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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Jenseits der Mauern

„Ich bin dagegen, dass du gehst!“ ereiferte sich eine dünne und ob dieser Eigenheit überraschend kraftvolle Stimme. Wie der Fels wieder göttlich zürnender Brandungen baute sich eine kleine Frau vor ihm auf, klein, zierlich, mit solch ungestümem Temperament im Blick, dass wohl selbst die Schatten der Spinne vor ihr geflohen wären.

Er jedoch blieb beharrlich. Schon zu viele Jahre war ihm dieses Gesicht vertraut, er kannte die kleine Narbe an ihrer rechten Schläfe, die schmale Nase, kannte die Wärme ihrer Haut und den Duft ihres Haares. Im Moment ruhte Selbiges auf ihrem Schopf, sich teilweise erfolgreich dem Versuch widersetzend, sie zu einem Zopf zu fassen. Die rote Mähne war noch nicht lang genug, um solcherlei Frisuren zu unterstützen, einzelne Strähnen entrissen sich jenem provisorischen Halt und wirbelten mit jedem beharrlichen Kopfschütteln über ihrem Gesicht herum. „Das kann nicht gut gehen!“ murrte sie leise und blickte zu ihm auf. Er aber hob einzig die Hand, groß wie eine Bärenpranke und schwielig von der Arbeit. Auf ihr Gesicht legte er seine Finger, strich mit dem Daumen die Kontur ihres Wangenknochens nach, ehe die bullige Gestalt sich herab beugte und jenen vor Unmut zusammen gepressten Lippen einen Kuss aufdrückte. Sie konnte wahrlich zürnen wie die See, ungestüm und niederreißend, einer Naturgewalt gleich, aber sie konnte sich niemals seinen Küssen widersetzen. Rasch waren die zierlichen Hände und schmalen Arme um den dicken Nacken geschlungen, hing sie an ihm, an ihm und seinen Lippen und rügte ihn nach jenem Kuss und den wenigen Augenblicken völliger Stille, da sie seiner Zärtlichkeit nachspürte, für die Unachtsamkeit, zugelassen zu haben, dass sie so spröde geworden waren. „Ich-“ setzte er mit tiefer, brummiger Stimme an, doch schon lag ihr Zeigefinger auf seinem Mund, schüttelte sie erneut beharrlich den Kopf. „Red‘ dich nicht raus!“ meinte sie streng und blickte zu ihm auf.

Sie liebte ihn, liebte ihn aus vollstem Herzen und genau deshalb wusste sie nicht mit dieser Situation umzugehen. Einerseits war allein schon der bloße Gedanke umschmeichelnd, reizvoll, eine ungemeine Verlockung, dass sie ihm auf die breite Schulter hätte klopfen wollen, um ihn persönlich hinaus zu geleiten – doch ein Teil ihrer Selbst wusste, dass die Welt jenseits der Mauern tödlich war. Lumiél war schon lange kein schönes, friedliches Land mehr, in dem man unbehelligt herum streifen konnte. Dunkle Kreaturen und finstere Schergen waren es zu diesen Zeiten, die ihre Lagerfeuer weithin am Horizont sichtbar werden ließen, während Händler mit durchtrennten Kehlen endeten und mancher Abenteurer als würzige Beilage in Kochtöpfen landete. Sie hatte Angst um ihren Mann, konnte man es ihr übel nehmen?

Er natürlich konnte das nicht, er verstand sie auf eine Weise, wie niemand sonst. Schon seit Jahren – oder vielleicht auch gerade wegen der Jahre. „Wir haben darüber gesprochen...“ brummte er leise, rang sich eines jener hinreißenden Lächeln ab, die ihn wie den sanftmütigsten Riesen der Welt wirken ließen. „Dann geh wenigstens allein.“ bat sie in einem neuen Versuch, doch der Hüne schüttelte nur verzagt, ja fast schon mitleidig den Kopf. Es schmerzte ihm, zu sehen, in welche Sorge er sein Weib stürzte. „Ich brauch‘ Sigmund... die Straßen sin‘ gefährlich, selbst so kurze Wege.“

Eine Reise stand bevor. Die erste tatsächliche Reise seines Lebens. Kerkermeister Oswald, einer von zwei Dutzend Hünen in den Diensten des Königs Phillipe des Dritten, hatte über Tage geplant. Über Tage, die turbulenter nicht hätten sein können. Er hatte in den tiefen Verließen des Schlosses eine einzigartige Frau kennen gelernt, sich mit ihr angefreundet, über wortwörtlich Gott und die Welt mit ihr gesprochen, stets getrennt von den eisernen Gittern und der klammen Kälte der Gruftverließe, denn sie war nur eine Gefangene. Was aus Ninafer Saeryleth geworden war, vermochte er nicht zu sagen. Am dritten Tage ihrer Gefangenschaft brachen Abenteurer in die Gewölbe ein. Es war zweifellos eine mutige Bande, ja gar todesmutig! Das hatten sie sein müssen, um ernsthaft einen Angriff auf das königliche Anwesen zu starten. Er hatte nie gewollt, dass Ninafer stirbt – es kam ihm gerade Recht, dass jene auftauchten und sie befreiten. Sie nahmen ihm die Last von den Schultern, selbst mit derlei Gedanken zu spielen. Natürlich hatte er sich die nächsten drei Tage mit vielen Fragen herumschlagen müssen. Man demütigte ihn, oder versuchte das zumindest. Es wurden gezielt Erkundigungen eingezogen, auf die ein einfacher Mann wie er nur schwer antworten konnte, Fragen gestellt, deren bloße Formulierung wohl sogar einen darin geübten Aristokraten verwirrt hätten. Man wollte ihn unter Druck setzen, ihm ein Geständnis abpressen, verwirrende Worte hätten dazu schon ausgereicht! Aber Oswald blieb hartnäckig, ruhig, war selbst zum Fels in einer tosenden Brandung von Empörung und Verdächtigung geworden. Man hatte ihn schließlich ziehen lassen müssen, er blieb in des Königs Dienst, wurde jedoch auf einen Mondzyklus aus dem Schloss verbannt. ‚Urlaub‘ nannten sie das. Strafe sollte es sein – doch für Oswald kam das nur recht.

Nicht alle hatten so viel Glück gehabt. Schon während der Tage der Anhörungen wurde der Kerker leergefegt. Eine Hand voll Scharfrichter führte die Weisungen des Königs aus – alle Gefangenen waren hinzurichten, ganz gleich, wie lange sie schon ihre Strafen absaßen, wie geläutert sie waren oder was man ihnen überhaupt zur Last legte. Ehebrecher, Diebe, Königsfeinde, Mörder, Alte, Frauen, Kinder – sie alle fanden einen Pfahl auf dem grausigen Feld zwischen Burgmauer und Aufbauten, sie alle fanden einen Strick auf den Mauerzinnen, an dem sie hinüber geworfen wurden. Ein Festmahl für La Coeurs schwarze Vogelschwärme. Viele der Gefangenen hatte Oswald gekannt, mit Namen, mit ihrer Persönlichkeit, mit ihrer Lebensgeschichte. Er war froh, ‚Urlaub‘ bekommen zu haben. So musste er das Elend nicht sehen, die Grausamkeiten, die man jenen antat, die es nicht verdient hatten.

Ninafer jedoch hatte für den Kerkermeister weit mehr getan. Bocksklee, Süßholz, Schleierkraut. In der Heimat der einstigen Adelsdame nannte man Letzteres den ‚Kinderatem‘. Wie lange schon hatte Oswald mit seinem Weib versucht, eine eigene Familie aufzubauen?

