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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Gewaltfreie Methoden

„Du musst langsam lernen, auf eigenen Beinen zu stehen“, witzelte Thorin heiter, als das Gröbste getan war.

Und wie gern hätte sie ihm dafür eine Ladung frischen Schlamm direkt in sein breites, selbstgefälliges Grinsen gedrückt. Doch Sierra beherrschte sich. Nicht nur, weil sie wusste, dass er sie lediglich aufzog und es nicht böse meinte. Sondern allem voran, weil sie die nicht völlig unbegründete Befürchtung hegte, dass das Heft ihres Schwertes sie durchbohren könnte, sollte sie in ihren Anstrengungen nachlassen.

Der nordländische Riese, der auf ihr lag, mochte sicherlich um die einhundertzwanzig, vielleicht sogar einhundertdreißig Kilo wiegen. Die Klinge ihres Schwertes ging durch seine Brust, war irgendwo an Rippen abgerutscht, durchgestoßen und tatsächlich auf der Rückseite herausgetreten. Und genau das war das Problem. Tot war er schon lange – ein dünnes Rinnsal aus Blut sickerte aus seinem leicht offenstehenden Mund direkt auf eine Stelle am Boden keine zwei Zentimeter von ihrem Ohr entfernt. Und vermutlich in ihre Haare. Die Vorstellung allein machte sie wiederum wütend genug, die Hände noch etwas verkrampfter um das Schwertheft zu schließen.

Unzählige Wunden hatten ihn letztlich in die Knie gezwungen. Hätten es auch, bevor er sich entschied, sie mit in den Tod zu reißen, indem er sich direkt in ihr Schwert stürzte – die eigene Waffe ebenfalls zur Attacke bereit. Nur das sie geschickt unter seinem Schlag wegduckte. Sie hatte lediglich nicht erwartet, wie, nun… wuchtig ein Zusammenprall mit ihm wäre. Er hatte sie umgeworfen und sich dabei selbst aufgespießt. Und jetzt bekam sie aufgrund der unglücklichen Position ihres Schwertes allmählich Krämpfe in den Armen und wurde die Befürchtung nicht los, dass die schlimmste Wunde dieses Kampfes, die sie erlitten haben würde, von ihrer eigenen Waffe stammte.

Das wäre einfach nur peinlich.

Sie hätte ihn wirklich gern schlicht zur Seite abgewälzt. Das wäre nur gut und logisch gewesen. Nur lag links ein kleiner Berg aus zwei weiteren, von Thorin gefällten Riesen und rechts ging es die Böschung hinab. Sie wusste nicht, wie tief oder wohin und wenn sie ihn zur Seite wälzte, nun… ihr Schwert steckte ziemlich tief drin und ihre Kraft war nahezu erschöpft. Sie wollte die Klinge allerdings schon behalten. Irgendwo rauschte Wasser und das hätte ihr jetzt noch gefehlt, nach dem ganzen Desaster, was diese Reise bisher war – ihre Klinge an einen Fluss zu verlieren.

„Halt die Klappe und mach dich endlich nützlich!“, fluchte sie kleinlauter, als ihr lieb war.

„Wohoho, ganz ruhig mit den jungen Pferden – sonst setz‘ ich mich am Ende vielleicht auch einfach oben drauf und deine heutige Trainingseinheit besteht darin, dir zu überlegen, wie du dich aus der Misere befreist“, schoss Thorin unumwunden zurück. Nach wie vor nicht ernst, aber doch mit leicht rügendem Unterton. Glücklicherweise musste sie nicht weiter mit ihm herumzanken. Vermutlich, weil er nur zu gut um ihre Kräfte und Reserven wusste.

In letzter Zeit hatte sie oft das Gefühl gehabt, dass er besser um ihre Grenzen und Fertigkeiten wusste als sie selbst. Mit allem, was er wusste, konnte und verstand war ziemlich offensichtlich, dass Thorin früher einmal Soldat in irgendeinem Heer gewesen sein musste. Bei seiner kommandierenden Stimme und dieser Aura der Autorität, die er zumindest auszustrahlen fähig war, vermutlich sogar in einer höheren Position. Die Vorstellung, von ihm taxiert, analysiert und bewertet zu werden, damit er ein persönlich auf sie zugeschnittenes Trainingsprogramm entwickeln konnte, um ihre Potenziale aus deren Winterschlaf zu kitzeln, war absurd.

Dann wiederum: In den Nächten war er es schließlich, der ihr einen Teil ihrer Kräfte raubte. Die kläglichen Reste des Vortages und dem Gefühl von Erschöpfung am Morgen nach zu urteilen auch einen kleinen Teil der Reserven für den nächsten Tag. Vielleicht wusste er einfach deshalb, wieviel er ihr zumuten konnte. Denn in dem Feld war er definitiv auch kein Waisenknabe…

„Denkst du, die hören irgendwann auch mal wieder auf, uns zu jagen?“, erkundigte sie sich ätzend, als sie dank seiner Hilfe endlich ihre Freiheit wiedergewann. Er hievte mit sichtlicher Anstrengung den Hünen von ihr herunter, sodass sie direkt die Klinge aus dessen Leib ziehen konnte und platzierte den Toten auf seinen zwei Kameraden zu ihrer Linken.

Die angebotene Hand nahm sie nur zu gerne an und ließ sich auf die zugegeben wackeligen Beine ziehen. Sechs Anhänger des Kultes der Mohnblume, alle riesig, alle in soliden, beschlagenen Lederrüstungen, ausgestattet mit gewaltigen Hämmern, Äxten und Großschwertern, alle mit dem Emblem einer stilisierten Mohnblume auf ihrem Helm, alle… tot.

„Verdammte Fanatiker“, zischte Thorin leise, schulterzuckend, ehe er mit den üblichen Aufräumarbeiten begann. Rüstungen und Waffen waren Geld wert, Proviant war gern gesehen, gerade hier und jetzt. Wasser war auch in Ordnung. Alles, was sie gebrauchen konnten, nahmen sie – und gebrauchen konnten sie letztlich fast alles. „Keine Ahnung und mir auch egal. Irgendwann sollten sie einsehen, dass ihre Leute nicht erfolgreich sind. Das ist jetzt die dritte Gruppe. So sehr beleidigt haben wir sie nun auch wieder nicht. Ich schätze, ein oder zwei Gruppen noch, höchstens. Wenn sie danach weitermachen, gibt es bald keinen Kult mehr. Sie brennen sich selbst aus.“

Sierra half natürlich, so gut ihre erschöpften Reserven es zuließen. Wobei es jetzt etwas besser wurde. Nun, da sie wieder frei atmen und ihren Armen wenigstens etwas Entlastung und Entspannung zugestehen konnte. „Du gehst davon aus, dass sie nicht erfolgreich sein werden. Die nächste Gruppe schafft es vielleicht schon. Oder zumindest könnte das sein, worauf sie hoffen? Zermürbungstaktik, quasi?“ Thorins amüsierter Blick sagte alles Nötige. Zu ihrer Verteidigung zuckte Sierra lediglich mit den Schultern. „Was? Erfahrungsgemäß sind die wenigsten Leute wirklich… naja… klug. Ganz zu schweigen von: Taktisch versiert.“

Seine Braue wanderte ob des indirekten Hohns seiner Lehrsätze etwas höher und Sierra entschied, ihr Glück an dieser Stelle nicht überstrapazieren zu wollen. Stattdessen setzte sie ihre Suche fort und bereute gedanklich, dass sie sich vor ein paar Wochen auf Thorins Scherze bezüglich des Emblems und Namens des Kultes überhaupt eingelassen hatte. Es war – in dem Moment – das Witzigste gewesen, was ihr seit vielen tristen Tagen untergekommen war. Aber jetzt? Jetzt war es eine gute Lektion darin, dass man sich nie zu sicher sein sollte, wer nicht alles ein vermeintlich privates Gespräch mithörte.

Es dauerte keine halbe Stunde, dann waren ihre üblichen Aufräumarbeiten abgeschlossen. Die nunmehr fast nackten Leichen, bekleidet nur noch mit ihrer Unterwäsche und den vermutlich kulturell irgendwie bedeutsamen Tätowierungen, ließen sie für die Tiere liegen. Thorin befand das nur gerecht. Sie waren zwar gute Gegner gewesen, herausfordernde Gegner, aber man jagte sie wie Füchse – sandte die Hunde hinter ihnen her, während der eigentliche Jäger irgendwo bequem in der Ferne auf Erfolg wartete. Das wiederum passte ihm offenkundig so gar nicht und obgleich dieser Fuchs vor den ihnen jagenden Hunden Respekt hatte, war sein Widerwille dem Jäger gegenüber groß genug, die Hunde nicht zu begraben.

