Zum Inhalt der Seite

Die gelbe Stadt

Karneval
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Dion saß quer auf einem abgewetzten, roten Ohrensessel und ließ seine Beine über die Lehne baumeln. Im Halbdunkel des Zimmers sah es aus, als hätte der Sessel zwei lange, dünne Arme bekommen die versuchten, nach den gelben Gardinen zu haschen. Er schaute an die Decke, weiß Gott, worüber er sich wieder Gedanken machte. Stundenlang konnte er so dasitzen, nur die Beine, die unregelmäßig wippten und die Lider, die sich ab und zu träge senkten, bewegten das Bild.

Ich saß ihm gegenüber auf dem Boden. Das splittrige Holz hatte mir mit der Zeit meine Socken zerrissen, sodass ich mir angewöhnt hatte, auch im Winter barfuß auf ihnen zu laufen. Ein übler, fauliger Geruch lag in der Luft, stärker als sonst.

„Die Fastenzeit beginnt bald“ murmelte Dion.

Ich reagierte nicht, nur meine Ohren wurden aufmerksam.

„Kommst du dieses Jahr mit?“

Sein Kopf bewegte sich nicht um ein Grad, als er dies sagte. Selbst sein Mund deutete nur Bewegung an. Als ich nicht antwortete stockten seine Beine.

„Nora?“

Ich wollte nicht antworten. Mir gefiel der ängstliche Ton in seiner Stimme. Er hatte mir mal von einem Traum erzählt, in dem er plötzlich allein in der Stadt war. Gerade hatte er sich noch mit jemanden unterhalten, dann drehte er sich um und der jemand war weg gewesen. Und mit der Zeit fiel ihm auf, dass immer mehr Leute einfach verschwanden und dass er es nicht verhindern konnte, denn immer wenn er den Blick umwandte um zu sehen, ob noch jemand verschwunden war, verschwanden immer mehr und mehr, sobald seine Augen sie nicht mehr festhielten. Irgendwann war er ganz allein gewesen. Solche Träume sind Nachwirkungen des grünen Glücks und die, die wieder Träumen können, haben das erste Kapitel beschlossen.

„Ich komme mit“ antwortete ich und zog einen langen Holzsplitter vom Boden ab. Er lächelte leise und fuhr fort, mit seinen Beinen nach den Vorhängen zu haschen.

„Claude meint, er habe von seiner Dame Masken bekommen“

„Halbe?“

„Natürlich.“
 

Fünf Tage später lagen die Masken vor uns. Dion saß nicht mehr auf dem Sessel. Ein großes, blondes Mädchen, ein Bein über das andere geschlagen, lehnte sich nun in die Polster und spielte mit dem abgelösten Bezug. Claude stand hinter ihr am Fenster.

„Sie haben bereits angefangen“ sagte er zu uns. „Heute Morgen habe ich die ersten zum Palais gehen sehen, hauptsächlich Geschäftsleute, die die Zeit ausnutzen ihre Partner in derselben Stadt zu haben. Gegen Sonnenuntergang sollten wir los.“

Der Himmel über dem Palais war bereits rosa.

Bastien, ein dicklicher Junge aus dem Haus gegenüber, teilte Karten aus. Es waren Karten für die besseren Klassen, ehemals schneeweiß mit scharfen Kanten. Er hatte sie wahrscheinlich bei einem früheren Karneval einer seidenen Dame abgenommen. Inzwischen hatten sie sich ihrer Umgebung angepasst, waren genauso gelb von der schlechten Luft wie die Vorhänge, genauso zerfurcht wie die Straßen und genauso welk und schwammig, wie unser Essen. Auch die Rose des Parfums war inzwischen einem leichten Schwefelgeruch gewichen. Alles Schöne und Reine war dieses Schicksal nach einiger Zeit hier beschieden. Im Erdgeschoss wohnt, oder wohnte, eine Dame aus den Kreisen, aus denen die Karten stammten. Sie muss irgendwie mit dem grünen Glück in Verbindung gekommen sein, so wie wir alle hier. Innerhalb zweier Jahre war aus ihrer elfenbeinernen Haut dickes Leder geworden und ihre Hände konnten keine Nadel mehr halten. Vielleicht kam der komische Geruch ja aus ihrer Wohnung.

