unweigerlich das Gesicht. Auch wenn ich Leon nicht mag, sehe ich die beiden tatsächlich in zehn Jahren immer noch miteinander kabbeln. Oh man. Woher hat Felix nur diesen furchtbaren Geschmack?

»Red keinen Stuss«, meint Leon halbherzig und er hat sich immerhin wieder gerade hingesetzt. Ich zucke mit den Schultern.

»Felix hat selber gesagt, dass er sich ‘ne Zukunft ohne dich nicht vorstellen kann. Ich find’s ja auch ziemlich schmalzig und ich hab keine Ahnung, was er an dir so gut findet, aber…«

Ich verstumme, als ich Leons Gesichtsausdruck sehe.
 

»Ok, vergiss, was ich gesagt hab, ich–«

Aber es ist zu spät. Leon gibt ein kehliges Gurgeln von sich und wischt sich mit dem Unterarm hastig und entschieden über die Augen. Großartig. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Das hat man davon, wen man nette Dinge sagen will. Man bringt Leute, die man nicht leiden kann, zum Heulen. Wahrscheinlich hat er schon die ganze Zeit versucht es sich zu verkneifen und ich hab gerade galant das Ventil aufgedreht.

Ich schlucke nervös und verkneife mir einen lauten Fluch, dann werfe ich unfeierlich meinen Arm um Leons Schultern und bin bemüht so zu tun, als wäre das überhaupt nicht merkwürdig, weil wir uns eigentlich verabscheuen.
 

Aber ganz offensichtlich gibt das Leon den Rest. Er vergräbt sein Gesicht wieder in den Händen und ich spüre durch das Beben seines Rückens, dass er weint. Wenn Felix uns sehen könnte, würde er lachen, ein Foto machen und uns bis in alle Ewigkeit damit aufziehen. Der Kloß in meinem Hals wird auch nicht kleiner, als Frau Prinzler und Felix‘ große Schwestern wieder das Wartezimmer betreten. Sie werfen uns einen kurzen Blick zu und sehen dann taktvoll wo anders hin. Jeder Mensch in diesem Raum weiß haargenau, dass es Leon wahnsinnig unangenehm sein muss, hier zu hocken und zu weinen.
 

Leon motzt nicht über den Arm um seine Schultern. Er spricht nicht mehr. Er bleibt einfach nur neben mir hocken und einzig die leisen Stimmen von Felix‘ Familie durchbrechen die gewöhnlichen Krankenhausgeräusche, während wir warten. Und warten. Und warten.

Als eine Ewigkeit später ein Arzt mit weißen Kittel und einem offiziell wirkenden Kugelschreiber in der Brusttasche das Wartezimmer betritt, springen Felix‘ Schwestern auf und Leon reißt seinen Kopf so hastig nach oben, dass ich zusammenzucke und meinen Arm von ihm wegziehe.

»Frau Prinzler?«, fragt der Arzt und wendet sich an Felix‘ Mutter. Die nickt und eilt zu ihm herüber.
 

Leon und ich starren zu der kleinen Gruppe hinüber. Der Arzt spricht gedämpft und gestikuliert sehr ruhig. Ich entnehme seiner Körpersprache und der gemilderten Anspannung auf dem Gesicht von Felix‘ Familie, dass soweit alles in Ordnung ist, und entspanne mich automatisch ein wenig. Leon steht auf und stopft seine Hände entschlossen in die Hosentaschen, als wollte er sich davon abhalten, weiterhin nervös mit seinen Fingern zu spielen. Seine Augen sehen nun auch rot aus und seine Lider sind ein wenig geschwollen. Als der Arzt zu ihm hinüber sieht und Stefanie in Leons Richtung gestikuliert, scheint sich jeder Muskel in Leons Körper anzuspannen.

»Er schläft, aber wir können kurz rein und nach ihm sehen«, sagt Christina und winkt Leon mit sich. Ich seufze erleichtert auf und fühle, wie eine riesige Menge Anspannung meinen Körper verlässt. Automatisch fühle ich mich wackelig. Sobald ich zu Hause bin, sollte ich dringend was essen.
 

»Los geht’s, Tiger«, sage ich gedämpft zu Leon und schiebe ihn in Richtung von Felix‘ Familie. Als er sich ein weiteres Mal durch die Haare streicht, zittern seine Hände sichtlich. Er tritt neben Frau Prinzler, die mir kurz erklärt, dass mit Felix den Umständen entsprechend alles in Ordnung ist und sie mich informieren, sobald ihn auch Freunde besuchen dürfen.

»Danke«, sage ich zu ihr und umarme Felix‘ Schwestern zum Abschied. Leon zögert einen Augenblick und dreht sich dann zu mir um.

»Danke«, sagt er etwas heiser. »Arschloch.«

Ich muss lachen und hebe die Hand zum Gruß.

»Grüß ihn von mir, wenn er wach wird«, entgegne ich. »Wichser.«

Leon schnaubt und seine Mundwinkel zucken kaum merklich, dann gehe ich an Leon vorbei in Richtung Ausgang und krame mein Handy hervor, um Sina und Anjo über Felix‘ stabilisierten Zustand zu informieren.
 

LEON
 

Eine Woche später wurde Felix endlich von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt. Nach seinem ersten Besuch an Felix‘ Bett hatte Leon keinen Zutritt mehr zu seinem Freund bekommen. Felix hatte schrecklich ausgesehen. Leon hatte ihn noch nie so verletzlich und schwach gesehen und Felix war für gewöhnlich ein Fels in der Brandung. Er war stark und stur und sprudelte über vor lauter Lebensenergie und guter Laune. Ihn auf diese Art und Weise handlungsunfähig und hilflos dort liegen zu sehen, hatte Leon das Herz gebrochen. Nicht, dass er gern solche schmalzigen, überemotionalen Gedanken hegte, aber diese Wartestunden und der anschließende Anblick waren das schlimmste, was ihm jemals in seinem Leben passiert war.
 

Felix hatte geschlafen und das Piepen in dem Raum, die ganzen Schläuche und Gerätschaften und die Nadeln, die seinem Freund an allen möglichen und unmöglichen Stellen aus dem Körper geragt hatten, hatten ihm den Magen umgedreht. Ihm war unheimlich schlecht geworden, aber er hatte auch nicht gehen wollen. Sie hatten nur zehn Minuten an seinem Bett gestanden, dann hatte eine Krankenschwester sie aus dem Zimmer gebeten.
 

Jetzt, eine Woche später, stand Leon mit klopfendem Herzen vor Raum 2104 und schluckte. Vielleicht war Felix gar nicht wach. Aber er wollte seinen Freund unbedingt sehen. In der letzten Woche hatte er Felix so unheimlich vermisst und ihre gemeinsame Wohnung war ihm noch leerer vorgekommen, als zu der Zeit, bevor sie eingezogen waren. Er hatte in Felix‘ Bett geschlafen, wo die Kissen nach seinem Shampoo rochen und nachts die Heizung viel zu laut gluckerte. Aber Leon hätte ohnehin nicht gut schlafen können. Seine Träume waren durchwoben von Unfallbildern und Piepen und Schläuchen, zweimal hatte er geträumt, dass Felix im Schlaf oder auf dem OP-Tisch gestorben war und er war schweißgebadet und panisch aufgewacht, nur um schlaftrunken und fahrig nach seinem Handy zu tasten. Wenn irgendetwas Schrecklich passierte, dann würde er Bescheid kriegen.
 

Nach diesen Träumen konnte er nicht mehr einschlafen, meistens hatte er es auch das gar nicht gewollt, weil ihm die Vorstellung von noch mehr dieser Bilder im Kopf Angst machte. Wenn es um Felix ging, war Leon so butterweich geworden, dass es ihn oftmals selbst beunruhigte. Aber da das kaum jemand außer Felix und Nicci wusste, war es irgendwie in Ordnung er gewöhnte sich allmählich daran.

Als er klopfte und Felix‘ Stimme antworten hörte, riss Leon die Tür etwas zu heftig auf und stürzte ins Zimmer. Er hatte die Befürchtung gehabt, dass er sonst nicht den Mut aufbringen würde, den Raum zu betreten.
 

Felix lag im Bett hinten am Fenster und das Bett neben ihm war leer und zerwühlt. Er lächelte zärtlich der Tür entgegen und Leons Herz überschlug sich. Felix sah immer noch furchtbar aus, aber wenigstens piepte es nicht mehr so extrem durchdringend, die meisten Schläuche waren fort und eine Kanüle schien in seiner linken Hand zu stecken.

»Hallo Noel«, sagte er und seine Stimme klang brüchig und etwas heiser, als hätte er sie länger nicht benutzt. Er sah unheimlich müde aus. Leon ging hinüber zum Bett und zog sich hastig einen Stuhl heran. Felix schob seine rechte Hand unter der weißen Bettdecke hervor und Leon griff danach.

»Tine und Steffi sind grad weg«, erklärte er und Leon musste schlucken, um nicht auf der Stelle wieder mit dem Heulen anzufangen. Es war vor Christian wahnsinnig entwürdigend gewesen. Leon dachte nicht gern an diesen Nachmittag zurück. Überhaupt dachte er nicht gern über Christian nach.
 

»Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich und schluckte erneut, um den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen. Felix lächelte.

»Mir tut alles weh, die Kanüle nervt und kann peinlicherweise nicht allein aufs Klo. Ansonsten ist alles bestens«, murmelte er matt. Leon strich mit dem Daumen sachte über Felix‘ Handrücken.

»Hab dich vermisst«, krächzte er peinlich berührt. Solche Dinge zu sagen, fiel ihm immer noch schwer. Felix‘ Lächeln wurde breiter und er brachte ein halbes Strahlen zustande. Aber seine braunen Mandelaugen leuchteten freudig aus den umschatteten Höhlen.

»Ich dich auch.«

Leons Hand wurde beunruhigend schwach gedrückt und Felix seufzte.

»Ich hätte eigentlich gern einen Kuss, aber ich war heut nicht Zähne putzen«, nuschelte er. Leon schnaubte.
 

»Mir doch Wurst«, murrte er, erhob sich halb von seinem Stuhl und beugte sich so weit vor, dass er Felix‘ trockenen Lippen einen Kuss aufdrücken konnte. Felix machte ein leises, zufriedenes Geräusch, dass Leons Magen zum Flattern brachte. Durfte man nach so langer Zeit in einer festen Beziehung noch so nervös werden? Bei simplen Dingen wie einem schlichten Kuss auf den Mund? Leon fand sich beunruhigend, aber es fühlte sich auch so gut an, dass er sich nicht beschweren wollte.

»Hab gehört, dass Chris dich im Wartezimmer bekuschelt hat«, sagte Felix und Leon hörte einen schwachen, neckischen Unterton in seiner Stimme. Leon gab ein gurgelndes Geräusch von sich und fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht.
 

»Eventuell hat er den Arm um meine Schultern gelegt, als ich… äh… ein paar Tränen verdrückt habe«, brummte er und starrte interessiert aus dem Fenster. Als ihm nur Schweigen antwortete, wandte er den Kopf und sah Felix an. Zu seinem Entsetzen waren Felix‘ Augen feucht und er betrachtete mit so viel Liebe, dass Leon beinahe Angst hatte, er würde gleich vor Nervosität vom Stuhl fallen.

»Du hast geweint, weil du dir Sorgen gemacht hast«, flüsterte Felix. Leon nickte benommen und streckte automatisch seine freie Hand aus, um die Träne wegzuwischen, die seinem blassen Freund über die Wange lief.

»Kein Grund selber zu weinen«, nuschelte Leon. Er hatte Felix bisher erst einmal weinen gesehen und das war, als seine Oma nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus gekommen war. Er hatte sich seitdem im Trösten keineswegs verbessert.
 

»Ich freu mich nur. Was blöd ist, weil es dir schlecht ging, aber… man, ich will diese ganzen Scheiß Schläuche loswerden und dich umarmen und mit dir nach Hause gehen«, klagte Felix und schniefte. Leon schluckte schon wieder. Er drückte Felix‘ Hand besonders vorsichtig und rutschte noch ein wenig näher ans Bett heran.

»Wie lange musst du denn noch hier bleiben? Wir haben Ferien, ich schieb dich auch gern im Rollstuhl durch die Gegend, wenn du nicht gehen kannst. Kochen kann ich nicht. Aber ich kann Thai bestellen. Oder Mexikanisch… was ist denn?«

Felix sah ihn einen Augenblick an, als wäre er kurz davor zu explodieren, dann schniefte er erneut und noch mehr Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Noch zwei Wochen. Mindestens«, sagte Felix mit erstickter Stimme und angelte mit der Kanülen-Hand auf dem Nachtschrank nach Taschentüchern.
 

»Ok. Ich muss dich auch nicht im Rollstuhl rumschieben. Aber ich würd’s machen. Und dein Gorilla hat davon gefaselt, dass du dir dein Leben nicht ohne mich vorstellen kannst und ich würd dich auch mit siebzig im Rollstuhl rumkarren!«

Eventuell war er jetzt auch wieder am Heulen. Felix musste unter Tränen lachen und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Leon griff sich auch ein Taschentuch. Er brauchte beide Hände zum Naseputzen, aber er wollte Felix‘ Hand nicht loslassen.

»Es wäre großartig, wenn du mich mit siebzig rumschieben würdest. Falls ich es nötig habe«, gab Felix zurück. Leon hatte keine Worte dafür, wie sehr er den jungen Mann in diesem Krankenbett liebte. Es war unheimlich.

»Und jetzt wäre es total gut, wenn du mir meine Zahnbürste und ein Glas Wasser ans Bett bringen könntest, damit ich dich anständig knutschen kann.«

Nervös

Für meine Steffi <3

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Leon mochte Sex.

Jeder normale Kerl mochte Sex. Sex war eine gute Sache und Leon hatte schon mit vielen Mädchen Sex gehabt. Es war – vielleicht bis auf das erste Mal – keine komplizierte Angelegenheit gewesen. Mit der Zeit hatte er einige motorische Feinheiten hinzugelernt und jetzt konnte er mit Anfang zwanzig mit Sicherheit von sich selbst behaupten, dass er gut im Bett war. Alles war in bester Ordnung. Abgesehen davon, dass nichts in Ordnung war, weil Leon sich seit einigen Wochen fühlte wie eine verdammte Jungfrau. Technisch gesehen war er das sogar. Wenn es nämlich um Sex mit einem Kerl ging. Was dieses Thema anbelangte war er so grün hinter den Ohren wie jeder picklige Dreizehnjährige, der gerade mal wusste, wie man das Wort Sex überhaupt buchstabierte.
 

Felix war schuld daran, dass Leon plötzlich keine Ahnung mehr von Sex hatte. Felix war schuld daran, dass Leon sich seit neustem beim Wichsen nicht mehr Frauen mit großen Brüsten vorstellte, sondern einen hübschen, jungen Mann mit braunen, verschmitzten Augen und einer Brust, die so flach war wie die Witze seines Vaters. Er hatte noch nie nachts im Bett an einen anderen, verfluchten Schwanz gedacht und sich nie darüber den Kopf zerbrochen, wie genau er es anstellen konnte, auch noch mit einem anderem Kerl im Bett eine Granate abzugeben. Er stand zwar nicht völlig im Dunkeln, – verdammte Kacke, er wusste ganz genau, wie Männer miteinander schliefen – aber das machte seine Unsicherheit nicht wirklich besser.
 

Felix drängte ihn nicht. Natürlich nicht. Er hatte zwei bekloppte Jahre darauf gewartet, dass Leon endlich einsah, dass er nicht nur auf Frauen stand, sondern auch auf Felix. Felix war ein Meister im Warten. Leon nicht wirklich. Zugegebenermaßen konnte er seine frische Beziehung mit Felix mit nichts aus seiner Vergangenheit vergleichen. Es war seine erste Beziehung. Er war nicht nur eine beschissene Jungfrau, was Sex mit Männern anging, sondern auch bei Beziehungen. Aber Leon stellte sich vor, dass er – wenn er frühere Beziehungen vorzuweisen hätte – sicherlich nicht anderthalb Monate gebraucht hätte, um mit seiner Partnerin ins Bett zu steigen.
 

Leon merkte sehr genau, dass Felix alles an Disziplin aufbringen musste, um sich nicht auf ihn zu stürzen und ihm seine schlanken Finger in die Hose zu schieben, wann immer sie wieder einmal mit wildem Herumgeknutsche beschäftigt waren. Leon war sehr geschmeichelt von Felix‘ ziemlich offensichtlicher Begeisterung für alles, was mit Leons Körper zu tun hatte. Aber die schreckliche Tatsache war, dass Leon es bisher nicht einmal über sich gebracht hatte, mit Felix mehr zu tun als zu knutschen. Leon wusste verflucht genau, dass Felix ihm alle Zeit der Welt lassen würde. Aber Leon war sich auch sicher, dass er noch nie in seinem relativ kurzen Leben so rallig gewesen war wie im Moment. Und er war auf kein Mädchen jemals so scharf gewesen wie auf Felix.
 