Wie er es jedoch sowieso nur für die wenigsten seiner Gegner letztlich auch tatsächlich tat.

Ein Knurren unterbrach ihren flapsigen Kommentar, als sie sich wieder zu Thorin gesellte. Rasch schoss leichte Röte in ihre Wangen. „Hätte mich wirklich gefreut und auch gewundert, hätten die etwas mehr Proviant dabei gehabt.“ Thorin musterte sie kritisch, nickte dann und begann, in seinem Rucksack zu wühlen. Nach einem Augenblick zog er drei Streifen Trockenfleisch und ein Viertel Brötchen hervor, inzwischen hart wie Stein.

„Iss“, wies er knapp an und drückte es ihr in die Hand.

Sierra fühlte sich damit mehr als unwohl. Thorin hatte Hunger, so wie sie auch. Daran gab es keinen Zweifel, konnte es nicht geben. Wie lange hatten sie kein vernünftiges Mahl mehr gehabt?

Dieser ganze Landstrich war verflucht. Vielleicht nicht wortwörtlich verflucht… oder, nun, vielleicht ja irgendwie doch.

Die Hungersnot, die in dieser Region grassierte, war fürchterlich. Auf einer kargen Strecke, die nur alle drei bis vier Tage ein Gasthaus aufbot, hatten sie die Auswirkungen gesehen und auch am eigenen Leib erlebt. Die Gasthäuser boten Wasser. Für das Bier fehlte die Gerste. Für den hiesigen, berüchtigten Schnaps die notwendigen Pilze. Für die Lammkeule fehlte das Lamm und für die Beilagen die Kartoffeln, die Erbsen, die Möhren.

Proviant gab es höchst selten zu kaufen. Anfangs hatten die Diebe die Vorratslager geplündert und alles zu Wucherpreisen unter die Leute gebracht. Aber das war seinerseits auch schon wieder eine Weile her. Inzwischen – das war das Problem mit Essen: irgendwann war es einfach weg -, gab es keine Vorratslager mehr. Und die Diebe waren ihrerseits oftmals zu erschöpft und geschwächt, um sich nicht erwischen zu lassen.

Die Rationierungen zu Gunsten der Soldaten hatten auch nicht wirklich geholfen. Es stand im Gesetz verankert: Wer sich zur Ausbildung bewarb, der wurde aufgenommen und zwei Wochen lang in der Kaserne auf Tauglichkeit geprüft. Zwei Wochen, in denen er Unterkunft und Versorgung erhielt, als sei er ein Soldat.

Und ganz plötzlich gab es bemerkenswert viele, die freiwillig eine Militär-Karriere einschlagen wollten. Ganz gleich, ob sie dreizehn oder fünfzig waren, ob sie halb verhungert ankamen, ob sie ihre Juwelen nicht ablegen wollten. Denn selbst Reichtum konnte nicht kaufen, was zu kaufen einfach nicht da war.

Gerüchte, warum es dem Land so miserabel erging, gab es natürlich hinreichend. Und mit all dem, was sie dazu vernommen hatten, hatte sich auch ein gewisser, roter Faden herauskristallisiert. Lord Marrkus Hedwig, der Aufseher dieses Landstrichs, hatte angeblich – da gingen die Geschichten wieder sehr auseinander – irgendwie Phylia verärgert.

Sehr.

Und das Resultat sah und spürte man. Sehr deutlich sogar. Die Tiere waren flüchtig, scheuer denn je. Kaum eins ließ sich blicken – als würden ihre Sinne mit denen der Vögel kooperieren, die beständig Wachen gleich am Himmel Ausschau hielten und Warnrufe ausstießen, gerade hoch genug, das ein präziser Bogen sie nicht traf, eine Armbrust aber schon… wenn es der denn mal gelang, auf die Distanz ins Schwarze zu treffen.

Auf den Feldern sah es derweil nicht anders aus. Die Bäume wuchsen, die Gräser wuchsen, das Getreide wuchs. Wirklich, den Pflanzen ging es prächtig. Besser denn je. Ihre satten Farben frohlockten regelrecht. Aber es gab nicht einen Apfel an den Ästen, nicht ein Korn in den Ähren, nicht eine Karotte im Boden.

Zu Beginn hatte man Besserung erwartet. Das Korn würde schon wiederkommen. Und das Vieh ebenso. Man wartete, geduldig, während Geschichten über die Gründe die Runde machten. Beunruhigend, aber es gab Vertrauen in die Obrigkeit. Und tatsächlich wurden ja auch Karawanen zusammengestellt, aus den nicht betroffenen Nachbargebieten. Aber die wurden ihrerseits angegriffen, direkt oder indirekt.

Es waren Wölfe und Bären und Marder, die über die Leute herfielen. Mancher trug sich mit den Krankheiten, die ein Biss verursachte oder den hässlichen Wunden, die so eine Pranke anzurichten wusste. Aber was die Tiere wirklich gewollt hatten? Das Essen stehlen. Was immer sie damit auch tun mochten – sie trieben die Ochsen und Pferde vom Weg ab. Der Karren kippte oder wurde komplett entführt und in Windeseile war nicht ein Stück Obst, Gemüse oder Fleisch übrig, das man noch irgendwohin hätte liefern können.

Und manches, manches verrottete auch einfach, sobald es das Gebiet betrat. Gerade während der späteren Lieferungen, als mehr und fähigere Wachen mitgesandt wurden, befiel ein seltsam aggressiver Schimmel die Vorräte.

Die Leute warteten einfach zu lange. Der von den umliegenden Dörfern und Städten befürchtete, gewaltige Exodus dieses Landstriches kam nie – anfangs hoffte man, dann bangte man, am Ende setzte sie Verzweiflung ein. Doch in jenem letzten Stadium, dass die Leute aus dem Haus getrieben und ihre Sachen packen ließe, waren die meisten einfach schon zu geschwächt, um große, lange Reisen zu überstehen. Vom Gezänk mit denen ganz zu schweigen, die sicherlich unwillens am Ziel ihrer Odyssee auf sie warten würden.

Thorin seinerseits gab sich von alledem bemerkenswert unbeeindruckt. Er zog seiner Wege, tat seine Dinge. Wenn Vorräte ihn das Zehnfache kosteten, gab er das Geld nur zu gern. Wenn es keine Vorräte gab, zogen sie weiter. Das Gebiet war nicht endlos lang – sie würden herauskommen, bevor sie tatsächlich verhungern würden. Wahrscheinlich.

Dennoch. Ihr selbst setzte das alles sehr zu. Die Leute so zu sehen. Hungernd. Zweifelnd. Verzweifelnd. Wie um alles in der Welt konnte er nach wie vor diese unendliche Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen?

Diesen und ähnlichen Gedanken hing sie nach, während sie auf dem Stück Brötchen herumkaute. Ihr Magen gierte regelrecht danach. So sehr, dass ihr sogar von der Aussicht, etwas zu essen, schlecht wurde. Dennoch sollte sie, musste sie, etwas essen. Also zwang sie sich, biss ab, würgte es herunter. Spülte mit Wasser nach. Davon wiederum hatten sie reichlich.

 

Es war eine weitere Tagesreise bis zum nächsten Dorf. Costlein lag tiefer in einem großen Waldgebiet. Und schon bei Betreten des Dorfes wurde rasch klar, wie wenig Hoffnung auf Besserung es hier gab. Im Gegenteil. Fast schien Sierra, als würde es von Dorf zu Dorf eigentlich nur noch schlimmer werden.

Was natürlich auch stimmte. Nicht der Entfernung oder Lage wegen, sondern der Tage wegen, die dazwischen lagen.

Die Leute wirkten elend. Niedergeschlagen, verzweifelt, ausgehungert. Kaum jemanden sah man seinem Handwerk nachgehen. Die Holzfäller waren daheim, statt im Wald auf Bäume einzuschlagen. Die Esse in der Schmiede stand still. Der Bäcker saß gelangweilt vor der Tür seiner Stube. Man bewegte sich so wenig wie möglich. Um Kraft zu sparen.

Wie viele Alte, Kranke und Kinder mochte diese Hungersnot schon das Leben gekostet haben?

„Das Gasthaus ist da drüben, Träumer“, meinte Thorin und stieß sie mit einem schmalen Lächeln gegen die Schulter.

