Zum Inhalt der Seite

Lied vom Scheitern

Die Erfolgsgeschichte eines Musikstars
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sehr geehrte Frau Elizabeth Chamberlein,

in Ihrem Magazin “Babbleality” schrieben Sie im vorletzten Monat von dem neuen Star am Musikhimmel, dem achtzehnjährigen Esaty. Sie druckten auch ein Interview mit ihm ab und viele Fans haben Leserbriefe an Sie oder ihn gerichtet, mit Fragen, was seine letzte Antwort bedeutete. Ich möchte dazu einiges erklären:

Esaty, eigentlich Leonard Neubauer, von Freunden und Familie nur Leo genannt, wuchs in einer Kleinstadt mitten in Deutschland auf. Die Einwohnerzahlen waren nicht der Rede wert, die Umgebung von Landwirtschaft geprägt und die Stadt selbst öde und verlassen. Keine ereignisreiche Jugend, doch wenigstens auch nicht kriminell. Leo war ein durchschnittlicher Junge, vielleicht ein wenig dickleibig und nie an Sport interessiert, aber ansonsten durchschnittlich.

Ich, seine große Schwester Zoe, habe seine Entwicklung genau betrachtet und mir oft Sorgen um ihn gemacht. Nun, wo er erfolgreich ist und seine CDs massenhaft über den Ladentisch gehen, möchte ich seine erstaunliche Geschichte für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Ich hoffe, einigen anderen jungen Menschen Sinn im Leben zu geben, so wie Leo ihn mir gegeben hat. Das Lied, welches sein Leben beschreibt und aus welchem er in Ihrem Interview zitiert hat, ist “Lied vom Scheitern” von seiner Lieblingband Die Ärzte.

Ich würde mich sehr freuen, Esaty's Vergangenheit in Ihrem Magazin abgedruckt zu sehen. Mit freundlichen Grüßen,

Zoe Butcher, geb. Neubauer
 

-
 

Ich wusste stets, was ich will - doch das wollen viele

Trotzdem setzte ich mich zwischen alle Stühle

Und machte es mir bequem - bis hierhin kein Problem
 

Mein Bruder Leo hatte schon immer gewusst, was er mochte: Musik. Schon als kleines Kind, noch ehe er schreiben konnte, wusste er, wie man Noten richtig aneinander reiht und damit Menschen in seinen Bann zieht. Er war in nichts anderem interessiert: Saß nie gespannt vor dem Fernseher, sondern hörte immer nur Radio. Leo wünschte sich für jede Gelegenheit nur CDs, Instrumente, Anleitungsbücher und Computersoftware zum Mischen. Er war besessen mit Musik, Noten, Melodien und Stimmen.

Nun, unsere Eltern hatten uns beiden schon immer als brave, normale Kinder angesehen, die später “ordentliche” Berufe erlernten und für ihre Rente bezahlten. Musik war für sie, genauso wie Schreiben, Sport und Malen eine brotlose Kunst, die wir bitte nie ausüben sollen. Mein Bruder, mit seinem Traum von eigenen CDs im Hinterkopf, und ich, mit meinem Traum vom eigenen Buch, haben immer nur genickt und all den Plänen, die über unsere Köpfe gemacht wurden, zugestimmt. Ich habe mich jedoch, sobald ich in der Pubertät war, widersetzt und klar angesagt, dass ich mache, was ich will, den es ist mein Leben und mein Geld. Meine Eltern waren unzufrieden mit mir und Leo war schlau genug, sich nicht genauso zu benehmen. Also spielte er brav mit und plante seine Zukunft nach ihren Wünschen. Er dachte, er könnte später immernoch alles ändern. Sie waren glücklich, er sagte, dass er es auch war und alle glaubten ihm.
 

Ich strengte mich an - gehörte doch nie zu denen

Und schwelgte doch nur in unerreichbaren Plänen

Und am Ende war der Lohn Frustration
 

Als dann das Gymnasium in Sicht kam, wollte mein Bruder natürlich auf eine Musik-Spezialschule. Unsere Eltern konnten es sich aber nicht leisten und waren auch nicht bereit, ihn so weit weg gehen zu lassen. Er ging also auf unser örtliches Gymnasium, wie alle anderen Kinder auch, obwohl er die Noten und das Talent gehabt hätte. Doch unsere Erziehungsberechtigten nahmen sich das Recht vor, besser zu wissen, was gut für Leo war und behielten das letzte Wort.