Wieso also brachte er es nicht über sich, sich selbst und seinem Freund die Klamotten vom Leib zu reißen und…

»Ihr müsst ja nicht gleich miteinander schlafen«, hatte Nicci in beruhigendem Ton gesagt, als Leon in zunehmender Verzweiflung bei ihr aufgekreuzt war und sie auf eine ausgesprochen männliche Art und Weise hysterisch geschüttelt hatte.

»Es gibt doch auch andere Dinge, die man miteinander machen kann.«

Leon hatte sich gekrümmt. Ihm war bewusst, was man mit einem männlichen Geschlechtsteil tun konnte. Aber das führte ihn automatisch zu der absolut unweigerlichen Schlussfolgerung, dass er Felix‘… er wagte es nicht einmal, das Wort zu Ende zu denken.

»Ich werd alles falsch machen. Felix hat mit tausend Kerlen gevögelt und ich werde die grottige Jungfrau ohne Ahnung sein!«
 

Nicci hatte seufzend den Kopf geschüttelt.

»Felix erwartet wohl kaum von dir, dass du von heut auf morgen ein Sex-Guru wirst«, entgegnete sie.

»Aber ich erwarte von mir, dass ich ein Sex-Guru werde! Sofort! Ich will nicht wieder von vorn anfangen!«

Nicci betrachtete ihn mitleidig und Leon stellte wieder einmal fest, dass Mitleid nichts für ihn war. Er grummelte leise.

»Dann kannst du keinen Sex mit Felix haben. Entweder, du fängst von vorn an und lebst mit dem Wissen, dass du vielleicht nicht von Anfang an Brian Kinney bist…«
 

»Wer ist Brian Kinney?«, fragte Leon verwirrt. Nicci räusperte sich.
 

»Ein Charakter aus Queer as Folk«, erklärte sie. Dann lächelte sie strahlend.

»Ich kann dir die ersten beiden Staffeln leihen, wenn du willst. Und das Internet besteht schließlich auch zu 99 Prozent aus Pornos. Da wirst du dich doch ein wenig bilden können«, meinte sie, erhob sich und wuselte durch ihr winziges Zimmer hinüber zu einem ihrer Schränke, um dort zwei DVD-Staffeln hervorzukramen. Auf dem Cover waren nackte Männeroberkörper zu sehen. Leon spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und er musterte die DVDs einen Moment lang feindselig, dann stopfte er sie in seinen Rucksack und starrte Nicci einige Sekunden lang fassungslos an.

»Ok. Internet. Sexrecherche. Sicher. Nichts leichter als das«, murmelte er. Nicci kicherte.

»Es wäre sehr viel einfacher, wenn du einfach mit Felix darüber sprechen würdest. Ich bin sicher, dass er–«
 

»Ich rede nicht mit Felix über meine Sexpanik!«, gab Leon entrüstet zurück. Schlimm genug, dass er mit Nicci darüber geredet hatte. Eigentlich wollte er sich gern draußen im Vorgarten ihres Hauses verbuddeln und dort nie wieder rauskommen. Nicci kicherte angesichts des Wortes ›Sexpanik‹ und zuckte mit den Schultern.

»Ok. Dann viel Erfolg bei der Recherche und… ähm… viel Spaß bei allem, was daraus resultieren mag«, meinte sie und geleitete ihn durch den Flur hin zur Wohnungstür, die sie für ihn öffnete, während Leon seine Jacke und seine Schuhe anzog.

Leon zog es vor, Niccis letzten Wunsch nicht zu kommentieren und hob zum Abschied die Hand, ehe er sich auf den Weg nach draußen machte, um zurück nach Hause zu gehen. Recherche. Recherche für Sex. Und dubiose Schwulensendungen. Er war nicht schwul. Er stand nur auf Felix. Und er wollte verflucht nochmal Sex mit Felix haben und zwar am besten von morgens bis abends. Nur musste er erst herausfinden, wie genau er das anstellen sollte.
 

*
 

Leon hatte die Vorhänge zugezogen und seine Tür abgeschlossen. Nur zur Sicherheit. In den letzten anderthalb Wochen hatte er sich Niccis Queer as Folk Staffeln angeschaut und vor allem festgestellt, dass der Gedanke an Rimming ihm unheimlich vorkam, dass homophobe Arschlöcher scheiße waren und er es zutiefst bedauerte, jemals eines gewesen zu sein, und dass er Emmet gruselig fand. Dummerweise gab Brian Kinney niemals genaue Anweisungen bezüglich seiner Fähigkeiten im Bett, was Leon aber vermutlich ohnehin nicht großartig weiterhelfen würde. Immerhin wusste er schon seit Anfang an, dass er beim Sex mit Felix unten liegen würde. Zugegebenermaßen machte das die Dinge für ihn etwas einfacher. Er musste sich nicht damit beschäftigen, ob er Felix aus Versehen wehtat und das allein war eine ziemliche Erleichterung. Trotzdem bereitete ihm der Gedanken an den passiven Part beim Sex ein nervöses Flattern im Magen.
 

Jetzt saß er vor seinem PC und starrte auf die wertfreie Google-Startseite. Wenn er ›Gayporn‹ googelte, würde er vor lauter Scham vermutlich rücklings vom Stuhl kippen und einen jämmerlichen Tod sterben. Allein die Vorstellung, wie man seine Leiche hier auf dem Boden finden würde, die Suchergebnisse immer noch deutlich sichtbar auf dem Monitor… nein, das wollte er nicht riskieren. Also rief er Wikipedia auf und atmete einmal tief durch. Die Tatsache, dass sein Herz hämmerte wie eine hyperaktive Dampflok, würde er mit ins Grab nehmen. Dann tippte er sehr langsam, als könnte jeden Moment etwas explodieren, wenn er das Wort vollständig in die Suchzeile eingab, ›Analsex‹ und drückte Enter. Eventuell schloss er nach dem Drücken der Entertaste kurz die Augen. Aber auch das war etwas, das er lieber nicht laut denken wollte.
 

Als er sie wieder öffnete, gab er ein undefinierbares Geräusch von sich, das womöglich dem Schnauben eines panischen Pferdes glich. Als wäre seine Decke das interessanteste, was er jemals gesehen hatte, starrte er nach oben und schluckte mehrmals, bevor er den Blick wieder auf den Artikel richtete und sehr bemüht nicht auf die Bilder rechts neben dem Schriftblock schaute.

Stell dich nicht so an, grollte eine resolute Stimme in seinem Kopf. Oh Gott, er hatte sich gerade nicht Christians höhnisches Grinsen vorgestellt. Und auch nicht Felix‘ amüsiertes Giggeln. Herrgott, er stellte sich an wie ein unreifer Teenager.

Entschlossen begann er zu lesen und dabei die überdeutliche Tatsache zu ignorieren, dass ihm schrecklich heiß war und er eigentlich doch gern nach draußen gehen und sich dort sein eigenes Grab schaufeln würde.
 

Eine halbe Stunde später hatte er sich durch drei Artikel gelesen und es sogar über sich gebracht, einige Bilder anzusehen. Wieder einmal fiel ihm auf, dass er einfach nicht auf Männer stand. Männer waren nichts für ihn. Er mochte die Kurven und die weiche Haut von Frauen. Mitsamt Brüsten und allem drum und dran. Männerkörper riefen in ihm überhaupt nichts hervor, einmal abgesehen von einem leichten Schaudern. Felix war die einzige, beknackte Ausnahme. Wenn Felix aus der Dusche kam und nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen hatte, dann wurde Leon heiß und kalt. Meistens bekam er so prompt ein Rohr, dass er am liebsten im Erdboden versunken wäre. Er stand auf Frauen und auf Felix. Und jeder Vollidiot auf dieser Welt, dem er das erzählte, nickte spöttisch lächelnd und verdrehte die Augen. Frei nach Motto ›Lassen wir ihm seine Illusionen. Er ist schwul und kann es nur einfach nicht zugeben.«. Leon konnte diese Blicke nicht leiden. Es wäre ihm mittlerweile tatsächlich vollkommen egal, wenn er wüsste, dass er schwul wäre. Aber er war nun einmal weder schwul noch bisexuell. Er war einfach nur er selbst mit einer übergroßen Schwäche für Felix.
 

Entnervt schloss er seinen Internetbrowser und grummelte undeutlich vor sich hin. Wie hatte er es überhaupt durch zwei Staffeln Queer as Folk geschafft, wo er Männer alles in allem nicht sonderlich ansprechend fand? Achja. Er hatte sich resolut sich selbst und Felix vorgestellt. Leon blieb einige Sekunden auf seinem Schreibtischstuhl hocken und dachte an die erste Folge, in der Brian und Justin miteinander Sex hatten. Ein paar Augenblicke später fluchte er lauthals, weil sich der Inhalt seiner Hose bemerkbar machte und ihm unmissverständlich verkündete, dass er endlich Sex mit Felix haben sollte. So oft wie in den letzten anderthalb Monaten hatte er sich eindeutig noch nie zuvor einen runtergeholt.
 

*
 

»Du wirkst ein bisschen angespannt«, verkündete Felix mit leicht besorgter Miene an einem Samstagabend. Vor ihnen auf dem niedrigen Tisch, den Leon bei sich im Wohnzimmer stehen hatte, standen die leeren Überreste von thailändischem Essen und im Hintergrund lief irgendein belangloser Actionstreifen. Vielleicht war es ›The Fast and the Furious 2‹? Er war sich nicht mehr sicher, da es Samstag war und Felix hier übernachtete und Leons Gedanken immer noch um das Thema Sex kreisten. Wahrscheinlich bekam er bald im Zwei-Minuten-Takt ein Rohr und würde dann irgendwann vor Erschöpfung in Ohnmacht fallen.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Leon und er hörte selbst, wie gepresst seine Stimme klang. Felix hob seine geschwungenen Augenbrauen und leckte sich über die Oberlippe. Hervorragend. Wenn er jetzt gleich allein von der Mimik seines Freundes in seiner Boxershorts kam, dann war es endlich an der Zeit sich wirklich im Garten zu vergraben.
 

»Dein… alles ist irgendwie…«

Felix wedelte vage in seine Richtung und dann tat er etwas, das Leons Herz beinahe aus seinem Brustkorb katapultierte. Er krabbelte auf allen Vieren um den Tisch herum und hockte sich so nah vor Leon, dass ihre Knie und ihre Nasenspitzen sich berührten. Wahrscheinlich würde er gleich in Ohnmacht fallen. Psychischer Druck in Form von Sexpanik würde seine Todesursache sein. Hoffentlich ließen seine Eltern das nicht auf seinen Grabstein meißeln.

»Alles ok«, sagte er und seine Stimme klang eindeutig etwas höher als sonst. Unweigerlich schossen Bilder und Worte durch seinen Kopf, die er vor wenigen Tagen im Internet gesehen und gelesen hatte.
 

Felix verdrehte die Augen.

»Es ist überhaupt nichts ok und dir sollte eigentlich klar sein, dass ich dich zu gut kenne, um das nicht zu bemerken, Noel«, gab Felix zurück und Leon verfluchte seine nicht vorhandene Fähigkeit, gut zu lügen. Leon sackte ein wenig in sich zusammen. Er wollte wirklich nicht mit Felix darüber reden und sich komplett zum Deppen machen.

»Hat’s was mit mir zu tun?«

Das Geräusch, das Leon auf diese Frage hin entwich, konnte auf keinen Fall als klägliches Wimmern bezeichnet werden. Es war eher der männliche Ausdruck schierer Verzweiflung.

»Also ja…«

Felix setzte sich aufrecht hin, sodass er auf seinen Füßen hockte. Seine schlanken Finger lagen auf seinem Schoß und er betrachtete Leon mit leicht schief gelegtem Kopf. Er sollte jetzt nicht darüber nachdenken, dass der Gedanke an das Körperteil in Felix‘ Hose ihn erstens hysterisch und zweitens rallig werden ließ.
 

»Dir ist schon klar, dass Kommunikation in einer Beziehung irgendwie wichtig ist, ja?«, erkundigte sich Felix und er klang fast beiläufig, aber Leon kannte diesen Unterton. Er bedeutete ›Sag mir auf der Stelle, was los ist, oder ich werde dir schreckliche Dinge antun‹.

»Sex«, sprudelte Leon hervor und Felix blinzelte ein wenig verwirrt, dann runzelte er die Stirn und zog seine Füße unter seinem Hintern hervor, um sich stattdessen in einen Schneidersitz zu setzen.

»Sex?«, wiederholte Felix und Leon wäre stolz auf sich gewesen, dass Felix seinen Gedanken ausnahmsweise einmal nicht folgen konnte, wenn er nicht so fertig mit den Nerven gewesen wäre. Er beschloss, sein heißgewordenes Gesicht hinter seinen Händen zu verbergen und tief durchzuatmen. Sanfte Finger in seinen Haaren veranlassten ihn dazu, die Hände sinken zu lassen und Felix ziemlich kläglich anzuschauen.
 

»Wir sind seit sieben Wochen zusammen und–«

Er brach ab. Felix musterte ihn aufmerksam und zog seine Finger behutsam aus Leons Haaren zurück.

»Du hattest seit sieben Wochen keinen Sex und das stört dich?«, wollte Felix wissen. Leon blinzelte und verzog verwirrt das Gesicht.

»Nein. Ja. Also, nein, nicht so, wie du denkst!«, antwortete er hastig und Felix schien sich etwas zu entspannen. Leon konnte sich nur ungefähr vorstellen, was in Felix‘ Kopf vor sich ging. Dass Leon Sex mit Frauen vermisste und deswegen… er wollte sich diesen Gedanken nicht einmal zu Ende ausmalen.
 

»Es ist nur…«

Leon holte tief Luft und beschloss, dass er einfach alles möglichst schnell ausspucken sollte. Je schneller es draußen war, desto schneller war die ganze Peinlichkeit vorbei. Hoffentlich.

»Ich bin einfach nur wahnsinnig scharf auf dich, aber ich hab noch nie mit ‘nem Kerl irgendwas gemacht und ich will nichts falschmachen und ich will nicht wieder eine unerfahrene Jungfrau sein und ich hab keine Ahnung von irgendwas und jedes Mal, wenn ich dich angucke, kriege ich einen halben Herzklabaster und so oft hab ich mir noch nie einen runtergeholt und…«

Das alles schoss in atemberaubendem Tempo aus seinem Mund und Felix‘ Gesichtsausdruck sah schlichtweg verdattert aus. Leon gratulierte sich schwach unter all der Panik und der Verlegenheit, die ihn befallen hatte, dass er Felix ganz offensichtlich aus dem Konzept gebracht hatte.
 

»Oh«, war Felix‘ Antwort auf Leons peinliche Geständnisse und Leon spielte nervös mit seinen Fingern herum. Er war mit der Zeit sehr viel besser darin geworden, in Felix‘ Gesicht zu lesen, aber es gab immer noch einiges zu lernen. Und gerade konnte er sich nicht wirklich zusammenreimen, was hinter Felix‘ Stirn vor sich ging.

»Also willst du nicht mit Frauen schlafen und fühlst dich schlecht, weil du mich nicht so scharf findest…?«

Leon hob die Brauen und vergaß einen Moment lang seine Probleme. Felix hatte keine Komplexe, weil Leon auf Frauen stand. Felix war das Selbstbewusstsein in Person. Felix würde doch nicht denken, dass… Oh.

»Ich will nicht mit Frauen schlafen«, sagte Leon dumpf. »Und ich finde dich viel zu scharf für mein eigenes Wohlergehen.«
 

Felix‘ Mundwinkel zuckten. Leon seufzte.

»Aber nur dich. Es ist die abgefahrenste Scheiße, die ich mir vorstellen kann. Ich find Männer einfach nicht gut. Überhaupt nicht. Nur… dich. Und so…«

Felix starrte ihn an.

»Und du hast Angst, irgendwas falsch zu machen«, wiederholte er. Leon nickte.

»Und deswegen haben wir bisher nichts anderes getan, als zu knutschen.«

Leon nickte erneut. Felix atmete sehr tief ein und wieder aus, dann rutschte er ein Stück näher zu Leon, schob die Finger seiner rechten Hand in seinen Nacken und presste seine Lippen auf Leons.
 

Leon spürte, wie er automatisch in den Kuss hinein schmolz und Felix näher zog. Sie kippten rückwärts und landeten auf dem Teppichboden von Leons winzigem Wohnzimmer. Felix saugte ausgiebig an Leons Unterlippe, während er sich zwischen die Beine seines Freundes hockte, aber Leon wollte mehr Körperkontakt, viel mehr Wärme und überhaupt viel mehr Felix. Er schlang seine Beine um Felix‘ Hüfte und zog ihn nach unten, sodass ihre Unterkörper sich fest aneinander pressten und Leon ungewollt laut in den Kuss stöhnte. Durch den Stoff seiner Jeans konnte er eindeutig spüren, dass Felix ihn genauso sehr wollte, wie Leon ihn. Dunkel erinnerte er sich an eine Unterhaltung mit Felix, in der er ihm versichert hatte, dass er nicht stöhnte. Aber Felix war der Ausnahmezustand in Leons Leben. Felix stellte alles auf den Kopf.
 

»Bett«, keuchte Felix gegen Leons Lippen und die heisere Stimme seines Freundes schoss direkt in seine Körpermitte und ließ seine Kehle trocken werden. »Und weniger Klamotten!«

Felix löste sich von Leons Lippen und befreite sich aus dem Klammergriff seiner Beine, Leon folgte ihm wackelig vom Boden und Felix zog ihn am Handgelenk mit sich durch den winzigen Flur hinüber zu Leons Schlafzimmer. Die Tür schlug hinter ihnen zu und Felix hatte sein T-Shirt so schnell ausgezogen, dass Leons glasige Augen kaum mithalten konnten. Felix nestelte an Leons Reißverschluss herum und schob ihm die geöffnete Jeans von der Hüfte. Leon hatte es so eilig, aus seiner Hose zu steigen, dass er beinahe stolperte. Felix gluckste matt und schob Leon zum Bett, wo er hinunter gedrückt wurde und sein Shirt über den Kopf gezerrt bekam.
 

»Darf ich…?«, fragte Felix und er klang beinahe ein wenig unsicher, als er zu Leon aufs Bett stieg und seine Hand über Leons Bauch hinunter zum Saum seiner Shorts wandern ließ. Leon schluckte geräuschvoll und nickte. Er würde nicht mal unter Folter zugeben, dass seine Hände zitterten, als Felix ihn in eine liegende Position komplementierte und seine Finger in den Bund von Leons Shorts schob. Leon hob seine Hüfte an und sah mit hämmerndem Herzen zu, wie der karierte Stoff seine Oberschenkel hinunter gezogen wurde und schließlich neben dem Bett landete.

Felix legte sich neben ihn, betrachtete Leons Gesicht einen Augenblick lang und beugte sich dann vor, um ihn erneut zu küssen. Leon konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals genug von diesen Lippen bekommen könnte. Er konnte Felix gar nicht nah genug sein – wenn es nach ihm ginge, wäre da immer noch ein Millimeter zu viel, der sie trennte, auch wenn sie so eng aneinander gepresst waren, dass nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen sie passte.
 

»Du hast noch… deine Hose an«, wisperte Leon undeutlich gegen Felix‘ Lippen, wobei er ihren Kuss so kurz wie möglich unterbrach und seine Finger unruhig über Felix‘ nackten Rücken und seine Schultern gleiten ließ. Felix lachte leise gegen Leons Mund, zeichnete mit seiner Zunge Leons Oberlippe nach und löste sich etwas von ihm.

»Ich hab ja auch nicht vor, dich zu überfallen. Du sollst dich nur ein bisschen an mich gewöhnen«, erklärte Felix leise und seine Fingerspitzen huschten über Leons nackte Haut und hinterließen kribbelnde Spuren.

»Wie soll ich mich dran gewöhnen, dass du ein Kerl bist, wenn du die Hose noch anhast?«, gab Leon vorwurfsvoll zurück und Felix musste erneut lachen, rutschte ein Stück von Leon fort und öffnete seine eigene Jeans, die er sich mitsamt seiner Boxershorts hinunter schob. Leon war sehr bemüht nicht zu starren.
 

Wenn Mädchen sich so fühlten, wenn sie das erste Mal ihren Freund nackt sahen, dann hatte Leon in diesem Moment eine große Menge Mitgefühl mit ihnen. Panik war was für Weicheier. Offensichtlich war er das größte Weichei in zehn Kilometern Umfeld. Felix drehte sich um und einen Wimpernschlag später hatte Leon keine Zeit mehr zu starren, weil Felix ein Bein um seine Hüfte schlang und Leon an sich zog, sodass sie frontal aneinander gedrückt auf dem Bett lagen und sich ihre nackten Unterkörper aneinander pressten. Leon biss sich heftig auf die Unterlippe, um nicht schon wieder laut zu stöhnen. Er atmete so schwer, als wäre er eine lange Strecke gesprintet, und schloss die Augen.

»Alles gut?«, murmelte Felix und vergrub sein Gesicht an Leons Hals, um dort behutsame Küsse zu verteilen und sich hier und dort festzusaugen. Er würde sich gleich unheimlich peinlich machen und einfach so kommen. Von nichts weiter als dem Druck ihrer erhitzten Unterkörper aneinander, Felix‘ sanfter Stimme und den neckenden Küssen an seinem Hals.
 

»Du musst mich nicht anfassen. Ich kann…«, nuschelte Felix und seine Lippen an Leons Halsschlagader bescherten dem Blonden eine Gänsehaut an den Unterarmen. Felix schob seine Hand zwischen sie und Leons Lippen öffneten sich zu einem unterdrückten Keuchen, als er Felix‘ Hand in seinem Schritt spürte. Er konnte nicht mehr denken, er hatte keine Ahnung, wohin er mit seinen Händen sollte, als Felix‘ Finger ihn langsam aber sicher um den Verstand brachten. Er war in diesem Augenblick sogar zu abgelenkt, um verlegen darüber zu sein, dass er viel zu schnell kam und heiße Flüssigkeit zwischen ihren Körpern und auf seinem Laken verteilte. Er schnappte nach Luft und registrierte durch einen undeutlichen Nebelschleier in seinem Gehirn, dass Felix in Leons Nachtschrank nach irgendetwas kramte und ihm schließlich ein Taschentuch in die Hand drückte. Leon seufzte leise und ließ die Augen geschlossen. Er war sich nicht sicher, ob er Felix‘ Gesichtsausdruck sehen wollte.
 

»Du hast mich in einen notgeilen Teenager verwandelt«, klagte er heiser und öffnete seine Augen einen Spaltbreit. Felix betrachtete ihn gespannt und leicht lächelnd, was Leons Magen zu einem zufriedenen Kribbeln veranlasste.

»Na und?«, gab Felix zurück. Seine braunen, schmalen Augen waren immer noch glasig. »Du mich auch.«

Leon blinzelte und seine Augen wurden rund wie Unterteller.

»Ta…tatsächlich?«, fragte er verdattert. Felix zuckte mit den Schultern und deutete andeutungsweise hinunter in Richtung Körpermitte. Leon musste nicht nach unten schauen, um zu wissen, dass Felix seine immer noch vorhandene Erektion meinte.

»Ich kann… ähm…«, begann er, aber Felix küsste ihn kurz auf den Mund und angelte nach der Bettdecke.

»Schon ok. Wird irgendwann verschwinden«, sagte er tapfer. Leon fragte sich, woher Felix diese Engelsgeduld mit ihm nahm.
 

Mit rasenden Gedanken benutzte er das Taschentuch, das Felix ihm gereicht hatte, und warf es achtlos nach hinten auf den Boden. Dann sah er Felix an, der ganz eindeutig bemüht lässig dreinblickte. Leon grummelte, beugte sich vor und presste seine Lippen auf Felix‘ Mund. Felix gab ein überraschtes Geräusch von sich und Leon schob seine Hand beherzt unter die Bettdecke und in Richtung Felix‘ Schritt.

Das laute Stöhnen, das von Felix‘ Lippen geschluckt wurde, als seine Hand ihr Ziel erreichte, ließ den immer präsenten Schmetterlingsschwarm in seiner Bauchgegend aufgeregt hochflattern. Dunkel erinnerte er sich an eine Unterhaltung darüber, dass männliches Stöhnen angenehmer für die Ohren war. In diesem Moment war Leon das Stöhnen aller anderen Menschen auf dieser Welt herzlich egal, solange Felix nur weiter diese Geräusche machte.
 

Felix bog sich seinen Berührungen entgegen, seine Küsse wurden fahrig und unkontrolliert und er krallte die Finger seiner rechten Hand in Leons Haaren fest. Leon befand, dass er sich völlig umsonst dermaßen angestellt hatte. Ihm war noch nie im Leben etwas Schärferes untergekommen, als ein sich vor Erregung windender Felix, der ihren Kuss schließlich unterbrechen musste, um nach Luft zu schnappen und seinen Kopf in den Nacken zu drücken. Leon starrte fasziniert in das Gesicht seines Freundes, das er so noch nie gesehen hatte. Wenn er recht darüber nachdachte, war das hier vielleicht sogar einfacher als mit Mädchen, weil er prinzipiell genau wusste, was er tun musste. Und ganz offensichtlich funktionierte es hervorragend, denn Felix hielt kaum länger durch als er, bevor er seine Hand ein letztes Mal in Leons Nacken krallte und auf dem Bett zusammen sank. Leon betrachtete die leicht geöffneten Lippen und die winzigen Schweißperlen, die sich auf Felix‘ Stirn gebildet hatten.
 

Sein Freund öffnete die Augen und sah ihn etwas verschwommen an. Dann grinste er und sah dabei aus, als hätte er irgendwas geraucht.

»Hmm…«, machte er und drückte Leon einen Kuss auf den Mund.

»Wo kam diese Kühnheit plötzlich her?«, wollte er wissen. Leon verzog verlegen das Gesicht.

»Weiß nicht. Du bist scharf«, gab er zusammenhangslos zurück und Felix lachte ausgelassen. Dann zog er die Nase kraus.

»Gib mir auch ein Tempo«, verlangte er. Leon musste glucksen. Er fühlte sich um Tonnen leichter als noch vor einer Stunde. Plötzlich erschien ihm seine ganze Panik völlig unnötig. Mit Felix konnten die Dinge so einfach sein. Vielleicht hätte er auf Nicci hören und einfach gleich mit ihm reden sollen. Er reichte Felix das gewünschte Taschentuch und warf einen Blick an sich hinunter. Felix kicherte matt.
 

»Hab dich auf den Geschmack gebracht, was?«, fragte er verschmitzt und Leon zuckte verlegen mit den Schultern.

»Schlimm?«, wollte er wissen. Felix grinste auf diese diabolische Art und Weise, die Leon meistens beunruhigte. In der momentanen Situation machte es ihn eigentlich nur an.

»Nein«, schnurrte Felix ihm ins Ohr und ihm wurde prompt wieder heiß. »Vielleicht bleiben wir einfach den Rest des Wochenendes im Bett. Ich hab das Gefühl, wir haben einiges nachzuholen.«

Leon beschloss, wenn er sich das nächste Mal Gedanken um Sex machte, würde er es Felix einfach erzählen. Die ganze Nervosität hatte sich letztendlich wirklich nicht gelohnt. Und er fühlte sich nicht mehr wie eine frisch gebackene Jungfrau.

»Wir können auch zusammen duschen gehen… und dann das Bett frisch beziehen«, schlug er vor und Felix‘ Lachen begleitete sie den ganzen Weg bis ins Bad.

Die Karten auf den Tisch

Das hier ist das kleine kreative Bonbon für meine Beste zum Geburtstag :) Sie hat sie mal eine Kennenlern-Szene zwischen Felix und Chris gewünscht und hier ist das erste Treffen der beiden. Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

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Sinas Stimme in meinem Kopf ist tadelnd und weist mich darauf hin, dass ich im ersten Semester mehr Veranstaltungen hätte machen sollen, dann wäre ich jetzt nicht so im Stress. Zugegebenermaßen ist mein zweites Wintersemester mit dem Praktikum und dem riesigen Berg an Veranstaltungen schon vollgestopft genug, da brauche ich eigentlich nicht noch ein Seminar aus dem ersten Semester zum Nachholen. Aber gut, es lässt sich nicht mehr ändern und durch mein Gestöhne schreiben sich die Protokolle auch nicht von selber.
 

Ich war seit Wochen nicht mehr feiern und der Sport leidet auch unter der Uni, was mich ziemlich schlecht gelaunt durch die Weltgeschichte laufen lässt. Sina hat kein Mitleid. Sie nölt mich skrupellos an, wenn ich ihr zu grimmig bin und meine schlechte Laune an ihr auslasse. Das ist wahrscheinlich genau das Richtige. Jemanden, dem ich mit meiner Stimmung auf den Schlips treten könnte, wäre jetzt einfach nur unheimlich anstrengend.
 

»‘Tschuldigung, ist das hier das Becker-Seminar?«, erkundigt sich eine Stimme neben mir, während ich vor dem abgeschlossenen Seminarraum stehe und griesgrämig in der Gegend herum starre. Ich drehe den Kopf und mustere den jungen Mann, der sich zu mir gesellt hat. Er ist kleiner als ich – aber das ist kein wirklicher Maßstab, fast jeder Mensch in meiner Umgebung ist kleiner als ich – und sehr schlank. Sein Gesicht hat sehr weiche Züge und seine mandelförmigen Augen sehen schalkhaft aus. Alles in allem ist er mit seinen braunen Haaren und den vollen Lippen mit Abstand der hübscheste Junge, den ich je gesehen hab.
 

»Ja, ist es«, gebe ich zurück. Es wird Zeit, dass ich wieder feiern gehe. Mein Testosteron verlangt Sex beim Anblick dieses griechischen Halbgottes.

»Ah, gut. Ich hatte schon Angst, ich würd mich verlaufen. Hier sieht jeder verfluchte Gang gleich aus«, klagt er und ich sehe mich um. Er hat völlig Recht. Weil ich schon ein Jahr in diesem grässlichen Plattenbau herumstromern muss, kenne ich mich mittlerweile doch recht gut aus, aber für einen Erstsemester wären die grauen Wände ohne Bilder oder Ausschilderungen sicherlich verwirrend.
 

»Man gewöhnt sich dran«, versichere ich ihm. Er nickt und bringt ein Lächeln zustande. Heiliger Bimbam, ist der scharf.

»Ich bin übrigens Felix«, erklärt er abwesend, während sein Blick über das graue Gemäuer streift, so als wäre er bemüht irgendwelche besonderes Merkmale ausfindig zu machen, die ihm nächstes Mal dabei helfen könnten, wieder hierher zu finden.

»Chris«, gebe ich zurück. Seine Augen finden zu meinem Gesicht zurück und er grinst. Ich sehe seine ausgestreckte Hand erst einige Wimpernschläge später und schlage ein.
 

»Du bist wohl kein Ersti, was?«, erkundigt sich Felix. Ich schüttele den Kopf und kann nicht anders, als zurück zu grinsen. Langsam füllt sich der Korridor vor dem Seminarraum mit noch anderen Studenten. Die meisten sehen verschüchtert, verwirrt und unsicher aus und geben eine eindeutige Erstsemester-Aura ab.

»Drittes Semester. Ich hab im ersten Semester das ein oder andere Seminar versäumt. Muss jetzt nachgeholt werden«, gebe ich schulternzuckend zurück.
 

»Ich hab gehört, dass das dritte Semester am härtesten sein soll«, meint Felix nachdenklich. Ich nicke mit grimmiger Miene.

»Man hat keine Zeit für irgendwas, ich warn dich schon mal vor. Ich verbringe momentan die meiste Zeit am PC, in der Uni oder im Labor. Ist wirklich keine Freude.«

Felix schmunzelt und lässt seinen Blick an mir hinunter schweifen, als würde er versuchen sich mich im Kittel vorzustellen.

»Ich hab mir das mit diesem Studiengang ziemlich lang und gut überlegt. Chemie war immer mein Lieblingsfach. Wird schon werden«, antwortet er leichthin. Ich bin etwas beeindruckt. Ich hab einfach auf Gutdünken Bewerbungen für verschiedene Studiengänge abgeschickt. Studenten, die wissen, was sie wollen, finde ich beinahe etwas gruselig.
 

In diesem Moment kommt Herr Becker um die Ecke und klappert verheißungsvoll mit dem Schlüssel. Er trägt eine große Hornbrille, eine alte Cordhose und eine Halbglatze. Die Menge drängt schweigend in den ziemlich kleinen und von Heizungsluft stickigen Raum hinein und verteilt sich auf die freien Plätze. Felix setzt sich neben mich und stellt schwungvoll seine Tasche auf den Tisch.

»Sehr enthusiastisch, was?«, frage ich amüsiert. Felix grinst breit und wirft sich neben mir auf den Stuhl.

»Das ist mein erstes Seminar. Ich glaube, da ist jeder Ersti noch hochmotiviert.«
 

Ich krame meinen eselsohrigen Collegeblock und einen Kugelschreiber hervor, während Herr Becker vorn den Beamer zum Laufen bringt und seine Unterlagen auspackt.

»Hast du zufällig Lust hiernach mit mir in die Mensa zu gehen? Ich würd mich nicht so verloren fühlen, wenn jemand dabei ist, der schon hundert Mal da gegessen hat«, fragt Felix leise. Ich mustere das hübsche Gesicht neben mir.

»Sicher. Kein Ding. Ich warn dich vor: Die Currywurst ist nicht zu empfehlen. Manchmal bin ich sicher, dass sie noch lebt«, informiere ich ihn vorsichtshalber und Felix gluckst heiter. Sein Block sieht bei weitem nicht so zerfranst aus wie meiner.
 

»Oh«, sagt Felix, als wäre ihm plötzlich etwas Wichtiges eingefallen, »bevor ich mit dir anbandele, solltest du noch wissen, dass ich schwul bin. Falls du damit ein Problem hast, kann ich auch allein in die Mensa gehen.«

Sein Ton ist sachlich und ich starre ihn verwundert blinzelnd an.

»Ohne Scheiß jetzt?«, gebe ich etwas stumpf zurück und er legt seinen hübschen Kopf schief, um sich fragend anzusehen.