Sie hatte durchaus mitbekommen, wie er angehalten hatte. Sie hielt schließlich auch an. Sie hatte am Rande mitbekommen, wie er zu einem der Leute ging und kurz mit ihm sprach. Vermutlich eben, sich nach dem Weg erkundigte. Sie hatte auch mitbekommen, wie er zurückgekehrt war, aber… dieses Dorf. Es zwang ihren Fokus zu den Leuten darin.

Natürlich war Costlein nicht anders als die anderen Dörfer. Es schockierte sie nur irgendwie jedes Mal wieder.

Benommen nickte sie und setzte sich in Bewegung, folgte ihm zu dem gewaltig aufragenden Bau. Gewaltig jedenfalls im Vergleich zu den restlichen, bescheidenen und oftmals einstöckigen Hütten. Das Gasthaus gebot über drei Stockwerke. Unten teilten sich Lager, Gastraum und die Unterkünfte des Wirtes und seiner Familie das Areal. Und zwei Stockwerke für die Gästezimmer und Bäder. Das war recht pompös, luxuriös geradezu. Gerade im Angesicht dessen, wie klein und bescheiden Costlein sonst war.

Zu besseren Zeiten musste es sich bei dem Dorf wohl um eine Art Durchgang handeln. Viele, die auf Reisen waren, kamen und gingen auf tagtäglicher Basis. Wohin oder woher, das konnte sie nicht abschätzen – letztlich war ihr das Land fremd. Thorin hatte auch nur wenig zu sagen gewusst. Vielleicht aus Desinteresse. Vielleicht seiner Philosophie wegen, dass Kultur und Wissen in einen unweigerlich, indirekt, irgendwie einsickern würden, wenn man sich in einer Gegend nur lange genug herumtrieb.

Was sie bei Betreten des Etablissements nicht überraschte, war der Anblick vieler an den Tischen sitzender Leute mit Krügen voller Wasser, keinen Teller in Sicht, und lange, verdrossene Gesichter. Dennoch war in dieser Stimmung etwas einzigartig. Anders als in den anderen Gasthäusern, die sie bisher passierten. Eine unterschwellige Feindseligkeit.

Thorin steuerte dessen ungeachtet zum Wirt an den Tresen.

„Ein Zimmer für zwei“, bestellte er.

„Wie lange?“, schoss der hagere Mittvierziger zurück. Er stellte den Krug ab, den er mit seinem Tuch trocknete und trat an das Schlüsselbrett herüber.

„Kommt drauf an. Erstmal eine Nacht“, gab der Hüne zurück.

Die Brauen des Wirtes dagegen hoben sich leicht. „Worauf kommt’s denn an?“ Dennoch zog er bereits einen Schlüssel vom Brett und kehrte damit zum Tresen zurück.

„Was habt ihr auf der Speisekarte? Und könnt ihr Proviant für die Weiterreise bereitstellen?“ Thorin war kein Dummkopf. In seinem Rücken saßen dutzende Einwohner Costleins, die sehr hungrig, sehr  verstimmt und – vermutlich – sehr streitlustig waren. Doch das musste nicht zwangsläufig immer den gleichen Grund haben. Aber er senkte die Stimme zumindest so weit, dass selbst Sierra ihre Schwierigkeiten hatte, alles auszumachen.

Der Blick des Wirtes verfinsterte sich ebenfalls einen Moment, ehe er seufzend das Gesicht verzog, als habe Thorin persönlich ihm gerade eine Maulschelle verpasst. Und Sierra wusste, dass solch eine durchaus Kiefer ausrenken konnte.

„Hirschbraten, Wildschweinbraten, Hase, Fasan, Forelle, Barsch… Soße nach Wahl. An Gemüse haben wir Kartoffeln, Erbsen, Möhren, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Pilze. Für den Proviant kann ich Hartkäse und Trockenfleisch anbieten, eingelegten Fisch, Brot.“ Es schien den Mann regelrechte Schmerzen zu bereiten, das auszusprechen. Als müsse er jedes Wort hervorwürgen. Und auch er bemühte sich, so leise wie möglich zu sein.

Thorin stutzte – Sierra ebenso. „Ich wollte nicht wissen, was ihr sonst da habt, sondern, was ihr da habt.“

Der Wirt seufzte bemüht leise. „Ich weiß. Bleibt dabei.“ Nun – das war doch interessant!

Thorin nickte. „Wo ist der Haken?“ Es gab keinen Grund, großartig um das ziemlich offensichtliche Problem herumzutänzeln – das im Grunde im Dutzend in ihrem Rücken herumsaß und versuchte, ihre Mägen mit Wasser zu besänftigen.

„Der Preis“, erklärte der Wirt sichtlich unbehaglich, „Eine volle Mahlzeit? Zehn Gulden. Und ich muss zusehen, dass ich’s euch unbemerkt aufs Zimmer bringe. Sonst weiß ich nicht, was die Leute hier tun werden.“

Thorin nickte und Sierra konnte ihm ansehen, wie er in Gedanken ihre gesamte Habe durchrechnete. „Nehmt ihr auch Güter an?“, erkundigte er sich.

„Wir haben einen ehemaligen Bergarbeiter hier, früherer Schmiedelehrling, er kennt sich mit verschiedenen Steinen und Metallen aus, kann Verarbeitung und sowas beurteilen. Was immer ihr habt, gebe ich ihm. Was immer er schätzt, bekommt ihr raus.“ Thorin nickte. Das war nicht unbedingt fair, aber das interessierte den Hünen wenig. Zehn Gulden für eine Mahlzeit war schließlich auch alles andere als fair. So speisten vermutlich nicht einmal Niederadlige.

„Gut. Wir bleiben mindestens vier Tage. Frühstück, Mittag, Abendessen. Lasst euch was einfallen. Falls eure Vorräte das mitmachen. Eventuell länger. Und wir nehmen Proviant mit. Genug für unsere zwei Rucksäcke.“ Dem Wirt konnte schlecht das ansehnliche Sammelsurium an Waffen, Armschonern, Helmen und Brustpanzern entgangen sein, das Thorin gut in einem Fischernetz verschnürt mitschleppte. Oder die prall gefüllten Beutel an seinem Gürtel.

Und dennoch klappte ihm zunächst ungläubig der Kiefer herab, ehe er nickte und stirnrunzelnd nach hinten verschwand. Er kam keinen Herzschlag später zurück. Gab Thorin die Adresse, an der er die Habe abliefern sollte. Und ließ sich die Beutel voller Münzen zeigen. Goldmünzen, allesamt. Weit über zweihundert.

Von denen Thorin nach Sierras Kalkulation gerade mindestens einhundertfünfzig ausgegeben hatte. Für vier Tage Kost und Logis plus Proviant für die Weiterreise. Das war… einfach nur völlig absurd. Wahnsinn.

„Das kann nicht dein Ernst sein?“, zischte sie leise, während sie sich wieder durch das Dorf zum alten Bergmann begaben. „Die Leute verhungern und du verschleuderst unser gesamtes Erspartes für ein bisschen Essen?“

Sie war wütend. Sie wusste nur nicht genau, warum. Oder auf wen eigentlich. Thorin bot sich nur als Ziel gerade an, sehr. Insgeheim freute sie sich auf die Aussicht, ein gutes Mahl zu genießen. Vermutlich würde sie es eher herabschlingen. Aber allein der Gedanke, ihr Magen könne wieder in eine Phase übergehen, in der er nicht alle paar Minuten ziepte und krampfte… sie glaubte sich kaum noch erinnern zu können, wie das so war.

War sie wütend darauf, sich auf ihr Essen zu freuen, während vor der Tür andere verhungerten? War sie wütend auf sich, weil ihr der Gedanke, ihr Essen zu teilen, so wenig zusagte, dass er nicht einmal direkt aufgetaucht war? War sie wütend, das Thorin so selbstverständlich mit alledem umging? Oder gar nicht weiter nachbohrte, wie es zu diesem wirklich merkwürdigen Wunder hatte kommen können? Oder war sie wütend auf ihn, weil er das Vermögen, das sie in einem halben Dutzend Aufträgen angespart hatten, jetzt mit beiden Händen zum Fenster hinauswarf?

Es gab einfach zu viele Ansätze. Sie fühlte sich wütend. Und ziellos.

„Du musst wieder zu Kräften kommen“, gab er schlicht zurück, „Und den Wald hatte ich nicht eingeplant. Der wird uns ein paar Tage mehr Reisezeit kosten. Wir können die Rast und den Proviant gut gebrauchen.“ Aus seinem Mund, so direkt und unverblümt, klang es simpel, wirklich. Aber es machte sie nur wütender. Warum musste sie zu Kräften kommen?! Was war verdammt nochmal eigentlich mit ihm? Hatte er keinen Hunger? War nicht geschwächt?