Er hatte die Läden der Stadt abgesucht, war tagtäglich ausgezogen. Der Krämer um die Ecke handelte mit allerlei Trödel, für eine richtige Kräuterfrau musste er schon durch die halbe Stadt und nach zwei Tagen wagte er sich sogar in die verrotteten und zwielichtigen Armenviertel. Bocksklee und Süßholz waren kein Problem – aber nirgendwo schien es Schleierkraut zu geben. Ein fahrender Händler war es, der ihm am dritten Tage seiner Reise auf dem Markt im Vertrauen die nötige Information zusteckte – natürlich für einen Silberling, denn die Raffgier war eine neue Volksseuche geworden. In Zadiora, so berichtete der schmierig grinsende Hänfling, gäbe es einen Priester, der Kräuter horte wie andere ihr Geld.

Zadiora. Ein Fünftagesmarsch, von denen man zwei Sonnenuntergänge im Stillen Wald zubrächte. Oswald hatte schon viel vom Stillen Wald gehört, von Dryaden, Feen und Nymphen – doch stets hielt er all dies nur für Waschweibergeschwätz, für Ammenmärchen und die Mythen eines verzweifelten Volkes. In La Coeur sah man hier und dort einen Elb oder Zwerg, manchmal auch einen Goblin herum streifen. Aber Nymphen? Dryaden? Nie. Er hätte beide Völker nicht einmal auseinander halten können, mutmaßte er zu jener Zeit, als ihm erstmals davon berichtet wurde.

Heute aber würde er ausziehen. In zwei Wochen spätestens, so hoffte er, würde sein Pfad ihn hierher zurück tragen, in die bescheidene kleine Stube, die er sich mit seinem geliebten Weib teilte.

„Muss langsam los...“ meinte Oswald leise, rang sich ein aufbauendes Lächeln ab und scheiterte damit doch. Ihre Sorge war nicht zu bändigen, wurde jedoch überraschend zügig ersetzt, als es unten polterte. „Kannst du nur nie anklopfen?“ kreischte das Temperamentbündel aus vollster Kehle, dass Oswald die Augen zusammen kniff, als hätte ihm ihr Schrei Schmerz bereitet. Rasch stürmte sein Weib aus dem Raum hervor, erklang draußen eine zweite, tiefe Stimme. Sigmund war sein Cousin. Ganz ähnlich gebaut, hatte man sie bei den wenigen Gelegenheiten, da man sie zusammen sah, für Brüder gehalten. Er kam aus Übersee, ein Land, dessen Name eher zum Zungenbrecher gereichen würde. „Er kommt sicher nicht aus reiner Nächstenliebe über das Meer, weißt du denn nicht, was so eine Überfahrt kostet?“ hatte seine Liebste ihm ins Gewissen zu reden versucht, doch Oswald konnte bester Laune den Kopf schütteln. Er hatte nie einen Hafen gesehen, nie ein Schiff betreten. „Er ist mein Cousin und einen Söldner kann ich mir nicht leisten. Er gehört zur Familie, er will eben helfen.“ hatte er zu entgegnen versucht, doch sie strich ihm lediglich mit einem zärtlichen Lächeln über den kahlen Schädel hinweg und meinte, dass er ein zu großes, zu gütiges Herz habe. In jenen Worten schwang die Hoffnung mit, dass seine Gutmütigkeit ihn nicht verraten würde, sie waren Warnung und Bitte gleichermaßen.

Der Kerkermeister blickte ein letztes Mal in der Stube umher. Auf den alten, vererbten Stühlen ruhten die kleinen Tücher, die sie gefertigt hatte. Eines nahm er sich mit, legte es um den breiten Nacken und verflocht es vor dem Kehlkopf. Es sollte ihn an daheim erinnern. An den Duft der Blumen, die in kleinen, tönernen Vasen ruhten und ein besseres Dasein führten als in den Karaffen der Händler, von denen sie stammten. In La Coeur gab es keine Blumen. Nur Stein, Pflaster und Dreck.

Er trat zur Türe hin, die bedenklich in den Angeln quietschte, strich mit der ausgestreckten Linken über das spröde Holz des massigen Schrankes, der neben der Tür ruhte und duckte sich schließlich, um unter dem Türbogen hinaus in den Flur zu treten. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, der Geruch seines Mädchens hing in der Luft. Oswald lernte erstmals kennen, was es hieß, sich von seinem Heim zu verabschieden. Ein schwermütiges Gefühl, beklemmend und drängend, man möge umkehren und verweilen. Hier gehörte er hin, das wusste er, spürte es jetzt jedoch mehr als je zuvor.

Seine schweren Schritte trugen ihn die Treppe herab. Bei jedem Schritt rasselte das alte Kettenhemd seines Vaters. Hier und da zeugten die Lücken in den Eisenringgeweben von den Kämpfen, die sein alter Herr bestritten hatte und an manchen Stellen nagte der Rost am Stahl. Es sah nicht hübsch aus, aber das musste es ja auch nicht. Wenn alles gut lief, dann würden sie Schutz nicht brauchen. Sein Weib fand er mit Sigmund streitend vor. Als er eintrat, hatte er das seltsame Gefühl, sie hätte ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Wild schnaufend stand sie vor ihm, spie Gift und Galle mit bloßem Blick dem Hünen entgegen, der allzu selbstgerecht zu ihr herab grinste. Eine Ohrfeige hatte für ihn vermutlich gar nichts zu bedeuten – man sah nicht einmal Röte auf seinen Wangen.

Die zwei Männer begrüßten einander, man nahm sich in den Arm, schlug sich aufs Kreuz und erkundigte sich nach der Reise, Sigmund riss einen Witz über das alte Kettenhemd und meinte dann mit einem Blick auf Oswalds Weib, er würde ihn nur ungern in der Höhle des Löwen allein lassen, warte jedoch trotzdem vor der Tür. Das verächtliche Schnauben einer kleinen Rothaarigen folgte ihm verärgert nach, ihre Blicke erdolchten tausendfach seinen Rücken, ehe die Tür schließlich zufiel. „Er will helfen.“ versuchte sich Oswald erneut, doch seine Liebste verschränkte die Arme vor der Brust und spähte missmutig zu ihm empor. „Er ist ein Schuft! Ein ganz gemeiner Schuft! Pass bloß auf dich auf, ich sag’s dir, wehe du kommst mir nicht in einem Stück zurück!... Den da... lass verloren gehen.“ erwiderte sie im Nachhall ihres Zornes und seufzte erst versöhnlich, als Oswald meinte, er wolle sich nicht von ihr verabschieden, wenn sie wütend sei. Ihre Lider schlugen herab, ihr Atem beruhigte sich im gleichen Maße, wie es ihr Wesen tat. Der Kerkermeister derweil trat zum Kamin. Ein Haus, drei Wohnungen, doch nur im Erdgeschoss gab es einen Kamin, der allen drei Bewohnern als Wärmequelle in finsteren Wintermonaten dienen sollte. Vielleicht war deshalb eine der Wohnungen nicht besetzt, vielleicht wechselte deshalb so oft der Besitzer des obersten Geschosses. Die meiste Zeit hatten sie den Kamin für sich. Er legte einen Moment die Hand auf den Backsteinhaufen, spürte die Kälte der Steine und die Glut dahinter. Es sah gewiss aus, als müsse er sich von jedem Stuhl und Tischdeckchen des Hauses verabschieden – und irgendwie kam das der Wahrheit nahe.