Nicht nur unsere Eltern, auch Leos Schulkameraden waren gegen seinen großen Traum. Ein Junge, der sich nicht für Sport interessierte? Kein Fußball spielte? Musik machte? Sie brauchten zwei Schulwochen, dann realisierten sie, dass er wirklich nur Noten im Kopf hatte und er war unten durch. Ein Außenseiter, ohne jegliche Unterstützung von irgendeiner Seite. Meine Eltern und ich hatten Leos Unglück zu spät bemerkt. Die Gleichaltrigen redet ihm ein, dass seine Träume von eigenen CDs zu hoch seien, dass er sie sich abschminken sollte. Und mein kleiner Bruder glaubte ihnen, wie er auch meinen Eltern geglaubt hatte. Er wurde traurig, sein sonstiges Dauerlächeln verschwand immer öfter. Wenn er noch Musik machte, was immer seltener vorkam, war sie leise, langsam, tief. Nichts, was ich, sein damals größter Fan, bisher von ihm kannte. Doch ich tat es ab, immerhin war ich auch durch eine Depressionsphasen gegangen, als ich in seinem Alter war. Die tiefe Enttäuschung, dass sich seine Herzenswünsche wohl nie erfüllen werden, bemerkte keiner.
 

Ich dachte, ich könnte es erzwingen

Der Selbstbetrug tat mir nichts bringen, denn ...
 

Du bist immer dann am besten, wenns dir eigentlich egal ist

Du bist immer dann am besten, wenn du einfach ganz normal bist

Du bist immer dann am besten - du musst das nicht mehr testen jedes Mal

Dein Spiegelbild ist anderen egal
 

Leo war für mich immer ein Symbol der Hoffnung gewesen, jemand, der nie aufgab, seine Träume verfolgte. Er hatte einen solch starken Charakter, ich kann mir – zurückblickend – nicht vorstellen, an was ich geglaubt hätte, wenn er aufgehört hätte, Musik zu machen. Er war mein Vorbild in Sachen “dran bleiben”. Und er blieb es auch. Trotz seiner anfänglichen Trauer realisierte Leo schnell, dass er trotzdem noch Musik machen könnte. Er tat es, begann wieder zu üben, verbesserte sich und träumte wieder. Musik hatte den ersten Platz in seinem Leben und den meisten Raum in seinem Herzen zurückerobert. Er arbeitete an sich, um etwas zu erreichen, damit er dann beweisen konnte, dass er mit Musik Erfolg haben könnte.

Doch nach den Ferien, nach jedem Wochenende, wurden Leos Kameraden wieder enttäuscht. Keine “coolen neuen Sachen” in Leos Leben, immernoch nur Musik. Und wenn er stolz berichtete, welches Instrument er neuerdings konnte und welche schwierigen Stücke er meisterte, erntete er nur lautes Lachen. Und sein Herz, seine Hoffnung sank wieder. Er glaubte nicht mehr an sich, bis er das nächste Mal ein Instrument in den Händen hatte. Leo begann, seine Träumen im Musikraum auszulassen und nicht davon zu berichten, was er dort drinnen erreichte. Und weil seine Welt schon immer in Noten geschrieben war, verbrachte er mehr Zeit in seiner musischen Welt als irgendwo sonst.

Ich konnte ihm nur immer wieder erzählen, dass er ja eigentlich Talent hat, dass er sich nur hätte gehen lassen sollen. Denn sein Talent war unbeschreiblich. Leos Musik war, was ich am liebsten hörte Ich weigerte mich, berühmten Sängern und Bands zu lauschen, weil mein kleiner Bruder einfach besser war. Ich, als große Schwester, die sich auch jedem Zweifel von außen widersetzt hatte und macht, was sie wollte, erfüllte meine Pflicht und baute ihn auf. Ich fuhr ihn zu seinen Wettbewerben, kaufte ihm Musik-Dinge zu Weihnachten, auch wenn ich nicht mal wusste, wie sie hießen. Ich war diejenige, die sein Tränen trocknete und mit ihm jubelte. Und ich half Leo, sich klar zu werden, dass wenn er stark genug war, er nicht noch einmal durch das ganze Hoch und Runter müsste.

