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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Kleine Halbelben


 

Alte Bekannte
 

 
 

Ein unregelmäßiges Auf und Ab, ein Hin und Her, empor und hernieder - jede Regung aber wurde bis ins kleinste Detail und maßstabsgetreu nachvollzogen. So fühlte es sich zumindest an. Alistair konnte gar nicht ausdrücken, wie sehr er Schiffe hasste. Diese Dinger waren doch im Grunde nicht mehr als Nussschalen, die man mit einem Segel und im besten Fall noch ein paar Rudern so schnell wie möglich von A nach B zu bringen versuchte, ohne dabei von eben jenen unvorstellbaren Kräften überrascht und schlicht verschlungen zu werden, die auf den Meeren der Welt die Naturgewalten darstellten. Wie konnte der Mensch - oder wahlweise auch Elben, Zwerge, wer immer sich diesem Irrsinn stellte - auch nur im Ansatz hoffen, diesen Gewalten entgehen zu können? Sie zu verstehen oder gar zu meistern? Nein, wer immer sich an eine Nussschale aus ein paar Holzplanken klammerte, der begab sich direkt in den Schoß von Eumenes und die Herrin der See konnte sehr launisch sein. Ein störrisches, eifersüchtiges Biest, eine zürnende, donnernde Walküre oder ein sanftes, liebliches Mädchen - was der Fall war, konnte keiner je vorhersagen. Nur hoffen und beten, das war alles, was gute Seeleute konnten.

Nun - Alistair war kein Seemann. Ein Guter schon gar nicht. Das erschloss ihm gewisse andere, praktisch zusätzliche Optionen zum Hoffen und Beten: Sich übergeben.

Während sein Magen Kreisel drehte, sich dehnte, verkrampfte, erschlaffte und pulsierte, jede Woge ihn aufs Neue aus dem empfindlichen und meist nur wenige Sekunden vage vorhandenen Gleichgewicht riss, spie der Nordmann schon seit einigen Minuten alles ins Meer, was den Fehler beging, auch nur in die Nähe seiner Speiseröhre zu geraten. Das dabei schon seit diversen Wellen nur noch bittersaure Galle kam, interessierte zumindest sein Innerstes herzlich wenig, ließ den Dieb jedoch angewidert das Gesicht verziehen. Gerne hätte er sich Abhilfe verschafft. Schon die Augen offen zu halten, ja das allein hätte ihm vielleicht bereits weiterhelfen können. Gewiss, ja: Jeden Wellenkamm, den sie ritten, hätte er gesehen. Er hätte die Rücken der Wasserberge hinabstarren und in die Täler vorausblicken können, in die sie gleich niederfahren würden. Das Meer um sie herum wütete, der Sturm peitschte lauthals kreischend, doch obwohl die Mehrheit der Mannschaft es geschäftig auf dem Deck hielt, lachten sie hier, sangen dort, witzelten am Mast oder grinsten feist zu ihm herüber. Sie schienen den Sturm trotz aller Vehemenz kaum ernst zu nehmen, es eher für ein raues Lüftchen zu halten. Und er konnte nicht einmal die Augen offen halten. Ständig klatschten Wellen gegen den Rumpf, sprühte die Gischt herauf und bedeckte sein Gesicht mit einem feinen - und manchmal auch nicht so feinen - Schleier aus Meerwasser, das er spucken und husten und unweigerlich die Lider wieder zupressen musste. Sobald er das aber tat, verlagerte sich fast augenblicklich die Kraft seiner Sinne und ließ ihn doppelt und dreifach so stark jeden Klatscher und jede noch so kleine Woge spüren.

Es war zum Verzweifeln!

Beim Thema Verzweiflung fiel dem Lairuiner auch gleich noch etwas ein - genauer gesagt, jemand. Die schweren Stiefel, deren Eisenbeschlag sie leise bei jedem Tritt klappern ließ, brachten bereits erste dumpfe Ahnungen herauf, aber dann trat jene Gestalt neben ihn an die Reling und klopfte ihm auf die Schulter. Die vermutlich gut gemeinte Geste brachte nur einen weiteren Schwall Galle herauf, bis er sich, in einer fahrigen Geste über die Lippen wischend, erstmals weit genug aufrichten konnte, um sie anzusehen. Schon ein kurzer Blick in ihre Miene, dieses hämische Grinsen darin, verriet ihm, dass die Geste gewiss aus allem geboren war, aber nicht aus aufrechter Freundlichkeit. Dabei entging längst nicht nur Alistair, das Ashes eher notdürftig und halb bekleidet bei eisigsten Temperaturen hier oben an Deck stand. Das zog unweigerlich gewisse Reaktionen nach sich: Zunächst sein Blick auf die sich zart durch ihr dünnes und von der Gischt längst durchsichtig getränktes Hemd drückenden Knospen ihrer Brüste, daraufhin im Anschluss das selbst bei dieser Nachtschwärze gut sichtbare Erröten seiner Wangen und schließlich die geradezu giftigen Blicke in die Runde der Matrosen, die den vom Stoff kaum verdeckten Rücken bewundernd hier und da ein paar wagemutige Pfiffe ausstießen. Keiner war wirklich so närrisch, Ashes anzurühren. Das lag zum einen daran, dass sie vor drei Tagen dem Dummkopf aus dem Krähennest erst den Kiefer ausgerenkt und dann die Handwurzel gebrochen hatte, weil er seine Finger und schmierigen Andeutungen nicht für sich behalten konnte. Sie hatte Brüste und ein Becken, in das sich stoßen ließe - doch soweit bekam sie keiner, das hatte man einsehen müssen. Keiner außer dieser halben Portion… mit dem sich ebenso wenig jemand anlegen wollte. Alistair hatte Spott und Hohn auf sich gezogen. Er war kleiner als die Meisten, dürrer als die Meisten, aß kaum etwas, spie sich die meiste Zeit die Seele aus dem Leib und wirkte irgendwie schwächlich. Als jedoch jemand seiner Gefährtin gegenüber in einem Maß frech wurde, das ihm als ausreichend erschien, hatte es einen Kampf gegeben. Einen sehr, sehr kurzen sogar. Woher dieser Knilch alles Messer und Klingen zaubern konnte, war die eine Überraschung gewesen, sicherlich - und das in einem eigentlich fairen Faustkampf! Woher er dann aber auch noch dieses unverschämte Glück hatte, jedem üblen Schwinger auszuweichen und jeder Geraden zu entgehen… er war flink, keine Frage, aber so ganz schien das einfach nicht mit rechten Dingen zuzugehen.

Schließlich hatte er den Gürtel durchtrennt und seinen Kontrahenten bloßgestellt. Es hatten eisige Winde geherrscht, natürlich. Und die Überraschung hatte ihr Übriges getan. Trotzdem - beim Anblick seiner unverhüllten Lenden hatte jeder lachen müssen. Selbst Alistair und Ashes. Keiner legte Wert darauf, der nächste zu sein, der von diesem flinken kleinen Wiesel vorgeführt wurde. Also beließ man es bei Blicken, Pfiffen, ein paar derberen Seemannssprüchen, aber… niemand wagte mehr als das.

Ein Arrangement, mit dem bisher alle mehr oder minder gut leben konnten - vor allem der Kapitän, der das Glück hatte, diesen wackeligen Frieden nicht extra mit eigener Hand sichern zu müssen.

„Ich komme gleich wieder runter…!“ kündigte der Nordmann an und zwang sich ein eher schief geratenes Grinsen auf die Miene. „Hm~hm, natürlich“, erwiderte die Elbe lediglich eine Braue hebend. Daraufhin wagte der Langfinger nochmals einen Blick auf seine Begleiterin. Allein, wie sich die Muskeln hier und da abzeichneten, die Narben aus zahlreichen Kämpfen und mancher Dummheit… und die Ohrringe! Er liebte es, damit herumzuspielen und bisweilen schien sie es auch mehr als nur zu schätzen, wenn er das tat - nun aber kniete er hier, halb über dem Holzlauf hängend und wusste nicht, ob dieses Rumpeln und Ziehen in seinem Bauch nun Übelkeit oder Erregung war. „Ist ein wilder Ritt…“ versuchte er sich zu entschuldigen. Daraufhin lehnte sich Ashes ebenfalls über die Reling und starrte völlig ungerührt in die sich auftürmenden Wogen hinaus. „Ich dachte eigentlich, den hätte ich auch gerade gehabt…“ gab sie lediglich zurück und bescherte ihrem Begleiter damit ein eher peinlich beschämtes Erröten. „T-Tut mir l-leid… ich mach’s wieder gut, versprochen, i-ich… ich-“, doch bevor er sich schnell etwas hatte einfallen lassen können, winkte sie mit einer Handgeste ab. „Ist erledigt.“

Zwei Worte, die ihn einen kurzen Moment inne halten ließen. Nur ein einziges Mal hatte er sie gesehen, genauer gesagt, beobachtet, während sie sich Erleichterung verschaffte - und er hatte kaum leise genug atmen können, um nicht bei dieser kleinen Schandtat erwischt zu werden. Bemerkt hatte sie es irgendwie dennoch. Bis heute wusste er nicht, ob sie sich seiner Gegenwart bereits währenddessen bewusst gewesen war und sich davon einfach nicht hatte stören lassen, ob es sie vielleicht sogar noch anstachelte, oder aber, ob sie es erst nachträglich irgendwie herausgefunden hatte. Dieser Moment damals hatte ihn jedoch gelehrt, dass es keinen Augenblick gab, in dem er je einen stärkeren Drang verspürt hatte, in einen Raum zu platzen und wortlos über ein Weib herzufallen. Das annähernd gleiche Maß an Lust zerwühlte nun selbst seine Seekrankheit und ließ ihn durchaus von Gier getragene Blicke von ihrem Gesäß herauf bis zu ihren Ohren legen. „D-Du… a-aber…?“ hob er eher dem Schein nach entrüstet an, erhielt jedoch zunächst nur ein abfälliges Schnauben zur Antwort, ehe sie sich aufgrund seines weiterhin ungebrochenen Starrens zu ein paar Worten genötigt sah. „Hast du geglaubt, ich warte unten, bis du dir die Seele rausgekotzt hast und mit üblem Atem zurücktorkelst? Du hast etwas angefangen und bist einfach verschwunden - also habe ich es beendet.“ Tatsächlich interessiert verfolgte sie das Mienenspiel ihres Gefährten, welches zunächst von Enttäuschung zu Resignation und Frust überwechselte, von dort dann schließlich zu Kummer und Bedauern - bis er es tatsächlich sogar aussprach. „Schade.“ Ein Wort nur, doch es ließ für einen kurzen Augenblick den Schatten eines Schmunzelns über ihre Züge huschen wie ein scheues Reh, das kurz vor des Jägers Augen auftauchte und dann flink wie der Wind im Unterholz verschwand.

„Schade, hm?“ echote die Elbe zunächst, ehe sie ein Stück zu ihm heran rückte, „Denkst du, ich gebe mich mit einem Appetithäppchen zufrieden?“ Allein dieses Leuchten in seinen Augen, so befand die altgediegene Söldnerin, war es wert gewesen. Er folgte ihr unter Deck zurück, warf die Tür ins Schloss und begann ohne zu zögern in die nächste Runde zu starten - eine direkte Art, die sie an ihm inzwischen ebenso zu schätzen wusste wie sein Geschick. So manches hatte sie ihm erst beibringen müssen, doch Alistair, das hatte sich deutlich gezeigt, war ein sowohl aufmerksamer, als auch schnell begreifender Schüler - und er vergaß selten, was ihm einmal auffiel. Es verlangte ihm spürbar Konzentration ab, sich vom Gefühl des Wellenganges zu lösen und so ganz wollte seine Übelkeit sich wohl auch nicht verdrängen lassen, doch das hielt beide nicht davon ab, fast die gesamte Nacht hindurch ihr Zimmer dezent umzuräumen.

Das Schiff derweil aber hatte entgegen der Mannschaft das Schlimmste nicht überstanden, im Gegenteil. Keiner hatte es kommen sehen - nicht der Mann im Krähennest, nicht der Steuermann, nicht der Kapitän mit seinen See- und Wetterkarten. Der Sturm wurde schlimmer, viel schlimmer. Kurz vor Dämmerung holten sie die drei Segel ein - kaum ein paar Minuten, bevor der Hauptmast brach. Das gewaltige Knacken und Bersten des Holzes war im gesamten Schiff ein unheilverkündendes Dröhnen und Donnern, begleitet vom Scheppern der Blitze und den grellen Lichtblitzen, die sie durch jede Luke warfen. Für Ashes und Alistair, die aneinander gedrängt gerade erst zur Ruhe hatten kommen wollen, war das eine Katastrophe - und ein Weckruf. Hastig begannen sie ihre Sachen zusammen zu sammeln, all ihre Habe zu verstauen und das Wichtigste umso näher am Leib anzubringen. Ein knapper Blick nach draußen offenbarte vor allem… Schwärze. Sie warteten und brauchten nur ein paar weitere Sekunden ausharren, als eine Reihe von Blitzen ihnen das nackte Entsetzen enthüllte: Die Wellentürme waren keine Türme mehr, sie waren ganze Gebirge geworden und die Nussschale wirkte nun im wahrsten Sinne nichtig.

Der Versuch, das Oberdeck zu erreichen, scheiterte drei Mal. Mit jedem Wellenkamm, der über ihnen zusammenbrach, wurde eine Unmenge an Wasser ins Schiff gespült und strömte die Treppen herab. Es riss sie von den Beinen, schleuderte sie den Gang wieder hinab und nur mit Mühe konnten sie einander halten. Beim vierten Anlauf kämpften sie sich erfolgreich an Deck, sahen die Crew herumhechten. Nicht länger in amüsierter Geschäftigkeit, sondern mit hartem Ernst in der Miene, mit Sorge… und manchen mit einem Gebet auf den Lippen, mit denen er nicht etwa sein eigenes Heil erbat, sondern für das Wohl seiner Hinterbliebenen sorgen wollte.