Sierra ertappte sich selbst später erst dabei, dass sie finsteren Blickes hinter ihm her gestapft war wie ein trotziges Kind. Und nicht nur verlor sie selbst kein einziges Wort darüber – sie war sehr, sehr dankbar, dass er es auch nicht tat.

Der geschätzte Wert der Ausrüstung erschien ihr gerecht. Sie hatte selbst nicht so viel Ahnung von Material und Herstellungsprozess – oder den Schwierigkeiten dessen -, aber sie erkannte eine gute Rüstung, wenn sie sie sah. Leder insbesondere. Also kehrten sie ins Gasthaus zurück, nachdem ihnen versichert worden war, dass der etwas rundliche Alte sich mit dem Wirt in Verbindung setzen und alles Weitere klären würde. An anderer Stelle hätte Sierra sich vielleicht Sorgen gemacht, auf das Wort von jemandem zu vertrauen und so viel Wertvolles zurückzulassen, ohne jegliche Absicherung. Doch sie wusste inzwischen auch gut genug, das Thorin – sollte jemand versuchen, ihn übers Ohr zu hauen – an sein Geld herankommen würde. So oder so. Irgendwie.

Meist wollte man gar nicht erst im Detail herausfinden, wie.

Während sie auf ihrem Zimmer aßen – das Essen war mittels eines Korbes und einer Seilwinde an dem Wald zugewandten Rückseite des Hauses hinaufgeschickt worden – kehrten unweigerlich die vorher schon vorhandenen Zweifel zu Sierra zurück. Sie saß hier und speiste geradezu fürstlich und dort unten saßen dutzende arme Schweine und hungerten vor sich hin. Bei den Preisen, die sie hatten entrichten müssen, war das kein Wunder, wirklich. Verwunderlich war da schon eher, warum sich die Leute nicht scharenweise zu Räuberbanden einfanden und einander überfielen in dem Versuch, genug Münzen für eine Mahlzeit zusammenzukratzen. Oder das Gasthaus zu plündern.

Und gerade dieser letzte Gedanke bereitete ihr Kopfzerbrechen. Wieso gab es hier Essen?

„Ist mir egal“, kam von Thorin, als sie das Besteck bei Seite legte, sich ihm zuwandte und gerade den Mund öffnete, um ihn genau das zu fragen. Der Hüne kaute fertig, schluckte das Stück Braten herab und sah recht eisernen Blickes zu ihr herüber. „Wirklich. Ist mir egal. Mir ist egal, ob irgendein Adliger Mist gebaut hat, ob die armen Leute darunter leiden, ob die Götter involviert sind, ob wir das Gasthaus plündern und den Leuten die Vorräte zukommen lassen könnten – ist mir alles egal. Dafür sind wir nicht hier. Wir sind auf der Durchreise. Nicht mehr, nicht weniger. Du wirst essen, du wirst wieder zu Kräften kommen, wir ziehen weiter. Wir prügeln und vermutlich noch ein, zwei Mal mit den Blümchen-Kultisten herum, verlassen das Gebiet, stocken mit dem restlichen Geld zu vernünftigen Preisen unsere Vorräte neu auf, erarbeiten uns vielleicht noch ein paar schnelle Zusatzmünzen und nehmen im nächsten Hafen das erstbeste Schiff runter von diesem Kontinent. Du kannst nicht das Elend der ganzen Welt heilen. Versuch’s gar nicht erst – ist eine undankbare Aufgabe, endlos obendrein, und jeder wird dir dabei bestmöglich im Weg stehen.“

Mit jedem Wort, jedem Satz ein neuer Schlag. Er nahm ihr rasch jeglichen Wind aus den Segeln, dimmte das Flämmchen ihrer Gutmütigkeit immer weiter herunter, bis es zu erlöschen drohte. Was hatte sie für Chancen ohne ihn? Was konnte sie ausrichten, wenn er ihr dabei nicht half?

Doch ein kleiner Funke Widerstand blieb. Ein kleines Bisschen Aufbegehren und Rebellionswillen. Und dieses unscheinbare kleine Ding fand eine nicht weit zurückliegende Erinnerung. Etwas, das sie damals schon angestachelt und aufgewühlt hatte. „Du musst langsam lernen, auf eigenen Beinen zu stehen – deine Worte, oder nicht?“, warf sie ihm zur Antwort entgegen.

Thorin sah auf, nachdem er die Sache ziemlich offensichtlich erledigt geglaubt und sich wieder seinem Essen zugewandt hatte. Einen Moment stutzte er, musste sich sichtlich erinnern… seufzte dann jedoch. „Mach, was du willst. Rechne nur nicht mit mir.“

Sie nickte. Das waren also seine Konditionen. Das waren ihre Arbeitsbedingungen. Fein. Dann wusste sie zumindest, woran sie war.

 

Alles, was sie tun musste war, der Spur aus Brotkrumen zu folgen. Wortwörtlich, gewissermaßen.

„Woher kommt das Essen?“, erkundigte sie sich bei Lanzelot – nachdem sie eine Weile mit ihm über banale Dinge hatte plauschen müssen, um seinen Namen zu erfahren. Lanzelot, der Wirt, war eigentlich ein sonniges Gemüt. Einstmals gewesen jedenfalls. Sein Weib war schwanger. Nicht hochschwanger, aber schwanger. Er hatte eine Tochter von fünf Jahren. Viele der verdrossenen Kunden in seinem Schankraum waren Freunde. Costlein war, wie so viele Dörfer, eine eng zusammengewachsene, dicht verknüpfte Gemeinde. Jeder kannte jeden. Er kannte ihre Namen, ihre Gesichter, ihre Lieblingsgetränke, ihre Leidensgeschichten.

Und es nahm ihn sichtlich mit, ihnen nicht helfen zu können. Nur warum konnte er das nicht?

Weil er es nicht durfte. Soso. Und warum durfte er nicht?

Und an der Stelle rannte sie gegen eine Wand. Lanzelot war ein höflicher und freundlicher Gesprächspartner gewesen. Sie hatte sogar hier und da Andeutungen von Humor erkennen können, der unter all der schlechten Laune und der Ernsthaftigkeit der gegenwärtigen Situation begraben lag. Also zielte sie sorgsam, nach Thorin-Art, mit dem Kopf auf die richtige Mauerstelle und strebte an, vornübergebeugt einfach durchzubrechen.

Lanzelot verzog das Gesicht, als hätte er ihren sprichwörtlichen Schädelaufschlag an seiner Wand spüren können. Und mehr noch: Ihren Durchbruch. „Aus dem Vorratslager.“

Sierra stutzte zunächst. Es gab Vorratslager, klar, gab es in jedem Dorf. Für harte Winter wurde dort eingelagert. Aber doch kein frisches Fleisch. Kein verderbliches Obst und Gemüse. Getreide, ja. Winteräpfel. Käseräder. Trockenfleisch. Salzfische. Aber doch nicht sowas!

Mehr noch war sie natürlich überrascht davon, überhaupt so einfach erfolgreich gewesen zu sein. Sie hatte erwartet, ein paar rhetorische Finten und diplomatische Fallstricke auspacken zu müssen und nicht, das sie einfach direkt eine Antwort bekäme. Das sprach nur umso mehr dafür, dass hier irgendwas im Argen lag. Er wusste es. Er sprach offen darüber. Also war die Wahrscheinlichkeit nicht niedrig, dass jeder es wusste.

Warum also die Zurückhaltung? Wohin waren da plötzlich die kräuterbeilschwingenden Fackelmobs verschwunden?

„Einfach so?“, hakte sie zunächst verdutzt nach, „‘Im Vorratslager‘, und das war’s? Du sagst mir vermutlich auch gleich noch, wo das ist, oder?“

Lanzelot zuckte mit den Schultern. „Wenn du’s wissen willst. Bringt dir nur auch nichts. Dir nicht und auch sonst niemandem was.“

Theorie bestätigt. Jeder wusste es. Dort gab es Essen. Und trotzdem saßen alle hier, als warteten sie auf ein Wunder. Oder Lanzelots plötzliches Verscheiden durch Herzstillstand, damit sie seine Vorratsküche plündern könnten. „Wieso nicht? Wird das Lager von Geistern bewohnt? Von grässlichen Monstern verteidigt? Wie kommt ihr dann an die Vorräte?“

Lanzelot lachte tatsächlich kurz auf. Ein knappes Glucksen, nicht mehr, wirklich. Aber es war da. Und angesichts der miserablen Umstände… war das viel. Er schüttelte noch immer milde lächelnd den Kopf. „Keine Monster, nein. Sonst hätten wir waffenstarrende Reisende wie euch längst um Hilfe gebeten. Sebastian und Fridolin sind beim Lager. Und an denen kommt ihr nicht vorbei. Kommt keiner.“

„Sebastian und Fridolin, hm? Wer sind die zwei?“, hakte Sierra ungeniert nach.