Schließlich umgriff seine Pranke den gewaltigen Streitpflegel, der neben dem Aufbau ruhte. Selbst ein kräftig gebauter Mann hätte ihn nur schwerlich stehlen können. Ein Schlag damit würde zweifellos jeden Schild brechen, jede Rüstung der Lächerlichkeit überführen. Drei Silberlinge hatte ihn das Ding gekostet – angerostet, das Leder alt und brüchig, das Metall darunter spröde und schartig. Jeder Treffer damit würde töten, gewiss, aber vermutlich würde bei dieser Gelegenheit auch gleich die ganze Waffe auseinander fallen.

Sie waren eben keine reichen Leute.

„In zwei Wochen bin ich zurück!“ wiederholte er ihr. Ein letzter Kuss, innig von Zeugnis ihrer Liebe tragend, ehe sich der Hüne löste und ebenso durch die Tür hinaus trat. Die Straße erwartete ihn bereits, ebenso wie Sigmund. Ein kalter Wind strich ihm um den Leib, sandte die Kälte ins Kettenhemd, von wo aus sie sich langsam in seine Haut stehlen wollte. Oswald fröstelte, rutschte mit den alten, unbequemen Wanderstiefeln einen Moment über das Pflaster, als wolle er die halb durchgescheuerte Sohle prüfen, ehe er zu seinem Reisegefährten aufsah. „Was hast’n du dir nur für’n Drachen zujelegt!“ griente Sigmund und nickte zu jenem Fenster empor, an dem ein Augenpaar wachsam ihrem Pfad folgte, „Solche wie die hätt’ste schar’nweise kriegen könne, wär‘ sogar was Bess’res drin jewese!“

Oswald sah einen Augenblick zu ihr auf, lächelte und schüttelte den Kopf. Nein – es gab keine Bessere. Die Eine war es, er hatte sie gefunden und für sich gewonnen und würde, so Telete gnädig blieb, sein Leben mit ihr teilen bis zum letzten Atemzug. „Komm schon, du Großmaul, geh’n wir!“ setzte der Kerkermeister dem einzig entgegen.

Das kleine Geldsäckchen klimperte an dem Ledergürtel, der vor der Aufgabe, solchen Umfang einzuschnüren, fast kapitulierte. Noch war der Beutel voll, prall gefüllt mit ihren Ersparnissen mehrerer Jahre. Ganz gleich, welchen Preis es auch kosten würde, er brauchte dieses Kraut, er würde es bekommen!

Den Straßen zu folgen, brachte sie einzig dem altbekannten Abschaum entgegen. Bettler und Obdachlose drückten sich in den Gassen herum. Es war Nachmittag, die fast ununterbrochen wütenden Sturmwolken der letzten Wochen waren endlich abgezogen und gaben strahlend blauem Himmel Platz. Die Sonne sandte verzweifelt ihre Strahlen wärmend herab, doch La Coeur war kein Ort, den man aufwärmen konnte. Hier herrschte immer eine frostige Stimmung, hier herrschte immer Kälte – Kälte von innen.

Oswald nahm den Anblick der Stadt nicht mehr wahr. Häuser, die sich viel zu dicht beieinander drängten. Menschen, die von üblen Krankheiten oder Verletzungen gezeichnet Passanten um Geld anbettelten und fast wie Hunde aufwinselnd in eine Seitenstraße flohen, sobald eine Stadtwache in Sicht kam. Er sah die Krämer nicht mehr, die ahnungslosen Durchreisenden nutzlosen Schund andrehten, sah die eingefallenen Mienen unterernährter Kinder nicht mehr, sah nicht die Adligen von Privateskorten abgeschirmt durch die schäbigen Straßen flanieren und sah die junge Frau nicht mehr, die von drei Mann in einer Gasse zu Boden gezerrt wurde und sich mit Händen und Füßen wehrte.

Man konnte in La Coeur gut leben – doch man musste sich blind stellen. Musste lernen, seine Augen zu schließen. Oswald lebte lang genug hier, um das zu wissen, aber nie war es ihm recht gelungen. Ninafer hatte ihn daran erinnert, wie schlimm es um die Stadt und das Land herum stand, sie hatte ihm die Wahrheiten genannt, die er längst empfand.

Bereits am Nordtor angelangt, reihten sich beide Männer brav in eine Schlange ein. Zwei Silberlinge Wegezoll. Reinste Halsabschneiderei! Aber es war des Königs Weisung. Wer nicht zahlen wollte, der blieb in der Stadt und wer sich aufzuregen wagte, brauchte nur ein falsches Wort sagen, um die Stadt zu verlassen – am nächsten Morgen per Galgen.

Sigmund und sein Cousin waren jedoch von solch ehrfurchtgebietender Größe und Statur, dass die drei Mann von der Stadtwache ungläubig zu den Hünen aufsahen. Sie wagten nicht, sie kontrollieren zu wollen, also schickten sie, ganz die Helden, den Neuling vor, ihnen den Wegezoll abzupressen. Oswald zahlte die vier Silberlinge für sich und seinen Cousin, legte die Münzen in die zitternden Hände des Burschen und wünschte ihm sogar noch einen schönen Tag. Vermutlich hatte sich das für den Grünschnabel wie das Brüllen eines Bären angehört, er wurde kreidebleich und sah zu, dass er zu seinen Vorgesetzten zurück kam.

Mit einem kaum einen Meter hinter dem Turm deutlich dünneren Strom an Menschen verließen sie La Coeur.

Da war er nun. Das erste Mal in seinem Leben stand er hinter den Mauern. Er hatte La Coeur verlassen, blieb stehen und sog begierig die Luft ein, als wolle er feststellen, ob sich etwas nennenswert verändert habe. Natürlich zog er prompt die Nase kraus, nieste, hustete und fluchte. Ein einziger Gedankengang hätte ihm diese unfeine Überraschung ersparen können: Direkt unter der massiven Zugbrücke, auf der er sich befand, floss der Alinarus dahin. Einer der Zwillingsströme, die La Coeur umschlossen und weiter flussaufwärts wurden die gesammelten Abwässer der Stadt in den Fluss geleitet. Aufgeschwemmter Dreck einer ganzen Stadt, das konnte wohl kaum nach Freiheit und der großen weiten Welt riechen.

„Du bist’n Blödmann!“ amüsierte sich Sigmund indes prächtig, lachte so tief röhrend und schallend, dass die Wachen am Tor erneut zusammen zuckten und sich allerlei Blicke auf die Beiden legten. Er klopfte seinem Cousin auf die Schulter und führte ihn mit sich von der Brücke hinfort.

Während des Weges zum Stillen Wald fiel Oswald die alte Buche auf, die vor dem Nordtor stand. Ein beeindruckender Baum, groß und gewaltig, als hätte er die Zeitalter überstanden. Zu seinem Fuß jedoch ruhte ein Erdhügel, zweifellos ein Grab. Wer darin wohl verborgen war? Allerlei Geschichten von früher kamen ihm in den Sinn, von großen Königinnen in Steinmausoleen, von tapferen Kriegern, die nach ihrem Fall in namenlosen Gräbern Ereshkigal übergeben wurden, während ihre Leiber Phylia zum Dank gereichten.