Ihnen blieb nicht lange, die Szenerie zu erfassen, da verschluckte etwas selbst Teile des Himmels, des Blitzlichtes, einfach einen ganzen Teil der Welt - und brach schließlich nieder. Die halbe Crew ging über Bord, einfach davon gespült, genauso wie die Reste des Hauptmastes. Die zwei Nebenmasten gaben wie Streichhölzer nach, die Takelage, das Krähennest, kreischende Leiber, alles trieb im Meerestal neben ihnen und dann… kam der große Bruder eben jener Welle.

Schon als sei von dessen Vorläufer erfasst wurden, hob sich das eigentlich unzählige Tonnen schwere Schiff höher und höher und höher. Doch es schien kein Ende zu geben - der Wellenkamm war um ein Vielfaches über ihnen… und dann kippte alles. Völlig unvermittelt drehte sich das gesamte Schiff, erst auf die Seite, ehe es sie unter sich begrub. Das Schiff selbst und große Teile davon zerrissen und zerquetschten viele der Kreischenden im Meer, der Strom der Flut riss Alistair herum, wirbelte ihn wie einen Tänzer im Kreis um jede nur denkbare Achse, ließ ihn völlig die Orientierung verlieren. Einen Augenblick schwamm er nach unten statt hinauf, ehe er in der tiefen Schwärze unter sich etwas noch Dunkleres sah. Für einen flüchtigen Augenblick hatte er das Schiff gesehen, wie es unter dem Wellenberg begraben noch tiefer gedrückt wurde, tiefer hinab in das endlose Dunkel - es genügte, ihn begreifen zu lassen, das er in die andere Richtung musste. Eiseskälte stach in seinen Muskeln, das Salz brannte in seiner Kehle, seinen Augen, sogar den Kratzern, die das Liebesspiel mit Ashes hinterlassen hatte.

Der Gedanke an sie aber ließ ihn allen Überlebenswillen verlieren, verdrängen - wo war die Söldnerin? Wo war das verdammte Klingenohr, an das er vor Jahren sein Herz verloren hatte? Sie hatte ihre Rüstung nicht vollständig angelegt, gerade genug, um aus eigener Kraft noch schwimmen zu können. Sie musste irgendwo hier sein - einen Moment schwamm er sogar wieder nach unten, freiwillig, sich des Irrsinns bewusst, ehe selbst ihm klar wurde: Hier, in dieser Schwärze, diesem Durcheinander, da würde er sie niemals finden. Die Verzweiflung in seinem Gemüt wog selbst schwerer als die seiner Lungen nach Luft, das Brennen hätte ihn fast dazu gebracht, einen tiefen Zug Meerwasser atmen zu wollen - doch er schaffte es gerade noch rechtzeitig herauf. Ein tiefer Zug… dann spülte ihn die nächste Welle herab, begrub ihn abermals, wirbelte ihn von neuem herum.

Irgendwann wurden seine Glieder lahm. Er strampelte, spürte aber seine Beine nicht mehr, er schwamm, ohne die Bewegung seiner Hände wahrzunehmen, er rief einen Namen, ohne seine eigene Stimme zu hören. Bevor die Erschöpfung ihn packte und das Bewusstsein aus ihm heraus schüttelte, war sein letzter Gedanke… die Zufriedenheit darüber, die letzten Minuten immerhin mit ihr verbracht zu haben.

 

Über sein Tempo in den Kämpfen hatten sie gemutmaßt und gelästert gleichermaßen. So etwas könne nicht natürlich sein. Ein Besessener vielleicht, ein Hort von Dämonen, wer wusste schon wie vielen?! Vielleicht ein Gesandter der Götter, war das nicht ebenso denkbar? Ein Hexer gar! So schmächtig und dürr, würde da die Geschichte des ständig vor dem Zirkel Fliehenden nicht prächtig passen? Tatsächlich aber stammte Alistairs Geschwindigkeit aus nicht mehr denn der Tatsache, dass er klein war, recht wenig wog und diese Fertigkeiten bis zur äußersten Beherrschung trainiert hatte. Jahrelange Übung hatten ihn geschult und geschliffen, aus dem Rohmaterial einen kleinen Diamanten herausgeputzt - zumindest für jene, die einen fähigen Dieb an ihrer Seite wissen wollten. Zu jenem erlesenen Kreis gehörte auch Ashes, die sogar einer noch weit exklusiveren Runde von Leuten angehörte: Denen, denen Alistair auch gerne half. Von den Göttern gesegnet, wie eine These gelautet hatte, war er gewissermaßen dennoch. Zeit seines Lebens hatte er das unverschämte Glück besessen, nur wenige Fallen auszulösen und dann meist den verheerenden Folgen zu entgehen, nur wenige Schlösser mit Lautgebung zu öffnen und dann verklangen diese Töne meist von den zugehörigen Wachen ungehört oder ignoriert. Dieses Glück verdankte er keinen Zufällen, sondern der Tatsache, dass er Lenikki, den Gott der Wanderer und Diebe, den Schutzpatron der Reisenden und Händler, schlicht gut zu unterhalten wusste. Alistair war eine Kuriosität und ständig drauf und dran, sich mit allerhand Unsinn in Gefahr zu begeben. In dieser Nacht aber, da das Schiff ihn um ein Haar erschlagen hätte, als die Wogen des Meeres es wie Spielzeug herumwarfen, da feilschte der oftmals als Affe dargestellte hohe Herr um das Leben des Nordmannes, mit niemand Geringerem als Eumenes selbst. So manche Strippe wurde hinter den Bühnen der sichtbaren Welt gezogen, so manches Interesse sollte gewahrt bleiben und am Ende spien die zornigen Fluten nicht nur den schmächtigen Langfinger wieder aus.

Dass er noch lebte spürte er daran, wie ihm noch immer das Salzwasser schier überall brannte. Er spuckte, hustete, keuchte, rang nach Atem und kam auf zittrige Arme und Knie zum Stehen. Nicht nur die Erschöpfung machte es ihm schwer, sich aufrecht zu halten. Strampelnd und zappelnd, um sein Überleben kämpfend, hatte er sich völlig verausgabt. Aber nun zog das Gewicht seiner vollgesaugten Kleider an seinem Leib, die Kälte saß ihm längst im Mark und wollte ihn steiffrieren - und zumindest seine Finger hatten diesem Drängen schon nachgegeben. Er aber zwang sich zu mehr, rappelte sich empor und kam nach einigen sehr bedrohlich schwankenden Momenten zu sicherem Stand auf seinen Füßen - zumindest sicher genug, um sich mit kleinen, beherzten Schritten voran zu wagen.

Sie hatten vor mehr als zwei Wochen ihre Überfahrt gebucht. Eine Einladung zum Hofe Anadyrs, sie würden Kathryn wiedersehen, mit ihr ausgelassen feiern und… möglicherweise zu späterer Stunde mit ihr in ihren Gemächern verschwinden. Alles hatte sich geradezu traumhaft angehört. Immerhin war diese Gedankenwelt ausreichend gewesen, ihn auf ein Schiff zu locken… doch in dem Piratenstaat waren sie nie angelangt. Wie weit der Sturm sie vom Kurs abgebracht hatte, der über Tage ihre Route begleitet hatte, konnte der Langfinger nicht sagen. Hier und jetzt, da er unweit merkwürdige Bäume aufragen sah, war es ihm einerlei. Denn was noch viel Wichtigeres unter seine Augen fiel: Trümmerteile. Stücke der Takelage, dutzende, wenn nicht hunderte Holzsplitter, Seile und… Körper.

„Ashes!“ brüllte der Dieb aus vollster Kehle und brachte nicht mehr als ein leises, kratziges Quaken hervor. Er stürzte los, zur ersten Silhouette. Irgendein Schwarzhaariger. Keine Atmung. Hastig rappelte er sich wieder auf, spürte, wie viel Mühe ihn das kostete. Alistair rannte weiter und weiter. Sogar das halbe Krähennest passierte er, mit einem Arm darin, der wohl irgendwie von Trümmern abgerissen worden war. Mehr und mehr Leichen wuchteten die gewaltigen Wellenberge an die Küste heran, doch längst hatte er aufgehört, auf die Knie zu gehen. Irgendwann, so war ihm klar, käme er nicht mehr empor. Vielleicht lebte mancher von der Mannschaft noch, vielleicht hätte er hier Leben retten können - doch für den Augenblick, so weit hatte ihn das lange Verweilen in ihrer Gegenwart schon gebracht, zählte für ihn nur dieses eine Leben. Er hielt Ausschau nach silbernen Haaren. Die Wolken waren dicht, aber fetzenhaft - hier und dort gab es Sterne, die bemüht durch die Risse funkelten. Er würde sie sehen müssen. Auf dem Rücken liegend, auf der Seite, dem Bauch, mit dem Kopf zur Baumgrenze oder zum Meer, verdreht, verrenkt, verstümmelt, der Dieb rannte immer weiter, an all den Toten oder vermeintlich Toten vorbei, bis er den hellen Haarschopf, den zu finden er fast nicht mehr geglaubt hatte, endlich sehen konnte. „Ashes!“ brüllte er abermals, etwas lauter, etwas bemühter und doch lächerlich angesichts des Donnerns und Dröhnens, welches vom Meer herüberschallte. Hastig stürzte er zu ihr auf die Knie. Sie war blass, die Haare verklebten ihr Gesicht und seine Finger fanden keinen Puls. Er tastete nur wenige Sekunden panisch danach, ehe ihm klar wurde, dass dort einfach keiner war. „Nein… nein nein nein nein nein, das tust du mir nicht an!“ schrie er sie halb hysterisch an. Er presste ihre Nase zu, versuchte Luft in ihre Lungen zu blähen, drückte den Rhythmus auf ihre Brust, den ihr Herz hätte schlagen sollen. Wieder und wieder über eine gefühlte Ewigkeit hinweg. Er wollte, konnte, würde nicht aufgeben - und dann, als seine Schultern längst steif und verkrampft waren, spie sie plötzlich einen Schwall Meerwasser halb in sein Gesicht, ehe sie sich ebenso hustend und keuchend zur Seite drehte. Sie übergab sich, mehrfach - Sekunden, bevor eine weitere große Welle neue Trümmerteile auf dem Strandstreifen verteilte und ein grobes Stück vom Kiel Alistair überraschte. Schon zum zweiten Mal in dieser Nacht verlor er das Bewusstsein, tat es aber diesmal mit der vagen Hoffnung, zumindest an ihrer Seite aufzuwachen… oder an ihrer Seite zu sterben, sollte das der Wunsch Lenikkis sein.

Tatsächlich jedoch riss die Flut niemanden mehr fort - nicht die Elbe, deren Pfad ganz im Sinne Arimaspers nur zu oft von Blut und Gewalt begleitet war und auch nicht ihn, der noch viele Jahre zur Unterhaltung des Affenkopfes beitragen sollte.

 

„Los, steh schon auf, Schlafmütze“, rumpelte eine Stimme in seinem Kopf. Nur langsam, träge und obendrein höchst unwillig kehrte das Leben in den Leib des Lairuiner zurück. Alistair blinzelte und kniff fast sofort die Augen zusammen. Die Sonne stach von ihrer Mittagsposition zu ihnen herab. Vorsichtig richtete sich der Langfinger auf und versuchte, nachdem er sich halbwegs an die Helligkeit gewöhnt hatte, sich einen Überblick zu verschaffen. Vermutlich hätte diese Gegend einen wundervollen Anblick abgegeben. Die merkwürdigen Bäume, deren Umrisse ihm in der Nacht noch zu denken gegeben hatten, entpuppten sich als Palmenmeer, vermischt mit einzelnen Bäumen festeren und dichteren Wuchses. Der Strand war weit, flach und von feinem Sand, das Meer lag still und friedlich da, nicht eine Wolke weit und breit. Die wenigen, fast zärtlichen Wellen wagten sich nicht einmal auf vier Meter an seine Füße heran, da zogen sie sich schon schüchtern in die See zurück. Doch das Bild des Paradieses wurde empfindlich gestört. Die weißhaarige Söldnerin, die in unvollständiger Kriegsmontur vor ihm aufragte, war da nur ein kleines Detail. Der zweite Punkt war der Verband, den sie offenbar um seine Schulter gelegt hatte und dann war da noch die Tatsache, dass er das Schiff sah.

Zumindest Teile davon, hier und dort. In der Ferne erkannte er sogar den Hauptmast, wie er mit der zweiten Hälfte des Krähennestes aus dem Wasser ragte, sich offenbar einer Lanze gleich in den Boden der Bucht gefressen und auf ein paar derberen, größeren Felsen aufgelehnt hatte, um den Himmel erstechen zu können. Jede Welle aber trug weitere Holzsplitter herbei. Hier und da lagen Beschläge von den eisernen Truhen, zersplitterte Holzfässer und natürlich: Leichen. Sie waren schier überall. „Wir müssen los“, erklärte die Elbe schlicht und reichte ihm die Hand. Unter einem leisen Schmerzlaut verzog er das Gesicht, als er den Arm hob, die gebotene Hilfe annahm und er das Gefühl hatte, sie würde ihm fast die Schulter ausreißen, als ihr kräftiger Ruck ihn auf die Beine brachte. „Sollen wir nicht… naja… du weißt schon… nachschauen? Ob einer noch lebt?“ hakte er unsicher nach und blickte sich um. Die Meisten, die im Wasser trieben, taten es mit dem Gesicht nach unten. Sofern die sich nicht nur tot stellten und über unglaubliche Lungen verfügten, wäre da wohl jede Hoffnung verloren. Doch einen Teil der Mannschaft hatte es an den Strand gespült. Ashes jedoch schien der Idee wenig zugetan.