„Gunnarts Söhne. Das ist der alte Bergmann, bei dem ihr wart. Die zähesten, kräftigsten Burschen, die Costlein aufzubieten hat. Und neuerdings zwei von Kafkas Schlägern. Brunhild und Maximilian sind die anderen beiden. Sie weichen Kafka nie von der Seite. Brunhild ist Gunnarts Tochter.“ Lanzelot hatte keine Probleme, darüber zu reden, was vor sich ging – so viel war offensichtlich. Was natürlich auch wiederum hieß, dass er stark davon ausging, dass ihr all diese Informationen nicht das Geringste helfen würden. Ihr nicht oder sonst irgendwem. Aber Sierra erachtete es dennoch als sinnvoll, sich sehr genau umzuhören, sich alles anzuhören. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, hier etwas zum Besseren zu wenden.

„Gunnart schien mir ein vernünftiger Kerl zu sein. Kurzsichtig. Bisschen verschroben und grob, aber so einen kenn‘ ich schon. Sind seine drei Kinder so mies? Und was hat es mit Maximilian auf sich?“ Lanzelot stellte einen Krug vor ihr ab. Vielleicht aus alter Gewohnheit, vielleicht aus Freundlichkeit oder Gedankenlosigkeit. Wasser kostete nichts, ging aufs Haus. Es schmeckte… schal verglichen mit dem Bier, das sie zu ihrem Mahl gehabt hatte.

„Wirf‘s ihnen nicht vor. Gunnart kommt zurecht. Der würde zur Not Stein fressen können und vermutlich überleben. Ich sag’s dir, da steckt Zwerg drin. Seine Kinder sind vernünftig geraten. Sebastian ist nicht das hellste Licht am Kranz, aber ein guter, aufrechter Junge. Fridolin kann eine ziemliche Drecksau sein, je nachdem, in welcher Laune man ihn antrifft. Brunhild ist die Klügste der Bande. Aber sie hat diesen… diesen Drang, ständigen allen nach dem Maul reden zu wollen. Bloß keinen enttäuschen, bloß nicht anecken, bloß keinen Widerstand aufkommen lassen. Wenn man sie sieht – ein ziemlich kräftiges Mannsweib -, erwartet man sowas gar nicht. Sie hat zudem eine hübsche Singstimme. Erwartet man auch nicht unbedingt. Und Maximilian, tja. Der kam vor zehn, zwölf Jahren her. Damals mit seiner Frau. Wollte angeblich neu anfangen. Ließ sich hier nieder, wurde Holzfäller. Mit dem Wald vor der Tür kann man Holzfäller immer gebrauchen. Dann wurde sein Weib schwanger. Starb aber und nahm das Kind gleich mit. Das hat ihn irgendwie kaputt gemacht. Er war die meiste Zeit Säufer. Wir hatten Mitleid und ließen ihm oft viel durchgehen. Jeder erfährt ja irgendwann, wie’s ist, jemanden zu verlieren. Aber sowas ist mies, wirklich mies. Jedenfalls hat er sich bei Kafka vorgestellt wie viele andere, als der seinen Ausruf startete. Stellt sich heraus, dass unser guter alter Maximilian wohl mal Soldat gewesen sein muss. Und er hat nicht alles vergessen. Dieser Tage ist er sogar die meiste Zeit nüchtern. Weil Kafka das von ihm verlangt. Sonst ist er den Posten sehr schnell wieder los.“ Es war kurios. Lanzelot ging mit völliger Gewohnheit dazu über, zu reden. Seinen Krug zu polieren. Einen ganz speziellen Krug. Mit einem ganz speziellen Lappen. Sie erkannte das, weil sie zwischendrin einer Vermutung folgend einfach den Lappen austauschte. Nein, es musste dieser Lappen sein.

War das etwas, das allen Wirten zueigen war? Dass sie mindestens einen Krug nur zum Putzen haben mussten, der mit genau diesem einen Putztuch geputzt werden musste? Vielleicht steckte dahinter sogar irgendein amüsanter Aberglaube. Ein Ritual zur Beschwichtigung Lenikkis, damit der Gott der Reisenden ihnen nicht plötzlich den Bierhahn explodieren ließ oder so etwas.

Natürlich war das nur eine Spielerei am Rande. Sierra verlor zu keinem Zeitpunkt aus den Augen, was sie vor hatte und was das, was sie zu hören bekam, diesbezüglich einbrachte und bedeutete. „Gut, also Gunnarts Söhne sind Kafkas Schläger. Sie bewachen das Lager und halten euch draußen. Und ihr bekommt Vorräte, die ihr verdammt teuer verkauft. Ganz ehrlich… ich versteh’s nicht. Wieso? Wozu? Wer ist dieser Kafka überhaupt?“

Lanzelot verzog leicht das Gesicht. Das war offensichtlich allmählich ein Themenbereich, an den er sich nur noch vorsichtig und mit der Kneifzange heranwagte. „Ist Kafkas Taktik. Er ist… war mal. Er war mal irgend so ein reicher Großhändler. Ist im Krieg wohl zu Vermögen gekommen. Hat Waffen an beide Seiten geliefert. Kein netter Typ. Hat Gelegenheiten genutzt, wenn sie kamen. Moral steht da nur im Weg. Irgendwann fand das jemand nicht mehr lustig und brannte sein Haus nieder, mit allem, was drin war. Ähnlich wie Maximilian kam er hierher, um neu anzufangen. Seinen Lebensabend zu verbringen, wie er’s mal nannte. Ich schätze, man bekommt ein ganzes Leben geführt wie das nicht wirklich aus dem eigenen Blut, nur weil man sich in den Kopf setzt, sich zur Ruhe setzen zu wollen. Als die Hungersnot losging, da hat er Geld rausgeworfen. Viel. Hat einen Magier bezahlt, damit der das Lager verzaubert. Hat dem Dorfältesten das Lager abgekauft. Samt Inhalt. Hat aus der ganzen Gegend Vorräte eingekauft, schon als die Wucherpreise begannen. Er hat’s alles in seinem Lager. Und dank der Verzauberung hält das noch Wochen, Monate vielleicht. Die Leute sind verzweifelt. Die, die es sich leisten können, zahlen seine Preise. Die, die es nicht können… naja, die müssen Wege finden. Er bietet vielen an, das sie das Geld nicht zahlen müssen, wenn sie das Geld nicht zusammen bekommen. Stattdessen schulden sie ihm Geld. Die Schuldbriefe, sagt unser Schreiber, sind rechtens. Er setzt sie auf und berechnet die Schuld daran, wie viel gegessen wird, wie viel übrig ist, wie sich die Preise entwickeln. Viele haben ihre Läden an ihn überschrieben. Sogar unser Schreiber. Kein Tintenfass und keine Feder gehört ihm mehr, ist jetzt alles Kafkas. Dem gehört inzwischen sowieso dreiviertel des Dorfes, die Leute darin eingeschlossen. Kaum einer wird Zeit seines Lebens je wieder aus der Schuld herauskommen. Und die Schuldbriefe übertragen sich auf spätere Generationen. Er hat sogar schon angefangen, Besitzurkunden von Gasthäusern und Schmieden und Werkstätten aus Dörfern in der Umgebung zu sammeln und stellt sie in seinem Arbeitszimmer aus wie Trophäen.“

Sierra wurde beinahe schlecht im Angesicht des Kalküls, das hinter diesem Vorgehen steckte. Eine Person ohne jede Skrupel, ohne jede Moral, ohne Rücksicht oder Mitgefühl. Er machte aus dem Elend anderer ein Geschäft und letztlich war er nur der Teufel in Verkleidung – denn das Balsam, das er ihnen bot, war doch wieder nur ein Gift für ihre Kinder und Kindeskinder. Schön wäre es gewesen, daran zu glauben, dass an ihren Worten – gedanklich oder nicht – vielleicht mehr dran sein könnte. Dass es sich tatsächlich um einen Teufel in Verkleidung handelte. Der hier, aus irgendeinem Grund, Münzen und Schulden und Besitzurkunden von Grundstücken sammelte, statt Seelen. Vielleicht wollte er sich hier ein Imperium aufbauen. Vielleicht brauchte er ganz bestimmte Stätten, um einen gewaltigen Beschwörungskreis aufzuziehen. Vielleicht hatte er einfach Spaß am Elend der Leute und langweilte sich daheim mangels spannender Herausforderer.