Zu seinem fünfzehnten Geburtstag besorgte ich ein Bild, dass nur drei Worte sagte, umrandet von einigen Noten und Instrumenten:

“Lebe dein Leben!”
 

Ich war nicht mehr ich selbst - es wurde gefährlich

Tat, was andre verlangten, war zu mir selbst nicht ehrlich

Wer Wahrheit simuliert, wird nur kurz akzeptiert
 

Doch die Ablehnung durch unsere Eltern und seine Schulkameraden war zu viel und meine schwesterliche Liebe war nicht stark genug. Leo zerbrach, konzentrierte sich nicht mehr auf Musik, sondern bereitete die eigentlichen Träumen unserer Eltern: zu studieren. Er erzählte in der Schule von Mädchenabenteuern und Fußballspielen, auch wenn nichts davon wahr war. Genauso erlogen war sein Glück. Normale Dinge machten meinen Bruder nicht glücklich. Unter seiner Depression musste auch seine Gesundheit leiden, da er kaum noch aß oder schlief. Er wollte einfach wieder Musik machen, sich mit Noten und Melodien ausdrücken, doch jedesmal wurde er schmerzlich daran erinnert, dass niemand an ihn glaubte, also machte er einfach gar nichts mehr. Ich wusste, das er sich selbst und seinen Traum an log, doch ich wusste nicht, ob er es auch realisierte.

In meinen Job als Autorin bin ich verpflichtet, oft Recherchen anzustellen. Ich habe ein paar Namen gesucht, Leute, von denen ich wusste, dass sie die schlimmsten Mobber gewesen waren. Verglichen zu Leo, der ja nun Esaty hieß, hatten sie alle nichts erreicht. Lügenmärchen und Eifersüchteleinen wurden letztendlich doch bestraft. Damals jedoch konnte das niemand wissen.
 

Ich machte es allen recht - alle sollten mich lieben

Sah nicht die Dämonen, die mich dazu trieben

War gefangen und nicht mehr frei und ich ging kaputt dabei
 

Damals stimmte Leo allen zu, dass Musik ihn zu nichts bringen würde im Leben. Er wollte endlich die Beachtung der Welt haben, dafür war er bereit, sein Musikzimmer abzuschließen. Es blieb geschlossen, für vierzehn Monaten. Er hatte die Freunde, die er gewollt hatte, Leute begannen, ihn “cool” zu finden, und er merkte nicht mal, dass es eigentlich keine Gefallen war, die sie ihm taten. Leo war naiv genug, zu glauben, dass sie ihm helfen wollten. Doch er hatte beschlossen, seinen Traum zu beenden und dieses Mal für immer. Das Musikzimmer verstaubte und Leo fiel zurück in Depression, wie es zu erwarten war. Doch diese zweite Phase schien nicht so leicht zu überwinden zu sein. Sie ging tiefer in seine Seele, er war nun älter und sah “Ich mache nie wieder Musik.” nicht nur als kindlichen Trotz, sondern als ernsthaften Schwur an. Ich versuchte, Leo wieder aufzuheitern, doch ihm war inzwischen alles egal und er dachte, es war zu spät Wenn er jetzt keinen Platz an einer Musikhochschule hatte, würde er keinen mehr bekommen. Erst als tatsächlich all die Anmeldefristen und Vorspieltermine verpasst waren, sah er ein, dass sein Traum zerstört war, von Menschen, die er nie wieder sehen würde. Und dann, wo es wirklich und wahrhaftig zu spät war, konnte er auch nichts ändern, obwohl er es bereute.
 

Man kann die Welt nicht ewig blenden

Ich muss den Quatsch sofort beenden, denn ...
 

Er hatte uns solange erzählt, das es okay war, das er glücklich war mit einem Leben ohne Musik. Doch nun erkannte Leo und erkannten wir, dass lügen nichts bringt. Er ging zu unseren Eltern, sie sprachen sich aus, stimmten endlich seinen Wünschen nach Musik zu. Doch es war zu spät. Leo musste noch ein weiteres Jahr warten, bis er sich das nächste Mal bewerben könnte. Ein Jahr, in dem andere Talenten ihm diesen einen Vertrag mit einer Plattenfirma wegnehmen könnten. Ein Jahr, dass im Musikgeschäft durchaus kritisch war.