Zwei Tage lang wanderten sie über die flache Ebene dem Wald zu, den sie schon von der Ferne hatten erblicken können. In der Nacht schlugen sie ein einfaches Lager auf, Sigmund hatte alles Nötige in einer schweren Tasche dabei, zündete mit den Feuersteinen eine kleine, wärmende Quelle des Lichts an und teilte ein Stück des Proviantes aus. Nach einem kurzen Streit darüber, dass Sigmund sich nicht so maßlos verhalten solle, mussten die Vorräte ja immerhin bis Zadiora, besser noch auch für den Rückweg reichen, winkte der lediglich gelangweilt ab. Nein, ein höflicher Mensch war sein Cousin nicht, so stellte Oswald resignierend fest. Weder zuvorkommend, noch freundlich und schon gar nicht weitsichtig. Sie legten sich zur Ruhe, unter den Decken verborgen, die die Hauptlast der Tasche darstellten. Schon am nächsten Morgen, als der Kerkermeister sein müdes Haupt reckte, sah er Sigmund schon wieder essen. Von Frühstück sprach dieser und es kam tatsächlich zu einem kleinen Streit. „Sei nich‘ so verfress‘n, du wirst ja wohl ma‘ ohne ‘ne Mahlzeit auskommen könne!“ fuhr Oswald seinen Cousin an. Einen Moment später schämte er sich fast, sich so im Ton vergriffen zu haben, doch jener blaffte lediglich zurück. Der Tag begann schlecht, beide waren übel gelaunt, packten stillschweigend ihr Lager zusammen und setzten den Weg ebenso wortlos fort.

Oswald war nie ein Mann großer Worte gewesen – aber dieser Streit lag ihm schwer im Magen. Zusammen mit seinem Cousin erreichte er nach einer weiteren Nacht im Freien gegen Mittag den Stillen Wald.

Sie traten über die Baumgrenze hinfort und mit einem Schlag schien sich die ganze Umgebung zu wandeln. Hatte ‚draußen‘ eben noch der Wind geheult, der in jenen Tagen stärker und stärker geworden die eisige Nordluft zu ihnen trug, so war es im Wald behaglich warm. Die Düfte von Gras und Blumen umschmeichelten ihre Nasen, ein Eichhörnchen saß völlig angstlos und unbeeindruckt auf einem Ast und sah auf die beiden Neuankömmlinge herab. Sigmund störte sich an alledem kein bisschen. Vermutlich hatte er schon so viel mehr gesehen, doch Oswald begriff erstmals in seinem Leben, die real und greifbar die Götter und ihr Wirken sein konnten. Ob dies nun einfach nur ein Zauber war, er wusste es nicht. Von Dryaden sagte man viel und niemand ward sich je darüber grün. Die einen behaupteten, sie seien Gesandte Phylias, die heiligen Haine der Welt zu hüten. Andere vermuteten, sie seien ein Volk von Waldmenschen, eine Linie zwischen naturverbundenen Elben und kurzlebigen Menschen. Oswald wusste nicht, was er glauben sollte und dennoch warf er den Streitpflegel, der über seiner Schulter lag, zu Boden und begab seine massige Figur auf die Knie. Mit jenen im Waldboden leicht eingesunken, atmete er einen Moment unter den mehr als argwöhnischen Blicken Sigmunds die Luft dieser heiligen Stätte ein und schloss die Augen. Er faltete sogar die Hände zum Gebet und nuschelte fast lautlos ein paar kleinere Verse, die ihm sein Weib vor langer, langer Zeit vorgelesen hatte. Eine Lobpreisung auf die Göttin Phylia, der alles Leben und Grün gehorchte.

Eine warme Brise umzog sein Gesicht, er glaubte einen Moment eine fast schon spirituelle Erfahrung zu machen – da bemerkte er den widerlich säuerlichen Geruch nach Käse. Er schlug die Augen auf und Sigmund griente ihm auf wenige Zentimeter entgegen. „Wollt‘ nur ma‘ seh’n, ob’de einjeschlafe bist!“ rechtfertigte dieser sich. Oswald murrte einen Moment, packte den Streitpflegel und erhob sich wieder. Sein Cousin jedoch hielt den Mund über das, was er gesehen. Nur einen kurzen, flüchtigen Blick warf er noch auf den kleinen Findling. Dort, abseits ihres Pfades im Dickicht verborgen, hatte ihm ein ungestümes Augenpaar entgegen gefunkelt. Ein Weib, das einfach so nackt hier im Wald herum sprang – glaubte man denn sowas!

Medea spürte, dass die beiden Fremden etwas umgab. Ein Hauch von Vorbestimmung haftete an ihren Gemütern. Ob zum Guten oder Schlechten, das würde sich zeigen müssen. Sie folgte den Menschen, die ihren Wald durchstreiften. Das Eichhörnchen hatte ihr zugeflüstert, wie Oswald niederkniete und eine alte Beschwörung sprach, ohne wohl recht zu wissen, was er da tat. Doch es berichtete ihm auch, wie der Andere einen Stein nach ihm geworfen hatte, dass es verschreckt von seinem Ast davon springen musste.

Zwei Tage lang folgte Medea auf Schritt und Tritt den Fremdlingen. Sie sah sie den Pfad entlang wandeln. Der Eine, der bewaffnet war, blieb stets auf dem rechten Weg. Auf sein Geheiß hin schlugen sie die Lager dort auf, wo er es wünschte – dort, wo sie es ihnen anbot, indem sie kleine Lichtungen von allem Grün und Getier räumen ließ und einen kleinen Vorrat an Brennholz darbot, dass die Bäume freiwillig zu geben bereit waren.

Ihre Gegenwart war damit für beide Menschen unabstreitbar, während Oswald sich darum nicht weiter bemühte, war sein Cousin neugierig geworden. Der Kerkermeister glaubte die Hüterin dieses Haines auf seiner Seite. Sie hatte nicht angegriffen, die Tiere nicht auf sie gehetzt, die Pflanzen keine Schlingen werfen lassen. Stattdessen fanden sie stets zur rechten Zeit einen guten Lagerplatz, an dem das Holz schon bereit lag. Oswald konnte sich damit zufrieden geben. Er kannte ein paar Sagen, die seine Liebste ihm vorgelesen hatte. Dryaden waren scheu, sie fürchteten die Menschen, weil sie viel zu oft die Zerstörung mit sich brachten. Zudem kannte der Hüne die Legende der Hüterin Sukaira und des Hains von Eloras. Eine traurige Geschichte, die ihn jener Tage tatsächlich zu Tränen gerührt hatte.

Sigmund jedoch wollte mehr als nur eine sichere Passage und ein gutes Lager. Des Nachts, während sein Cousin schlief, schlich er sich davon, aß hier und da ein paar Beeren, die er im Mondlicht als genießbar erkennen konnte, stampfte mit seinen großen Füßen unbedarft durch ihr Dickicht. In der zweiten Nacht, bevor sie den Stillen Wald verließen, zeigte sich Medea dem Neugierigen. Wie eine lauernde Katze hockte sie auf einem Stein, spähte ihm mit ausdrucksloser Miene entgegen, die Hände am Findling abgestützt, die Beine um ihre Arme herum gespreizt und der Rücken gebeugt. Sie sah ihm entgegen, als wäre sie zum Sprung und Angriff bereit. Sigmund jedoch stampfte bis auf ein paar Meter auf sie zu, ungeniert, unbeeindruckt, ohne jedwede Furcht. Er hielt inne, betrachtete sich jene Frau. Sie spürte seinen Blick wandern, über ihr zerzaustes Haar, ihre Lippen, Schultern, Brüste. Auf ihrem Schoß blieb er erstaunlich lang haften. „Bist bissl dürr, was?“ brummte Sigmund mit einem Grinsen. Medea schwieg weiter, rührte keine Miene, zuckte nicht einmal mit dem Augenlid. „He, Kleine, ich red‘ mit dir!“ schnauzte er daraufhin und gab sich zumindest vorläufig damit zufrieden, als sie den Schopf schief legte. „Schleichst hier schon seit Tagen um uns rum, was? Ossi kannste vergessen. Der hat sich schon ‘nen Drachen anjelacht!... Aber wie wär’s denn mit uns, Hübsche?“ Der Hüne trat noch ein paar Schritte näher und grinste breit – Medea wich noch immer nicht. Er hatte die Legenden gehört, jawohl. Hüterinnen der Wälder, mächtige, magische Weiber, Gesandte der Göttin, alles Quatsch, Humbug, nur Geschwafel! Aber wie sie so dort saß, um sie herum geschlichen war – vielleicht stimmte ja zumindest der Teil, dass sie in der Blüte ihrer Jahre gern mal ein paar männliche Reisende beglückten?

Mit einem raschen Satz sprang Sigmund hervor, doch Medea entkam völlig mühelos. Sie drückte sich in die Höhe davon, ein paar Ranken fingen sie rasch im Sprung und trugen sie zu einem Ast herauf, auf dem sie sich in der gleichen Lauerpose niederließ. „He, was soll‘n das Spielchen? Glaubste, ich komm‘ jetz Bäume hochjeklettert? Los, runter da!“ blaffte Sigmund, hob einen kleinen Kiesel auf und blickte drohend zu Medea empor. Die Dryade rührte sich nicht, doch als er tatsächlich nach ihr warf, wich sie mühelos aus – lehnte sich zur Linken und spürte den Stein an sich vorbei ziehen. Ein bedrohliches Funkeln legte sich in ihre Augen, als sie wieder auf Sigmund herab spähte. „Uh, soll mir der Blick jetz Angst mache? Los, komm‘ runter, zeig’ ma‘, ob’de Krallen hast!“ wies der Hüne sie an und bleckte lächelnd die Zähne. Er hob gerade einen weiteren Kiesel auf, da ertönte plötzlich eine andere Stimme. Mit einem Satz war Medea im höheren Geäst verschwunden, zweifellos binnen weniger Atemzüge über viele Meter davon. Sigmund drehte sich lediglich genervt zu seinem Cousin um.

„Was machst du denn hier?“ gähnte der Kerkermeister müde und sah sich im Wald um, „Wir sollten nich‘ hier rumrennen, das ist ihr Reich, sie könnt’s uns übel nehmen.“ orakelte Oswald und spähte Sigmunds Blick hintendrein, der noch immer zum Ast aufsah. „Wird’se nich‘.“ erwiderte der nur grimmig über die Störung und schubste seinen Cousin regelrecht ins Lager zurück.

Gegen Morgen verließen sie den Stillen Wald und erreichten nach einem halben Tag Zadiora. Zu ihrer Überraschung jedoch würde ihr Aufenthalt weit kürzer sein, als sie erwartet hatten. Eine grässliche Übelkeit ging im Dorf um, die sich keiner erklären konnte. Fünf Alte hätte es schon dahin gerafft und um ein junges Mädchen stand es auch übel. Die Stadtwache würde mit Fieber in ihren Betten liegen, alle zwölf Mann und der Priester, den Oswald suche, der sei erst vor wenigen Tagen ganz grässlich umgekommen. Der Wirt des einzigen Gasthauses in Zadiora versuchte gar nicht, ihnen Zuversicht zuzusprechen. Seit einigen Tagen schon lief das Geschäft ganz furchtbar schlecht, die Gerüchte von der Seuche hatten sich herum gesprochen, auf den äußeren Höfen kränkelte das Vieh, die Lagerbestände wurden schlecht, das Bier schal, weil es niemand mehr trank. Ein Wäldchen sei niedergebrannt und inzwischen wäre der Friedhof hinter dem Tempel wohl überfüllt, aber kein Mann sei im Moment stark genug bei Kräften, um neue Gräber auszuheben. Nun fürchte man, die Toten würden aufstehen und zornig morden, weil niemand sie unter die Erde trug.

Ganz gleich, wie oft Oswald das Gespräch auf die Kräuter des Priesters zu lenken versuchte, der Gastwirt schweifte immer wieder in seine Bärmelei über die Zustände ab. Vor Tagen noch habe erst ein Lykaner sein Unwesen getrieben und nun, da man sich die neuen Plagen besähe, wünsche man sich fast den Wolf zurück, tötete er doch nur Vieh und unachtsame Bauern. Als Oswald und Sigmund sich diesen Abend zu Bett begaben, eines der zahlreichen, leeren Zimmer in Beschlag nahmen, da hingen sie ein jeder für sich ihren Gedanken nach.

In Zadiora sah es furchtbar aus. Verwahrloste Äcker, wild herum streifende Viehherden, manches Haus trug Kampfesspuren und auf dem Friedhof türmten sich die Opfer einer Seuche. Das konnte so nicht bleiben! Bei Mermerus, so durfte es einfach nicht bleiben.

Noch in dieser Nacht, während sein Cousin selig schlief, erhob sich Oswald von seiner Lagerstätte und trat zum Wirt herab. Einen Spaten ließ er sich besorgen und den Weg zum Friedhof weisen. Vom Gastgeber mit einem Wasserschlauch ausgestattet, zog der Kerkermeister einsam und allein auf den Totenacker hinaus und grub. Eine Mulde nach der Anderen, die ganze Nacht hindurch grub er. Am Morgen, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen über die Wipfel im Osten brachen, senkte er mit so viel Vorsicht und Achtung, wie es ihm allein zu Gebote stand, die Toten in ihre Gruften. Er verschloss die frischen Gräber wieder. Gewiss – es würde keine Grabsteine geben. Man wusste nicht, welcher Tote in welchem Grab ruhte, aber sie wieder auszubuddeln, würde niemand wagen. Solche Freveleien strafte Ereshkigal hart! Aber immerhin brauchte so niemand mehr Angst vor Untoten zu haben. Drei weitere Gräber hob der Hüne noch aus, ehe der Wasserschlauch leer war und er zum Gasthaus zurückkehren wollte. Einen Moment blieb er neben dem Tempel stehen. Einstmals ein Heiligtum der Damastes, war das Bauwerk nunmehr Phillipe dem Dritten gewidmet, dem Gottkönig Lumiéls.

Ob er es wagen könnte?

Er ruckte an den Türen, doch ein schwerer Balken war vor das Schloss gelegt. Er könnte ihn entfernen – für einen Mann seiner Kräfte und Statur sicherlich kein Problem. Aber wollte er das? Durfte er das? Nein, gewiss nicht. Phillipe würde davon vielleicht nichts erfahren, die Götter sich nicht darum scheren, aber er, er würde es wissen. Er hätte sich stets vor seinem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Verschlossene Türen waren das nie ohne Grund. Mit schwerem Seufzen zog Oswald wieder zum Gasthaus zurück.

Kein Schleierkraut. Der Priester war tot, seine Vorräte unerreichbar – die Reise umsonst. Zutiefst deprimiert sank der Hüne in ein Badewasser, dass der Wirt ihm aus Dankbarkeit für eine nächtliche Arbeit darbot. Der Kerkermeister wusch sich frei von Erde, Schweiß und Schmutz, doch das Gefühl der Last blieb auf seinen Schultern.

Er hatte versagt.

Deprimiert und schweigsam beobachtete er nach dem Bad, wie Sigmund sich bei einem guten Frühstück den Magen vollschlug. Er bezahlte natürlich mit Oswalds Geld – aber wozu hätte er das jetzt auch noch brauchen sollen? Es gab kein Schleierkraut. Nicht in La Coeur, nicht in Zadiora. Ob er es wagen sollte, nach Sundergrad zu reisen? Die Strecke war mehr als nur gefährlich. Die Zentauren waren aufgebracht dieser Tage, erzählte man sich. Ein guter Führer war teuer und schlechte Führer leiteten einen in die Irre, ließen ihre Anhängsel von Sonne und Durst irre sterben. Aber wenn man Schleierkraut irgendwo in Lumiél bekam, dann ja wohl sicherlich in Sundergrad. Aber sein Weib würde ihn niemals freiwillig dorthin ziehen lassen. Belügen konnte er sie auch nicht – das hatte er noch nie vermocht. Sie sah ihn einmal streng an und er begann herum zu drucksen und verschmitzt zu lächeln. Das verriet ihn einfach immer.

Vielleicht sollte er nicht heim kehren? Vielleicht sollte er Sigmund beim Kragen packen, nach Süden ziehen, an La Coeur vorbei, an Samara vorbei, bis nach Sundergrad? War das möglich?

Ein deftiges Schmatzen mit anschließendem Rülpsen Sigmunds riss Oswald aus seinen Gedanken. Allein wie sein Cousin aß, wie viel er vertilgte, ehe er sich halbwegs zufrieden gab, sprengte den Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten. Es würde kein Schleierkraut geben, nirgendwo, niemals, sie würden ewig zu zweit bleiben. Mit Enttäuschung im Blick begann sich Oswald zu fragen, ob das Folgen haben würde. Seine Frau liebte ihn, oh sie liebte ihn sehr, aber sie wünschte sich auch sehnlichst ein Kind, am liebsten gleich eine ganze Rasselbande...

„Komm, geh’n wir heim.“ meinte Sigmund, nachdem der Bierkrug leer war, kratzte sich am Hintern und schlug Oswald auf die Schulter. Gemeinsam verließen sie Zadiora wieder. Ein Fehlschlag auf ganzer Linie, sie hatten ihre Ersparnisse zusammen gekratzt, hatten viel Geld ausgegeben, für die Zölle, für Essen und Unterkunft und jetzt kehrte er mit leeren Händen heim. Was würde er vorweisen können? Sein Cousin, der sowieso schon füllig war und den sie nie hatte leiden können, war allzeit satt geworden. Wundervoll. Er hatte einen Wald betreten. Auch toll.

Nein, er schämte sich. Oswald schämte sich schon jetzt bei dem Gedanken daran, wie er mit leeren Händen vor seine Liebste würde treten müssen. Sie würde ihn mitleidig in die Arme schließen, sie würde ihm sagen, dass das Wichtigste sei, dass er heil zurückgekehrt wäre und doch, das wusste er, so wäre auch sie enttäuscht.

Gegen frühen Abend tauchten beide wieder in den Stillen Wald ein. Medea bemerkte die Veränderung im Gemüte Oswalds, sie konnte es riechen und ihm spielend leicht an der Miene ablesen. Ein Blick der Hüterin glitt zum Dorf, ein kaltes Frösteln durchfuhr ihren zarten Leib beim Anblick der Hütten und Aufbauten. Sie folgte den Beiden, wie schon zuvor. Reisende waren gleichermaßen interessant wie sie auch allzeit bedrohlich waren, doch noch immer haftete jenen Beiden etwas an, das sie wichtiger erscheinen ließ.

Sigmund hielt fortwährend den Blick auf die Umgebung gerichtet. Wollte Oswald dies anfangs noch als gesunde Wachsamkeit auslegen, glaubte er später einfach daran, dass sein Cousin angesichts der Schönheit dieses Waldes unfähig war, sich auf die Reise oder seinen Weg zu konzentrieren. Ob mehr dahinter steckte und falls ja, was dies sein könnte, interessierte den Kerkermeister nicht. Sein Gemüt war in Schwermut versunken, er trauerte, war bekümmert. Nichts begehrte sein Herz in diesen Tagen sehnlicher als ein Kraut, von dem er nicht einmal wusste, wie es denn aussah.

Sein Gefährte bemerkte, dass sie abermals verfolgt wurden. Er sah Medea herum schleichen und Medea wusste, dass sie gesehen wurde. Anders als Sigmund glaubte, war eine Dryade innerhalb ihres Waldes niemals zu sehen, solange sie das nicht auch wollte. Die Hüterinnen gaben sich nicht die Blöße, so unflätig und plump herum zu stampfen, wie es der Menschen Eigenart war – und das, obwohl auch die Dryaden dem Menschengeschlecht entsprangen.

In der ersten Nacht, die sie im Stillen Wald verbrachten, zog Sigmund erneut einen Kreis um das Lager, doch Medea ließ sich nicht blicken. Sie beobachtete ihn, lauschte den Worten, die er flüsterte und begriff deren Sinn doch nicht. Sie war zu wenig mit den Gepflogenheiten der Menschenwelt vertraut, um etwas mit Begriffen wie ‚Kurtisane‘ oder ‚Schäferstündchen‘ anfangen zu können.

Es war die zweite Nacht, kaum zwei Stunden Marsch, bis sie den Wald hinter sich lassen würden, als Sigmund während der Nacht erneut los zog. Doch anders, als er es vermutete, schlief Oswald nicht. Der Kerkermeister versuchte es, er versuchte es wirklich nach Leibeskräften, doch die schwere Last des Scheiterns drückte zu sehr auf sein Gemüt. Wie sich Sigmund still und heimlich davon stahl, das bemerkte der Hüne zunächst nicht. Erst nach einer Weile, da rollte er sich von seiner Seitenlage auf den Rücken, vom Lagerfeuer bisher gewärmt und begann den Blick auf Laubdach und die dazwischen verstreuten Sterne gerichtet, mit einem Mann zu sprechen, der nicht mehr zugegen war. Er klagte ihm sein Leid, erzählte von seinen Bedenken, seinem Gemüt, er legte Sigmund offen, was sein Herz bewegte und erhoffte sich Rat. Erst als er den Blick zu dessen Lagerstätte wendete, auf der anderen Seite des Feuers, bemerkte er das Fehlen seines Cousins. Schlagartig erinnerte er sich an die zweite Nacht im Wald, da er ihn schon einmal außerhalb des Lagers ‚erwischt‘ hatte. Das konnte Ärger bringen, so etwas konnte fürchterlich Ärger bringen! Oswald machte sich Sorgen, um sein Wohl ebenso, wie um das Leben seines Gefährten. Dryaden waren scheue und sanftmütige Wesen, aber in ihren Wäldern einfach herum zu trampeln, das würde sie verärgern und im Zorn war kein Wesen dieser Welt mehr sanftmütig!

Er lauschte in die Nacht hinein, erhob sich und horchte, da vernahm er ein Geräusch, zu leise und undeutlich, doch Hinweis genug für ihn. Je näher er kam, umso mehr klang es nach einem Kampf. Die erschreckende Erkenntnis beschleunigte seine Schritte, nunmehr trampelte er selbst wie eine Ochsenherde durch das Unterholz und brach abrupt und unerwartet in eine Lichtung vor. Was er dort erblickte, ließ dem gestandenen Kerkermeister das Blut in den Adern gefrieren, dass sich unverzüglich alle Haare auf seinem Leib aufrichteten.

Da lag eine Frau auf der Lichtung. Die Kronen hatten ein Fenster im Dach des Waldes geschaffen, durch den der Mondschein auf sie strömte, ihre zarten, zerbrechlichen Züge beleuchtete. Sie lag auf dem Rücken, strampelte und kratzte Sigmund die Wange auf, der just im Moment des Erscheinens seines Cousins der Dryade die Schenkel auseinander zwang.