Doch auch, wenn sie ihn daraufhin zu prüfen vorhatte, war ihr völlig bewusst, dass es sehr gut möglich, ja sogar wahrscheinlich war, dass es sich bei Kafka lediglich um einen ganz gewöhnlichen Menschen handelte. Abschaum, keine Frage. Sinnbild all dessen, was in der menschlichen Natur falsch und korrupt war. Aber ein Mensch nichtsdestotrotz. Dazu musste er nicht einmal ein belesener, gelehrter, Jahrhunderte an Erfahrung reicher und in Intrigen geübter Magier des Zirkels sein. Ein völlig gewöhnlicher Mensch reichte da aus. Die Umstände boten ihm eine Bühne.

Dann, mit einem Schlag, stockte Sierra und sah sich nochmals um. „Ihr habt an ihn verkauft.“ Es war nicht einmal ein Vorwurf, obwohl ihr Kopf es so formuliert hatte. Vielmehr eine Feststellung des Offensichtlichen, die etwas spät eintrudelte.

Lanzelot nickte und zuckte zeitgleich mit den Schultern. „Ich habe Familie“, gab er lediglich zurück. Natürlich. Was war besser? Eine Familie in Sklaverei – denn nichts anderes war es, was Kafka hier aufbaute -, oder eine Familie in Gräbern? Über solcherlei Fragen stritten sich die Philosophen seit geraumer Zeit und eine wirklich befriedigende, eindeutige, allgemeingültige Antwort gab es dazu nach wie vor nicht, doch sie konnte Lanzelots Entscheidung verstehen, sie nachvollziehen.

„Ich will mit ihm reden“, erklärte sie dann entschlosseneren Tones.

„Natürlich willst du das“, seufzte Lanzelot und schüttelte leicht den Kopf, „Zur Tür raus, den Pfad nach links runter. Bei der rotbraunen Hütte rechts rein – das Haus ganz am Ende des Weges. Nur… mir wär’s wirklich lieb, wenn er nicht zu hören bekommt, dass du das alles von mir hast, hm?“

Ein freundliches Lächeln aufsetzend, erhob sich Sierra von ihrem Hochstuhl. „Keine Sorge. Ich werde ein wenig im Dorf herumspazieren und mir die ganzen Details nochmal von anderer Seite zusammentragen lassen.“

„Danke.“

 

Genau das war letztlich auch, was Sierra tat. Letztlich waren längst nicht alle Einwohner Costleins so gesprächig wie Lanzelot und gerade, wenn es zum Thema Kafka kam – sein Lager, sein Vorgehen und seine Schläger einbegriffen – wurden viele bemerkenswert still. Aber zumindest das Grobe konnte sie sich mit ein wenig guter, altmodischer Recherchearbeit zusammenkratzen.

Das verschlang jedoch auch diverse Stunden – was bedeutete, dass sie ins Gasthaus zurückkehrte, ehe sie sich mit dem ominösen Kafka auseinandersetzte. Stattdessen kehrte sie in ihr Zimmer zurück, wo bereits ihre Portion des Abendessens auf sie wartete. „Und, gibt es Sehenswürdigkeiten?“, erkundigte sich Thorin beiläufig. Dem Geruch nach Schmierfett und Metall zu urteilen hatte er die Zeit genutzt, um seine Ausrüstung zu pflegen. Und da ihr eigenes Schwert blitzblank poliert auf dem Bett lag, direkt neben einem Brustpanzer, dessen originale Farbe man wieder erkennen konnte, vermutete sie nicht grundlos, dass er sich ihrer Sachen auch gleich mit angenommen hatte.

„Danke“, warf sie zunächst in seine Richtung, setzte sich und zog den Teller von ihrem Nachttisch. Ihr Magen hatte sich über die erste Mahlzeit gefreut – das erlaubte ihr nun zumindest, weniger zu schlingen und zu würgen und mehr darauf zu achten, was sie aß und wie sie es aß. Was sich dabei ernüchternd herausstellte: Das Essen war gut, wirklich. Aber sie hatte schon Besseres gehabt. Während, vor ein paar Stunden noch, ihre Zunge und ihr Magen sich darin einig waren, dass das definitiv das Beste und Schlimmste war, was sie jemals gegessen hatte.

„Von Sehenswürdigkeiten würde ich jetzt nicht unbedingt reden. Kleine Hütten, keine Statuen oder Denkmäler, ziemlich überschaubar. Die Leute sind interessant“, versuchte sie sich langsam vorzutasten.

„Mhm. Ich werde die Gelegenheit nutzen, mich auszuruhen, bis die nächsten Kultisten aufkreuzen“, war Thorins Erwiderung.

Und nicht grundlos fühlte sich Sierra dezent vor den Kopf gestoßen und regelrecht sprichwörtlich abgewürgt. Sie hatten gestern erst deren letzten Jagdtrupp bezwungen. Es würde Tage dauern, ehe dem Kult das neuerliche Versagen bekannt werden würde. Möglicherweise ein oder zwei Wochen, ehe sie den nächsten Trupp zusammengestellt und ausgerüstet und losgeschickt hatten. Vielleicht drei Wochen, bis sie das nächste Mal angegriffen werden würden. Hierbei ging es also ziemlich eindeutig nicht darum, dass er sich ausruhen wollte. Oder gar musste.

Er wollte einfach nur nichts über ihren Ausflug ins Dorf hören. Oder von den Leuten. Und deren Problemen.

Er hatte ihr Vorhaben erkannt, durchschaut und abgeblockt. Nun, sie konnte ihm zumindest nicht vorhalten, dass er sie diesbezüglich nicht vorgewarnt hätte – er hatte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie – was immer sie tat – es ohne ihn tat. Dennoch erzürnte es sie einen Moment, frustrierte sie maßlos. Doch statt sich kleinlich zu geben, fokussierte sie sich lieber darauf, das Fleisch mit ihrer Gabel zu erstechen und mit ihren Zähnen zu zerhäxeln.

Fein. Er wollte also nicht helfen. Dann würde sie eben alleine weitermachen.

 

Das Mahl beendet, holte der Schlaf sie rasch ein. Und ebenso rasch, dem Gefühl nach, kam der Morgen.

Thorin schlief seinerseits aus, bis das Frühstück am Fenster klopfte und Sierra, nun – sie verweigerte sich der Mahlzeit nicht. Sie wäre dumm gewesen, hätte sie das getan. Thorin hatte nicht Unrecht. Alles Unheil der Welt würde sie nicht ändern können. Schon gar nicht, wenn sie nicht auf sich selbst Acht gab.

Aber sie wurde das Gefühl nicht los, an eben jenem Unheil eine Mitschuld zu tragen, wenn sie nicht ihre Mittel und Möglichkeiten nutzte, um etwas dagegen zu unternehmen. Irgendetwas.

Also machte sie sich nach dem Frühstück auf zu Kafkas Haus, während Thorin offenbar einem rigorosen Trainingsprogramm folgte. Denn wenn dieser Mann etwas nötiger hatte als eine gute Mahlzeit und langen, erholsamen Schlaf, dann waren es eindeutig noch mehr Muskeln.

Kafkas Haus war groß. Größer als die anderen, aber zugleich nicht groß genug, um aus der Menge hervorzustechen. Wirklich nur ein subtiles Zeichen der Überlegenheit seines Besitzers gegenüber den restlichen, gewöhnlichen Einwohnern Costleins. Sie klopfte und nach einem Moment wurde ihr von Maximilian aufgemacht. Sie erkannte ihn an dem schütteren Haar und dem generell eingefallenen, verlebten Gesicht. Die deutlichen Spuren seines exzessiven Alkoholkonsums waren kaum zu übersehen.

„Ich will zu Kafka“, erklärte sie ohne Umschweife. Nach allem, was sie über Maximilian gehört hatte, hätte er sich für ein freundliches ‚Guten Morgen‘ ohnehin nicht interessiert.