Leo wollte es mit ganzem Herzen, er hatten den Segen unserer Eltern und er hatte realisiert, dass andere ihm egal sein konnten. Nun, wo er es wollte und endlich das Musikzimmer wieder öffnete, konnte er es nicht mehr. Dachte er. Doch wiedereinmal hatte meine Liebe zu dem so viel talentierten jüngeren Bruder mich dazu gebracht, ihn in seinem Traum zu unterstützen. Er hatte Hoffnung in sich, aber keine mehr auf einen Hochschulplatz. Bis ich mich einmischte:
 

“Du bist immer dann am besten, wenns dir eigentlich egal ist.

Du bist immer dann am besten, weil der Ehrgeiz dich sonst auffrisst.

Du bist immer dann am besten - du musst das nicht aus testen - nicht noch mal.

Dein Spiegelbild ist anderen egal.”
 

Das stand auf der Karte, die ich ihm zu seinem achtzehnten Geburtstag schenkte, zusammen mit einem Bahnticket nach Hannover. Nur Hinfahrt. Auf Leos fragenden Blick hin erklärte ich ihm, dass er einen freien Platz an der Hochschule für Musik und Theater Hannover bekommen hatte. Ich hatte lange auf den Direktor eingeredet, ihm die Geschichte meines Lieblingsmusikers erzählt und Probebänder vorgespielt. Er sagte, dass das ganz und gar ungewöhnlich ist, jemanden ohne Vorspielen und Interview in die Schule aufzunehmen. Aber als er dann sagte, dass schließlich auch die musikalischen Künste meines Bruders ganz und gar nicht gewöhnlich sind, musste ich weinen. Zum ersten, weil jemand meinen Bruder ehrte, zum anderen, weil ich wusste, dass er nun einen Platz an einer der besten deutschen Musikschule hatte. Nachdem ich ihm das klargemacht hatte, fiel er mir nur stumm um den Hals. Es gab keine Worte, die ich hören wollte. Leo, obwohl ich ihn jetzt eigentlich Esaty nennen sollte, wusste, wie er mir seine Dankbarkeit viel besser zeigen kann: Wenn er mir einen Song widmen würde.
 

Du kannst für eine Weile dein Umfeld belügen

Doch dein eigenes Herz wirst du nicht betrügen

Man erntet, was man sät - drum wirds dein Herz sein, das dich verrät
 

Ich will deinen Elan doch überhaupt nicht dämpfen

Wenn du etwas willst, musst du darum kämpfen

Nur eines versprichst du mir: Bleib immer du selbst und bleib bei dir
 

Esaty hatte es geschafft, sich selbst und allen anderen zu erzählen, dass er ohne Musik leben könnte, doch letztendlich hatte ihn die Sehnsucht nach Melodien dazu gezwungen, sich wieder den Noten zu widmen. Er konnte nicht über seine tiefsten Herzenswunsch hinwegsehen. Sein Herz hatte ihm den Weg gezeigt und letztendlich war es seine Musik, die mich dazu bewegt hatte, ihm diesen Studienplatz zu beschaffen.

Das hier, dieser Artikel und die Geschichte meines Bruders soll keine Abschreckung sein, nur weil Leo depressiv geworden ist. Es soll eine Anregung sein, eine Lehre, dass man für Träume kämpfen muss. Niemand sollte sich von anderen in seine Herzenswünsche rein reden lassen. Ich hoffe, dass die “Star-Geschichte” von Esaty andere Musiker, deren Talente auch unterdrückt wurden, aus der Reserve lockt. Auch, wenn sie nicht die Unterstützung haben, die Leo hatte.

Um auf den eigentlichen Sinn zurück zukommen. Nun sollten alle Neugierigen wissen, warum Esaty vorletzten Monat auf die Frage “Was ist dein Motto im Leben?” mit einem Zitat aus seinem Lebenslied “Lied vom Scheitern” geantwortet hat:
 

“Ich bin immer dann am besten, wenns mir eigentlich egal ist

Ich bin immer dann am besten, wenn mir keiner ins Regal pisst

Ich bin immer dann am besten - am zweit-, dritt oder zehntbesten

Von mir aus auch mal nicht am besten

Ich muss das nicht austesten

Nicht noch mal

Mein Spiegelbild ist anderen egal”



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück