Auf Herz und Nieren
Bis vor einigen Tagen wusste ich nicht, dass mir – aus bisher ungeklärten Gründen – eine Niere fehlt. Dass ich deshalb immer etwas blasser war als andere. Dass daher diese Müdigkeit kommt, die mich manchmal urplötzlich überkommt. Dass ich jahrelang falsch gelebt habe. Dass ich ein echtes Problem habe. Dass ich dir nicht helfen kann. Ich wusste es nicht.
„Ich bin krank“, sagtest du. Ich hatte mir das schon gedacht, denn du warst echt kraus drauf in letzter Zeit. Andauernd schlechte Laune, ständig angespannt, alles brachte dich auf – meist gegen mich. Ich nehme dir das nicht übel, Tala, mir war ja von Anfang an klar auf was ich mich mit dir einließ. Wir kennen uns lange, wenn nicht ewig. Falls ein Menschenleben ein ‚ewig’ zulässt. Die Wolken ziehen schnell, wenn der Wind sie treibt.
Niereninsuffizienz, Stadium Drei. Dekompensierte Retention. Die Stoffe, die die Niere eigentlich abbauen soll, landen im Blut. Das ist schlecht, zumal du bereits zum Folgestadium tendierst; dann müsstest du zur Dialyse. So wie ich.
Das Leben ist grausam. Wenn du dich am sichersten fühlst, reißt es dir den Boden unter den Füßen weg.
Natürlich ließ ich sofort testen, ob ich als Spender geeignet wäre. Natürlich. Ich weiß schon warum ich Ärzte nicht leiden kann. Dieser abschätzende Blick, dieses „Hm“… Bloß nicht sagen was man denkt, erst mal sehen was der Befund sagt.
Obwohl, ich muss gestehen, dass der Arzt, bei dem ich gelandet bin, eigentlich ganz okay war. Er nannte es wenigstens beim Namen. „Ihr Blutbild ist scheiße“, sagte er. Alles klar, dachte ich. Fehlt vielleicht Eisen oder so was.
„Ihr Kreatininwert ist zu hoch. Viel zu hoch.“
So begann alles. Hat etwas gedauert bis man drauf gekommen ist, mal zu sehen ob ich überhaupt komplett bestückt bin. Und als es dann feststand… ich weiß auch nicht; irgendwie hatte ich es mir schlimmer vorgestellt, so eine Hiobsbotschaft hinnehmen zu müssen. Es kam mir so nüchtern vor. „Sie haben nur eine Niere, Sie kommen als Spender nicht in Frage.“ Abgehakt, nächster bitte. Dumm gelaufen, zumal die Blutgruppe sogar gepasst hätte.
Ich wurde weitergereicht, direkt ins Krankenhaus. Seit diesem Tag war ich nicht mehr zu Hause.
Ich bin Stadium Vier. Dialysepflichtig. Wie das sein kann? Weiß keiner. Einige hier behandeln mich wie einen Zombie mit irgendwelchen Super-Kräften, weil ich „so lange durchgehalten“ habe; andere glauben ich wäre wahrnehmungsgestört. „So was muss man doch merken.“ Leckt mich doch alle.
Leise surrt der Kasten neben mir, der mein Blut reinigen soll. Jeden beschissenen Tag. Du sitzt mir gegenüber, am Fußende des Bettes, im Schneidersitz; wie jeden Tag, den du hier bist.
„Es ist ungerecht“, sagst du. „Schicksal“, sage ich.
Nächste Woche bekommst du eine neue Niere. Eine, die funktioniert, von jemandem, der zwei hat. Es tut mir weh zu wissen, dass ich dieser Mensch nicht sein kann. Ich hätte alles für dich gegeben. Alles, Tala.
„Du hast Glück“, sage ich. Du kannst leben, denke ich. Es ging schnell, andere müssen Jahre warten, bis sie ein geeignetes Organ finden.
„Sag das nicht so, Kai. Wir schaffen das schon.“ Du warst immer optimistischer als ich, ein bisschen wenigstens. Aber ich weiß, dass du mir insgeheim genau wie die anderen unterstellst dass ich es doch irgendwie gemerkt habe; dass ich es nicht zeigen wollte, dass ich es unterdrückt habe. Das stimmt nicht. Ich bin nicht so stark.
Ich sehe aus dem Fenster und spüre deinen sachten Blick auf mir ruhen.
„Die Wolken ziehen schnell, wenn der Wind sie treibt, Tala.“