„Wie praktisch. Spart mir Arbeit“, erwiderte der mit kratziger Stimme. Er ließ sie ein und führte sie in Kafkas sogenanntes und inzwischen mehrfach erwähntes und beschriebenes Arbeitszimmer. Wie erwartet, waren die Wände tatsächlich mit Besitzurkunden verschiedener Unternehmen und Läden dekoriert. Eine Trophäenhalle, tatsächlich. Und hinter dem gewaltigen Tisch aus tropischen Hölzern, fein auf Hochglanz poliert, saß Kafka selbst.

Er war bemerkenswert unscheinbar.

Nicht sonderlich groß, aber auch nicht nennenswert klein. Kein wirklich dürrer, hagerer Bau, aber auch gewiss nicht dick. Nicht übermäßig muskulös, aber auch nicht sehnig. Kurze, stoppelige braune Haare, kühle, blaugraue Augen und für sein stolzes Alter von dreiundvierzig Jahren recht weiche Gesichtszüge. Gut gepflegt, offenkundig. Gekleidet in hochwertige Sachen, sicherlich, aber unauffällig. Eine braune Leinenhose, ein ungefärbtes Leinenhemd, darüber eine ungefärbte, braune Lederweste. Ein Gürtel, solides Schuhwerk.

Er war ein Jedermann.

Ihn in einer Menge zu verlieren war kein Wunder. Er konnte gewissermaßen direkt vor einem stehen und man hätte ihn übersehen können. Der große, gefürchtete Kafka, Schrecken von Costlein, Monster der Hunger-Ära… hinterließ keinerlei spürbaren Eindruck, wenn man ihn sah.

Irgendwie passte es. Trotzdem.

„Ah, prächtig. Seid mir willkommen! Bitte, setzt euch. Mein Name ist Kafka – wie ihr inzwischen sicherlich wisst“, grüßte er mit einer Stimme, die so freundlich und zugleich distanziert war, dass sie sich perfekt ins Bild fügte.

„Siara. Siara Alaric. Und danke, das ihr mich so kurzfristig empfangt.“ Sie nahm auf dem gewiesenen Stuhl Platz. Zahllose Anschuldigungen und Vorwürfe lagen ihr direkt auf der Zunge, aber sie wartete ab. Was wollte er wiederum von ihr?

„Kein Problem, wirklich“, erklärte er gutmütigen Lächelns und winkte ab, „Wir haben ja potenziell Geschäfte miteinander. Für Kunden hat man immer Zeit. Wie mir zu Ohren kam, residiert ihr ein paar Tage in Costlein. Hübsches Dorf, nicht? Schmeckt euch das Essen? Drei Mahlzeiten am Tag, hörte ich. Gut zahlende Kundschaft ist ein Segen für jedes Gasthaus. Vor allem, wenn es so unkomplizierte Kundschaft ist.“

Sierra entging keineswegs, dass Kafkas Augen wanderten. Er war freundlich und höflich und manierlich – aber auch gierig und gewohnt, zu bekommen, was er wollte. Und es war nicht schwer, aus ihm herauszulesen, dass zumindest ein Teil von ihm sie wollte. „Das Essen ist vorzüglich. Etwas teuer, aber lecker“, erwiderte sie mit der Untertreibung des Jahres.

„Nun, wie mein alter Herr immer schon so schön sagte: Der Preis ist der Punkt, an dem sich Nachfrage und Angebot treffen.“ Er nickte sich selbst bekräftigend zu, als bräuchte es da noch irgendeine Bestätigung. Dabei lag ihm diese Philosophie mit all ihren Kehrseiten zweifellos als zweite Natur im Blut.

„Was für Geschäfte habt ihr denn im Sinn?“, erkundigte sie sich nach einem Moment.

„Ah, direkt zum Punkt. Natürlich. Reisende haben selten wirklich Zeit zum Plaudern, nicht? Marotten wie diese gewöhnt man sich schnell an, das kenne ich aus meiner früheren Zeit auch. Nun gut, dann also offen und direkt, eh? Dann erst die Arbeit, danach das Vergnügen. Auch so ein Sprichwort meines alten Herrn. Ich möchte, dass ihr für mich mit Gunnart redet“, eröffnete Kafka. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über dem kaum vorhandenen Wohlstandsbauch.

„Dem alten Bergmann? Was meint ihr mit: ‚mit ihm reden‘?“, gab sie seiner Floskeln ungeachtet weiterhin direkt zurück.

„Ja, genau der. Seht ihr, ihm gehört eine Miene. Nutzlos dieser Tage, wirklich. Sie ist fast erschöpft und kaum noch das Papier wert, auf dem ihre Rechte geschrieben stehen. Aber ich bin ein Mann mit Sicht für das große Ganze, ich blicke voraus. Diese Krise, tragisch wie sie ist, wird nicht ewig anhalten. Danach, wenn sich das Land und die Leute erholen, braucht es Führung. Jemanden, der Stabilität bietet. Eine Zukunft. Der etwas aufzubauen fähig ist. An dem Punkt komme ich ins Spiel. Ich habe meinen Einfluss geltend gemacht und mir ein hübsches Stück an Land zusammengetragen. Mancher mag das sicherlich als Ketten um ihre Hälse betrachten, vielleicht sogar euch gegenüber so bezeichnet haben. Aber ich bin keineswegs der Übeltäter, als den mancher mich aus Frustration heraus darstellen will. Ich gedenke in einer Zeit, die für Chaos anfällig sein wird, Ordnung zu halten. Die Miene kann Arbeitsplätze bereitstellen für jene, die andernfalls auf die brillante Idee kommen könnten, Räuberbanden im hügeligen Hinterland zu formen. Der gute alte Gunnart sieht das anders. Er scheint sentimentale Impulse in den Weg von Vernunft und Rationalität kommen zu lassen. Unwillens, mit mir zu verhandeln – oder irgendwem sonst, den ich in meinem Namen schicke. Egal, was ich biete, wirklich. Dabei ist bekannt, dass er nun auch wirklich keinerlei Pläne hat, selbst etwas mit der Miene anzufangen. Ich möchte, das ihr mit ihm redet und ihn zur Vernunft bringt.“

„Und wie soll ich das anstellen, wenn er mit niemandem darüber verhandelt?“, erwiderte Sierra mit skeptisch gehobener Braue.

„Oh, nun – reisendes Volk hat ja allerhand Pfiffigkeit, nicht? Ich bin sicher, da wird euch was einfallen“, erwiderte Kafka mit einem Grinsen, das wenig Spielraum für Interpretation ließ.

„Ich soll ihn einschüchtern?“, hakte sie weiter nach.

Kafka dagegen zuckte mit den Schultern. „Ihn einschüchtern, ihn erpressen, ihn zusammenschlagen, mir ist das wirklich einerlei. Solange die Besitzurkunde rechtmäßig in meinen Händen landet. Und ehe ihr jetzt Anstalten macht, euch auf euer hohes Ross aufzuschwingen und mir Vorträge über Moral haltet: Es spielt keine Rolle. Ich biete euch hier etwas an. Wenn ihr euch dagegen entscheidet oder einfach geht oder ihn sogar warnt, es spielt keine Rolle. Dann kommen andere, die ich fragen kann. Und sollte ich die Geduld verlieren, schicke ich einen meiner Jungs hin. Ihr werdet nicht ewig Geld haben, um euch bei Lanzelot zu verkriechen. Ihr werdet irgendwann weiterreisen wollen, nein, müssen. Und diese Sache hier, das ist eine Kleinigkeit. Eurer Aufmerksamkeit zweifellos wirklich nicht wert angesichts dessen, womit ihr euch sonst herumschlagt, nicht wahr? Also, was haltet ihr von ein paar leicht verdienten Münzen?“

Sierra verkniff sich mit aller gebotenen Willenskraft ein ‚Die wir dann bei Lanzelot lassen können, weil ihr ihm vorschreibt, welche Preise er zu verlangen hat?‘ Stattdessen atmete sie bemüht ein und aus, langsam, rang um Fassung und darum, sich nichts davon anmerken zu lassen. Erfolgreich, offenbar. „Und was wäre dann der vergnügliche Teil?“

„Nun, ich muss zugeben, ich hatte immer schon einen Faible für Rothaarige. Ihr wärt nicht zufällig an einem Arrangement interessiert? Es könnte sich für euch lohnen.“ Die nahezu unverblümte Frage Kafkas brachte Sierra dann doch lange genug aus dem Tritt, das selbst ihrer Illusion die Gesichtszüge einen Moment entglitten.