Wie war derlei möglich? Wie konnte eine Hüterin des Waldes in ihrem eigenen Hain Opfer eines Überfalles werden? Sagte man ihnen nicht gottgleiche Kräfte nach? Sollten sie nicht unantastbare Gebieterinnen sein?

„Nein!“ rief Oswald von nackter Panik ergriffen aus. Wenn sein Cousin tat, was er anzustreben schien, so waren sie beide auf alle Zeit verdammt! Ereshkigal würde ihrer Seelen spotten, ehe Mermerus sie verdammte, als Rache für das Leid, dass einem Kind seiner Tochter angetan wurde. Der Kerkermeister stürmte herbei, die zornigen Ausrufe seines Gefährten ignorierend. Er solle verschwinden? Ja gewiss, er würde einfach umdrehen, gehen, vergessen, was er hier sah! Erstmals in seinem Leben, so glaubte Oswald zumindest, verspürte er tiefe Wut in seinem Magen gären. Er packte Sigmund bei den Schultern, riss ihn von der Dryade hinfort. „Bist du des Wahnsinns?“ keifte er den am Boden Liegenden an, doch Sigmund war blind und taub für aller Welten Worte, er packte einen Stein, kam auf die Füße, weil Oswald noch immer den unumgänglichen Kampf vermeiden wollte. Mit einem archaischen Schrei ging der Cousin auf den Kerkermeister los, Oswald bekam einen schweren Schlag gegen den Schädel, ging ächzend zu Boden. „Sie gehört mir!!“ kreischte sein Blutsverwandter völlig von Sinnen und schlug mit dem Stein auf seinen Rücken ein, wieder und wieder, presste ihm die Luft aus den Lungen, ließ den Knienden ächzend zu Boden brechen.

Oswald keuchte schwer. Feuchte Erde klebte an seiner Wange, seine Lungen brannten, eine Rippe schmerzte, als sei sie mit flüssigem Blei ausgegossen worden und seine Arme zitterten, als er sich vom Boden abzustützen versuchte. Er blickte hinüber, zu Medea, die verängstigt am Boden kauerte und sich nicht zu rühren wagte. Sie sah zu ihrem Peiniger auf, der ungeniert auf sie zu schritt. „Wo war’n wir?“ schnauzte Sigmund fast schon amüsiert und vergriff die Pranke im Schopf der Dryade. Er zerrte sie ein Stück über den Boden, sie kreischte jämmerlich und strampelte Halt suchend mit den Füßen auf dem Erdreich. „Lass sie in Ruhe!“ keuchte Oswald schwerfällig, kam wieder auf die Knie und sah Sigmund umkehren. Ein einzelner Tritt gegen die Brust warf den Kerkermeister sogleich wieder auf den Rücken, sein Schädel knallte unter einem heißen Schmerzblitz auf etwas Hartes. Unter einem Ächzen hob er den Arm, griff danach, umschloss mit bedrohlicher Härte den Stein, den Sigmund zuvor hatte fallen lassen. Mit einem Schwung, den er seinem eigenen Arm nicht mehr zugetraut hätte, schleuderte er den Findling durch die Luft.

Ein Zischen, ein fürchterliches Knacken und das Ächzen eines Mannes, der tot sein würde, noch bevor sein Sturz zu Boden vollendet war.

Oswald kam schwer wieder auf die Beine, er taumelte, strauchelte und keuchte noch immer. „Was is‘ nur in dich gefahr’n?“ jammerte er Sigmund voll und eilte zu seinem Cousin. Erst als er vor seinem Verwandten niederkniete, erkannte der Kerkermeister mit Schrecken, was er getan hatte. Der Hinterkopf seines Cousins war völlig zertrümmert, eine Mischung aus Hirnmasse, Haut, Blut und Knochen quoll dick und träge über den kahlen Schädel. Oswald keuchte, heiße Tränen brandeten ihm über die Wangen, noch bevor er sich abwandte und erbrach. „Ich... ich habe ihn umgebracht...“ sprach er die Wahrheit aus und übergab sich erneut. Noch mit dem sauren, widerlichen Geschmack im Mund, verkehrte er sich zu Sigmund. Er rollte seinen Cousin auf den Rücken. Leere Augen starrten aus einem wutverzerrten Gesicht durch den Film aus nassem Erdreich zum Himmel empor. „Nein...“ brachte Oswald mit bebener Stimme hervor, wiederholte das Wort wie eine Beschwörungsformel. Er tastete nach dem Herzschlag, er gab seinem Cousin einen Klaps auf die Wange, beschwor ihn, wieder zu atmen, doch nichts geschah. Oswald war zum Mörder geworden, hatte seinen Cousin erschlagen, einen Verwandten gemeuchelt. Man würde ihn hängen, Mermerus ihn verdammen, sein Weib würde an irgendwelche Halunken in der Taverne geraten, die nun nicht länger ihren Mann fürchten mussten. „Nein... tu‘ mir das nich‘ an...!“ flehte er den Toten an, doch Ereshkigal hatte längst ihres Amtes gewaltet. In jener Hülle herrschte weder Leben noch Geist.

Es waren die zierlichen Finger Medeas, die sich um seine Schulter legten. Aus dick verquollenen Augen sah der Hüne zu dem zierlichen Weib auf. Sie thronte über ihm, nunmehr wieder den Eindruck einer Göttin in ihrem Reich erweckend. Wo war ihre Stärke geblieben, als sie sich ihm widersetzen wollte? Warum war sie nicht geflohen, wenn die Dryaden doch so scheu waren? „Warum...?“ brachte er hervor, als wolle er alle Fragen zugleich mit nur jenem einen Wort aussprechen. Er hauchte es mit so zittriger Stimme, dass die Hüterin erstmals in ihrem Leben eine Ahnung davon bekam, was Mitleid bedeutete. Ein Berg von einem Mann, der zu keinem Zeitpunkt schwächer hätte wirken können.

Doch was hätte sie ihm nun erzählen sollen? Dass Sigmund nicht aus Nächstenliebe nach Lumiél gekommen war? Dass sein Anliegen nicht ihr Leib gewesen, sondern er Gerüchte vernommen hatte, dass die Wasser des heiligen Weihers einer Dryade die Unsterblichkeit bieten konnten? Hätte sie ihm von der Gier seines Cousins berichten sollen, von seinem Wahn nach Unsterblichkeit, seiner Angst vor dem Tod, den er nun durch eben dies erfahren hatte? Hätte sie ihrem Retter erklären sollen, wie jener Verstorbene sein ganzes Vermögen dafür ausgab, Mittel und Wege zu finden, wie er sich vor der Macht einer Dryade schützen konnte?

Gewiss nicht.

„Ich danke dir.“ flüsterte sie leise, doch Oswald begriff nicht. Ein Schluchzen ließ seinen gesamten Leib erzittern, ehe er verständnislos zu ihr aufsah. „Wofür? Dass ich mein eigenes Blut erschlug?“ warf er ihr bebender Lippen entgegen. Die Dryade aber kniete sich neben ihn, ihre imposante Erscheinung schrumpfte auf eine kleine Frau zusammen, ehe sie seine Hand ergriff. „Du hast eine Tochter Phylias beschützt. Liebe und Opferbereitschaft sind von großem Wert und die Götter vergessen keine Schuld.“ – „Aber er is‘ tot!“ – „So erfüllt er sein Schicksal, wie du das Deine.“

Einen langen Moment kehrte Schweigen ein. Oswald wusste nicht, wie er sich benehmen sollte. Alles ihm schrie danach, Medea bei den Schultern zu packen und zu schütteln, sie anzuschreien und anzuflehen, sie möge seinen Cousin zurück holen. Doch es gebührte ihm nicht, eine Hüterin zu berühren. Er wusste das – und wagte nicht, seine Grenzen zu überschreiten. Man versündigte sich nicht gegen die Götter. Doch was sollten ihre Worte bedeuten? Phylia war ihm also dankbar, dass er Medea gerettet hatte? Und nun? Das machte seine Schuld nicht vergessen, das machte den Mord nicht ungeschehen.

„Die Last deiner Tat vermag ich nicht zu schmälern,“ drangen die Worte der Hüterin in seinen Geist, „der Tod ist ein Teil des Lebens und was einst begann, wird enden müssen. Doch, so sage mir... was suchtest du hinter blutenden Steinen und totem Holz? Was begehrtest du zu finden in jener starren Grausamkeit, jenseits meines Waldes?“

Der Kerkermeister antwortete nicht sofort. Noch immer hing sein Blick am toten Leib seines Cousins. Die kalten, leeren Augen, die Lache, die sich unter seinem Kopf bildete und langsam im Erdreich versickerte. Er hatte ein Leben ausgelöscht. Nicht der Henker, nicht die Stadtwache, kein Beutelschneider oder verzweifelter Bettler, nein, er selbst, Oswald der Kerkermeister. Medea fragte ihn erneut und nur mit Mühe gelang es dem Hünen, das Chaos an Gefühlen und Gedanken zu durchbrechen, zumindest weit genug, um von ihrer merkwürdigen Beschreibung auf das Dörfchen Zadiora schließen zu können. „Schleierkraut. Mein Weib und ich, wir wünschen uns Kinder, aber nichts half... aber sie hatten keins.“ gab Oswald resignierend zurück, ehe er schließlich die Hand zum Gesicht seines Cousins hob und diesem die Lider schloss. Gleichermaßen fasziniert wie neugierig verfolgte die Dryade diesen scheinbar typisch menschlichen Totenritus. Oswald schloss die Augen, neue Tränen strömten unter seinen Lidern hervor, während er die Hände zum Gebet faltete. Ereshkigal möge die Seele seines Cousins sicher geleiten und Mermerus solle Nachsicht haben.

Medea hätte ihm sagen können, dass dem nie so geschehen würde. Schuld wurde nicht einfach vergeben – eine Solche erst recht nicht. Sigmunds Taten und Pläne würden aufgewogen werden und für ihn stand es wahrlich nicht zum besten. Doch sie spürte, dass solche Kunde das Leid ihres Gastes mehren würde und schwieg. Stattdessen grub sie die Hände in das Erdreich, schöpfte mit dem Halbrund ihrer Handflächen ein ansehnliches Stück des feuchten Grundes und hielt es Oswald entgegen. Erst als dieser zu ihr herüber blickte, zog ein zartes Lächeln auf die Lippen der Hüterin.

„Ihr Menschen könnt so einfältig sein...“ flüsterte sie leise, schloss die Augen und flüsterte lautlose Worte. Ein kleiner Keimling spross aus dem Erdreich, zarte Blätter wurden entfaltet, die kleine Pflanze schnellte in wenigen Augenblicken zur vollen Größe herauf. Mit sieben fast unscheinbaren Blättern ragte sie nun aus der Erde, die Medea zu ihm hielt. Als sie die Augen aufschlug, öffnete sie die Finger. Kleinere Krümel und Bröckchen bröselten zu Boden, bis sie nur noch die Pflanze selbst samt ihrer Wurzeln hielt. „Schleierkraut ist in Lumiél selten geworden. Nimm nur ein Blatt, spare dir die Anderen, solltet ihr denn mehr als nur ein Kind wünschen.“ flüsterte sie noch immer lächelnd und überreichte Oswald die Pflanze. Einen Moment völlig verdutzt betrachtete er sich das zarte Stück Grün. Nie zuvor hatte er Magie wirken sehen, doch hier nun hielt er einen Beweis ihrer Existenz in den Händen!

Medea half dem Kerkermeister auf die Füße und zog ihn mit den Worten, dass sie sich darum kümmern werde, von Sigmund hinfort. Noch während Oswald seinem Cousin den Rücken zuwandte, strömten zunehmend dicker werdende Wurzeln aus dem Boden, umschlossen den fülligen Körper und begannen ihn nach und nach in das zurückweichende Erdreich zu ziehen. Kaum ein paar Minuten vergingen, da schloss sich das Geflecht aus Wurzeln und Erde wieder und hinterließ einen makellosen Flecken Wald, auf dem sich scheinbar nie etwas zugetragen habe.

Bis zum Lager und darüber hinaus bis zur Baumgrenze geleitete Medea Oswald. Dort verabschiedeten sie einander. Der Kerkermeister schwor bei Leib und Leben, bei der Geburt seines ersten Kindes zurückzukehren und ihr zu danken, während die Hüterin ihn wissen ließ, dass seine Sippe allzeit willkommen sei.

Heim kehrte Oswald allein. Das kleine Ledersäckchen an seinem Gürtel war ohne dessen Wissen praller noch geworden, denn Medea wusste um den Nutzen dieser Münzen für die Menschen, hatten doch zu viele einander schon darum erschlagen und sie nutzlos in ihrem Wald herumliegen lassen.

Als seine Frau ihn in die Arme schloss, da ward ihm, als habe er etwas vergessen. Doch ihr Strahlen allein, ihre Küsse, wie sie sich aufjauchzend ihm in die Arme warf, ließ Oswald die Welt vor jener Tür ignorieren. Was dort draußen war, einerlei. Sie zog ihn schelmisch grinsend und lachend in die Küche, gemeinsam tranken sie einen recht speziellen Tee, dessen Mischung sie einer Gefangenen und einer Gottgesandten zu verdanken hatten, ehe die kleine Rothaarige auflachend und freudig wie nie ihren Liebsten die Treppenstufen empor zog.

Er war daheim...



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2015-05-27T09:48:51+00:00 27.05.2015 11:48
Hi!

Ich mag das Kapitel, obwohl der Einstieg etwas zäh ist und ich den ersten Absatz dreimal lesen musste. Sobald Zadiora betreten wird, ist die gesamte Geschichte zauberhaft, leichtfüßig und malerisch. Ich mochte diese Welt! Am Meisten jedoch Medea, sie ist eine echte Waldgöttin! Und wenn ich mir ansehe wie das Schleierkraut wuchs und dass sie Oswald "Vergessen" schenkte, dachte ich daran, dass sie mit dem Lauf der Dinge und Natur ganz im Reinen ist. Das ist so gut dargestellt! Aber wie wurde sie überwältigt? Das nagt an mir, ich tippe auf ihre verhängnisvolle Neugierde. Das Ende geschieht Sigmund ganz Recht und dass es im Affekt geschah, wurde deutlich herausgekehrt. So aufgewühlt, so authentisch! Da kann einen nichts trösten, die Schleierkrautsuche hat Böses hervorgebracht und ich frage mich, ob Oswald das nicht wieder verfolgen wird.
Oder hat er nicht nur eine, sondern alle Erinnerungen an den Bruder verloren? Das wäre heimtückisch.
Kleine Stilfeinheit: Nach einer wörtlichen Rede kommt immer ein Komma, also "Layre findet die Geschichte super", plapperte sie.

Gruß von Layre und der KomMission!


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