„Die sind alle tot“, erwiderte sie so knapp wie vernichtend. „A-… Aber weißt du das?“ erwiderte der Dieb knapp und scheute vor ihrem Blick zurück. Sie mochte ihn, sehr sogar, und sie schätzte ein Stück weit auch sein Herz. Es saß am rechten Fleck, es schien unverwüstlich und bewahrte diesem Chaoten immer ein kleines Stück naiver Unschuld. Aber in Situationen wie dieser, da wollte sie ihn bei den Schultern packen und schütteln, bis die Flausen aus seinem Kopf verschwunden wären. „Denkst du nicht, sie hätten angefangen, sich gegen die Möwen zu wehren? Oder hier und da mal geschrien, wenn die Krabben ihre Ohren abnagen oder die Scheren in ihre Augenhöhlen stecken?“ führte sie ihm bildhaft vor Augen. Daraufhin, wie hätte es anders sein können, übergab sich der schmächtige Nordmann gleich nochmal, während er heiser hervor keuchte, woher sie das wisse. Seufzend verschränkte die mürrische Elbe die Arme vor der Brust. „Rate mal… na weil ich nachgesehen habe!“ warf sie ihm vor und verbot sich weitere Diskussionen. Völlig Unrecht, so musste der Dieb eingestehen, hatte sie ja längst nicht. Es war ihm nicht aufgefallen, weil zu viele Dinge auf einmal auf ihn eingeprasselt waren, doch… es gab hier Vögel. Erstaunlich viele sogar. Und er sah auch einige Krabben herumwandern. Von dem Holz würden die sich gewiss nicht ernähren und was blieb, war eine mehr als unschöne Vorstellung.

Sie entschieden, das sie vor allem drei Dinge gut gebrauchen könnten: trinkbares Wasser, etwas Essbares und einen Hafen. Dabei spielte es nicht einmal eine Rolle, wo sie hier eigentlich gestrandet waren - Anadyr war es nicht. Was bedeutete, dass sie ihre Reise nicht abgeschlossen hatten und das nächste Schiff bräuchten. Mit etwas Glück eines, das nicht sofort den nächsten Sturm ansteuern würde.

Tatsächlich klärte sich das Problem ihrer Grundversorgung recht zügig. Knapp eine Stunde bewegten sie sich landeinwärts, da stießen sie auf eine gut ausgebaute, gepflasterte Straße. Das kniehohe Gras, welches zwischen den klobigen Steinen hervor wucherte, sprach jedoch von dem alles andere als regen Verkehr darauf. Jedoch brauchten sie ihr nur eine Weile folgen, um einen nahe gelegenen Brunnen zu finden. Der mit Moos überwachsenen Tränke nach, die direkt daneben aufgebahrt stand, handelte es sich um eine Handelsstraße, auf der man Tiergespanne erwartete, die von Zeit zu Zeit fressen, trinken und rasten mussten. Tatsächlich war der Brunnen noch nicht versandet und bot gutes, sauberes Wasser. Mit dem kleinen Faustbeil - der einzigen Waffe der Söldnerin, welche das Wüten der Fluten überlebt hatte - holte sie ein paar Früchte von einigen der Bäume herunter. Wie sich zeigte, war sie nach wie vor eine versierte, geübte Frau, auch im Umgang mit Wurfwaffen. Vor Jahren hatte sie ein Auge verloren und Armbrüste und Bögen dadurch aufgeben müssen. Daran hatte sich grundsätzlich nicht viel geändert, doch sie hatte auf mittlere und kurze Distanz zu Fernwaffen wie dieser zurückgefunden.

Nachdem Hunger und Durst gestillt waren, marschierten sie - und natürlich konnte ihr Gefährte nicht eine Minute den Mund halten. Schier alles schien überwältigend und aufregend und spannend zu sein. Die Bäume, der Himmel, das Unwetter - es war wahrhaft erstaunlich, wie schnell ein vermeintliches Trauma bei ihm zu einer spannenden Geschichte avancierte. Dann begann er Beobachtungen über den Mischwald anzustellen, über ein paar Affen, die sie in der Ferne brüllen hören konnten, ein Gürteltier, welches er wohl noch nie zuvor gesehen hatte… für die wenig naturverbundene Elbe war es die reinste Folter. Mehr noch als sein übliches, ununterbrochenes Geplapper. Als sich schließlich eine kleine… Maus, Ratte oder was immer dieses Nagetier sein sollte, einfach so vor ihre Füße setzte, zu ihr aufblickte und zu erwarten schien, das sie tolle elbische Sachen tat, herumtänzeln, singen oder mit diesem Pelzvieh reden, da genügte es ihr nun wirklich. Sie holte mit dem eisenbeschlagenen Stiefel aus - und sandte dieses Ding auf eine kleine Weltreise mit Ausblick auf den Wald unter sich. Irgendwo würde es schon wieder landen, keine Frage. Doch mit einer unaussprechlichen Genugtuung im Blick wurde sich das Spitzohr darüber klar, dass es keine schöne Landung werden wurde, nicht sanft und nicht angenehm - und das allein der Tritt mit diesem Stiefel vermutlich schon mehr Wunden verursacht hatte, als selbst der stärkste Überlebenswille würde überwinden können. Alistair dagegen begriff endlich, dass er sie zusätzlich reizte und hielt seinen überdimensionierten Mund…

… für ein paar Minuten. Dann begann er langsam und vorsichtig, aber schlicht unaufhaltsam wieder daher zu plappern.

Das zog sich weiter, bis sie endlich jemandem begegneten. Ein dürrer Fischer, wie die Elbe vermutete. Fast zwei Stunden waren sie marschiert und dies war also die erste Seele, die ihnen in diesem gottverlassenen Flecken Erde begegnete. Ein Fischer. Miefig, heruntergekommen, mit offenbar ausgeschlagenen oder ausgefallenen Zähnen und unter einer Reihe von Lumpen und Fetzen verhüllt. „He da!“ grüßte Ashes zunächst rau und wies den Burschen an, stehen zu bleiben. Das Gespräch, welches sich ergab, war für die Anforderungen der Elbe fast schon angenehm. Sie fragte nicht, wo sie hier waren, sondern, wie sie zum nächsten Hafen kämen. Sie wollte auch nicht wissen, wer er war, woher er kam, ob er von Sturm, Unwetter, Schiffbruch oder etwas dergleichen auch nur das Geringste bemerkt hätte. Nur eine Frage - und tatsächlich bekam sie nur eine knappe, präzise Antwort.

Wie vermutet, befanden sie sich auf einer alten, kaum noch genutzten Handelsstraße. Das war ein guter Anfang - zum nächsten Hafen aber, so erklärte der Fischer ihnen, ginge es ein paar Tage Fußmarsch in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Würden sie dagegen weiter in die falsche Richtung laufen, wären sie in ein paar Tagen in seinem Dorf, so klärte er sie auf und lächelte feist unter seinen tief ins Gesicht gezogenen Lumpen hervor. Auf die Bekanntschaft mit noch mehr Leuten konnte Ashes gut verzichten - auf Bekanntschaft mit noch mehr Leuten wie dem erst Recht. Ihr Hemd war längst getrocknet und er schien auf die typisch männlich-magische Weise dennoch hindurchsehen zu können. Oder er wollte es einfach nur - was spielte das für eine Rolle?

Ohne Dank machten sie also Kehrt und trabten die nächsten zwei Stunden einen gut bekannten Abschnitt der Straße wieder zurück, ehe sie am Ausgangspunkt angelangt darüber hinaus der Straße weiter und weiter folgten. Der erste Tag neigte sich dem Ende. Entgegen Alistairs Hoffnungen resultierte aus seinen vorsichtigen Annäherungsversuchen nicht etwa der nächste wilde Ritt, sondern vielmehr ein Verbandswechsel, der ihm reichlich zu schaffen machte. Wie die Söldnerin ihm erklärte, hatte er sich offenbar irgendwie die Schulter ausgerenkt. Als sie aufgewacht war, habe sie ihn so gefunden - und nach vielen Stunden Ruhe und Kälte erst das Gelenk zurück in seine Position bringen können. Er würde noch einige Tage unter Schmerzen leiden und hätte obendrein einige üble Kratzer gehabt. Was ‚Kratzer‘ für eine Söldnerin bedeuteten - obendrein für eine wie sie, die ihr verlorenes Auge auch gerne als Kratzer bezeichnete, wusste er nicht ganz… und er wahr aufrichtig froh, den Kopf nicht weit genug drehen zu können, damit seine Neugier ihm neuerliche Übelkeit bescheren könnte.

Stattdessen begaben sie sich zur Ruhe, schliefen tief und fest beisammen und setzten am nächsten Morgen noch vor der Dämmerung ihren Marsch fort. Sie hatten theoretisch genug Essen und Trinken, doch Ashes kündigte bereits in den Vormittagsstunden an, das sie gewiss nicht die ganze Zeit von Früchten leben wollen würde - sie bevorzugte es, etwas zu töten und sein blutendes Fleisch ins Feuer zu hängen. Mit den voranschreitenden Tagesstunden aber änderte sich mehr als nur der Sonnenstand. Alistair, der ohnehin seit jeher eine furchtbare Orientierungsgabe hatte, bemerkte natürlich nicht das Geringste. Ashes jedoch wurde ernster. „Mir gefallt das alles nicht. Ein Fischerdorf und ein Hafen - warum nutzt niemand diese Straße? Und Häfen liegen auf Meereshöhe, alles andere macht keinen Sinn.“ Erst auf ihre Worte hin blickte sich der Langfinger erstmals seit einer ganzen Weile nach der See um, die wiederzusehen er eigentlich wenig Lust verspürte. Tatsächlich gelang ihm recht gut, das Wasser zu entdecken - überhaupt hatte er eine ganz annehmbare Aussicht. Vermutlich lag das daran, dass sie schon den halben Tag bergauf liefen. Kein richtiger Berg natürlich, die Steigung war alles andere als anstrengend, doch über Stunden hinweg war der Höhenunterschied auch nicht mehr zu leugnen.

„Vielleicht ist es ja ein Hügel? Und der Hafen ist auf der anderen Seite, wo es wieder abfällt?“ rätselte der Dieb unbekümmert mit den Schultern zuckend. Er lächelte ihr sonnig zu, nannte sie eine Grüblerin und Schwarzseherin, ehe sie ihren Pfad weiter fortsetzten. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Am späten Abend jedoch, die Sonne sank bereits dem Horizont entgegen, offenbarte sich ihnen des Rätsels Lösung. Die Antwort, warum keiner die Straße nutzte und wo der Hafen lag.

Den gab es wirklich - immerhin etwas. Und er war tatsächlich einige Tage entfernt. Ein gewaltiges Stück weiter konnten sie ihn als Schemen in der Ferne ausmachen. Er ließ sich erkennen, weil die Linien, die sich dort nahtlos an die Küste ansetzten, zu geradlinig waren, um einen natürlichen Ursprung zu haben. Dazwischen aber lag Wald. Sehr viel Wald. Und was wohl ohne jeden Zweifel noch wichtiger war: Direkt vor ihnen lag kein sanfter Hang, der wieder hinab führte. Nein. Die Straße endete abrupt. Offenkundig hatte es vor einer halben Ewigkeit bereits einen großen Erdrutsch gegeben. Das Pflaster endete mitten im Nirgendwo und der Abgrund vor ihnen, der stattlich in die Tiefe zurück auf Meerniveau zu führen schien, klaffte wie ein Loch und war hier und da bereits von älteren Bäumen bewachsen.

Ashes erschien schier unmöglich, dass dieser Hurenbock davon nichts gewusst haben könnte. Alistair dagegen, nun… „Was für ein Ausblick!“ lobte der Querulant und wagte sich für einen genaueren Blick näher an den Abhang heran. Er spähte, sich vorsichtig vorbeugend, hinunter in die Tiefe. Ein See, wie es schien. Überhaupt - dort unten gab es ja gar keine Palmen mehr! „Ashes, schau nur, da ist ein-“ setzte der dürre Nordmann freudig an, wandte sich halb um und… bekam einen gewaltigen Schrecken.

Einen Laut der Überraschung konnte er noch ausstoßen, ehe er panisch mit den Armen zu rudern begann. Er hatte sich unglücklich gedreht, die Pflastersteine unter seinen Füßen aus dem Fundament aus Sand und Wurzelwerk herausgedreht und nun begann natürlich alles abzurutschen. Bevor die Elbe aber rechtzeitig herbei sein und seine ausgestreckte Hand packen konnte, stürzte er bereits in die Tiefe - mit dem Bild vor Augen, wie der merkwürdige, in Lumpen gehüllte Fischer lächelnd hinter ihr gestanden hatte. Dabei war er sich sicher, ihn nicht einfach nur gesehen zu haben. Er war gesehen worden und… er glaubte, etwas unter den Lumpen erkannt zu haben. Ashes aber wirbelte herum und sah… nichts. Wovor war Alistair so erschrocken? Hastig näherte sie sich so weit dem Abhang, wie ihre Vorsicht es zuließ und spähte hinab. Mit etwas Glück - und ihrer Erfahrung nach hatte er davon meist genug und mehr, als er brauchte - wäre er direkt in jenen See gestürzt. Das wäre gewiss nicht gerade schmerzlos gewesen, schon gar nicht für seine Schulter, aber so hätte er zumindest überlebt. Sie… sah nur nichts. Gar nichts. Keine Wellen im See, keine wankenden Baumwipfel, keine Umrisse am Boden, er… war einfach weg?

Rasch nur wurde ihr klar, dass sie irgendwie dort hinunter gelangen musste. Der Weg aber, der sicher wäre, war weit, sie würde kostbare Zeit verlieren, doch… sie war nicht Alistair. Sie besaß nicht sein Glück und verließ sich allzeit nur auf ihr Können - und das nicht grundlos. Auch diesmal war sie nicht gewillt, sich Zufällen oder dem Willen der Götter anzuvertrauen und wählte stattdessen den Pfad, den sie vor sich verantworten konnte.