»Ja, ohne Scheiß«, sagt er nachdrücklich. Ich lache leise.
 

»Ist ja witzig. Vielleicht hast du ein unterbewusstes Gaydar«, sinniere ich laut und sehe dem leicht schwitzenden Herrn Becker dabei zu, wie er mit dem Beamer ringt. Er scheint einer dieser Professoren zu sein, die trotz langjähriger Beschäftigung an einer Universität die dazugehörige Technik noch nicht gemeistert hatten.

»Wieso? Du auch?«, fragt Felix erstaunt. Ich nicke feixend und auf seinem Gesicht breitet sich ein spitzbübisches Lächeln aus.

»Wie großartig! Wir könnten auch mal zusammen feiern gehen. Vorausgesetzt, du findest mich nicht total furchtbar.«
 

Ich schüttele den Kopf und er nickt zufrieden mit sich und der Welt. Als Herr Becker vorn endlich anfängt zu reden, mustere ich Felix von der Seite. Ich hätte absolut nichts dagegen, mal mit ihm feiern zu gehen. Wer weiß, vielleicht wird ja irgendwann mehr draus. Mit ins Bett nehmen würde ich ihn auf jeden Fall. Nicht nur, weil er so scharf ist, sondern auch, weil er mit dieser eiskalten Sachlichkeit direkt am Anfang der Bekanntschaft klargestellt hat, dass er auf Männer stellt. Ich weiß selber besser als viele andere, dass tatsächlich einige Kerle Probleme damit haben.
 

»Ich finde den Blonden in der zweiten Reihe scharf«, sagt Felix aus heiterem Himmel leise, während er die Sprechstundenzeiten von Herrn Becker auf seinem Block notiert. Ich werfe einen Blick auf besagten Blonden und grinse.

»Ich wittere eine wunderbare Freundschaft«, gebe ich flüsternd zurück und Felix lacht laut auf, hält sich hastig den Mund zu und lächelt entschuldigend, als alle sich nach ihm umdrehen.

»Wir können in der Mensa Ärsche benoten«, schlägt er unterdrückt kichernd vor und ich beiße mir heftig auf die Unterlippe, um keinen Ton zu machen, während Herr Becker die Kursanforderungen herunter rattert.
 

Das Seminar ist – obwohl der Stoff wahnsinnig trocken ist – eines der unterhaltsamsten, das ich bisher in meiner Unizeit besucht habe. Felix ist klug, witzig und völlig unverfroren, was mir sehr gut gefällt. Ich hab nach anderthalb Stunden geflüsterten Bemerkungen und notierten Botschaften bereits das Gefühl, als würde ich ihn schon seit Beginn meiner Studienzeit kennen. So schnell bin ich noch nie mit irgendwem warm geworden. Mal abgesehen von Sina.

Auf dem Weg zur Mensa tauschen wir Handynummern.
 

»Hast du ‘nen Freund?«, will Felix wissen, während wir hintereinander an der Kasse stehen. Ich habe ein Rumpsteak auf dem Teller, Felix gebratenen Reis mit Hähnchen.

»Bist du immer so direkt?«, kontere ich grinsend und ignoriere die erstaunten Blick des jungen Mannes hinter uns in der Schlange.

»Manchmal. Ich kann aber auch ganz schön zweideutig sein. Also?«, gibt er amüsiert zurück.

»Kein Freund. Ich bin nicht so der Beziehungsmensch«, untertreibe ich galant. Felix lacht leise in sich hinein.
 

»Interessant«, sagt er. Felix scheint diese Information irgendwas zu sagen, ich kann ihn allerdings kein bisschen lesen.

»Und du?«, will ich wissen und greife nach einer Apfelschorle im Kühlregal.

»Auch nicht. Aber ich würd mich nicht unbedingt gegen eine Beziehung sträuben«, antwortet er.
 

Nachdem wir gezahlt haben, suchen wir uns zwei einander gegenüberliegende Stühle und fangen an zu essen.

»Noch mehr direkte Fragen gleich zu Anfang?«, erkundige ich mich halb neugierig, halb belustigt. Felix kichert.

»Oben oder unten?«
 

»Oben.«
 

Felix lacht und spießt ein Stück Hähnchen auf.

»Wer hätte das gedacht«, gibt er immer noch glucksend zurück.

»Und du?«

Wenn er schon die Fragerunde eröffnet, dann möchte ich doch bittesehr auch informiert werden.

»Mal so, mal so. Ich bin flexibel«, entgegnet er ohne Umschweife. Ich muss an Sina und ihre Offenheit denken und schmunzele kurz stumm in mich hinein.
 

»Was ist los?«, erkundigt sich Felix bei mir und klaut mir einen Schluck von meiner Apfelschorle.

»Ach, nichts. Ich hab nur grad festgestellt, dass ich offensichtlich besonders gut mit Leuten klarkomme, die die Karten immer direkt auf den Tisch legen«, erkläre ich. Felix grinst von Ohr zu Ohr.

»Na, dann haben sich ja die Richtigen gefunden!«

Bruder-Bruder

Geschwisterfluff. Weil's so schön ist :) Spielt nach Bennis und Anjos Abi (heißt: Benni wohnt nicht mehr bei Familie Sandvoss).

Viel Freude beim Lesen!

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Ich finde es leicht, ein großer Bruder für Franzi und Eileen zu sein. Ich kann meinen angeborenen Beschützerinstinkt ausleben, Eileen in der Gegend herum kutschieren – was mich zugebenermaßen manchmal den letzten Nerv kostet – und Franzi bei den Hausaufgaben helfen. Wie früher, als sie noch sehr viel kleiner war. Franzi kommt immer noch hin und wieder zu mir ins Bett gekrochen, wenn ich über die Ferien einige Wochen zu Hause bin. Dann schleicht sie morgens zu mir ins Zimmer, barfuß und in ihrem Snoopy-Nachthemd, und ich halte wortlos und verschlafen meine Decke hoch. Franzi, Sina und Eileen werden womöglich auf ewig die einzigen Frauen sein, die ich in mein Bett lasse.
 

Mit Tim ist das schon was anderes. Da gibt es nicht unbedingt großartig was zu beschützen. Ich hab mich einmal für ihn geprügelt, als Tim noch ziemlich jung war. Ich war dreizehn und er neun und eine kleine Gruppe Jugendliche hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, auf den Schulhof der Grundschule zu spazieren und nichtsahnende Kinder zu schikanieren. Ich hab eigens für Tim den Englischunterricht sausen lassen – mein Vater hat mir tatsächlich sogar eine Entschuldigung dafür geschrieben – mich mit drei Fünfzehnjährigen angelegt. Blutige Nasen, blaue Augen und Zeit für Tim, um ein paar Lehrer zu holen, die bisher immer zu spät kamen, um die Übeltäter zu maßregeln.
 

Das war das einzige Mal, dass ich Tim tatsächlich beschützen musste. Dadurch, dass er so ein Clown ist und aus allem einen Scherz macht, kommen viele ernste Dinge kaum an ihn ran. Klar, ich erinnere mich noch an das Debakel mit Annika, das erste Mädchen, in das Tim wirklich verknallt war und das ihn nach Strich und Faden ausgenutzt hat. Tim würde es selbstredend nie zugeben, aber ich glaube, dass diese Sache ihn dermaßen abgeschreckt hat, dass er jetzt nichts mehr von Beziehungskram hält. Oder von Verliebtsein. Prinzipiell bin ich froh darüber, denn die Gespräche über Annika mit einem sechzehnjährigen Tim waren sehr merkwürdig und es ist eindeutig nichts, was ich unbedingt wiederholen wollen würde. Auch, wenn ich selbstredend immer für Tim da bin. Ich glaub allerdings nicht, dass ich mittlerweile noch sein erster Ansprechpartner bin. Er hat einen ziemlich großen Freundeskreis.
 

Umso merkwürdiger ist es, als mitten in den Sommerferien und meinem zweiwöchigen Urlaub zu Hause die Tür aufgeht, sich dann wieder schließt und Schweigen das Zimmer erfüllt, während ich über einen Chemie-Wälzer gebeugt am Schreibtisch sitze und arbeite. Meine erste Vermutung ist, dass Franzi stille Gesellschaft möchte. Aber als ich mich umdrehe und zum Sofa hinüberschaue, stelle ich fest, dass mein Bruder dort hockt und die Arme verschränkt hat. Ich hebe eine Augenbraue und mustere ihn fragend, aber er scheint entschlossen zu sein, nicht zu sprechen. Also zucke ich die Schultern, drehe mich wieder um und wende meine Aufmerksamkeit erneut dem Buch zu. Wenn Tim irgendwas loswerden will, dann muss er schon von selber damit rausrücken.
 

Nach einer Viertelstunde Stille hat Tim weder etwas gesagt, noch ist er wieder gegangen. Ich kann mich wirklich nicht konzentrieren, wenn mein Bruder mir Löcher in den Rücken starrt, also drehe ich den Schreibtischstuhl wieder in seine Richtung, stütze meine Ellbogen auf den Knien ab und mustere ihn.

»Willst du damit rausrücken, oder wolltest du einfach nur mal meine seltene Anwesenheit genießen?«, erkundige ich mich. Tim gibt ein amüsiertes Schnauben von sich und löst seine Arme aus der Verschränkung.

»An deiner Anwesenheit gibt’s nichts zu genießen«, informiert Tim mich trocken und nun ist es an mir zu schnauben.

»Dann kannst du ja auch woanders deinen Redestreik durchziehen«, schlage ich vor. Tim grummelt ungehalten und zappelt ungeduldig auf dem Sofa herum.
 

»Na schön«, mault er, rutscht auf den Sitzkissen herum und entscheidet sich schließlich für eine Position im Schneidersitz. Ich sehe ihn erwartungsvoll an. Tim scheint sich regelrecht zu winden, als gäbe es nichts Schlimmeres, als sich mit mir zu unterhalten.

»Eventuell ist etwas Schreckliches passiert.«

Ich richte mich gerade auf. Das klingt nicht gut. Wenn es nicht wirklich schrecklich wäre, würde Tim wohl kaum zu mir kommen.

»Ok«, sage ich wachsam. Tim runzelt die Stirn und mustert mich verwirrt.

»Du siehst aus, als wärst du im Bereitschaftsmodus um irgendwen zu schlagen, Alter«, informiert er mich. Ich verziehe das Gesicht.
 

»Wenn du schon hierher kommst und mit Grabesmiene verkündest, dass was Schreckliches passiert ist–«
 

»Nicht so schrecklich. Anders schrecklich! Entspann dich, Mann«, fordert er mich auf und wedelt mit einer ungeduldigen Hand in meine Richtung. Also sinke ich wieder etwas in mich zusammen, beuge mich vor und warte darauf, dass ich endlich mitgeteilt bekomme, was denn genau so schrecklich sein soll. Und dann dämmert es mir plötzlich.

»Wie heißt sie denn?«, will ich seufzend wissen und Tim sitzt so schnell kerzengerade, als hätte ihm jemand ins Ohr geschrien.

»Wovon sprichst du?«, fragt er und sieht aus, als wäre er einer ernsthaften Panikattacke nahe. Das verrät mir, dass ich direkt ins Schwarze getroffen habe.

»Von deinem Liebesleben. Es geht doch um eine Frau, oder? Was solltest du sonst schrecklich finden?«
 

Tim sackt in sich zusammen und gibt ein leicht verzweifeltes Geräusch von sich.

»Es ist ein Desaster!«, erklärt er schließlich und sieht aus, als würde er mich gern schütteln, um mir klarzumachen, wie furchtbar sein Zustand ist.

»Wieso?«, will ich wissen.
 

»Weil es Esther ist! Und ich bin saugut mit Esther befreundet. Wir haben denselben Freundeskreis und wenn das in die Hose geht, dann ist alles Mist. Mal ganz abgesehen davon, dass dieser ganze Liebesscheiß sowieso nicht mein Ding ist.«

Ich räuspere mich. Die Geschichte kommt mir ein wenig bekannt vor. Natürlich nicht eins zu eins, aber die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt in einen guten Freund verknallt zu sein, die kenn ich sehr wohl.

»Will sie denn auch was von dir?«, frage ich. Tim fummelt an seinem Hosensaum herum, der ziemlich ausgefranst ist.

»Keine Ahnung. Vielleicht. Wahrscheinlich? Woher soll ich das wissen, Alter?«, mault er ungnädig. Diese ganze Sache scheint ihm tatsächlich zuzusetzen.
 

»Was weiß ich? Ich hab keine Ahnung, was bei euch abgeht«, gebe ich ungehalten zurück. Tim grummelt vor sich hin und fängt an, unsanft an einem der Sofakissen herumzufummeln.

»Willst du von ihr erzählen?«, frage ich etwas ruhiger.

»Nein«, kommt prompt die Antwort. »Ja. Keine Ahnung. Ich hab echt keinen Nerv mit dir da drüber zu reden!«

Ich verdrehe die Augen.

»Wieso bist du dann hier reingeschneit?«

»Mit wem soll ich denn sonst drüber reden? Außerdem weiß ich nicht, was ich machen soll. Und du warst mit deinem Marzipantörtchen schließlich auch befreundet, bevor ihr angefangen habt, euch gegenseitig aufzuessen«, erwidert Tim schlecht gelaunt und ich räuspere mich verhalten bei der Erwähnung von Anjo.
 

»Anjo ist nicht mein Marzipantörtchen und wir essen uns nicht gegenseitig auf«, informiere ich meinen kleinen Bruder so gelassen wie möglich. Tim hebt seine Brauen. Er sieht mir wirklich ziemlich ähnlich.

»Tatsächlich? Wem gehörte dann die Hand unter seinem Shirt, als ihr letztes Mal hier wart? Schien ziemlich dringend zu sein«, stichelt der Idiot. Ich grummele und verschränke meine Arme vor der Brust.

»Ich muss nicht mit dir darüber reden«, erkläre ich.

Tim brummt wortlos vor sich hin, dann legt er sich auf den Rücken und starrt an die schräge Decke. Unweigerlich muss ich an einen Patienten und seinen Therapeuten denken, auch wenn ich ziemlich sicher bin, dass die Patienten meiner Mutter auf einem Stuhl sitzen.
 

»Also schön. Ich kenn sie seit sieben Jahren, sie studiert Pädagogik und jobbt nebenbei im Tierheim. Sie ist nach einem Glas Sekt angeheitert, findet das Innere von Honigmelonen supereklig und hört gern Kate Nash. Jedenfalls kann ich sie gut leiden. Und letztens hat sie mich gefragt, ob ich später Kinder will und ich hab gesagt, ich hätt gern ‘ne ganze Rockband und sie hat gelacht und meinte, dass ich bestimmt ein cooler Vater werde und dann hat sie mich angeguckt, als fände sie mich irgendwie schon ziemlich gut, aber ich bin’s sonst nur gewöhnt, dass Mädchen mich auf eine… äh… eher kurzlebigere, rein körperliche Art gut finden, deswegen hab ich keinen Schimmer, ob ich mir das nur einbilde. Und dann hab ich angefangen mir auszumalen, wie ich sie Oma vorstelle, die dann sicher völlig aus dem Häuschen wäre, und da war mir klar, dass ich wahrscheinlich hoffnungslos bekloppt bin. Wehe du lachst!«
 

Ich presse die Lippen zusammen und bin sehr bemüht, so seriös wie möglich dreinzuschauen. Es ist fast ein wenig niedlich, wie Tim sich in Rage geredet hat und beim Sprechen über Esther ziemlich begeistert aussieht, ob er nun alles schrecklich findet oder nicht. Zu seiner Beschreibung davon, wie Mädchen ihn für gewöhnlich gut finden, sage ich nichts. Ich möchte wirklich nichts über das Sexleben meiner Geschwister erfahren. Liebe, ok. Von mir aus. Wenn auch mit einem inneren Winden. Aber Sex? Nein. In meiner utopischen Vorstellung hat kein Mitglied meiner Familie jemals Sex. Außer mir, versteht sich. Ich hab… aber das ist nicht das Thema hier.

»Du solltest es ihr sagen«, rate ich Tim unumwunden und mein Bruder starrt mich verwirrt an.

»Was? Einfach so?«
 

Ich zucke mit den Schultern.

»Du machst dir unnötigen Stress. Hab ich auch. Aber es war beknackt und ich hab eingesehen, dass es sich nicht lohnt, solche Gelegenheiten wegen irgendwelchen noblen Bedenken sausen zu lassen. Schnapp sie dir, Tiger.«

Tim öffnet den Mund, zweifellos, um mir zu widersprechen. Dann schließt er ihn wieder, hebt eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, öffnet den Mund erneut und lässt die Hand fallen.

»Einfach so?«, wiederholt er matt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht laut zu lachen.

»Jap. Einfach so. Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen«, stichele ich. Tim schnaubt und sieht aus, als würde er mich gern gegen den Oberarm boxen.
 

»Du bist echt ‘n beschissener Ratgeber, weißt du das?«, sagt Tim nachdenklich und setzt sich auf. Ich verdrehe die Augen.