Als aus dem Rosa Dunkelrot wurde machten wir uns auf den Weg. Die Masken in unseren Taschen in bunte Umhänge eingeschlagen.

Das Palais funkelte uns entgegen. Die Fackeln an den Außenmauern waren mit irgendeiner Substanz versetzt, sodass sie weiß strahlten. Sie brannten in den Augen und dennoch sah man immer wieder große Blicke dorthin schweifen. Die meisten, die aus unserer Richtung kamen, hielten diesen Anblick für göttliche Schönheit. Für die meisten von ihnen war es auch das Einzige, was sie von dem Spektakel zu sehen bekamen. Denn selbst wenn die Fastnacht Gleichheit versprach – so versprach sie es nur unter jenen, die sich Masken leisten konnten. Und ausnahmslos alle aus unserer Richtung waren froh, wenn sie den Winter nur jede zweite Woche hungern mussten.

Am Fuße der Treppen blieben wir stehen und sahen uns an.

„Gleichheit“ lächelte Dion schief und wir anderen lächelten ähnlich zurück.

„Ich möchte keinen von euch morgen wieder sehen“ sagte er etwas fester und legte die Stirn ernst in Falten. „Ich möchte keinen von euch jemals dort wiedersehen!“ sein Kopf zuckte in die Richtung der gelben Stadt, seine Augen schauten inzwischen beinahe grimmig.

Mir gefiel das, so sah er fast schön aus.

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und zog meine Maske über die Augen. Die anderen taten es mir gleich. Nur Dion zögerte noch einen Augenblick.

„Wenn es jemand schaffen sollte … “ sagte er leise, „ … lassen wir die anderen hinter uns und vergessen“ vollendete das blonde Mädchen seinen Satz sanft.

Sie würde ich morgen nicht wieder sehen.

Wir stiegen die Stufen hinauf, jeder von uns mit einem unbestimmten Gefühl der Angst, aber auch der Erwartung. Jeder von uns würde versuchen, einen der seidenen Menschen dort oben davon zu überzeugen, vom grünen Glück zu kosten.

Der einzige Weg, der gelben Stadt zu entfliehen war, ihr einen neuen Bewohner zum Tausch anzubieten. Ihr ein neues Leben zu schenken, damit sie einen selbst los lässt.

Doch selbst wenn es uns gelingt und wir den Platz der verführten Person einnehmen können - wir sind gezeichnet. Denn die gelbliche Spur unter unseren Nägeln und in unseren Augen werden wir nie verlieren. Denn Gleichheit existiert nicht.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  KiraNear
2010-04-25T12:04:00+00:00 25.04.2010 14:04
Also mir hat es auch gut gefallen, es ist wirklich schön geschrieben. Auch wenn ich es nicht ganz verstanden habe^^°

Allerdings lässt es auch sehr viel Freiraum für seine eigenen Gedanken, gefällt mir!
Von:  GottesHenker
2010-04-24T22:14:38+00:00 25.04.2010 00:14
Da muss ich Levana zustimmen. Packend geschrieben. Man will bis zum Schluss wissen, was das grüne Glück ist... Ich habe es ehrlich gesagt nicht verstanden ^^". drogen? Armut? Es hat was von Venedig, durch den "Maskenball" wahrscheinlich. Aber es ist eine andre, nicht existirende Stadt für mich.
Toll gemacht.^^
Von:  Levana
2010-04-02T08:14:11+00:00 02.04.2010 10:14
Fantastische Elemente kann man wirklich nur erahnen, aber mir gefällt die Geschichte, dein Schreibstil und wie du beschreibst. :) Alles in einem eine schöne Geschichte!


Zurück