 

„Was für eine Aussicht…“ nuschelte der Langfinger völlig desorientiert, als er langsam wieder zu sich kam. Die erste Reaktion war, dass er sich ebenso fahrig wie hastig mit dem Handrücken über den Mund wischte. Hatte er gesabbert? Nein, nicht wirklich… oder? Doch allein die Regung verzieh ihm sein Körper nicht recht. Sein Kopf schmerzte abrupt, sein Genick verspannte sich undankbar und dann war da noch die Schulter, die weiterhin-

Doch wo war er hier überhaupt? Über ihm sah er keinen Flecken Himmel. Nicht mehr als die ständig lückenlos ineinandergreifenden Kronen dieser skurril gewachsenen Bäume. War er nicht eigentlich einen Hang hinab gestürzt? Unsicher richtete er sich trotz des dröhnenden Schädels noch ein Stück auf, befühlte die kleine Platzwunde an seiner Stirn und sah sich genauer um. Dabei wurde selbst dem schmächtigen Nordmann mulmig zumute. Er saß. Er lehnte an einem Baum. Wenn er aber gestürzt war, aus großer Höhe obendrein… allein die Höhe hätte ihm beim Aufprall schon alle Knochen brechen müssen. Und niemand, niemand stürzte so glücklich, das er friedlich an einen Baum gelehnt in Ohnmacht fiel. Hatte ihn jemand gefangen? Bewegt, nachdem er abgestürzt war?

Erst nach und nach begann er sich auch des Grundes für seinen Fall zu entsinnen. Da hatte dieser alte Lumpenfischer hinter Ashes gestanden, gegrinst… ganz so, als wüsste er, was gleich geschehen würde. Nein, er wusste es. Ganz sicher! Und dieser Schemen unter den Fetzen seiner Kleider… „Ashes?!“ rief der Dieb, als er sich langsam auf die Füße richtete und seine Kleider abputzte. Dabei wollte er nicht einfach nur die Krumen der Erde und die vereinzelten Blätter und Kletten loswerden, sondern auch prüfen, ob ihm etwas gestohlen worden war oder er beim Sturz schlicht etwas verloren hätte. Doch alles, bis auf den letzten Draht, war noch genau dort, wo er es zurückgelassen hatte. Wie merkwürdig… ein paar seiner Taschen waren nun wirklich nicht so beschaffen, im freien Fall ihren Inhalt bei sich halten zu können. „Ashes?!“ rief der Lairuiner abermals, doch die Elbe antwortete noch immer nicht. Sein Blick fiel zweifelnd auf die Bäume um ihn herum. Ihre Rinde barg tiefe Furchen, aber ihre Äste begannen erst in höheren Regionen. Er war kein guter Fassadenkletterer gewesen, nie ein Meister Flöte, daher verlockte es ihn wenig, seine Künste im Erklimmen der Wipfel auszuprobieren. Lieber, so entschied er, würde er eine kleine Lichtung suchen und von dort aus hinauf starren. Irgendwo musste er ja die Klippe sehen können und dann wüsste er, wo er war und wo Ashes wäre und wie sie wieder zueinander finden könnten.

Durch seinen glorreichen wie schlichten Plan mit neuem Optimismus bestärkt, setzte der Langfinger ein gut gelauntes Lächeln auf und stakste davon durch das Unterholz und dichte Gras des Waldes. Eine ganze Weile marschierte er in ständig wechselndem Tempo, denn mal verfolgte er einen kleinen Schmetterling durch die Baumreihen, mal jagte er etwas, das für ihn wie ein Rehkitz aussah oder verfolgte ein Gürteltier bei seiner zweifellos beschwerlichen Wanderung. Immerhin musste es diesen ganzen Panzer mit sich herum schleppen! Als er schließlich eher ziellos denn wirklich fokussiert auf die Lichtung hinaus trat, die er zwar eigentlich gesucht, dann aber auch wieder aus den Augen verloren hatte, blickte er sich nur kurz im zurückliegenden Wald um, ehe er das Haupt in den Nacken legte. Nun - Himmel sah er. Aber die Bäume standen zu hoch, zu dicht und nah, um die Klippen zu sehen. Ohnehin hatte er ja nicht die leiseste Ahnung, welche Route er die ganze Zeit gelaufen war, wohin sein Weg ihn geführt hatte. Tatsächlich war hatten seine Füße mehrfach die Richtung gewechselt, ihn einmal im Kreis geführt und ein gutes Stück von seinem eigentlichen Weg abgebracht.

Nun trat er Schritt für Schritt rückwärts, die Bäume wurden dem Empfinden nach kleiner, überschaubarer und dann, ganz unvermittelt, tauchte die Felskante in der Ferne auf. Leider wurde ihm auch schmerzlich klar: Er wusste nicht mehr genau, von wo er gestürzt war. Der Hang war überwuchert, begrünt durch die Dekaden des Desinteresses an der Wiederherstellung der Straße. Es gab Vorsprünge hier und da, er hätte von jedem davon herabgepurzelt sein können. Von Ashes aber fehlte natürlich dennoch jede Spur. Wie närrisch war auch der Gedanke, ja fast schon die Hoffnung gewesen, er würde sie jetzt dort oben stehen, wenig amüsiert die Arme vor der Brust verschränken und ihn wortlosen Blickes über diese Entfernung heraufzitieren sehen. Stattdessen keine weißhaarige Elbe, nur Stein, Bäume und noch mehr Gestein. Als er sich dagegen umwandte, um ein wenig niedergeschlagen eine gute Sitzgelegenheit zu finden, auf der er seine weiteren Pläne würde schmieden können, erschrak er einen kurzen Moment.

Da lag jemand.

Einfach so.

„Äh… hm… Ma’am…? Lady?... Äh… Herrin?... Hallo?“ Recht zügig gingen ihm die Ansprachen aus - was gab es denn noch für Titel? Statt sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen, näherte er sich der Gestalt vorsichtig an. Dabei beschämte ihn durchaus ein wenig, dass sie völlig unbekleidet war. Obendrein schien es sich um einen Tiefling zu handeln. Ihr Schwanz zuckte manchmal - erst durch diese unvermittelte Bewegung im Gras hatte er ihn bemerken können. Womöglich wäre er sonst sogar noch darauf getreten. Ihre Hörner aber hatten sie verraten, die Schuppen und die mehr als magere Figur. Sie klammerte sich an einen verrottenden Baumstumpf, das Haupt gegen eine Stelle gedrückt, die mit Moos bewachsen war. Erst als Alistair nah genug herangetreten war, bemerkte er, das sie ihn schlecht würde hören können - sie schlief augenscheinlich. In ihren Träumen mochte sie den Baumstamm für sonstwas halten… oder für irgendwen - ihm war es gleich. Wichtiger war: Er hatte keine Ahnung, wo er sich hier befand, wie er von hier wegkommen könnte und wie er zurück zur Zivilisation und zu Ashes fände. Sie dagegen schien hier heimisch und könnte ihm möglicherweise helfen.

Insgeheim sah er schon vor seinem geistigen Auge, wie er sie antippte, sie ihn ansprang und während ihre Krallen seine Innereien nach außen verkehrten, stand Ashes kopfschüttelnd daneben, mit diesem ‚Das geschieht dir recht!‘-Blick. Immer wieder hatte sie bemängelt, er sei viel zu vertrauensselig. Zu aufgeschlossen für jemanden, der als Dieb tätig war. Dennoch machte er sein Handwerk gut, wahrlich sehr gut sogar. Vielleicht irrt sie sich ja auch einfach? Selbst Ashes würde ja wohl von Zeit zu Zeit mal Unrecht haben können…!

Beherzt trat er also näher, tippte die Schlafende an und flüsterte ihr leise zu. „Könntet ihr wohl bitte aufwachen? Ich… hm… hallo?“ Regung kam in den zierlichen Leib, sie blinzelte, gelbe Augen erforschten das Moos, welches einen kalten, nassen Abdruck auf ihrer Wange hinterlassen hatte, flirrten über das Gras, den verrotteten Baumstamm, den Wald, fixierten schließlich ihn. Mit einem Ruck aber… schien sich seine Vision zu erfüllen. Der Tiefling sprang ihn aus dem Liegen heraus mit einer unmenschlichen Agilität an, riss den völlig überrascht ausrufenden Langfinger zu Boden und wetzte bereits die Klingen, um sie in seine Kehle zu stoßen. Mit aller gebotenen Hast und Eile kramte er etwas Staub aus seinem Beutel hervor und pustete ihn schnellstmöglich der Aggressorin ins Gesicht. Ein kurzes Niesen folgte, ehe sie die Wolke bei Seite wedelte, ausholte… schwankte… und schließlich von ihm herab rutschte. Dabei war er selbst jetzt noch bemüht, sie nicht zu Schaden kommen zu lassen. Alistair konnte sich nicht vorstellen, dass sie mit seiner Landung zu tun hatte oder ihm wirklich Böses wollte. Er hatte sie beim Schlafen gestört, sie überrascht und vielleicht war ihr auch irgendwie peinlich, mit einem Baum geschlafen zu haben. Oder sie hatte noch nie Menschen gesehen? Immerhin war sie unbekleidet. Lebte sie möglicherweise fernab aller Zivilisation seit jeher hier im Wald? Das würde natürlich umso komplizierter machen, was er beabsichtigte.

Mit ein paar Ranken, die er von den Bäumen zog und vom Boden aufsammelte, fesselte er sie an den nächstbesten Baum und band ihr die Hände hinter dem Rücken zusammen. Dann kauerte er sich auf den Boden wenige Meter vor ihr und… wartete. Derweil trank er einen Schluck aus der kleinen Flasche, welche er und Ashes bei dem Brunnen aufgefüllt hatten. Vermutlich verfluchte sie inzwischen, ihm dieses Ding anvertraut zu haben. Ohnehin, die Sonne stand noch am Himmel - wie war das denn möglich? Es war doch schon später Abend gewesen, als er überhaupt erst hinab stürzte. Dann war er erwacht, Stunden gelaufen… hatte er etwa einen ganzen Tag dort gesessen? Die krampfenden Verspannungen in seinem Nacken schienen gewillt, das lautstark zu bejahen. Just aber, als er sich darüber so recht wundern wollte, kehrte endlich wieder Leben in die festgebundene Gestalt ein.

Fast augenblicklich gab es einen Ruck an den Ranken. „Nicht doch, bitte! Das ist ein wirklich guter Knoten. Verstehst du mich? Du kannst nicht-“ wollte er ihr erklären, doch ganz so nutzlos schienen ihre Bestrebungen gar nicht zu sein. Mit einem weiteren Ruck riss sich die dürre Gestalt plötzlich los. Er kam gerade noch schnell genug auf die Füße, da war sie schon direkt bei ihm, ihre krallenbewehrte Hand packte seine Kehle, drängte ihn hastige Schritte zurück gegen einen anderen Baum. „Der Knoten issst gut“, fauchte sie erbost, „Aber die Ranken kann man zerssschneiden!“ Als wolle sie ihre Worte untermauern, streckte sie den linken Arm aus und kratzte über die Rinde eines nahestehenden zweiten Baumes. Kleine Holzspäne lösten sich aus der aufgewetzten Rinde, sodass Alistair bei der Vorstellung, sie könne das auch mit seinem Hals machen, unweigerlich schlecht wurde. „I-Ich wollte doch nur wissen, w-wie ich zu einem Hafen komme?!“ krächzte er unter zunehmendem Luftmangel, je fester ihre Klauen sich um seine Kehle schlossen. Schließlich aber wurde der Druck konstant, statt sich weiter zu erhöhen. Ihre Augen verengten sich fast zu Schlitzen, die gelben Iriden bohrten sich durch ihn hindurch, ehe sie abermals die Linke ausstreckte und etwas in die Rinde schnitt. Nur bemüht konnte er das Haupt weit genug drehen, um es sehen zu können. Umso erstaunter war er bei diesem Anblick, zog fast ruckartig den Kopf zurück und gaffte sie wider aller Höflichkeit erstaunt an. „Die… Die Gilde…?“ Für Ximasxi schien das allein noch lange kein Grund, ihn freizugeben. Tatsächlich aber irrte sie sich wohl nicht - sie kannte diesen kleinen Dummkopf. „Alissstair, richtig?“ hakte sie ihrer Vermutung folgend nach. Als er sich um ein Nicken bemühte, lockerte sich ihr Griff etwas, gab ihn jedoch immer noch nicht völlig frei. „Wass machsst du hier? Warum versschleppsst du mich hierher?“

Nun war es an dem Langfinger, völlig verwirrt drein zu blicken. Immerhin, dessen erinnerte sich der Tiefling, hatte dieser Einfallspinsel sein Herz auf der Zunge getragen. Ob er es je gelernt hatte, wusste sie nicht, aber er konnte einfach nicht schauspielern. Die meisten Lügen konnte ihm jemand mit Erfahrung sofort an der Nase ablesen. Sie hatten damals in Sundergrad nur wenig miteinander zu tun gehabt. Er war irgendwie immer Aedans Freund gewesen und sie Aedans… Schützling? Ganz gleich, wie ihre Rolle ausgesehen haben mochte, sie hatten kaum Worte gewechselt. Hier und da hatte er von ihr gehört, sie von ihm, aber dabei blieb es auch. War es das also? Die Gilde konnte einfach nicht aufgeben und man hatte sie jagen lassen? Hatte man ausgerechnet ihn geschickt? Aber warum dann einen Dieb? Warum war sie nicht tot, hingerichtet von einem Assassinen? Vielleicht hatte er sie ja nie umbringen, sondern lediglich zurückbringen sollen. Wollte man ihr also daheim in aller Öffentlichkeit den Galgen schenken, den Prozess machen? Oder sie abermals zu rekrutieren versuchen? Er gaffte sie jedoch an, als hätte er von all ihren leise gezischelten Vorwürfen nie etwas gehört - und sie glaubte ihm sogar.

„Du hassst mich betäubt“, warf sie ihm schließlich vor und Alistair zuckte ungeachtet seiner Situation mit den Schultern und grinste, „Du hast mich angegriffen!“, erklärte er daraufhin konternd. Auf die Frage dagegen, was er hier machen würde, hatte sie eine kurze, knappe Antwort erwartet. Etwas Befriedigendes, Erklärendes oder zumindest Prägnantes. Aber es stimmte, was man über den Nordmann erzählte: Hatte er einmal begonnen, konnte er einfach partout nicht mehr den Mund halten. Sie ließ ihn schließlich los, als sie von einer gebuchten Reise nach Anadyr und dem Schiffbruch hörte. Insgeheim aber wünschte sie sich, sie hätte ihm die Kehle weiter zugedrückt. Mit genug Luft zum Atmen, aber zu wenig zum Reden - das wäre das Idealmaß gewesen. Vielleicht könnte sie aus ihren Fesseln eine Leine für ihn bauen, die genau das bewerkstelligen würde - ein kurzweilig sehr verlockender Gedanke.