»Ja, sicher. Sag mir das noch mal, wenn du mit Esther in den Sonnenuntergang reitest«, gebe ich zurück. Tim sieht von der Vorstellung empört und begeistert zugleich aus.

»Vielleicht findet sie mich gar nicht gut!«
 

»Dann kannst du immer noch so tun, als wäre es ein Witz gewesen. In so was bist du doch gut. Sag Bescheid, wie’s gelaufen ist. Ich muss jetzt wirklich weiter arbeiten…«

Tim steht auf und marschiert in Richtung Tür. Da bleibt er kurz stehen, sieht mich an, als würde er eventuell ›Danke‹ sagen wollen, aber dann grinst er nur, meint »Arschloch« und verlässt meinen Dachboden. Ich schnaube amüsiert und wende mich wieder meinem Chemiewälzer zu.
 

Eine Stunde später klopft es leise an meine Tür und Franzi kommt herein.

»Hat Tim angefangen Drogen zu nehmen?«, will sie besorgt wissen. Ich hebe zum gefühlt hundertsten Mal die Augenbrauen.

»Drogen? Was?«, frage ich perplex.

»Er tanzt allein Walzer durchs Wohnzimmer, hat Renja eine Liebeserklärung gemacht und mir gesagt, dass du der… äh… irgendwas mit dem Dalai-Lama und einem Liebesguru oder so…«

Franzi fährt sich durch die Haare, während ich laut lache.

»Ich gehe davon aus, dass er meinen Rat direkt befolgt hat und jetzt mit Esther in den Sonnenuntergang reitet«, erkläre ich. Franzi sieht aus, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich jetzt auch durchgedreht bin.

»Wer ist Esther?«, will sie wissen. Ich grinse breit.

»Wir werden sie wohl bald kennen lernen. Er freut sich schon drauf, sie Oma vorzustellen.«

Ich bin zufrieden. Vielleicht bin ich doch kein so übler Bruder-Bruder, wie ich dachte.

Ein kleiner Moment

Liebe My,

es tut mir Leid, dass es nicht Jannis/Kolja geworden ist, aber ich kam einfach nicht mehr rein. Es gibt stattdessen Jana/Franzi-Plüsch und ich hoffe, dass es dir gefällt. Frohe Weihnachten!

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Als Franzi zum ersten Mal bemerkt, dass etwas anders ist als sonst, sitzt sie an einem regnerischen, kalten Dezembertag in ihrem Zimmer und beobachtet Jana dabei, wie sie sorgfältig eine Seite vom vierten Harry Potter Band umblättert und lächelt, als sie den ersten Satz liest. Franzi will eigentlich Mathehausaufgaben machen, aber sie kann sich nicht wirklich konzentrieren. Im Winter vermisst sie Chris immer besonders, weil die Vorweihnachtszeit damals, als er noch hier im Haus gewohnt hat, immer schön war. Natürlich ist es immer noch schön, aber Franzi wünscht sich manchmal, dass Chris näher bei ihnen wohnen würde, damit sie sich öfter sehen könnten.
 

Dieses Weihnachten ist anders, weil Jana da ist. Natürlich ist es nicht dasselbe wie mit Chris, aber es ist auf eine andere Art und Weise auch wunderschön. Und während Franzi ihre beste Freundin beobachtet und dabei zusieht, wie ihre blaugrünen Augen Zeile für Zeile entlang huschen spürt sie ein leichtes Fallgefühl im Magen und legt den Kopf schief, um konzentriert in sich hineinzuhören und herauszufinden, was es damit auf sich hat. Es braucht nur ein leises Lachen von Jana, um Franzi die Antwort vor Augen zu führen. Ihr Herz hüpft glücklich bei dem Klang und Franzi atmet einmal tief durch, als sie sich langsam bewusst macht, dass sie vielleicht oder sogar sehr wahrscheinlich zum ersten Mal verknallt ist.
 

Franzi macht sich keine Gedanken darüber, dass Jana ein Mädchen ist, sie macht sich Gedanken darüber, dass Jana ihre beste Freundin ist. Einerseits hat sie Angst, dass sie mit solchen Gefühlen die Freundschaft kaputtmachen könnte, andererseits glaubt sie nicht, dass sie jemals in einen Menschen verliebt sein könnte, mit dem sie nicht so eng befreundet ist. Es bleibt die Frage, ob Jana sie auch anders mag als freundschaftlich. Wenn nicht, dann wäre das auch ok, denkt Franzi sich, dann wären sie weiterhin beste Freundinnen und das wären sie ja hoffentlich ohnehin, auch wenn Jana ebenfalls ein bisschen verliebt in Franzi wäre.
 

Es kommt ihr ein bisschen merkwürdig vor, dass in so vielen Filmen die Erkenntnis über Gefühle ein großartiger Moment ist, ein pompöser Augenblick, in dem die Welt innehält, um die Luft anzuhalten und sich für ein paar Sekunden nicht zu drehen. Sicher gibt es auch Leute, die solche Erlebnisse haben, aber Franzi kann nicht behaupten, dass die Welt angehalten hat. Es war ein kleiner Moment, ein Wimpernschlag, ein Stolpern ihres Herzens und ein Fallgefühl im Magen, während sie ihre beste Freundin dabei beobachtet, wie sie den vierten Band aus ihrer liebsten Buchreihe liest und dabei lächelt. Ein ganz normaler, alltäglicher Augenblick an einem ganz normalen Tag kurz vor Weihnachten. Niemand schwebt in Lebensgefahr, wurde gerade aus einem brennenden Haus gerettet, steckt in einem Fahrstuhl im zehnten Stock mit einem gutaussehenden Kollegen… Franzi befindet, dass Fiktion oft übertreibt und es doch so – klein, unauffällig und behutsam – viel schöner ist als mit lauten Fanfaren im Hintergrund.
 

Als Jana von ihrem Buch aufschaut und ihr zulächelt, kribbelt es in Franzis Magen und sie atmet tief ein, um das Gefühl zu bewundern und es sich genau einzuprägen.

»An welcher Stelle bist du grade?«, fragt Franzi lächelnd und schiebt ihr Mathebuch beiseite, um sich neben Jana zu setzen und ihr über die Schulter zu sehen.

»B.Elfe.R«, erklärt Jana lächelnd und hält Franzi das Buch hin. Janas Lieblingscharakter ist Harry. Sie leidet immer besonders mit ihm, wenn er zurück in den Ligusterweg muss, zurück zu seinen Peinigern, und Franzi versteht das nur zu gut. Ein besonders glücklicher Moment ist es gewesen, als Jana ihr nachts kurz vorm Einschlafen zugeflüstert hat, dass dieses Haus ihr Hogwarts ist. Franzi hat ihre beste Freundin fest an sich gedrückt und sie sind Arm in Arm eingeschlafen.
 

Franzis Lieblingscharakter ist Hermine. Deswegen hat sie ihre Katze nach diesem Charakter benannt. Es passt irgendwie, findet sie. Immerhin sind Harry und Hermine auch beste Freunde. Allerdings waren sie nie ineinander verliebt, denkt Franzi sich.

»Sag mal…«, fängt Franzi an und Jana sieht auf, um ihren Blick zu erwidern, »warst du schon mal verliebt?«

Janas Wangen färben sich ein wenig rot. In Franzis Augen ist sie das hübscheste Mädchen der Welt.

»Vielleicht. Ich weiß nicht genau«, antwortet sie leise und Franzi beobachtet ihre beste Freundin interessiert. Sie sehen sich eine ganze Weile lang schweigend an, als wären sie hypnotisiert von den Augen der anderen.

»Und du?«, will Jana schließlich wissen. Franzi lächelt.

»Ja, schon«, gibt sie zurück. Irgendwie ist sie sich sicher, dass Jana eigentlich weiß, worüber sie redet und dass sie sich womöglich gerade indirekt gesagt haben, dass sie nicht nur noch beste Freundinnen sind, sondern auch noch etwas anderes. Aber sie hakt nicht weiter nach und lässt die Sache erst einmal auf sich beruhen.
 

*
 

Seit Jana keine Angst mehr vor Berührungen von Franzi hat, gehen die beiden fast immer Hand in Hand. Die meisten Leute achten nicht darauf, weil Mädchen eher unsichtbar sind, wenn sie Händchen halten. Es sei denn, eine von ihnen trägt karierte Hemden und Boots und kurze Haare. Franzi stört sich nicht daran, immerhin sind Jana und sie tatsächlich befreundet. Auf dem Weihnachtsmarkt lässt es sich eher schlecht Hand in Hand gehen, aber weil Jana ohnehin keine großen Menschenmengen mag, gehen sie unter der Woche recht früh, sobald es dunkel geworden ist. Dann kann man gemütlich nebeneinander durch die Gassen zwischen den Ständen schlendern, sich die Kerzen, Schmuckstücke, Süßigkeiten und Holzfigürchen gut ansehen, ohne andauernd beinahe zerquetscht zu werden. Es fängt sogar ein wenig an zu schneien, als sie vor einem Stand mit Silberschmuck stehen und Jana fängt ein paar Flocken auf ihrem Handschuh, um sie sich näher anzusehen. Franzi hat das gewisse Gefühl im Magen jetzt immer häufiger und ständig muss sie lächeln, wenn sie Jana ansieht. Das Lächeln geht dann meist nicht mehr weg, als wäre es auf ihr Gesicht geklebt. Aber es ist ein guter Zustand, findet Franzi. Und Jana strahlt jedes Mal zurück, als wäre Franzi der beste Mensch auf der Welt. Zusammen mit Benni, natürlich.
 

Während Franzi nach einer schönen Kerze für ihre Oma zu Weihnachten sucht, verschwindet Jana von ihrer Seite und kommt kurze Zeit später mit einem kleinen Lebkuchenherz zurück. Darauf steht »Danke«. Franzi bekommt es umgehängt und fühlt sich, als wäre ihr Inneres mit Heliumluftballons gefüllt. Sie kaufen sich grüne Zuckerwatte und stellen sich neben ein altes Fachwerkhaus, um dort in Ruhe das süße Zeug vom Stab zu zupfen und sich in den Mund zu stecken. Die Zuckerwatte bleibt an Janas Fingern kleben und sie lacht so glücklich, dass Franzi sie am liebsten küssen möchte vor Begeisterung. Vielleicht sieht sie Jana so an, als würde sie genau das tun. Vielleicht versteht Jana sie. Ihr Lachen versickert langsam und sie sieht Franzi einen Augenblick zögerlich an, dann beugt sie sich hastig vor und drückt ihre Lippen vorsichtig auf Franzis Mund. Jana schmeckt nach Zuckerwatte und Franzi spürt Wärme überall dort in ihrem Körper, wo ihr gerade noch kalt war. Schnee rieselt auf sie herunter und Franzi genießt das aufgeregte Schlagen ihres Herzens.

Als Jana sich von ihr löst, ist sie ganz rot auf den Wangen und leckt sich die Lippen ab.

»Darf ich das später noch mal machen?«, erkundigt Franzi sich. Jana muss kichern und sie klingt nervös, aber auch sehr glücklich. Zufrieden schiebt sie sich das nächste Stück Zuckerwatte in den Mund.

»Ja, bitte.«

Valentinstag

Liebe Lisa,

da unser Drucker hier leider außer Gefecht gesetzt ist, bekommst du deine Kleinigkeit per Internet. Wir haben über die kleine Episode schon mal gesprochen und ich hoffe, dass es dir gefällt ;)

Ich lieb dich sehr! Frohe Weihnachten <3

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Ich habe wirklich keinerlei Ahnung, was man so am Valentinstag anstellt, wenn man mit irgendwem zusammen ist. Alle Welt macht immer so ein großes Ding daraus und ich hab mich nie näher mit diesem beknackten Tag beschäftigt. Es war auch noch nie nötig. Aber jetzt bin ich seit einiger Zeit mit Anjo zusammen und ich habe das dunkle Gefühl, dass der Knirps – und ich kann einfach nicht aufhören, ihn so zu nennen, auch wenn es merkwürdig ist, weil er schließlich mein fester Freund ist – gerne etwas zum Valentinstag hätte. Aber woher soll ich eine möglichst kreative, romantische Idee nehmen? Aus meinem Gehirn jedenfalls nicht, das ist in etwa so kreativ und romantisch wie eine Backsteinmauer. Wahrscheinlich ist dies eine Unfähigkeit meinerseits, die sogar der von Leon Konkurrenz macht und das will etwas heißen.
 

Da mein Gehirn nichts zu diesem Thema hergibt, versuche ich Sina zu befragen, die mich nach meiner Frage, was ich Anjo zum Valentinstag schenken könnte, ein wenig verdattert und gleichzeitig amüsiert ansieht.

»Du willst Anjo was zum Valentinstag schenken?«, fragt sie, als wäre das das Abwegigste, von dem sie je gehört hat. Ich räuspere mich ein wenig verlegen.

»Naja, Anjo steht doch sicher auf solchen romantischen Kram«, gebe ich zurück. Sina lacht ausgelassen und ich möchte sie ein bisschen erwürgen, weil sie sich über mich lustig macht.

»Blumen, Pralinen, Stofftierchen«, trällert und mich einfach mit meinem Problem stehen lässt. Ich weiß genau, was in ihr vorgeht. Sie will mich mit diesem ersten Beziehungsding im Regen stehen lassen und dabei zusehen, wie ich mich blamiere, weil ich keine Ahnung habe, wie es funktioniert.
 

Aus lauter Frust über meine Unfähigkeit und über Sinas empörendes Verhalten gehe ich erstmal mit Pepper joggen. Draußen ist alles frostig weiß und ziemlich kalt und mein Atem kondensiert vor mir in der Luft. Anjo mag Tiere und Kunst. Und Superhelden. Und seine Freunde. Und naja… mich. Mir ist klar, dass jeder andere Mensch wahrscheinlich schon längst eine kreative, kleine Aufmerksamkeit aus diesen Informationen gebastelt hätte, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein. Es war gerade erst Weihnachten, wo ich mir schon einen Ast dabei abgebrochen habe, für Anjo das richtige Geschenk auszuwählen. Aber jetzt gleich noch eins? Den Pulli, den ich ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hab, kann ich sowieso nie wieder übertrumpfen. Das Ding trägt er nämlich dauernd mit sich rum, was mir sagt, dass er wirklich begeistert von dir Idee war. Ich kann ihm schließlich nicht jedes Mal neue alte Kleidungsstücke von mir schenken. Mal ganz abgesehen davon, dass ich selber was zum Anziehen brauche und echt ungern Klamotten kaufen gehe, haben meine anderen Sachen auch gar nicht dieselbe Bedeutung wie dieser beknackte Pulli. Es ist zum Haareraufen und Pepper ist mir eindeutig keine Hilfe dabei, irgendwas für Anjo auszusuchen.
 

Die nächsten zwei Tage verbringe ich mit verzweifeltem Grübeln. Ich bin am Überlegen, ob ich Felix fragen sollte, aber der findet den Valentinstag bescheuert und hat von vornherein mit Leon einen Boykott dieses Tages beschlossen. Er ist partout gegen die Geschäftemacherei am Valentinstag und er hat auch vollkommen Recht damit, - »Ich lass mir doch von den geldgierigen Aasgeiern nicht vorschreiben, wann ich meinem Freund sage, dass ich ihn liebe!« - aber ich will Anjo nicht enttäuschen.
 

Am Ende schließe ich mich in meinem Zimmer ein und bemühe mich, einen möglichst romantisch anklingenden Brief zu schreiben – ich scheitere jämmerlich – und lege dem ganzen anschließend einen Kinogutschein bei. Irgendeine neue Marvel Verfilmung, die Anjo sehen will, wird schon bald in die Kinos kommen und dann kann er mich samt dem Gutschein in eben jenen Film schleifen. Sina erzähle ich nichts von meinem Geschenk, bevor sie mich noch mehr auslacht. Vermutlich wird sie von Fabian mit roten Rosen überschüttet, mit Parfüm und einem selbstgekochten Essen beschenkt und anschließend eine Stunde lang massiert. Bei dem Gedanken an so viel Kitsch verziehe ich unweigerlich das Gesicht.
 

Während der Valentinstag näher rückt, werde ich nervöser, Sina amüsierter und Anjo verhält sich völlig normal, als würde die Welt genauso laufen, wie er es erwartet hat. Er ist momentan im Abistress und hat kaum Zeit für mich, weil er bereits jetzt damit beschäftigt ist, für seine Klausuren und seine mündliche Prüfung zu lernen. Ich weiß, dass Anjo – mal abgesehen von Kunst – ein eher durchschnittlicher Schüler ist. Aber so viel, wie er im Moment paukt, können diese Klausuren eigentlich nur gut werden. Seine Abivorklausuren waren auch ziemlich gut. Besser als sein gewöhnlicher Durchschnitt zumindest. Hin und wieder denke ich darüber nach, was passiert, wenn Anjo nicht an der hiesigen Kunsthochschule angenommen wird, an die er gehen will. Dann muss er womöglich in eine andere Stadt gehen. Eine schreckliche Vorstellung.
 