Alistair langweilte sie mit dem immer ausführlicheren und detaillierten Bericht über die Bruchlandung am Strand, die Straße, die Brunnen, die verdammten Gürteltiere, dem Fischer, dem Absturz - es war fürchterlich. Wie konnte jemand so viel reden?! „Dummer Junge, nur am reden…“ fluchte sie leise in ihrer Muttersprache. Abrupt aber war der blasse Dieb still und sah sie verstimmt an. „Selber, du… du blödes Rindvieh!“ Von Fluchen und Kontern verstand der Langfinger ganz offensichtlich also auch nicht das Geringste und obgleich sie darüber schmunzeln musste, schockierte sie ebenso die Tatsache, dass er sie nicht nur verstanden hatte… nein, er hatte ihr sogar geantwortet. Offenkundig schlechter Aussprache, seine Zunge war für das Gezischel von Ihresgleichen einfach nicht geschaffen, aber… die Strukturen der Worte, die Intonation, alles war erkennbar geblieben. „Woher kannst du das?“ verlangte sie neuerlich verengten Blickes zu wissen und setzte die Krallen drohend wieder auf seine Brust.

„I-Ich… äh… in Lumiél, da gab es einen kleinen… also… Zwischenfall, am Höllenschlund, mit einigen Drow und ein paar Dämonen und… naja…“ Ahnend, dass er nun wieder die halbe Weltgeschichte auspacken würde, ließ sie neuerlich von ihm ab und wandte sich dem ihrer Schätzung nach höchsten Baum in der Nähe zu. Ungeachtet des Geplappers hinter sich schritt sie auf den Stamm zu, seufzte nur einen kurzen Augenblick gequält, als sich das Gequake nicht etwa entfernte, weil er stehen blieb, sondern kontinuierlich ein kleines Stück hinter ihr blieb. „Wo gehst du denn hin?“ hakte der Dieb ernüchtert nach, als seine vermeintliche Zuhörerin die Krallen in die Rinde schlug und flink wie ein Wiesel einfach den Baum heraufkletterte. „Ich kenne dieses Land nicht gut und diesen Wald gleich gar nicht. Ich muss wissen, wo wir sind, sonst kommen wir hier nie raus.“ Das… leuchtete durchaus ein, wie Alistair befand, aber einen kurzen Moment lang fühlte sich seine Männlichkeit angegriffen. „Und wenn ich nun eine Karte hätte?“ hielt er dagegen und erntete einen spöttischen Blick.

„Du kannst Karten nicht mal lesen! Und Schiffbrüchige haben keine Karten. Nicht von der Gegend, in der sie angespült werden. Außerdem würdest du dich sowieso alle drei Schritt verlaufen. Du hast dich sogar in Sundergrad verlaufen, nur weil wir unter der Erde waren!“ Verdattert gaffte der Nordmann in die Krone hinauf. Von Ximasxi war nichts mehr zu sehen, aber er hörte und sah das Geraschel noch. Wer war sie nur? Er erinnerte sich vage an einen Tiefling, damals in Sundergrad. Aedans Liebling, hatte es hier und da geheißen. „Ich hatte mich nicht verlaufen, ich… ich war auf Entdeckungsreise!“ wehrte er sich eher verzweifelt. Daraufhin drang ein fast schon mädchenhaftes Gekicher aus der wippenden Krone heraus, als ihr Schwanz sich einen ausgestreckten Zeigefinger ersetzend schwenkte und ihm damit wortlos bekunden sollte, das er nicht lügen dürfe. „Du hast nicht einmal erkannt, dass der Stein dort im Südviertel einen gelben Schwefeleinschlag hatte und im Norden grauer Granit war…!“ hörte er das noch immer kichernde Flüstern von oben. Fast schon bockig verschränkte er die Arme vor der Brust. Wie wenig es ihm jetzt noch gefiel, sich endlich zu erinnern, wer sie war. Sie hatte ihn damals schon damit aufgezogen. Seine Nase müsse vollkommen ruiniert sein, wenn er die befeuchteten Schwefelsteine nicht riechen konnte. Tatsächlich verfügte er einfach nicht über ihre Sinnesleistung, aber das hatte weder damals eine Rolle gespielt… noch tat es das heute.

Schließlich kam der Tiefling wieder aus der Krone herab und sprang aus beachtlicher Höhe vom Ast ab. Sie landete grazil und sicher keinen Meter von ihm entfernt auf ihren Klauen und richtete sich auf. „Ich muss zurück nach Hause, dringend. Auf dem Weg liegen zwei Dörfer und eine Stadt. Eine Hafenstadt. Wenn du mein Tempo mithalten kannst, dann darfst du mitkommen. Es sind ein paar Tage Marsch. Oh und, gib mir deine Weste.“ Die gute Nachricht wurde sogleich verdrängt. Hatte sich Alistair anfangs noch freuen können, das die Zivilisation offenbar gar nicht so weit fort war, grämte ihn ihre Forderung sogleich ein Stück mehr. „Nein! Wieso überhaupt?“ wehrte er ihr Verlangen ab und trat gar einen Schritt zurück. Ihre Miene jedoch wurde auf eine bedrohliche Art freundlicher, als sie den gewonnenen Abstand sogleich wieder schmelzen ließ. „Weil du mir schon zu oft auf die Brüste gegafft hast und ich sicher nicht einen einzigen Schritt in ein Dorf setzen werde, solange ich nackt bin!“ Oh nun, das… war ein Grund, ja. Dennoch schälte sich der Lairuiner nur ungern aus seiner Weste heraus, aber was wäre schon die Alternative gewesen? Entweder führte Ximasxi ihn dann endlos im Kreis… oder einfach gar nicht. Oder noch besser, sie schnitt ihm die Weste vom Leib und dabei möglicherweise noch gleich ein paar Schuhe aus seiner Haut heraus. Auf jede der Versionen konnte er getrost verzichten, weshalb er schließlich klein bei gab.

Als sie sich gemeinsam in Bewegung setzten, hielt sich Alistair ein Stück hinter ihr. Nicht ganz grundlos. Zum einen wollte er nicht fortwährend aus ihren miesen Launen heraus die Krallen an der Kehle spüren - bei Ashes war es nicht anders, aber deren Fingernägel konnten einem immerhin nicht die Kehle aufschlitzen. Zum anderen jedoch reichte seine Weste nur sehr, sehr notdürftig über ihr Gesäß und wenn er schon mit einer übellaunigen, ehemaligen Gildendiebin wie ihr durch den Wald staksten musste, dann tat er es lieber mit einer hübschen Aussicht. „Sag mal, wenn du ein eigenes Haus hast, warum schläfst du dann hier im Wald?“ hakte er nur wenige Minuten, nachdem sie sich Ruhe ausgebeten hatte, abermals nach. Der Hinweis, dass er seine Energie aufs Laufen konzentrieren und seinen Atem für den Marsch sparen solle, schien nicht sonderlich gut oder lange gefruchtet zu haben. „Es ist nicht mein Haus“, er widerte sie schroff und knapp angebunden. Davon aber ließ sich der Nordländer nicht abbringen. „Sagtest du nicht-“

„Ich sagte, ich muss nach Hause“, fiel sie ihm rüde ins Wort. Die Hoffnung aber, damit seine Neugier oder seinen Redefluss zerschlagen zu haben, schwankte - und kippte schneller um, als sie befürchtet hatte. „Und warum schläfst du im Wald?“ hakte er weiter nach und strapazierte damit gehörig ihr empfindliches Nervenkostüm. „Tat ich nicht. Ich schlief in meinem Bett ein und wachte im Wald auf!“ fauchte sie schließlich. Warum sonst hätte sie ihn denn anfahren sollen, was er sich erdreiste, sie zu entführen? Den Kopf schüttelnd musste sie jedoch einsehen, dass das Thema nicht beendet war. Das wäre es vermutlich nie, ging es nach Alistair. „Du schlafwandelst also?“

Er fand immer etwas zum Reden. Und wenn er das gesamte Gespräch alleine führen musste…!

„Wir sollten hier verschwinden, es wird bald dunkel“, erwiderte sie statt einer richtigen Antwort. Als er sich verhalten umsah und fragte, ob es hier denn Wölfe und Bären gäbe, wurde ihr Blick deutlich finsterer. „Schlimmer… Menschen.“

 

Fast zwei Tage brauchten sie, ehe sie das erste Dorf erreichten. Eine Aussparung im tiefen, dichten Wald hatte die Position verraten, von den Hütten selbst war bei ihrem Ausblick noch nicht viel zu sehen gewesen. Inzwischen lagen Ximasxis Nerven blank und sie hatte ihren Begleiter mehr als nur einmal angeschrien. Er wollte mit ihr darüber diskutieren, wo sie hier eigentlich waren, doch Fakt war: Sie wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen. Sie hatte sich nie für dieses Land, seinen Namen oder sein Volk interessiert. Menschen, überwiegend. Ein Flecken Erde war ihr so gut wie der andere. Er hatte mit ihr über die merkwürdige Vegetation sprechen wollen, doch sie kannte die Namen dieser Bäume nicht. Ihre Früchte waren essbar, etwas zäh und faserig, aber essbar. Über das Getier wollte er ebenso reden. Gürteltiere fand er wunderbar, wie es schien, darüber konnte er Stunden reden… und tat es auch. Als wäre jede verdammte Panzerplatte einer genauen, minutiösen Untersuchung und Besprechung wert. Selbst über die verdammten Farben wollte er sprechen! Ob sie nicht auch befand, dass die Blätter hier in matterem Grün gehalten wären als die Kronen der Heimat. Ihr Hinweis, Sundergrad sei nicht unbedingt  von Wäldern gesäumt gewesen, brachte ihn kurz ins Wanken - vermutlich aus der Überraschung heraus, dass sie sich überhaupt zu einem kurzen Einwurf hatte hinreißen lassen. Wie es schien, stachelte ihn das aber nur noch mehr an. Er redete weiter, mehr, schneller, viel… mehr. Die wenigen Stunden Schlaf waren dagegen die reinste Wohltat. Sie begaben sich zur Ruhe, Ximasxi tat so, als wäre sie längst eingeschlafen und wartete ab, bis er ebenso in seine Traumlande entfleucht war. Dann setzte sie sich auf und bevor auch sie einschlief… genoss sie für einige hingebungsvolle Augenblicke die schlichte Stille. Natürlich herrschte in einem Wald nie völlige Ruhe. Aber das Säuseln des Windes in den Blättern, Kleingetier, das unvorsichtig durchs Unterholz schlich, ein paar jagende Vögel hier und da, die Kulisse war so viel entspannender, beruhigender als das ständige Geplapper in ihrem Rücken…

Der Gedanke, ihn einfach liegen zu lassen und weiter zu gehen kam ihr mehr als einmal. Aber am Ende war Alistair noch immer ein Dieb der Gilde. Ihre Tage dort waren längst vorbei und doch… war die Gilde nicht völlig bedeutungslos geworden. Selbst nach all den Jahren nicht. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als man ihr den Auftrag erteilt hatte, Aedan zu töten. Sie hatte es nicht gekonnt und das wusste sie schon vor dem Versuch. Also hatte sie abgelehnt. Die erste wirkliche Weigerung. Dem Gildenmeister ging es prächtig, wie Alistair ihr versichert hatte. Er führte noch immer und der Rest folgte. Es gab wohl Abmachungen mit der Krone und Sundergrad gehörte noch immer zu einem Gutteil ihm. Das Leben war nicht unbedingt einfacher geworden, aber die Leute waren optimistischer. Oftmals vergnügter, besserer Laune und Zuversicht. Das allein, so unscheinbar die Veränderung wirkte, spülte sehr viel mehr Geld in die Taschen der Diebesgilde, als es früher der Fall gewesen war. Glückliche Leute spielten häufiger Karten, verzockten ihren Verdienst beim Würfeln, achteten weniger auf ihre Geldbörsen. Sie starrten zum Himmel auf, nicht auf ihren Gürtel herab. Sie lächelten Händlern zu, statt den davon flitzenden Kindern nachzubrüllen. Es waren Zeiten voller Möglichkeiten - solcher, die nicht länger aus Not und Verzweiflung heraus geschaffen wurden.

Ein wenig Nostalgie war aufgekommen, hatte ihre Lippen versiegelt - und die des Langfingers gelockert. Mehr noch als ohnehin. Doch zumindest war Sundergrad ein Thema gewesen, bei welchem sie immer mit halbem Ohr zugehört hatte. Ewig blieb er dabei natürlich nicht, auch Alistairs Berichte erschöpften sich irgendwann an einem gewissen Punkt - jenem, an welchem er einfach zum nächsten, mal mehr, mal weniger naheliegenden Thema übersprang.

Als sie gegen späten Abend die Ansammlung von Hütten erreichten, herrschte eine gewisse Stille zwischen ihnen. Ein paar Minuten war es her, da hatte sie ihn abermals angefaucht, er möge sich endlich beherrschen. Nun schlichen sie zwischen den Häusern entlang. Kleine Fachwerkshütten, die keine Ambitionen hatten, den Himmel berühren zu wollen. Sie blieben bodenständig flach, keines mit mehr als zwei Stockwerken. Eine Reihe von Häusern, Hütten, Scheunen, Lagern. Kein Wall, der sie vom umliegenden Wald abgrenzen würde. Vor einigen Jahrhunderten hatten Holzfäller einfach diesen Kreis ausgeschlagen, die Stümpfe abgebrannt und ihre Hütten darauf gebaut. Daraus war mit der Zeit das hier entstanden. Ein Dorf, welches völlig vom Wald lebte.