Ich weiß, dass Anjo im Moment nicht über diese Sachen nachdenkt. Er hangelt sich von einem wichtigen Ereignis zum nächsten. Ich, Abitur, Zukunftspläne. Er und Lilli haben beschlossen, dass sie zusammen in eine Wohnung ziehen wollen, wenn sie beide an der Hochschule für bildende Kunst angenommen werden. Andere Paare ziehen zusammen, – so wie Leon und Felix – Anjo und ich ziehen auseinander. Auch das wird ungewohnt und merkwürdig sein, aber ich kann eher damit leben, als mit einem Anjo, der hunderte von Kilometer weit weg wohnt und studiert. Nein, danke.
 

»Sag mal Chris, ist eigentlich alles ok? Du wirkst ein bisschen angespannt in den letzten Tagen«, sagt Anjo besorgt zu mir, als ich am dreizehnten Februar dreimal hintereinander etwas in der Küche fallen lasse, weil ich so aufgeregt wegen morgen bin. Ich bin eindeutig der erbärmlichste feste Freund, den man sich vorstellen kann. Mir war ja von Anfang an klar, dass ich und Beziehungen inkompatibel sind.

»Klar. Alles super«, entgegne ich und schaffe ein Grinsen. Anjo sieht erleichtert aus. Als er in dieser Nacht neben mir eingeschlafen ist, liege ich noch wach und denke darüber nach, was ich mir genau bei einem beknackten Kinogutschein und einem unterirdisch schlechten Liebesbrief gedacht habe.
 

Am nächsten Morgen verpasse ich Anjo, der früh zur Schule muss und bereits das Haus verlassen hat, als ich aus Bett krieche. Ich fluche unterdrückt beim Duschen und beschließe, ihm die Geschenke einfach in die Küche zu legen. Da kommt er später auf jeden Fall vorbei. Danach verbanne ich den elenden Valentinstag aus meinen Gedanken und widme mich den Protokollen, die ich dringend noch schreiben muss, bevor ich durch eins meiner Seminare falle. Anjo kommt am späten Nachmittag zurück und ich verlasse todesmutig mein Zimmer, um ihm in die Küche zu folgen. Sina sitzt scheinheilig schmunzelnd am Küchentisch und trinkt eine Tasse Kaffee. Anjo sieht verwirrt auf die beiden Umschläge mit seinem Namen hinunter.

»Was ist das?«, fragt er. Ich räuspere mich.

»Ähm… dein Valentinstagsgeschenk«, gebe ich zurück. Anjo blinzelt und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Sina sich auf die Unterlippe beißt, um nicht laut loszulachen.
 

»Ah, das ist heute? Hatte ich ganz vergessen«, meint Anjo und ich komme mir vor wie der größte Trottel unter der Sonne.

»Du wusstest, dass er den Tag überhaupt nicht auf dem Schirm hat«, klage ich Sina sofort an, während Anjo sein Geschenk näher inspiziert. Sina zuckt breit feixend mit den Schultern.

»Du hast dich so niedlich rein gesteigert, das wollte ich dir nicht nehmen«, gibt sie mit Unschuldsmiene zurück, die ich ihr ganz klar nicht abkaufe.

»Ich hab gar nichts für dich«, sagt Anjo verlegen und holt den Brief aus dem Umschlag. Seine Augen leuchten ein bisschen.

»Kein Problem«, brumme ich, immer noch knatschig wegen Sinas Verrat. Das Gute daran ist, dass das wohl bedeutet, dass ich mir um kommende Valentinstagsgeschenke keine Gedanken mehr machen muss. Das Blöde ist, dass ich mich total zum Horst gemacht habe. Aber gut, die Freude in Anjos Augen über den verkorksten Brief und den Gutschein entschädigen mich, und die ausgiebige Knutscherei, die danach in seinem Zimmer folgt, sogar noch mehr.

Begeistert

Für Steffi <3

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Es war ein ganz normaler Tag gewesen. Felix hatte Frühstück gemacht – zugegebenermaßen, Pfannkuchen mit Ahornsyrup unter der Woche waren etwas ungewöhnlich, aber Leon wollte sich natürlich nicht beschweren – und war dann zur Uni verschwunden. Leon hatte im Bett gelegen, ferngesehen und sich widerwillig Gedanken darüber gemacht, dass Felix wahrscheinlich Recht hatte, wenn er sagte, dass Leon mit seinem Studium nicht glücklich war und daher wohl auch später in seinem Job nicht zufrieden sein würde. Also musste er darüber nachdenken, was er stattdessen mit seinem Leben anfangen wollte. Er hatte keinerlei Ahnung und beneidete Felix um seine Begeisterung für das, was er studierte.
 

Leon hingegen war alle zwei Tage damit beschäftigt, die Veranstaltungen zu schwänzen, die er besuchen musste, um sein viertes Semester abzuschließen. Wie hatte er es geschafft, zwei Jahre seines Lebens mit einem Studium zu vergeuden, das ihn kein bisschen erfreute und ihn in den Wahnsinn trieb?

»Wer soll denn auch mit zwanzig schon genau wissen, was man später mal machen will? Ist doch Mist«, hatte Benni mal einer seiner Nachhilfestunden bei Felix gesagt und Leon hatte beschlossen, dass er Recht hatte.
 

Der normale Tag war weitergegangen, als Leon versucht hatte, für Felix Mittag zu kochen und glorreich dabei gescheitert war. Er hatte sich an Reis mit Huhn und Curry versucht und das Kochbuch hatte ihm versichert, dass es einfach war und lediglich zwanzig Minuten dauern würde. Aber am Ende war der Reis verkocht, die Soße schmeckte nach nichts und das Gemüse in der Soße war nicht so gut durch, wie es hätte sein sollen. Felix beklagte sich nicht, sondern aß seinen ganzen Teller widerstandslos auf. Er bedankte sich sogar für Leons Mühe. Manchmal war Felix so gutmütig und nett zu ihm, dass Leon sich unweigerlich wie der mieseste Freund unter der Sonne vorkam.

»Ich könnte noch Schokopudding machen«, schlug Felix strahlend vor und Leon runzelte die Stirn.
 

»Ist irgendwas? Du hast heute Morgen schon Pfannkuchen gemacht«, meinte Leon verwirrt und etwas Unglaubliches geschah. Auf Felix‘ Wangen bildete sich ein leichter Rotschimmer und er begann ein wenig nervös auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Leon setzte sich unweigerlich ein wenig gerader hin und schob seinen Teller, von dem er nur drei Gabeln gegessen hatte, von sich weg.

»Was ist los?«, fragte er gespannt und musterte beeindruckt den rötlichen Farbton auf Felix‘ Wangen. So etwas kam nie vor. Felix war nicht nervös und verlegen. Er war selbstbewusst und unbeschwert und mäkelig und bestimmend.

»Willst du Schokopudding oder nicht?«, fragte Felix und erhob sich, um sehr enthusiastisch den Tisch abzuräumen und das Geschirr in die Spüle zu stellen.
 

»Ja, schon, aber erstmal will ich wiss–«
 

»Ok!«, flötete Felix beschwingt und begann im Kühlschrank zu kramen. Leon starrte empört den Rücken seines Freundes an. Felix konnte nicht erst entzückend und verräterisch rot werden und dann Schokopudding machen, als wäre nichts passiert! Er hatte praktisch zugegeben, dass irgendetwas los war und jetzt hockte Leon hier am Küchentisch und wartete hibbelig darauf zu erfahren, was denn nun eigentlich im Busch war.
 

»Nun erzähl schon, was los ist!«, forderte er Felix brummig auf und verschränkte unzufrieden die Arme vor der Brust. Felix warf ihm einen Blick über die Schulter zu und als er Leons grummelige Miene sah, nahm sein Ausdruck einen zärtlichen Zug an, der Leon das Blut in die Wangen schießen ließ. Wieso schaffte Felix es nach all der Zeit immer noch, ihn so aus der Fassung zu bringen? Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie sein Magen jedes Mal kribbelte und schlingerte, wenn Felix ›Ich liebe dich, Noel‹ sagte. Aber er musste hart bleiben. Er wollte es wissen, was auch immer ›es‹ sein mochte.
 

»Schau mich nicht so an! Ich will wissen, was los ist«, verlangte er mit möglichst viel Nachdruck. Doch Felix kramte nur nach seinem Mixer und begann mit der Zubereitung des Desserts. Gegen den Lärm des Mixers kam Leon kaum an, also beschloss er mit seinem weiteren Verhör bis zum Essen zu warten und stierte Felix über seine Schale mit dunkelbrauner Creme vorwurfsvoll an.

»Ich hab nachgedacht«, begann Felix und leckte bedächtig seinen Löffel ab. Leon musste alles an geistiger Willenskraft aufbringen, um die Zunge seines Freundes nicht zu eindringlich anzugaffen und am Ende noch ein Rohr unter dem Tisch zu kriegen, was seine Konzentrationsfähigkeit eindeutig schwächen würde.

»Also, eigentlich hat Benni mich drauf gebracht…«, fuhr Felix fort und Leon runzelte die Stirn.
 

Was für geheime, wichtige Dinge konnte es geben, die Benni Felix in den Kopf gesetzt hatte? Leon zermarterte sich das Hirn nach etwas, das Felix so in Verlegenheit bringen konnte. Hatte es etwas mit Sex zu tun? Wohl kaum. Soweit Leon wusste, hatte Benni noch nie Sex gehabt und überhaupt, die Vorstellung, dass Benni und Felix über Sex sprachen – wenn sie das täten, dann würde Felix Benni ausquetschen wie eine Zitrone und Benni würde verlegen in der Gegend herum stammeln – war lächerlich. Außerdem brachte nichts, das mit Sex zu tun hatte, Felix in Verlegenheit, das hatte Leon schon mehrmals – und oftmals zu seinem Leidwesen – feststellen dürfen.
 

»Es geht um meine Wohnung«, sagte Felix und wedelte ziellos mit seinem Löffel in der Luft herum. Leon runzelte verwirrt die Stirn.

»Naja, also, auch um deine Wohnung«, fügte er hinzu, was Leon nicht wirklich dabei half, der Ursache für Felix‘ Verlegenheit auf die Spur zu kommen.

»Was ist damit? Ist es dir wieder zu unordentlich bei mir?«, wollte er wissen. Aber auch das machte keinen Sinn. Wieso sollte Felix verlegen sein, nur weil es bei Leon unordentlich war? Seine Pornosammlung kannte Felix auch, es konnte also nicht sein, dass sein Freund sie entdeckt hatte und jetzt empört war. Außerdem wusste Leon, dass Benni nichts von Leons Pornosammlung wusste, das hieß, dass Benni Felix auf nichts gebracht haben konnte. Leon verstand wieder einmal nur Bahnhof und schnaubte frustriert, weil Felix nicht mit der Sprache herausrückte.
 

»Nein. Also, ja, schon. Es ist immer unordentlich bei dir«, sagte Felix und musste lachen. Leon fand das überhaupt nicht witzig und wollte Felix gern schütteln. Allerdings schien Leons Verwirrung Felix ein wenig Selbstbewusstsein zurückzugeben, was Leon ausgesprochen unfair fand.

»Ok…«, sagte Felix und holte tief Luft. Leon ertappte sich dabei, wie er einen Wimpernschlag aufhörte zu atmen.
 

»Wollen wir nicht vielleicht zusammen ziehen?«

Leon blinzelte. Einen Moment lang starrten sie sich schweigend über den Tisch hinweg an, während Leon versuchte zu verarbeiten, was Felix gefragt hatte. Benni hatte ihn darauf? Leon hatte ein paar Sekunden lang den Wunsch, Benni sehr fest zu umarmen. Das würde er selbstredend keiner Menschenseele erzählen und einen Herzschlag später wurde ihm klar, dass er Benni umarmen wollte, weil er Felix darauf gebracht hatte, weil Leon sehr gerne und unbedingt mit seinem Freund in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollte. Und ein Blick in Felix‘ Gesicht sagte ihm, dass der andere immer noch nervös darauf wartete, dass Leon etwas sagte.
 

Er räusperte sich und spürte, wie ihm Hitze in die Wangen stieg.

»Ok«, sagte er. Gut, er hätte es etwas überschwänglicher formulieren können, aber vermutlich sagten sein hochroter Kopf und seine zuckenden Mundwinkel Felix mehr als ein Freudenschrei. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Strahlen aus und er unterdrückte ein jubilierendes Geräusch, das stattdessen zu einem Ton verkam, der Leon ein wenig an Luft erinnerte, die aus einem Luftballon gelassen wurde. Dann sprang er von seinem Stuhl auf, zog Leon auf die Beine – wobei er sich den Fuß am Tischbein stieß und unterdrückt fluchte – und küsste ihn stürmisch und voller Begeisterung auf den Mund. Leon war sich eigentlich immer sicher, dass es mit Felix nicht noch besser werden konnte, als es ohnehin schon war. Aber offensichtlich hatte er sich damit geirrt.

Trio

Für Katja <3

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Treffen mit Anjo allein sind merkwürdig, weil ich es einfach mein Leben lang nicht gewöhnt war, ›normale‹ Freunde zu haben. Wenn ich mich mit Leuten getroffen habe, dann um abends einen zu trinken. Man hat sich nicht über Gott und die Welt unterhalten, sondern blöde Witze gerissen und über Leute gelästert und Kommentare über heiße Bräute gerissen, die sich in der Nähe aufgehalten haben.
 

Treffen mit Anjo und Lilli sind auf irgendeine Art und Weise, die ich nicht so recht in Worte fassen kann, noch merkwürdiger. Ich konnte es schon schwer akzeptieren, dass es einen Menschen auf diesem Erdball gibt, der bereit ist, sich für mich einzusetzen, mir Dinge zu verzeihen, die ich mir selbst nicht verzeihen kann, und der für mich da ist, wenn ich jemanden brauche. Anjo ist ein kleines – oder vielleicht auch ein riesiges – Wunder für mich. Und ich komme mit der Tatsache nicht so richtig klar, dass dieses Wunder Wiederholungspotential hat.
 

Leon, Felix, Christians Familie, Christian selbst, seit neustem auch Gabriel… sie alle sind nett zu mir und mögen mich. Sie helfen mir. Und Lilli… Lilli sieht mich nie mitleidig an, oder besonders aufmerksam, als hätte sie Angst, ich könnte gleich einen Wutanfall haben. Sie betrachtet mich nicht wie ein Projekt, wie jemandem, dem man Hilfe zuteilwerden lassen muss. Nicht, dass ich mich über die anderen jemals beschweren würde. Aber Lilli behandelt mich wie einen total normalen Menschen. Wahrscheinlich kennt sie nicht mal die Hälfte der Geschichte, was mich dazu bringt, ihr gegenüber etwas gelassener zu sein.
 

Ich beobachte Lilli und Anjo gern, wenn sie beieinander sind, weil sie so ein komisches Pärchen abgeben. Anjo ist so still und lieb und hat eine gewisse Weltfriedensaura. Lilli hingegen ist ein gut gelaunter Wirbelsturm mit großer Klappe, klar definierten Meinungen und einem Musikgeschmack, der meine Ohren bluten lässt. Das weiß sie, deswegen verschont sie mich mit ihrer Musik, wenn ich mit Anjo bei ihr zu Besuch bin.
 

Heute unterhalten sich die beiden über irgendeine Kunstaustellung, die sie gern besuchen wollen. Ich lehne mit dem Rücken an Lillis Bett und betrachte ihre mittlerweile nur noch blassgrünen Haare - »Ich hatte einfach ewig keine Lust mehr, nachzufärben« - und Anjos konzentrierten Blick mit der leicht gerunzelten Stirn, während er ihr zuhört. Lilli gestikuliert viel, während Anjo nur ab und an zaghafte Handbewegungen macht. In diesem Moment stelle ich zum ersten Mal erstaunt fest, dass ich gewissermaßen Teil eines Trios bin. Ein bisschen so wie in Harry Potter, wovon Jana und Franzi und Eileen mir regelmäßig erzählen und was ich bestimmt irgendwann mal lesen werde, allein schon, weil es bei Familie Sandvoss zur Familientradition gehört und ich der einzige Depp bin, der keine Ahnung hat. Selbst die Oma hat die Bücher gelesen.
 

Ein Trio. Sowas hat es in meinem Leben noch nicht wirklich gegeben. Es gibt den Einen, oder das Paar. Oder die Gruppe. Jana und ich. Der Erzeuger. Anjo, der Eine, ich und die Jungs aus der Schule als Gruppe. Christian und Anjo. Sina und Christian. Aber jetzt gibt es auch Lilli, Benni und Anjo. Sie haben schon Kekse gebacken, für Englisch gelernt, gegen homophobe Trottel gekämpft und sich Weihnachtsgeschenke gemacht.
 

»Na, was beobachtest du uns so aufmerksam?«, will Lilli verschmitzt wissen und ihre blauen Augen ruhen auf mir. Ich räuspere mich ein wenig verlegen und rutsche nervös auf dem Teppichboden herum.

»Ich denke darüber nach, dass wir ein Trio sind«, gebe ich peinlich berührt zurück. Anjo lächelt sein die-Welt-ist-ein-schöner-Ort-und-du-trägst-dazu-bei-dass-sie-schön-ist-Lächeln, das mich jedes Mal unsicher macht und aus der Bahn wirft, weil ich automatisch denke, dass ich es nicht verdiene.
 

»Blitzmerker«, sagt Lilli amüsiert und trinkt einen großen Schluck aus ihrer Teetasse, die neben ihr auf dem Boden steht. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Lilli sie mit ihren ausladenden Gesten umschmeißt.

»Ich hab letztens nachgedacht«, meint Anjo und wir wenden uns ihm zu. Seine Wangen werden ein wenig rot. Auch, wenn ich rein platonische Gefühle für ihn habe, kann ich nicht umhin, ihn entzückend zu finden. Er ist wie ein Babyhund.

»Wenn Lilli und ich hier an der Kunsthochschule angenommen werden… wäre es dann nicht nett, in eine WG zu ziehen?«
 

Ich blinzele verwirrt.

»Naja, macht Sinn, dass ihr dann zusammenzieht«, sage ich und nicke. Lilli gluckst heiter und Anjo seufzt.

»Nein, nein. Ich meine, wir Drei. Du willst doch auch hier bleiben, bei Jana. Oder nicht?«, erwidert er und beobachtet ganz genau, wie ich reagiere. Wahrscheinlich sehe ich aus, als hätte ich einen Geist gesehen. Lilli lacht und leert ihre Teetasse, was ihren Teppich wahrscheinlich vor Pfützen bewahrt.
 

»Ich auch?«, antworte ich und klinge selbst in meinen eigenen Ohren total stumpf. Immer, wenn sowas passiert, bin ich total schwer von Begriff, weil diese Dinge einfach keinen Sinn in meinem Kopf ergeben. Wer würde schon freiwillig mit mir zusammen wohnen wollen? Ich ganz sicher nicht.

»Siehst du hier sonst noch jemanden?«, stichelt Lilli und klingt dabei besonders liebevoll. Die Vorstellung, nach dem Abi einen Job zu haben und mit Lilli und Anjo zusammen zu wohnen, klingt so utopisch, dass mein Gehirn wirklich große Probleme damit hat, sie zu verarbeiten. Noch vor ein paar Monaten war ich sicher, dass ich meinen Alten irgendwann umlegen und im Knast landen und somit mein Leben komplett ruinieren würde.
 

»Ich bin sicher ein schrecklicher Mitbewohner«, sage ich, ohne wirklich darüber nachzudenken. Lilli schüttelt den Kopf.

»Sag das nicht. Ich bin die schlimmste. Ich bin das wandelnde Chaos und höre meine Musik gern laut«, warnt sie uns vor und lacht erneut bei meinem Gesichtsausdruck, der sich automisch in meine Züge schleicht, als ich an ihre Musik denke.

»Solange du dein Chaos auf dein Zimmer beschränkst…«, meint Anjo schmunzelnd.
 

Ich versuche mir auszumalen, wie ich morgens verschlafen meine Zimmertür öffne und von Lillis schrecklicher Musik und einem zerstruwwelten Anjo, der bereits Tee gekocht hat, begrüßt werde. Es ist eine der besten Zukunftsaussichten, die mein Gehirn sich jemals ausgemalt hat.
 

»Ich würd auch das kleinste Zimmer nehmen«, höre ich mich sagen und auf Anjos und Lillis Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, als wäre meine Bemerkung eine Zusage. Natürlich haben wir keine Ahnung, ob Lilli und Anjo an der Kunsthochschule angenommen werden, ob ich eine Ausbildung finde und ob es irgendwo eine passende Wohnung für uns gibt. Das hält uns allerdings trotzdem nicht davon ab, den Rest des Nachmittags mit WG-Planungen zu verbringen, auch wenn es mir einen Stich versetzt, wenn ich daran denke, dass ich dann nicht mehr mit Jana zusammen unter einem Dach wohne. Aber trotzdem, denke ich mir, während Lilli erklärt, dass sie unbedingt eine Spülmaschine haben will, eine bessere Aussicht auf die Zeit nach dem Abi gibt es eigentlich nicht.

Freitagnacht

Für Schwarzfeder :)

Warnung: Supernatural kommt vor und spielt eine mehr oder minder wichtige Plotrolle.

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Anjo ist ein paar Tage bei Chris und Lilli und ich verbringen den Freitagabend mit Alkohol und einer Serie namens Supernatural, in der es um zwei Brüder geht, die die Welt retten müssen und dabei viel fluchen, dauernd lügen und ziemlich wahrscheinlich nicht nur Massenmörder, sondern auch Alkoholiker werden. Lilli ist mit ziemlich großer Begeisterung dabei und hat mich innerhalb von anderthalb Monaten dazu gebracht, viereinhalb Staffeln dieser Serie mit ihr anzuschauen. Ich habe schon nach etwa drei Folgen gewusst, dass ich mich mit beiden Brüdern unangenehm gut identifizieren kann – aus ganz unterschiedlichen Gründen. Lilli muss mir zwischendurch mit den Namen helfen, weil ich kein besonders gutes Namensgedächtnis habe. Schwierig wird es vor allem, wenn Dämonen ihren Wirt wechseln und plötzlich völlig anders aussehen.
 

»Würdest du mir noch ein Bier reichen?«, fragt Lilli, nachdem sie eine leere Flasche auf ihrem Nachtschrank abgestellt hat. Wir liegen in ihrem Zimmer auf dem ausgeklappten Sofa und haben Chips, Bier und einen riesigen Berg Lakritz zwischen uns ausgebreitet. Wenn man mir vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich irgendwann in einer Wohnung mit Anjo und Lilli wohnen würde und Abende damit verbringe, mir mit Lilli komische Fernsehserien anzusehen, hätte ich der betreffenden Person nicht geglaubt. Jetzt bin ich angetrunken, kaue auf einem Stück Lakritz herum und widerstehe der Versuchung, Sam zuzurufen, dass diese ganze Dämonenblut-Sache vermutlich keine gute Idee ist. Stattdessen gebe ich Lilli ein neues Bier aus dem zweiten Sixpack, das wir gerade anbrechen.
 

»Mir ist schon klar, wieso die Serie nichts für Anjo ist«, erkläre ich, während Lilli ihr Bier mit den Zähnen öffnet. Ich benutze ganz altmodisch einen Flaschenöffner.

»Mir auch. Deswegen schau ich sie ja mit dir«, gibt sie schmunzelnd zurück und nimmt einen großen Schluck aus ihrer Flasche. Es gluckert leise, als das Bier aus der Flasche läuft. Lillis Haare haben sich nach pink, grün, pink in ein leuchtendes blau mit türkisen Spitzen verwandelt. Ich habe mich noch nicht entschieden, welche Farbe ich an ihr am liebsten mag. Die Vorstellung, dass sie irgendwann in ihrem Leben mal ganz gewöhnliche, dunkelblonde Haare gehabt haben soll, kommt mir absurd vor.
 

»Gibt es irgendwas, was du magst, das du auch mit Anjo anschauen könntest?«, erkundige ich mich grinsend und verziehe angesichts der gerade gezeigten Folterszene das Gesicht. Dieser bärtige Oberfolterdämon, dessen Name ich schon wieder vergessen habe, ist wirklich widerlich. Lilli runzelt die Stirn und scheint ernsthaft lang nachzudenken, während sie unaufhörlich kleine Schlucke Bier trinkt. Sie verträgt eindeutig mehr als ich. Ich bin nicht mehr im Training, seit mein Leben nicht mehr furchtbar ist. Selbstverständlich ist das eine gute Sache.

»Vielleicht ein paar der Animes, die ich mag. Wenn ich ihn lieb frage, würde er mir vielleicht sogar Fanarts malen!«, meint Lilli begeistert und strahlt mich an. Ich ziehe die Brauen hoch.

»Du kannst doch wunderbar deine eigenen Fanarts malen«, erwidere ich und wünsche mir für Sam, dass er mal wieder lächeln kann. Wenn er lächelt, wird irgendwo ein Einhornbaby geboren, soviel steht fest.
 

»Das ist nicht dasselbe, als wenn man was von jemand anderem bekommt!«, erklärt Lilli und wedelt mit der freien Hand, die nicht die Bierflasche hält, vor meinem Gesicht herum. Ich nicke gehorsam, da ich keine Ahnung habe, wie genau es sich anfühlt, wenn man von einer fiktiven Sache so begeistert ist, dass man Stunden deswegen im Internet verbringt, so wie Lilli das tut. Aber ich weiß, wie glücklich sie das macht, deswegen würd ich auch nicht drüber lachen. Jeder hat eben so sein Ding.

»Stirbt Sam am Ende?«, will ich etwas kläglich wissen und leere meine aktuelle Flasche. Lilli wirft mir einen strengen Blick zu. Sie weigert sich strikt, mir irgendwas vorher zu verraten. Das ist mitunter recht stressig für mich, weil ich tatsächlich mitfühle. Zwar bin ich nicht so emotional involviert wie Lilli, aber als Sam am Ende der zweiten Staffel gestorben ist, war das eindeutig nicht ok.
 

Ich glaube, das ist mittlerweile die vierte Folge, die wir hintereinander weggeschaut haben und ich frage mich, wann mir von der Mischung aus Bier und Lakritze endgültig schlecht wird, aber noch spielt mein Magen gut gelaunt mit. Also greife ich mir noch ein Bier.

»Magst du nun Sam oder Dean lieber?«, will Lilli wissen und rutscht ein Stück näher an mich heran. Lilli gehört mittlerweile zu dem auserlesenen Kreis von Menschen, deren körperliche Nähe ich gern hab. Sie umarmt mich regelmäßig aus heiterem Himmel, als wäre sie der festen Überzeugung, dass ich besonders viel Liebe benötige. Bei Anjo ist es genauso. Wahrscheinlich hat sie Recht mit ihrer Vermutung. Sie umarmt auch besonders gut, finde ich. Ich bin nicht sicher, wonach sich das richtet, aber wenn Lilli einen umarmt, dann fühlt es sich an, als wäre man in einem gemütlichen Kokon eingeschlossen, der einen vor all den schlechten Dingen auf der Welt beschützen kann.
 

Es kommt ab und an vor, dass ich von ihr verwirrt bin, weil sie sich von einer Art Mutterinstinkt geleiteter Amazone in ein quietschendes Bündel emotionaler Widersprüchlichkeiten verwandeln kann, und das innerhalb von null Komma zwei Sekunden. Ich weiß noch, wie wir zu dritt in Anjos Zimmer saßen und Anjo ein Bild gemalt hat, während ich von einer Begegnung mit Richard und meinen anderen alten Kumpanen berichtet habe. Eine Sekunde lang bequietschte sie Anjos Bild, im nächsten Moment sah sie aus, als würde sie sich jeden Augenblick auf den Weg zu Richard und den anderen machen, um sie mit bloßen Händen zu erwürgen. Ich bin mir nicht sicher, wie man so schnell seine Stimmung wechseln kann, ohne sich dabei völlig in all den Gefühlen zu verheddern.
 

»Ich kann mich nicht entscheiden«, sage ich, obwohl mir klar ist, dass Lilli das nicht durchgehen lassen wird. Prompt boxt sie mich sachte in die Seite.

»Los! Sag es!«, verlangt sie und bewirft mich mit Lakritz. Ich muss lachen und rolle mich auf dem Sofa zur Seite, wobei ich beinahe mein Bier verschütte. Lilli giggelt hinter mir und verteilt Lakritz überall auf der Couch.

»Ok, ok! Ich ergebe mich! Lass mich kurz nachdenken!«, rufe ich und stelle vorsichtshalber mein Bier zur Seite, damit ich nicht noch alles vollsaue. Insgeheim hoffe ich, dass Lilli mich auf ihrem Sofa schlafen lässt. Ich weiß, ich hab ein eigenes Zimmer, aber es kommt eher häufiger als selten vor, dass ich in Lillis oder Anjos Zimmer oder die beiden mit in meinem Zimmer schlafen, weil ich einfach nicht gut darin bin, allein zu schlafen. Mir fehlt immer das Atmen einer anderen Person irgendwo in meiner Nähe.
 

»Wenn du länger brauchst als ‘ne halbe Minute, musst du die ganze Lakritze einsammeln«, sagt Lilli und streckt mir die Zunge raus. Sie krabbelt vom Sofa, um die nächste DVD einzulegen. Es ist nach zwei, aber ich bin nur ein klein wenig müde. Es ist großartig, die ganze Nacht mit Freunden wachzubleiben, auch wenn man am nächsten Tag verschlafen und gerädert ist. Nachts gibt es auch meistens die besten Gespräche, als würde die Dunkelheit einen dazu bringen, alles an Gefühlen und Geheimnissen und Geschichten in sie hineinzuschütten, damit sie sich nicht so leer anfühlt.
 

»Dean!«, sage ich laut, ohne weiter drüber nachzudenken, bevor ich mich doch wieder um entscheide. Dean ist durch seine Rolle als großer Bruder vielleicht noch ein bisschen mehr derjenige, in dem ich mich sehe, auch wenn Sam dazu neigt, viel Scheiße zu bauen, was selbstredend nicht weit von meinem eigenen Erfahrungshorizont entfernt ist. Aber Dean… ja. Dean würde für sein kleines Geschwisterkind alles tun und das ist etwas, das ich einfach sehr sehr gut nachvollziehen kann. Sam ist Deans Welt, so wie Jana meine Welt ist. Lilli sieht zufrieden aus und mustert mich einen Moment lang nachdenklich. Dann beugt sie sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Einfach so.

»Gib die Fernbedienung«, verlangt sie anschließend und ich bin so perplex, dass ich sie ihr ohne weitere Nachfragen reiche. Meine Wange kribbelt ein bisschen. Ich bin sicher, ich hab irgendwas gesagt oder gemacht, was Lilli als niedlich befunden hat – das tut sie nämlich häufig, auch wenn ich mich nicht wirklich niedlich finde – und dafür hab ich den Kuss bekommen. Vielleicht ahnt sie, was mir wegen meiner Dean-Antwort durch den Kopf gegangen ist.

Wir starten die nächste Folge und während der Vorspann läuft, räuspere ich mich und sehe zu ihr herüber.

»Darf ich nachher auf dem Sofa–«
 

»Blöde Frage.«

Provokation

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kommunikation

Für [[my]] zu Weihnachten <3

________________________
 

Jana kann sich nicht mehr erinnern, wann sie sich eigentlich in Franzi verliebt hat. Manchmal kommt es ihr so vor, als wäre es schon damals passiert, als Franzi sich an diesem regnerischen Tag neben sie gesetzt und ihre Mohrrüben mit ihr geteilt hat. Sie schreibt manchmal Tagebuch, wenn sie sich an bestimmte Dinge besonders genau erinnern will, und der Tag, an dem sie Franzi kennen gelernt hat, füllt viele Seiten darin. Auch all die nachfolgenden Treffen mit ihrer mittlerweile besten Freundin nehmen dutzende Seiten des kleinen gebundenen Buchs in Anspruch. . Jana liest gern in diesen Passagen herum, sie markieren den Anfang eines besseren Lebens.
 

Benni wird für sie auf immer der wichtigste Mensch in ihrem Leben sein, aber wenn sie Benni anschaut, dann kommen manchmal viele schreckliche Erinnerungen in ihr hoch. Sie fühlt sich sicher bei ihm, aber wenn sie bei ihm ist, dann kann sie nicht vergessen. Und ab und an möchte sie nichts lieber, als alles zu vergessen. Wenn sie nachts schluchzend aufwacht, oder tagsüber plötzlich keine Luft mehr bekommt, dann kann Benni sie zwar trösten, aber wenn Franzi da ist, dann ist es anders. Benni teilt die Last mit ihr, Franzi kann machen, dass das Gewicht einfach ganz von Janas Schultern verschwindet. Wenn auch nur für ein paar Momente.
 

Jana würde Benni niemals einen Vorwurf machen, weil er sie oftmals sehr an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnert. Aber sie glaubt auch, dass es gut ist, dass sie beide nun auch andere Menschen in ihrem Leben haben, mit denen sie Zeit verbringen. So haben sie Gelegenheit neue Erinnerungen zu sammeln, die sich unter die alten mischen und das tonnenschwere Gewicht langsam aber sich erträglich machen. Ihre Therapeutin gibt Jana da Recht. Sie hat zu Jana gesagt, dass sie für ihr Alter sehr weise und klug sei. Jana hat daraufhin nur mit den Schultern gezuckt.
 

»Ich musste schnell erwachsen werden«, hat sie geantwortet. Manchmal wäre sie gern ein bisschen weniger weise und würde dafür auf ihr posttraumatisches Stresssyndrom verzichten. Das hat sie ihrer Therapeutin nicht gesagt. Sie weiß, dass die Therapie nötig ist, vor allem, weil sie durch sie ihr psychologisches Gutachten für die Gerichtsverhandlung bekommen hat. In diesem Guthaben steht schwarz auf weiß, was mit Jana alles nicht in Ordnung ist, seit ihr Erzeuger sie und ihren Bruder jahrelang terrorisiert hat. Jana braucht keine lateinisch-pompösen, medizinischen Begriffe, um zu wissen, was mit ihr nicht in Ordnung ist, aber ihr ist klar, wieso es nötig ist. Und sie ist mittlerweile soweit, alles zu tun, was nötig ist, um den Erzeuger ein für allemal loszuwerden.
 

Benni leidet unter der Gerichtsverhandlung sehr viel mehr als sie. Jana hätte das nicht gedacht, wo sie sich all die Jahre immer so schrecklich schwach vorkam und nichts tun konnte und Benni immer derjenige war, der alles abbekommen hat… Aber Benni kann immer noch kaum atmen, wenn er in den Verhandlungen etwas sagen soll, wohingegen Jana ihre Stimme nie als klarer und lauter empfunden hat als in diesem Moment. Und als so mächtig. Vor allem das. Ihre Worte, die nie irgendetwas genützt haben, sind in diesen Gerichtsräumen so machtvoll, dass sie selbst jemanden wie ihren Erzeuger schrumpfen lassen. Sie kann alles tun mit diesen Worten und genau das würde sie nutzen, um ihn endlich vollkommen aus ihrem Leben und dem Leben ihres großen Bruders zu katapultieren. Sie hat keine Tränen mehr ihm gegenüber. Da ist nur noch Verachtung und Hass und Wut und ein Wille, so stark, wie Jana ihn noch nie zuvor in sich gespürt hat.
 

Franzi ist ihr Patronuszauber.
 

Jana hat keine Ahnung, wie sie ihrer besten-festen Freundin irgendwie erklären soll, wie viel ihr all das bedeutet, aber an vielen Tagen ist sie sich fast sicher, dass Franzi genau Bescheid weiß. Jana musste immer schon wenig sagen, um Dinge zu erklären, weil Franzi sehr aufmerksam ist, sehr gut zuhört und vieles versteht, was man gar nicht laut sagt. Wenn sie eine Superheldin wäre, dann wäre das ihre Kraft. Es ist eine großartige Gabe, wie Jana findet, auch wenn sie weiß, dass Franzi sich manchmal wünscht, mehr wie ihre Geschwister zu sein. Mutig wie Chris, lustig wie Tim, selbstbewusst wie Eileen. Aber Jana findet, dass Franzi auch so wie sie ist ganz wunderbar ist. Das sagt sie ihr, so oft sie es über die Lippen bringt. Sie ist nicht besonders gut mit Worten.
 

Nachdem sie ihre anfänglichen Berührungsängste überwunden hat, was Franzi angeht, spricht sie oftmals auf eine andere Art mit ihrer besten Freundin. Dann streicht sie ihr durch die Haare, statt zu sagen »Ich finde dich wunderhübsch«, oder drückt ihre Hand, um zu sagen »Ich bin da«, oder sie umarmt Franzi um »Danke, dass du da bist und dass es dich gibt« zu sagen. Franzi hat es perfektioniert, diese Dinge zu verstehen und manchmal antwortet sie sogar darauf, ganz so als hätte Jana tatsächlich Worte benutzt. Dann sagt sie »Selber« oder »Danke« oder »Natürlich, du Nudel« und Jana weiß, dass sie ein riesiges Glück hat, weil Franzi in ihrem Leben ist und keinerlei Anstalten macht, wegzugehen, obwohl es oftmals nicht einfach sein kann, mit Jana zusammen zu leben. Letztendlich ist sie doch eine gebrandmarkte Seele und sie kann nicht immer so tun, als wäre sie das nicht. Aber Franzi stört sich nicht daran. Sie hält geduldig Janas Hand, während Jana sich selbst heilt, so gut es geht.
 

Die Sache mit der Beziehung ist selbstredend sehr neu für Jana. Es beruhigt sie etwas, dass auch Franzi keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet hat, denn dann steht sie nicht ganz dumm da, aber trotzdem ist sie regelmäßig ziemlich aufgeregt, wenn sie eng kuschelnd im Bett liegen oder sich behutsam küssen. Küssen ist großartig und neu und fremd und sehr, sehr schön und Jana ist ein ziemlich begeisterter Fan, auch wenn sie sich nur selten traut, Franzi zu küssen. Franzi fängt meistens an, und sie fragt immer, ob es gerade ok ist. Auch dafür ist Jana sehr dankbar, auch wenn Franzi sagt, dass es selbstverständlich ist. Es gibt aber auch die Momente, in denen Jana ganz unbedingt küssen möchte und dann drückt sie Franzi ein sachtes Küsschen auf die Lippen oder auf den Mundwinkel, um zu sagen »Bitte küss mich«. Auf diese Art von Sprache antwortet Franzi nie mit Worten. Sondern mit Küssen. Und Jana findet, dass das die beste Sprache der Welt ist.

Lügenkontest

»Wer hat sich dieses blöde Spiel ausgedacht?«, fragt Benni mit hochgezogenen Augenbrauen und nippt an seinem Apfelsaft. Seit wir zusammen wohnen, hat er keinen Tropfen Alkohol angerührt.

»Nöl nicht«, erwidert Lilli schmunzelnd. Sie bufft Benni mit dem Ellbogen an und er ächzt leise. Wer hätte gedacht, dass diese beiden sich mal so gut verstehen und sogar zusammen wohnen würden? Aber gut, Benni und ich sind vermutlich eine noch merkwürdigere Kombination.
 

Lilli hat vorgeschlagen, dass wir einen Lügenkontest machen. Es geht darum, drei Dinge über sich zu erzählen, wobei zwei Sachen wahr und eine gelogen ist. Die anderen Mitspieler müssen erraten, was die Lüge ist. Ich bin so schlecht im Lügen, dass ich garantiert in jeder Runde scheitern werde.
 

»Ich bin nicht betrunken genug für sowas.«
 

»Du hast seit über zwei Monaten nichts mehr getrunken.«
 

»Ich könnte jetzt wieder anfangen.«
 

»Wir haben nichts im Haus.«
 

Ich mustere die beiden halb amüsiert und halb liebevoll. Zwei Paar Augen richten sich auf mich und sehen fragend aus.
 

»Ihr seid niedlich«, erkläre ich schulterzuckend. Benni schnaubt und Lilli lacht.
 

»Also los«, sagt Benni schließlich und ruckt mit dem Kopf in Lillis Richtung. »Wer die blöde Idee hatte, der muss anfangen.«
 

Lilli legt sich bäuchlings auf die Matratze ihres Bettes und grübelt kurz.
 

»Erstens: Ich hab mal in die Besteckschublade meiner Oma gekotzt. Zweitens: Mein erstes Mal Sex hatte ich in einem begehbaren Kleiderschrank und drittens: Ich hab ein Brustwarzenpiercing.«
 

Benni und ich starren sie ein wenig fassungslos an. Bei Nummer eins habe ich noch gegluckst, jetzt bin ich knallrot und Benni sieht aus, als würde er gern aus Lillis Zimmer fliehen.

»Was denn? Wenn es keine spannenden Fakten sind, macht es keinen Spaß.«
 

Benni fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Dann grinst er.

»Ich tippe auf zweitens.«
 

Ich räuspere mich verhalten.

»Mein Tipp ist drittens.«
 

Wir sehen sie gespannt an und ihr verschmitztes Grinsen wird noch breiter als vorher. Mir wird das erste Mal wirklich klar, dass ich über solche Sachen nie mit Lilli geredet habe. Meistens ging es um mich. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen deswegen, aber ich bin für Themen wie Sex und nackte Frauenkörper auch nicht der ideale Gesprächspartner.

»Beides falsch. Als würde ich in die Besteckschublade meiner Oma kotzen… also echt!«
 

Lilli schüttelt gespielt empört den Kopf. Benni und ich sprechen gleichzeitig.
 

»Du hattest Sex im Kleiderschrank?«
 

»Du hast ein Brustwarzenpiercing?«
 

Wir müssen alle Drei lachen und wie so oft haben meine Augen keinerlei Motivation, um sich von Bennis Gesicht abzuwenden, wenn er lacht. Es kommt selten genug vor, aber es häuft sich in letzter Zeit und mir wird ganz warm ums Herz beim Gedanken daran, dass ich ihm dabei geholfen habe. Das ist eindeutig eins der besten Gefühle der Welt.
 

»Ja und ja. Wollt ihr es sehen?«, fragt Lilli immer noch glucksend und mein geschockter Gesichtsausdruck ist Lilli Antwort genug.

»Jetzt du«, meint Benni. Ich grübele einige Zeit lang nach. Natürlich kann ich mit solchen Sachen wie Lilli nicht dienen. Aber gut.
 

»Erstens: Ich hab mal einen Playboy bei meinem Vater gefunden und beim zweiten Bild einer nackten Frau panisch den Raum verlassen. Zweitens: Ich hatte das erste Mal den Gedanken, dass ich schwul bin, als ich zufällig eine Folge Dark Angel gesehen habe und Jensen Ackles durchs Bild lief. Und drittens: Ich hatte im Kindergarten Angst vor einem Mädchen namens Lena, weil sie mich immer gehauen hat.«
 

Lilli kichert.
 

»Wer ist Jensen Ackles?«, fragt Benni und Lilli schaut ihn klagend an. Die beiden schauen seit einiger Zeit gemeinsam Supernatural an und Benni kann sich die Namen der Schauspieler noch sehr viel weniger merken als die der Figuren.

»Dean aus Supernatural. In jungen Jahren«, erklärt sie schließlich und hievt sich vom Bett, um für Benni ein Bild zu ergooglen. Als sie fündig geworden ist, zeigt sie es Benni.

»So ein Milchbubi?«, fragt Benni ungläubig und ich strecke ihm die Zunge raus.
 

»Ich finde ihn ziemlich hübsch.«
 

Lilli verbündet sich angesichts meiner Vorlieben mit Benni und kommt schließlich zurück aufs Bett gekrabbelt.

»Ich tippe auf erstens.«
 

»Ich auch«, sagt Benni.
 

Ich wusste ja schon, dass ich ein mieser Lügner bin. Ergeben nicke ich und fahre mir verlegen durch die Haare. Die Wahrheit ist, dass ich schon beim ersten Blick auf so eine Zeitschrift geflüchtet wäre. Erst recht, wenn sie meinem Vater gehört.

»Nun denn, Cowboy«, sagt Lilli und wendet sich mit funkelnden Augen Benni zu. »Du bist dran.«
 

Benni schweigt ziemlich lange und sieht aus, als würde er sich auf das schlimmste gefasst machen.

»Erstens: Ich saß schon mal in U-Haft. Zweitens: Ich hatte noch nie Sex. Drittens: Ich hatte als Kind Angst vor Graf Zahl.«
 

»Zweitens«, sagen Lilli und ich im Chor. Benni sieht extrem verlegen aus und ist ein wenig rot im Gesicht. Wir sehen ihn schwer gespannt an und schließlich schüttelt er den Kopf und starrt an die Decke.
 

»Ich saß noch nie in U-Haft«, gibt er zu. Lilli und ich tauschen einen kurzen Blick und mir ist klar, dass wir Benni in diesem Moment so wunderbar finden, dass wir nicht anders können, als ihn zu drücken. Und genau das tun wir dann auch. Benni stößt einen überraschten Schrei aus und kippt hinten über. Einen Augenblick lang zappelt er entrüstet, doch dann bleibt er ganz still liegen und mir ist, als hätte er die Luft angehalten.
 

»Dir ist hoffentlich klar, dass dir sowas vor uns nicht peinlich sein muss«, meint Lilli und vergräbt ihr Gesicht an Bennis Schulter. Ich lächele zufrieden und fahre ihm kurz durch die Haare.

»Jap. Kein falsches Image vor uns«, bestätige ich. Benni brummt und ich spüre eine Hand auf meinem Rücken, die mich kurz an ihn drückt. Es ist ein wortloses Ich-weiß-vielen-Dank.
 

Ich höre Lilli zufrieden seufzen. Dann hebt sie grinsend den Kopf und sieht uns gut gelaunt an.

»Noch eine Runde?«



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Kommentare zu dieser Fanfic (213)
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Von:  Ciriney
2018-01-16T22:09:11+00:00 16.01.2018 23:09
Der Kommentar kommt natürlich reichlich spät - aber ich lese die Oneshots so häufig, dass es vielleicht irgendwann mal Zeit wird xD Ich LIEBE! es, wie du die Alltagsszenen aus Bennis Sicht schreibst! Generell, ich finde Benni einen grandiosen Charakter, der mir durchaus ans Herz gewachsen ist... Ich meine, ich mag so ziemlich alle deine Charakter, v.a. aus dieser Reihe, aber Benni mag ich mit am liebsten, seine Art, Dinge zu denken und zu beschreiben ist wunderschön! So ehrlich irgendwie!
Diese ganze Reihe (und eben v.a. die Benni-Teile :)) schaffen es auch, einen solchen Grippe-Bronchitis-Tag wieder schön werden zu lassen :) Danke dafür!!!
Antwort von:  Ur
17.01.2018 14:47
Aw, das freut mich sehr zu hören! Ich wünsche dir gute Besserung und danke dir für das liebe Feedback! <3
Von:  fragile
2015-02-01T21:37:38+00:00 01.02.2015 22:37
oh gott, ich liebe diese zwei einfach.
wirklich.
und ich hoffe ja mega doll, dass da noch irgendwas im kopf herumschwirrt, was von dir abgetippt wird, den diese beiden... anjo u chris, ich liebe sie einfach. diese unbeholfenheit von chris wenn es um anjo geht u diese zuckersüße-naive art von anjo und dann noch dieser tolle mensch sina, die mich immer zum lachen bringt :3
was du schreibst ist pures seelenheil und ich hoffe, du hörst nie damit auf

Von:  chaos-kao
2014-02-07T08:01:11+00:00 07.02.2014 09:01
Es geht einfach nicht anders: Awwwwww ... Die 3 sind so niedlich. Und Benni vor allem :D Fände es echt toll, wenn es bald wieder etwas langes von dir gibt :)
Von:  Inu_Julia
2014-02-02T16:49:28+00:00 02.02.2014 17:49
Awwww~ Ich bin so glücklich noch mehr über die drei zu lesen wirklich! Ich hab sie alle so ins Herz geschlossen <3 Ich würd wahnsinnig gern noch viel mehr über ihr WG Leben lesen und alles <3 Hach~ du solltest einfach eine Roman Reihe über dieses Universum schreiben :D Wie wärs als nächster mit einer Geschichte für Lilli? ;D
Von:  minyard
2014-02-01T10:14:02+00:00 01.02.2014 11:14
Aww, die drei. <3
Die Idee mit dem Spiel finde ich total klasse. Ich liebe solche awkward moments (wenn ich nicht gerade selbst drin stecke), erinnert mich ein bisschen an "Never have I ever" und ich liebe, LIEBE FFs in denen "Never have I ever" gespielt wird. *_*
Meine Liebe für Lilli ist ganz groß, übrigens. Und da fällt mir auch echt auf, dass man ja tatsächlich kaum etwas über sie weiß! :O Es sollte mehr Oneshots mit Lilli geben! ; ;
(Haben Lilli und Benni nicht bei ihrem Supernatural Marathon Bier getrunken, huh?! :'D)
Mir fällt eigentlich gar nichts mehr ein, das ich sagen kann, außer, dass ich so ziemlich alles liebe, was du zu diesem "Universum" - kann man es Universum nennen? Oder "verse"? Ich weiß nicht. (FelixundLeonfändeichauchmalwiederganztoll.)

Liebe,
deine minyard
Von:  Schwarzfeder
2014-01-31T21:40:34+00:00 31.01.2014 22:40
awww~ Liebe~ *___*
Genau das richtige nach einem viel zu lange andauernden Scheiß Tag x___x
Vielen Dank für so viel Liebe in so wenig Zeilen xD~
Sehr süß und sehr fluffig.
lg

P.S.: Jensen...tehe~ x3~
Von: Karma
2014-01-31T17:31:33+00:00 31.01.2014 18:31
Hach, ich hab gerade ganz viel Liebe für die drei Flauschis zu vergeben.
*schmelz*
Das ist so niedlich, dass ich einfach nicht anders kann als im Kreis zu grinsen. Danke für diesen mehr als gelungenen Ausschnitt aus dem WG-Leben der drei Herzchen.
♥~
Von:  Selkie
2014-01-31T12:03:12+00:00 31.01.2014 13:03
Es ist so unglaublich herzerwärmend und beneidenswert und schlicht toll wie Anjo, Benni & Lilli miteinander umgehen, dass es mich mit einem Wusel aus warm-witzig zurücklässt :)
Sehr spaßig! Wie unglaublich niedlich sie immer sind!
Von:  brandzess
2014-01-31T11:53:23+00:00 31.01.2014 12:53
Richtig lustig die drei xD Wirklich schön für zwischendurch. Lili hat also ein Piercing. wer hätte das gedacht, aber wundern tut es mich nicht wirklich.
LG
Von:  Seto
2014-01-31T11:49:46+00:00 31.01.2014 12:49
Benni ist so süß <3 Wer hätte mal gedacht das ich so über ihn denke, aber er hat ja noch mal die Kurve gekriegt ;)
Jetzt muss Benni auch irgendwann mal von seinem ersten Mal berichten ;D


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