Obwohl die Sonne bereits tief stand und die Dämmerung im vollen Gange war, hätte Alistair… mehr erwartet. Vor allem: mehr Leben. Sie sahen die Lichter der Kerzen und Öllampen in den Fenstern, sahen die Leute hier und da sogar an eben diesen Fenstern stehen, wie sie Blicke hinaus warfen und die Neuankömmlinge regelrecht durchbohrend damit begleiteten. Alistair sah hier und da einen Fleischhammer oder ein Kräuterbeil in einer Hand, die grimmigen Mienen, die leeren Straßen… all das war kein gutes Zeichen, wie selbst er befand. „Was ist hier los? Was ist mit all den Leuten?“ flüsterte er leise in die inzwischen gespenstisch wirkende Stille des Dorfes hinein.

„Wir sollten nicht lange hier bleiben. Suchen wir uns ein abgelegenes Lager und verschanzen uns dort für die Nacht“, kündigte der Tiefling seinen Fragen ausweichend schlicht an. Sie taten, was Ximasxi verlangt hatte, kletterten einige Stiegen der Leiter herauf und tummelten sich zwischen muffigen alten Decken und Tüchern, die offenbar als Reserve für irgendetwas auf dem Heuspeicher einer Scheune abgelegt worden waren. Heu gab es hier im Wald natürlich keines - vielleicht sollte hier Vieh untergebracht sein, doch die gesamte Scheune wirkte eher alt, leer… baufällig und verlassen. Erst, als sie bereits eine gute Weile zur Ruhe gefunden hatten und kurz vor dem Einschlafen standen, wagte Alistair leise erneut zu fragen, was hier vor sich ginge.

„Bürgerkrieg“, erwiderte sie knapp wie eh und je, „Sie belauern einander. Keiner weiß, wer auf wessen Seite steht.“ Der Gedanke, hier mitten zwischen die Fronten geraten zu sein und sich nun einfach zum Schlaf zu betten wollte Alistair nicht recht gefallen - doch was blieb schon als Alternative? Unsicher senkte er das Haupt, dankte kurz für die Aufklärung und versuchte über eine Stunde hinweg vergeblich einzuschlafen. Erst nach zähem Ringen mit sich selbst gelang ihm dies und selbst dann dauerte seine Ruhe nur ein paar wenige Stunden an.

Sie wurde jäh unterbrochen, als sein Verstand begriff, dass diese Geräusche nicht etwa Teil seiner Träume waren, sondern die Begleiterscheinung tatsächlicher Kämpfe sein mussten. Er schreckte hastig auf, blickte sich um und wollte eigentlich seine Reisebegleitung wecken, die… fort war. Hatte man sie geschnappt? Entführt? Wollte man sie vielleicht gerade draußen feierlich hinrichten? Er hatte schon hin und wieder davon gehört, wie einfache Leute glaubten, Dämonen mit einer guten alten Verbrennung austreiben zu können. Dass sie dabei nur mehr austrieben als nur das Dämonenblut, nämlich gleich sämtliches Leben, das spielte wohl oftmals einfach keine entscheidende Rolle. Angetrieben von der Sorge hastete er schnellstmöglich die Stufen der Leiter wieder herab, doch kaum den Fuß auf den Boden gesetzt, schwang die Tür, die neben dem Scheunentor eingelassen war, brachial auf und donnerte gegen die Wand daneben. „Wir müssen sofort weg!“ fuhr die einstige Diebin den Nordmann an und eilte herbei. Sie waren also aufeinander losgegangen. Irgendwer hatte den ersten Stein geworfen… ein Messer, eine Beleidigung, was immer der Auslöser gewesen sein musste. Dort draußen, auf den Straßen des Dorfes, tobte ein blutiges Gemetzel von Handwerkern und Dachdeckern, Schmieden und Jägern, Förstern und Maurern, die mit allem, was ihnen in ihrem Haushalt in die Hände fiel und tödlich genug erschien, aufeinander losgingen. Vermutlich und dem Geschrei nach zu urteilen waren selbst ihre Weiber daran nicht unbeteiligt. Sich hier zu verschanzen war der Plan gewesen und vielleicht hätte das auch funktionieren können - doch Ximasxi war draußen gewesen.

Weshalb, das würde er sie irgendwann fragen müssen, gewiss. Für den Augenblick aber sollten sie ihre Sachen packen und gehen - ihr gehetzter Ausdruck verriet, dass jemand sie gesehen hatte, möglicherweise sogar, wohin sie gerannt war. „Oben ist eine Luke“, erklärte der Langfinger hastig, der bei der Inspektion der Scheune als Lager auch keineswegs untätig gewesen war, sondern sich selbst einen Überblick über die Fluchtwege verschafft hatte - eine alte, aber nützliche Gewohnheit als Dieb und Freund einer Söldnerin, die ständig Ärger aufbrachte.

Hinter der Scheune war altes Laub von vielen Jahrgängen, wie es schien, zu einem großen Komposthaufen aufgeschichtet worden. Dor verrottete es, von allerlei Getier durchwuchert und zerfressen und wurde allmählich zu guter Erde verwandelt. Keine angenehme Vorstellung sicherlich, aber immerhin müsste ihr Fall weich werden. „Schnell, wir sollten-“ Weiter brachte der schmächtige Langfinger es nicht, da bemerkte er die leise schleichende Gestalt am Eingang der Scheune, die sich unbemerkt hineingestohlen hatte. „Sie sind hier!“ kreischte der Eindringling aus voller Kehle, ehe er ein Hackebeil hob und auf sie zustürmte. Alistair, der bereits zur Leiter zurückgekehrt war, kam nicht schnell genug nah genug heran. Den Gildendolch bereits in der Rechten und Schattenschnitt, den geschenkten Drowdolch aus Morneth Belegor in der Linken, eilte er voran - kam jedoch zu spät. Ximasxi selbst konnte nicht mehr… als sich seitlich zu drehen. Die Klinge zog einen unschönen Riss durch ihre Flanke, warf sie zu Boden. Bevor ihr Angreifer aber nachsetzen konnte, bohrten sich die Dolche des schmächtigen Langfingers in seinen Bauch. Mit einem Ruck riss er die nah beisammen ins Fleisch getriebenen Klingen nach außen weg und schlitzte den Feind damit regelrecht auf. So rasch und behutsam wie Alistair möglich war, bugsierte er Ximasxi die Sprossen der Leiter hinauf, zurück auf den oberen Boden. Dort ließ sie sich ächzend in die Tücher fallen und presste noch immer die Wunde mit der Hand ab. „Lass sehen!“ verlangte der Nordmann lediglich und schob ihre Hand davon.

Er hatte die Wunde befühlen wollen und tat das auch, doch als sie sich unglücklich drehte, ob vor Schmerz, Scham oder aus welchen Motiven auch immer, da bemerkte er etwas ganz Erstaunliches. Nicht etwa unter seiner rechten Hand, die auf ihrer Wunde auflag… sondern unter seiner Linken. Als sie bemerkte, was er erkannt hatte, starrten sie einander einen gedehnten Augenblick an. Eine Verhärtung in ihrem Magen, ihrem… Unterleib. Die Form aber war zu eindeutig und ihr ganzer Körper zu dürr, um diese Tatsache zu verbergen. „Los mach schon!“ fuhr sie ihn zischelnd an. Bemüht kramte er wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrend die Verbände heraus und begann diese großzügig um ihre Verletzung zu legen. „Ich dachte, du hast sie nicht alle… die Weste ist derb… nur ein kleiner Schnitt am Bauch, aber du reckst ihm die offene Niere hin…!“ faselte er dabei, während er den Verband befestigte. „Danke für dein Vertrauen!“ fauchte die einstige Diebin erbost, „Lass uns verschwinden!“ Sie erhob sich unter sichtlichen Mühen, die Schmerzen zu verbergen - erfolglos. „Denkst du, du kannst das? In… In… damit?“ hakte er nach und deutete auf sie. So ganz war nicht klar, ob er tatsächlich auf ihre Verletzung deutete oder… etwas anderes. Beides aber strafte sie mit einem garstigen Keifen, einem Fluch in ihrer Muttersprache, ehe sie das Fenster öffnete und ohne auf ihn zu warten in die Nacht sprang.

Kurzentschlossen folgte Alistair ihr und half dem Tiefling daraufhin, sich aus dem Gewühl an Moder und Rottung wieder zu befreien. „Warum haben wir uns eigentlich nicht vorne rausgeschlichen? Die Scheune lag ein Stück abseits, nicht? Wir waren beide mal fähige Diebe, also… ich bin es immer noch!“ hakte er kurz nach, ehe er im Brustton der Überzeugung mögliche Missverständnisse aufklärte, „Wo warst du überhaupt?“ Insgeheim war ihr völlig klar, das sich nun nahtlos fortsetzen würde, was all die Stunden über geschehen war. Sie gab ein Wort von sich und er, er spann eine ganze Geschichte daraus. Dennoch befand sie, war die Erklärung nötig.

„Ich wollte mir einen Überblick verschaffen. Wohin, wie weit… das nächste Dorf. Dann kam eine Soldatin, sie sprach mit einem der Bewohner… und schlug ihm die Nase in Stücke, als er die Stimme hob. Sie hat sich durch das halbe Dorf gemäht und stand praktisch schon fast vor den Scheunentoren, als ein ganzer Pulk sie beschäftigt hielt.“ Staunend lauschte Alistair den Berichten über die Geschehnisse. Offenbar waren es also nicht die Dörfler gewesen, die in Bürgerkriegszeiten und Ungewissheit auf den Auslöser gewartet hatten, um aufeinander loszugehen… sondern eine Soldatin war der Grund. Was war das nur für eine Obrigkeit, die einzelne Soldaten losschickte, um unschuldige Dörfler irgendwo in einem tiefen Wald aufzumischen? Doch eines musste er dieser Soldatin lassen: Sie besaß Schneid und Selbstbewusstsein, sich mit einem ganzen Dorf anzulegen…!

Kurz nur glaubte er etwas zu ahnen… doch der Eindruck verflog rasch und ganz wie von Ximasxi befürchtet, begann der Langfinger daraufhin wieder zu plappern. Anfangs noch leise, weil sie dem Dorf nahe waren, dann jedoch mit steigender Entfernung wieder unbekümmerter. Was wünschte sie sich, sie hätte ihrem Drang nachgegeben und ihn einfach in der Scheune zurückgelassen! Stattdessen standen ihnen nun weitere vier Tage Marsch zum nächsten Walddorf bevor. Vier Tage Geplapper über Grüntöne, Gürteltierschalen und Steinformationen… kannte die Welt nur keine Gnade?!

„Das… ist ein Ei, nicht? Oder? Das ist ein Ei, da… äh… in dir. Du… du legst doch Eier, oder?“ hörte sie ihn hinter sich plappern. Seufzend lenkte sie ein Stück weit ein. „Es ist mein Ei“, erklärte sie garstig zurückfauchend. „Dann… bist du schwanger, irgendwie, nicht?“ Ein verächtliches Stöhnen kam als Antwort, ehe sie ihm leise an den Kopf warf, dass sie nicht irgendwie schwanger war, sie war es. So einfach.  Natürlich gab er damit keine Ruhe. Er wollte mehr wissen. Ob der Vater davon wüsste, woraufhin sie schließlich zurückgab, dass jenes Haus, zu dem sie zurückkehren müsste, ja irgendwem gehören würde, nicht wahr? Das leuchtete ihm ein, veranlasste ihn aber zu noch einer ganzen Reihe weiterer Fragen.

Wie sich zeigte, war Alistairs Neugier nicht nur unermesslich groß… sie kannte auch vollkommen schamlos keinerlei Grenzen. Eigentlich hatte sie ihn als ein Männchen in Erinnerung, das sich kaum traute, in der Nähe eines Weibes hörbar zu atmen. Diese Scheu aber hatte sich sehr zu ihrem Leidwesen fast völlig verloren, wie es schien. Auf diese Weise lernte jeder etwas dazu. Alistair, dessen Fragen die einstige Diebin schlicht überraschten, lernte, das auch Tieflinge ganz gewöhnlich den Akt vollziehen konnten und vor allem, dass das kleine Geschöpf, welches in ihr wuchs, nicht ihr erstes Kind werden würde. Daheim schien noch ein Nachwuchs bereits zu warten. Sie wollte den Namen nicht verraten, weder das Alter noch den Vater benennen, nicht ein Wort mehr als nötig gab sie preis, als sie erst einmal befand, genug über ihre Privatsachen verloren zu haben.

Ximasxi dagegen musste schmerzlich lernen, das Alistair offenkundig dazu neigen konnte, jemanden zu bemuttern. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber plötzlich verhielt er sich nicht mehr, als habe er es mit einer versierten ehemaligen Diebin zu tun, sondern mit einer zurückgebliebenen Invaliden, die auf jede nur erdenkliche Weise Hilfe benötigte. Etwas, das ihre Nerven sogar noch ein ganzes Stück mehr strapazierte als die Tage zuvor, in denen er wenigstens nur und ausschließlich geplappert hatte, statt ihr zusätzlich auch noch jeden einzelnen Handgriff abnehmen zu wollen.

Oh was konnten das für wunderbare vier Tage werden…!

 

Wie die Dinge meist liefen, hatte das Leben einen ganz eigenen, unerträglichen Sinn für Komödie, was in Ximasxis Fall bedeutete, dass sie sich beim Sprung in den Laubberg eine hässliche kleine Infektion eingefangen hatte. In den Tagen darauf brütete sie allmählich über deren Folgen, sah sich zunehmen geschwächt von ihrem Körper, der mit den wenigen Mitteln, die er hatte, gegen die Eindringlinge ankämpfte. Überraschenderweise war es Alistair, der daraufhin die Initiative ergriff. Natürlich bemutterte er sie weiterhin bestmöglich, wie hätte es anders sein können, doch diesmal… war sie durchaus gewillt, sich darauf einzulassen. Er bemühte sich, Früchte von den Bäumen zu holen, obgleich er nicht wie sie so exzellent und grazil an der Rinde heraufklettern konnte. Er sammelte Wasser zusammen und versorgte sie, während sie sich täglich immer kürzere, kleinere Strecken voran schleppten. Aus vier Tagen wurden sieben - und er redete. Jeden einzelnen Tag schien er sie mit seinem unablässigen Geplapper bei gleichbleibend schlechter Laune halten zu wollen. Dabei erzählte er nicht nur, wie er es vollbracht hatte, die Bäume hinauf zu kommen - seine zwei Dolche als Kletterhilfen missbrauchend -, sondern auch, wie er in Lairuinen aufgewachsen war. Dinge, die sie nie hören wollte, die sie auch weiterhin nicht interessierten und nach denen sie nie gefragt hatte. Vollkommen unaufgefordert tischte er ihr seine Lieblingsgeschichte auf: Die über eine Hasenfalle.

Lairuiner Volk hatte groß wie ein Bär zu sein, stark wie ein Bär und laut wie ein Bär, hungrig wie ein Bär. Was sie von Bären unterschied? Nun, sie tranken weit mehr Alkohol und trugen die Felle nicht am ganzen Leib. Alistair aber hatte in einer kurzen Jugendphase kein Hasenfleisch essen wollen, weil er die Tiere lebendig gesehen und für viel zu niedlich befunden hatte. Schon bei diesem Teil der Geschichte durfte er sich einiges an Spott seitens der einstigen Gildendiebin gefallen lassen, doch er schluckte ihren Hohn schlicht herab und erzählte weiter. Er hatte sich also in den Kopf gesetzt, einen Hasen haben zu wollen - als Haustier. Also konstruierte er nach langen Tagen des Beobachtens, Lauerns und Durchdenkens eine kleine Falle. Der Grundgedanke war so simpel wie genial  - das musste nach einer anschaulichen Erläuterung sogar der Tiefling eingestehen, wenngleich sie das natürlich nie laut aussprach. Er installierte seine kleine Apparatur im Wald… und wartete zu lange ab.

Die von ihm aufgebaute Falle funktionierte. Leider sogar sehr viel besser, als er sich das hatte vorstellen können. Sie fing den Schneehasen und die schiere Kraft des Mechanismus brachte ihn um. Der Blutgeruch lockte einen Wolf an und die Falle fing und tötete den Wolf. Ein paar Tage darauf lockte der Verwesungsgeruch einen Bären an - und die Falle, wie hätte es anders sein können, fing einen Bären. Immerhin: Der Bär überlebte dank seiner dicken Fettschicht die Falle selbst, entkam aber aus eigener Kraft nicht mehr. Im Dorf hatte man ihn, trotz all des Erfolges, ausgelacht. Ein Schneehasenjäger, der sich eine Mahlzeit als Haustier wünschte. Das allein war schon lächerlich genug gewesen. Aber wenn dieser Dummkopf sich dann auch noch darin versuchte, etwas Kleines zu fangen und seine Falle völlig darin versagte, nun - was sollte das dann erst sein?

Dass er sie hinters Licht geführt hatte, bemerkte die Schwangere erst, als sie frustriert feststellen musste, sich auf eine Diskussion mit Alistair über seine Landsleute und das Wesen der Menschen eingelassen zu haben. Immerhin jedoch gelang es ihm hin und wieder, ein paar weitere Brocken zu unterschiedlichsten Themen aus ihr heraus zu kitzeln. Dabei begann sie allmählich zu ahnen, dass manche seiner Äußerungen einfach nur provozieren sollten und weder seinen Überzeugungen entsprachen, noch wirklich einen Teil des Gespräches oder gar den Beginn eines Neuen darstellen sollten. Warum aber er sie reizte, war ihr schleierhaft - weil ihr einfach nicht in den Sinn kam, das sie möglicherweise für ihre Verhältnisse so blass geworden war, dass der schmächtige Langfinger befürchtete, sie würde irgendwann einfach einbrechen und nicht wieder aufwachen.

Immerhin gelang es ihnen gemeinsam auf diese Weise mit seinen teils lustig anzuschauenden Bemühungen um Versorgung und ihrem Orientierungssinn, das nächste Dorf zu erreichen. Abermals handelte es sich um eine Ansammlung von Häusern mitten im Wald, doch das Bild hatte sich dennoch spürbar verändert. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, das sie zur Mittagszeit hier ankamen und nicht erst in der Nacht. Doch alles in allem wirkte diese Siedlung weniger verschlossen. Freundlicher, heller. Die Häuser bestanden überwiegend aus Stein, die Straßen waren mit hellem Pflaster belegt, hier und da gab es einen hübsch anzuschauenden Garten. Sie schlenderten zwischen den Häusern umher, auf der Suche nach einem Heiler, einer Apotheke, vielleicht auch einfach einem Pferdegespann, welches sie ein gutes Stück in die richtige Richtung mitnehmen könnte. Längst hatte Alistair begriffen, woher Ximasxis Drängen und Drängeln rührte. Die Ablage ihres Eies stand bevor und die Brut wurde notwendig, sie wollte das in vertrauter, sicherer Umgebung tun und vor allem… in der Nähe des Vaters.

Bevor sich ihnen jedoch die Gelegenheit bot, ihre Wunde versorgen zu lassen, wie sich das gehört hätte oder ein Transportmittel zu finden, erlitt der Tiefling einen weiteren Schwächeanfall. Sie brachhalb zusammen und wäre wohl zu Boden gestürzt, hätte Alistair sie nicht abgefangen und gestützt. In den letzten Tagen war das häufiger geschehen, zunehmend - und es bereitete ihm arges Kopfzerbrechen. Statt aber nach ihrem Wohl zu fragen, was sie die letzte Zeit immer mehr und mehr gereizt und zornig hatte reagieren lassen, setzte er ungeniert sein Geplapper fort - und hängte einfach eine provokante Herausforderung an.

„… du bist eben schon einfach zu lange raus und außerdem hast du ja ein Kind bekommen, nicht? Du bist eine Mutter. Mütter können nicht stehlen. Du bist eine miserable Diebin, warst vielleicht mal gut, aber das ist vorbei. Schon lange vorbei. Wetten, dass du nicht mal einen Apfel dort im Laden stehlen kannst? Oder mich davon abhalten könntest?“ Wütend funkelte sie zu ihm herauf, lupfte eine Braue und akzeptierte schließlich die Herausforderung. Sie schob den schmächtigen Langfinger von sich, richtete sich auf und trat aller Blicke ungeachtet von ihm gefolgt in den kleinen Krämerladen ein, der einige Schritt entfernt mit dem Versprechen bester Qualität seine Waren anpries. Kaum durch die verglaste Tür eingetreten, knarrten hier und da ein paar Dielenbretter verräterisch. Leises, unauffälliges herumschleichen war damit fast unmöglich. Der Händler aber verließ seinen der Straße zugewandten, offenen Ladenteil. Natürlich behielt er die Auslagen weiterhin im Auge, er wollte ja nicht riskieren, dass einfach jemand vorbei schlich und seine vermeintliche Unachtsamkeit ausnutzte. Zugleich aber wollte er sich ganz und gar der eingetretenen Kundschaft widmen, die dem suchenden Blick nach offenbar mehr wünschte als nur eine Kleinigkeit zum Mitnehmen auf die Hand.

Während Alistair freundlich lächelnd sogleich begann, eine ganze Weltgeschichte auszubreiten und den Krämer schlicht halb tot zu schwatzen, bemühte sich Ximasxi um etwas mehr Professionalität, bemerkte jedoch schnell, wie effektiv sich alles gestaltete. Alistairs Geplapper nervte nicht nur sie, es nervte schier jeden - den Händler eingeschlossen. Es ließ ihn geradezu pestilent wirken, obendrein aber auch ungefährlich. Das Augenmerk des Verkäufers lag fast ununterbrochen auf ihr, sie spürte diesen Blick in ihrem Nacken, während sie seine Waren auch nur ansah, während ihr Begleiter vermutlich längst seine Arbeit getan hatte. Es ließ sie innerlich brodeln, diesem Hund seinen Sieg zugestehen zu müssen, nur weil er einfach ständig und überall reden musste, doch… die Effektivität ließ sich nicht bestreiten. Er war ein dürres kleines Menschlein und sie nunmal das Dämonenscheusal. Ihresgleichen war ein fremder, gruseliger Anblick, egal, wohin sie kam. Die Blicke folgten. Daran änderte sich nie etwas.

Als sie den Laden wieder verließen, streckte sich der Langfinger an ihrer Seite herzhaft, zog einen Apfel aus der Weste und biss hinein. „Ein wundervoller Tag, nicht?“ griente er breit daher, zog noch einen zweiten Apfel hervor und reichte ihn ihr herüber, „Gesund und lecker!“ verkündete er stolz - zumindest bis zu dem Augenblick, als eine regelmäßiges Scheppern und Klacken ihn ablenkte. Oh er kannte dieses Geräusch, er würde es immer und überall erkennen. Rüstungen mochten sich ändern, das Wappen war von Land zu Land ein anderes - aber wenn eine Kolonne Wächter aufmarschierte, dann klang das Fußgetrappel gepanzerter Stiefel doch immer ähnlich. Tatsächlich trat eine unscheinbare Gestalt von einem Schuster auf der anderen Straßenseite zu ihnen heran, während eine Doppelreihe von je sieben Mann vor ihnen Halt machte. Auf das gerufene „Aaachtung!“ hin wandten sie sich zu ihnen beiden um - und plötzlich senkten sich versetzt vierzehn Piken herab.

Auf den ersten Moment hin erschreckte sich der blass gewordene Dieb fürchterlich, verschluckte sich gar an dem Apfel und hustete bemüht kontrolliert, ehe ihm klar wurde, das sämtliche vierzehn Piken ausschließlich auf ihn gerichtet waren - nicht eine auf Ximasxi. „Stimmt… ein wundervoller Tag“, pflichtete sie ihm mit hörbarer Erleichterung in der Stimme bei. Sie nahm dem ungläubig drein schauenden Alistair seinen Apfel aus der Hand, biss selbst herzhaft hinein und trat über - auf deren Seite. Jener unscheinbare Kerl, der sich von der anderen Straßenseite genähert hatte, entpuppte sich als Kommandant der kleinen Truppe… und offenbar als Bekannter der einstigen Diebin.  „Er hat mich nicht entführt“, erklärte die Gehörnte seufzend, „Auch wenn ich wünschte, er hätte“, schob sie deutlich leiser nach. Der Befehlshaber dagegen nahm den von ihr gereichten Apfel entgegen, blickte skeptisch auf das Stück Obst herab, zurück in die blasse, aber erfreute Miene des Tieflings und schließlich auf seine Männer und diese halbe Portion dort vor dem Laden. „Sicher? Unsere Befehle sind eindeutig!“

Oh das wusste sie, sie wusste es nur zu gut. Würde sie nun sagen, Alistair sei ihr Entführer, man würde ihn auf der Stelle aufspießen. Es wäre eine Wohltat gewesen und ihre Ohren, sie klagten und heulten um Vergeltung, doch… er hatte sie mit Wasser und Nahrung versorgt. Er hatte sie mit seinem Geplapper wütend gemacht, ihr damit Kraft gegeben, wann immer sie schwächelte. Stellenweise hatte er sie sogar getragen. Und in einer der Nächte hatte er einen frechen Wolf, einen einzelnen Streuner, fern gehalten, ohne am Morgen auch nur ein Wort davon zu erwähnen. „Sicher“, gab sie daher lediglich zu bemerken. Der Kommandant stieß einen Pfiff aus, vier der Männer traten ab und nur wenig später - niemand schien daran zu denken, Alistair irgendwas zu erklären oder auch nur, die Waffen von ihm zu nehmen - rollte eine geräumige Kutsche an. Ein überbordetes Luxusmodell, staffiert und gepolstert, mit purpurnen Vorhängen vor den verglasten Fenstern und allerlei Zierde und Tand. Der Miene der Schwangeren nach war sie von diesem Anblick ebenso ‚angetan‘ wie Alistair - obwohl der immerhin noch den Verkaufswert des Materials sehen konnte.

Schließlich wurden die Piken gehoben und zwei Männer packten zu. Der Kommandant erklärte, er würde mit seinen Männern folgen, während Alistair zur Kutsche bugsiert wurde. Der Truppführer half Ximasxi die Trittstufen hinauf ins Innere, ehe man den schmächtigen Nordmann fast am Hosenbund gepackt und wie Fracht hinterhergeworfen hätte. Während sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung die Bank für sich hatte, wurde er von beiden Gerüsteten flankiert und auf der anderen Seite regelrecht eingequetscht. Gerade noch einen Blick konnte er aus dem Fenster erhaschen und-

Ashes?

Die Kutsche setzte sich bereits polternd und rumpelnd in Bewegung, eilte unter dem Zug von sechs kräftigen Gäulen davon, während der Nordmann nur für den kurzen, flüchtigen Augenblick eine silberhaarige Gestalt sehen konnte, die wie ein Berserker in die Gruppe der Pikenträger hinein sprang. Aber war das wirklich sie gewesen? „Wir müssen anhalten!“ forderte der Dieb, doch kaum versuchte er sich vorwärts zu bewegen, packte ihn einer der Panzerhandschuhe einer Wächter und verwies ihn rasch auf seinen Platz: Still und brav auf der Bank sitzend. Selbst, als er erklärte, warum er unbedingt halten wollte, interessierte das niemanden hier. Auch Ximasxi nicht. Ganz im Gegenteil, sie legte ihm ein letztes Mal nahe, endlich still zu sein.

Ein paar wenige Stunden fuhren sie mit dem rasant durch die Landschaft jagenden Gespann, ehe das Tempo allmählich reduziert wurde und Alistair mehr sehen konnte als nur die hastig vorbeirauschende Landschaft. Er neigte sich jeweils zu jeder Seite herüber, schien die Wächter damit sichtlich in Bedrängnis zu bringen, während er versuchte, einen guten Blick zu bekommen. Was er sah, ließ ihn die wahre Pracht nur erahnen - bis man ihn schließlich aufforderte, auszusteigen. Sich seiner Rolle als Gefangener noch nicht wirklich bewusst, trat er die Stiegen der Kutschenstufen herab und drehte sich mit einem Strahlen im Gesicht im Kreis, all den Prunk regelrecht aufsaugend. Die Kutsche hatte ein hohes Gitter passiert, welches in seiner robusten Beschaffenheit und mit den hoch aufragenden Spitzen Eindringlinge besser fern hielt als jede simple Backsteinmauer es je vermocht hätte. Eine gewaltige, sehr gut gepflegte Gartenanlage wurde davon eingeschlossen. Zahlreiche Springbrunnen waren eingelassen worden. Manchmal spie ein Fisch das Wasser aus, manchmal mehrere Jungfrauen, die ihre Krüge ausschütteten. Die Künstler hatten sich hier ganz offenkundig verausgabt. Selbst mancher Baum und ein Großteil der Hecken war in spezielle Formen geschnitten worden. In einer der Figuren erkannte er sogar Ximasxi selbst, überall plätscherte es, blühten die gut sortierten Felder an farbigem Gewächs, der Duft strömte ihm in die Nase und bei jedem Schritt, den man ihn voran drängte, knirschte feiner, weißer Kies unter seinen Sohlen.

Das ist dein Haus?!“ brachte der staunende Dieb hervor und noch während er überlegte, was es wohl alles für Schätze und Wertsachen in dieser opulenten Residenz zu holen gäbe, fuhr ihn die Schwangere abermals an. „Nicht meines“, stellte sie letztmalig klar. Schon als sie auf den unteren Stufen zur Haustür angelangt waren, wurde diese geöffnet. Scheinbar hatte das Dienstpersonal sie schon von Weitem gesehen. Eilig kam man herbei, besah sich den verdreckten Verband, die entzündete Wunde und ließ sofort das halbe Haus aufmarschieren, um sie in Sicherheit zu bringen, sie aus diesen Lumpen herauszuschälen. „Bitte darauf aufpassen, da, d-da sind wichtige Sachen in den Taschen! Sie… hallo?... Nicht jede Tasche ist sichtbar!“ rief Alistair noch bemüht ins Haus nach, als man längst mit seiner Weste verschwunden war. Ximasxi verschwand kurz darauf ebenso, umringt und kaum noch sichtbar in ihrem Kreis aus Mägden und Knechten. Ihn dagegen schaffte man der letzten Anweisung der Hausherrin folgend in eine Art Salon und setzte ihn dort ab. Auf dem Weg allein hatte er sich schon ausgemalt, wie er hier irgendwann einmal einbrechen würde und was sich dann alles stehlen ließe. Bei dieser Pracht wäre es wohl sogar einiges wert gewesen, Hammer und Meißel mitzubringen und den Stuck in kleinen Steinplatten von der Decke zu kratzen. Die Gemälde an der Decke würde er natürlich nicht so leicht abbekommen. Überhaupt - wie hatten die Künstler sie da nur hinbekommen? Szenerien des himmlischen Friedens, so schien es, die ganze Säle und Räume einnahmen. Die Wände behangen mit zweifellos wertvollen Teppichen, die Böden mit fast royalen Läufern ausgelegt, hier und da kleine Büsten und Vitrinen, in denen Kostbarkeiten wie seltene oder alte Waffen und Rüstungsteile weggeschlossen waren. Natürlich kein einziges Schloss, welches ihn hätte aufhalten können. Und der Salon, in welchen man ihn brachte? Keine Wand ohne Bücherregal und schon beim Überfliegen der Titel, als er die Wände abschritt, kaum dass die Wachen sich zurückgezogen hatten, da wurde ihm der wahre Schatz in diesem Haus offenbar. Manche dieser Werke waren seit Jahren verboten, galten als verschollen, zerstört, waren schier ein Vermögen wert. Allein der Inhalt dieses Raumes war vermutlich mehr wert als das Grundstück, das Haus darauf und jeder Mitarbeiter darin! Der Gedanke, einfach eines der Bücher einzustecken, war… verlockend.

Erst ein paar wenige Stunden darauf brachte man ihn fort, offenbar in einen anderen Flügel der Villa. Dort postierten sich die zwei Wachen, die ihn abgeholt hatten direkt zu beiden Seiten der Tür, während er selbst eintrat und Ximasxi vorfand. Sie ruhte in einem Bett, offenbar bestens versorgt und mit sauberen, guten Verbänden am Leib. Nunmehr trug sie auch nicht länger seine verwaschene alte Weste, nein, sie zeigte sich als feine Dame in einem edlen Nachthemd - ganz vornehm und sittlich, niemand hätte ihr jetzt noch ihre Herkunft als dreckiges kleinen Scheusal aus der Gosse Samaras oder gar Sundergrads unterstellen können, ohne sich dabei selbst schlecht zu fühlen. „Oh… mein… Gott…“ flüsterte der Langfinger, während er staunend und behutsam näher trat, „Ist er das…?“ flüsterte er leise, doch Ximasxi schüttelte lediglich den Kopf. „Sie“, korrigierte der Tiefling und lächelte sogar ein wenig, als der Dieb vorsichtig an die kleine Krippe heran trat. Darin strampelte und zappelte ein kleines Bündel Leben, wache, helle Augen in einem matten Gelbbraun strahlten ihm entgegen. Kleine Erhebungen an der Stirn kennzeichneten, wo in einigen Jahren vorsichtig Miniaturhörnchen durchbrechen würden. Die Finger waren schlank und liefen spitzer zu als üblich, ein kleiner Schwanz hatte sich um das linke Bein herabgewickelt - alles in allem sah man dem halb aus der wärmenden Decke herausgestrampelten Mädchen die menschliche Blutlinie sehr deutlich an, doch Ximasxis Anteil daran war ebenso wenig zu leugnen.

„Sie ist sooo… hübsch…!“ nuschelte er leise und beugte sich zu dem hellwachen Kind herab, welches ohnehin aus großen, neugierigen Augen die ganze Zeit jede seiner Regungen verfolgt hatte. „Darf ich?“ hakte er nach, blickte kurz auf und wartete das Nicken Ximasxis ab, ehe er die Hand in die Krippe steckte. Die kleinen, schlangen Fingerchen schlossen sich um seine, sie schien einen Moment zu tasten, zu erforschen, ehe sie einen blubbernden Laut von sich gab - und herzhaft zubiss. „Autsch, verflixt!“ fluchte der schmächtige Nordmann, zog überrascht die Hand zurück und blickte den nicht blutenden, aber durchaus ein wenig schmerzhaften Abdruck nadelfeiner, kleiner Zähnchen an seiner Fingerspitze an. „Bissig? Sie kommen ganz nach der Mutter!“ Als sie ihn bat ihr das Mädchen zu bringen, wagte er nur vorsichtig den Griff in die Krippe. Er hatte nie mit Kindern zu tun gehabt, nicht mit… solch winzig kleinen Geschöpfen. Also wickelte er umso behutsamer die Decke um das kleine Gör, hob es heraus und trug es vorsichtig, aber rasch zu seiner Mutter. Irgendwie hatte er beständig Angst, er könne ihr irgendwie… wehtun. Sie wirkte so zerbrechlich. Als er sie abgab, in die Hände Ximasxis überreichte, blubberte das Mädchen abermals und gab ein helles Lachen von sich, welches dem Dieb ein tiefes Schmunzeln entlockte.

 

Nicht lange stand er bei der einstigen Gildendiebin, da überschlugen sich die Ereignisse abrupt - und obendrein auf höchst unschöne Weise. Tumult brach im Haus aus, Blut floss und Getöse wurde laut. Es gab keine Vorwarnung, keine Ankündigung, aber das Geschrei und Gepolter kam rasant näher. Schon war es direkt vor der Tür des Zimmers. Was immer dort draußen war, mischte die zwei verbliebenen Wachen, die letzte Linie zwischen Ximasxi und einem Feind, mit viel Lärm auf. Sie wurden gegen Wände geschleudert, eines der Bilder stürzte herab. Als der Rahmen auf die darunter befindliche Kommode knallte, erschrak der dünne Nordmann noch etwas mehr, starrte das Gemälde an und… wunderte sich reichlich, woher er dieses blondgelockte Gesicht nur kannte.

Sekunden darauf krachte erstmals etwas gegen die Tür, mit einer solch unglaublichen Wucht, das es nicht mehr viele Kräfte gab, die das hätten erklären können. Ein zweiter Tritt des gepanzerten Stiefels ließ das Holz in einem kleinen Splitterregen niedergehen, der Rahmen verbog sich, das Metall gab nach und die Tür schwang auf. Die Wächter lagen im Gang, reglos, vielleicht sogar leblos - und wie eine Naturgewalt trat Ashes ein. Die Elbe hob das von Blut glänzende Schwert. „Du!“ fuhr sie die frühere Diebin bei deren Anblick an. Das Kind in ihren Armen, die verarztete Wunde an ihrer Hüfte, das sie überhaupt geschwächt wirkend im Bett lag - nichts davon schien die Silberhaarige zu bremsen, als sie die Waffe hebend an das Bett heran trat. Als sie aber zum Schwung ausholte, flog die Tür zum Nebenraum auf. In aller Hast und Eile, mit schierer Panik im Gesicht, stürzte sich jemand vor das Ruhelager des Tieflings. „Nicht! Nein, nicht!“ versuchte eine Stimme dem Spitzohr zu befehlen. Sie packte dieses freche Gesindel bei der Kehle, hob ihn empor, quetschte sämtliche Luft aus ihm heraus… und erkannte sein Gesicht. „Du…?“ wiederholte sie ihr bisher einziges Wort in fragendem Tonfall.

„Bi-tte… n-nicht… bi…tte…“ krähte die rothaarige, sommersprossige kleine Gestalt und zappelte mit den Füßen auf der Suche nach Bodenkontakt. Der Blick der Einäugigen schweifte weiter zu dem Tiefling, welchen der kleine Rotfuchs so erpicht zu beschützen versuchte. Ein Mündel in ihren Armen. Und es wirkte sehr viel menschlicher als seine Mutter, die aus zornig verengten Schlitzen zu ihr herüber starrte. Alistair dagegen realisierte, was vor sich ging. Er begriff längst nicht alles, erkannte nur die Hälfte, aber ihm war klar, dass es an ihm war, die Lage zu entschärfen. Ohne ein Wort an Ximasxi zu verlieren, ohne tatsächlichen Abschied, griff er die über einem nahen Stuhl liegende Weste, warf sie sich über und eilte zu Ashes. „Gehen wir…?“ flüsterte er ihr leise zu. Ihr zorniges Funkeln fixierte ihn einen Moment, schien ihn in Brand zu stecken… ehe sie die lächerliche Gestalt eines einstmaligen Regenten auf das Bett warf.

Wütend und dem Gefühl nach unverrichteter Dinge stapfte die Söldnerin den Weg zurück durch den Irrgarten dieses gewaltigen Hauses, während Alistair ihr erklären musste, dass er im Wald nicht von ihr entführt worden war. Ximasxi hatte genau das Gleiche von ihm vermutet, wohl weit länger, als er geglaubt hatte, war sie sich doch selbst im Dorf, als man sie fand, noch immer nicht völlig sicher gewesen. Er hingegen hatte einen Weg gesucht und war zufällig über sie gestolpert, von da an hatten sie sich zu einem Hafen durchschlagen wollen, damit die Chancen stiegen, dass er Ashes wiedersehen würde.

Begeistert war sie von seiner Version nicht. Es gab Erklärungen. Dafür, warum er nicht unter dem Hang war, als sie dort ankam. Dafür, warum sie aus dem Dorf flohen, welches sie erreicht und nach ihm zu durchsuchen verlangt hatte. Warum man ihn wie einen Gefangenen in die Kutsche warf, just als sie ihn im letzten Dorf hatte abermals einholen können. Es erklärte aber nicht, warum er sich beim Sturz aus der Höhe nicht alle Knochen gebrochen hatte. Wie dieses Scheusal in den Wald gekommen war. Es erklärte nicht, wie ein Sturm gegen den Wind ziehen und sie verfolgen konnte - ja, auch sie hatte sich in diesen Tagen über so manches Gedanken gemacht!

Rätselnd über diese Fragen verließen sie das Anwesen, durchmaßen den hübschen Garten in zügigen Schritten… und trafen am Gittertor einen alten Bekannten wieder. Schon als Alistair verdutzt die Figur des Fischers erkannte, steuerte Ashes abrupt zur Seite ab. Sie packte ohne Zögern, ohne ein einziges Wort die verhüllte Gestalt, hob die Rechte gerade durch und schlug mit voller Wucht zu. Das unangenehm laute Bersten von Knochen war zu hören und ließ Alistair zusammenzucken. „Mischst du dich noch ein einziges Mal in meine Angelegenheiten, ich schwöre dir, kein verdammter Gott wird dich vor mir beschützen können!“ schrie sie die am Boden liegende Gestalt an. Noch immer lächelte der Fischer unbeirrt. Blut sickerte aus seiner mehrfach gebrochenen Nase, aus der aufgeplatzten Lippe und das Auge, verborgen unter dem Lid auf seiner Stirn, flackerte unruhig. „Alistair, komm schon!“ zitierte sie den Langfinger herbei, als sie bereits einige zügige Schritte weiter war. Der Gerufene zuckte kurz zusammen, löste sich aus seiner Starre der Ratlosigkeit und folgte seiner Liebsten. Eine ganze Weile marschierten sie schweigend und schnurgerade, die Söldnerin wusste genau, wo und wie weit entfernt der Hafen war. Und dann, mitten aus heiterem Himmel heraus, stellte Alistair eine Frage. Wie hätte es auch anders sein können - ohnehin hatte sie sein Geplapper schon viel zu lange entbehren müssen. Diese Frage aber ließ sie gedehnt seufzen und sich nach ihm umdrehen.

„Ash, sag mal… was… was hältst du eigentlich von… kleinen Halbelben?“



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