„Ernsthaft…?“, brachte sie leise hervor, noch immer überrumpelt. Nach dem, was er ihr gerade zu tun aufgetragen hatte – im Grunde war es kein Angebot gewesen, sondern ein Auftrag -, wollte er sie für sein Bett kaufen. Der Mann hatte Nerven…

„Warum nicht?“, erwiderte Kafka schulterzuckend, „Fragen wird man ja wohl dürfen.“ Sierra nickte geistesabwesend. „Das ist ein ‚ja‘?“

„Was?“, stutzte sie, besann sich dann jedoch, „Nein. Also ja – ja, ihr dürft fragen, aber nein, das wird nichts.“

„Bedauerlich, wirklich. Ich beneide euren Begleiter, muss ich gestehen – angeblich ist er bemerkenswert gebaut. Ich fürchte, mit derlei Qualitäten kann ich nicht aufwarten.“

Wenn du wüsstest… „Das stimmt. Aber es gibt noch andere Qualitäten, die ihn deutlich attraktiver machen als sein Aussehen.“

„Oh? Und die wären?“, erkundigte sich Kafka sichtlich überrascht und rückte in seinem Stuhl nach vorne.

Alles oder nichts. „Er hat ein Gewissen.“ Naja. Manchmal.

Kafka hingegen zeigte sich weiterhin völlig uneinsichtig, lächelte geradezu wölfisch. „Nun ich fürchte, auch damit kann ich nicht dienen.“ Er lehnte sich wieder zurück und winkte Maximilian heran. „Sei so gut und führe unseren Gast zur Tür. Und heute Nachmittag wirst du etwas nachdrücklicher mit Gunnart verhandeln. Bis dahin hat unser Gast Zeit, es sich zu überlegen.“

Sierra erhob sich. Sie brodelte innerlich. Was hier vor sich ging, war falsch. Alle wussten es. Und keiner handelte. Sie alle waren damit Mitschuldige. Aber sie selbst, sie wollte sich da nicht einsortieren. Sich nicht einsortieren lassen. Thorin hatte ihr gedankenlos an den Kopf geworfen, dass sie lernen müsse, eigenständig zu stehen. Dann war das hier ihre Entscheidung, oder nicht?

Ihre Gedanken rasten. Was konnte sie tun?

Für Thorin war das immer leicht. Der schlug jemandem die Nase ein oder brach ihm den Kiefer oder schlug ihm ein paar Zähne aus und alle Probleme wurden gelöst, solange man nur oft und hart genug darauf einschlug. Aber Gewalt war keine gute Lösung. Entgegen dem, was Thorin vielleicht glauben mochte und gelegentlich propagierte. Vielleicht eine Finte? Oder was wäre, wenn sie die Dorfbewohner gegen Kafka aufbringen könnte? Oder wenn sie-

Letztlich blieb bei all ihren Ansätzen die immer gleiche Wurzel. All ihre Pläne ließen sich auf eine Sache eindampfen: Kafka musste, irgendwie, auf seinen Platz verwiesen werden. Nur mit all seinem politischen und wirtschaftlichen Einfluss, mit seinen Schlägern… war das gar nicht so leicht.

Bis es klick machte.

Sie hatte eine Idee. Eine Methode. Einen Plan. Wie sie völlig gewaltfrei aus der Sache herauskam und gleichzeitig das Problem löste.

Siegessicher lächelnd stemmte Sierra die Hände in die Hüften. „Ich gebe euch bis Mittag Zeit!“, tönte sie.

„Oh? Und um was zu tun?“, hakte Kafka eher aus Amüsement denn tatsächlichem Interesse nach.

„Um ein Einsehen zu haben. Um ein Gewissen zu entwickeln. Oder, damit es für euch konkret genug ist: Um die Tore zum Lager aufzustoßen und allen freien Zugang zu den Vorräten zu ermöglichen und die Schuldbriefe zu verbrennen und die Besitzurkunden zurückzugeben. Als Zeichen eurer Reue, eures guten Willens und zur Versöhnung mit den Leuten, die euch hier in ihrem Kreis willkommen hießen und aufnahmen.“ Sie bemühte sich, nicht zu grinsen. Er würde nicht annehmen, niemals – und darum ging es auch. Er war unrettbar. Das zumindest war ihr inzwischen klar geworden.

Einen Moment stutzte er, aufrichtig überrascht, ehe er in schallendes Gelächter ausbrach. „Ihr seid noch nicht sehr lange in Costlein, das merkt man. Das Dorf gehört mir. Die Leute darin gehören mir. Und was genau, nur der Neugier wegen, soll am Mittag dann geschehen, mein Liebchen?“

Sierra verzog bei dem Kosenamen sehr das Gesicht, hielt die Reaktion jedoch glücklicherweise von ihrer Illusion fern. Sie wollte ihm diese Genugtuung nicht gönnen, dass er unter ihre Haut gekommen war. „Am Mittag werdet ihr euch auf dem Dorfplatz vor dem Gasthaus einfinden und das Geforderte umsetzen. Andernfalls… sagen wir es so: Ihr würdet es sehr bereuen. Wirklich sehr.“

Halbseitig schmunzelnd hob Kafka eine Braue. „Ist dem so? Ich fürchte, um mich einzuschüchtern, habt ihr zu viel eurer Ausrüstung im Gasthaus liegen lassen. Aber ich werde da sein, keine Sorge. Ich werde da sein und ich werde jeden einzelnen, der dort auftaucht, sehr genau ins Auge nehmen. Sie werden von mir nichts mehr bekommen. Keinen Krumen. Und wisst ihr was? Mir ist sogar völlig gleich, ob ihr sie diesbezüglich vorwarnt oder nicht. Und sollten sie Masken tragen – ich werde meine Leute selbstverständlich auch dabei haben. Die können ihnen die dann direkt wieder abnehmen. Zumal das ein wirklich kleines Dorf ist, manchen erkennt man schon allein am Schuhwerk.“

„Wir werden sehen, wer zuletzt lacht!“, zürnte sie etwas übertrieben, während Kafka abermals zu glucksen begann und Maximilian Anweisung gab, sie hinaus zu bringen.

„Tut mir leid“, meinte der an der Tür, „Aber so läuft das hier nunmal inzwischen.“

Sierra erwiderte nichts. Noch nicht. Ihr Plan war eine Frage des Timings. Und des Geschicks. Und von Verhandlungen, die sie angesichts der fortgeschrittenen Morgenstunden jetzt wirklich, wirklich zügig führen musste!

 

„Gunnart?“, fragte sie noch während sie an dessen Haustür klopfte.

„Ja?“, kam es krächzend von drin, während jemand sich mit einem Gehstock hörbar zur Tür bewegte.

Noch während die Tür sich langsam öffnete, platzte Sierra heraus. „Wir müssen reden.“

 

Zurück im Gasthaus eilte Sierra zum Tresen. „Lanzelot?“

„Oh. Schon zurück? Und, wie-“

Sierra unterbrach ihn mit einer Geste und der Wirt hielt tatsächlich inne. „Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen reden. Hinterräume?“

Sichtlich besorgt nickte der Hagere und stellte seinen obligatorischen, rituellen Polierkrug ab.

 

„Thorin?“, rief Sierra noch während sie die Zimmertür aufriss. Ihn dort sitzen zu sehen, wie er die Axt polierte, war gleichermaßen beruhigend – er war da – wie beunruhigend – er polierte die Axt. Er sah auf und runzelte die Stirn. Inzwischen musste sie wohl etwas aus der Puste sein. „Gunnart will wegen der Waffen und Rüstungen nachverhandeln. Er meint, er habe Schnitzer und Krahler und Verarbeitungsfehler gefunden, es sei nicht mal die Hälfte wert.“

Seine Rechnung kurz neu überschlagend, verzog Thorin das Gesicht und erhob sich. Glücklicherweise legte er dabei auch die Axt bei Seite. „Dann sollten wir mit ihm reden, hm?“

Sierra zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber dafür hab ich keine Zeit. Du weißt schon – ich muss die Dinge erledigen, von denen du nichts wissen willst. Viel Erfolg und bis heute Abend!“

Noch ehe er sie auf ihr Mittagessen hinweisen konnte, das eigentlich jede Minute fällig sein müsste, war sie bereits wieder verschwunden. Flog regelrecht die Treppen hinab. Denn es war fast Mittag. Und sie hatte eine Verabredung.

 

Sierra stand allein auf dem kleinen Platz vor dem Gasthaus. Kein anderer Dorfbewohner weit und breit zu sehen. Ihr gegenüber stand Kafka mit seinen vier Schlägern. Er trug ein siegessicheres Grinsen zur Schau. „Ich warte. Ich warte auf das Publikum, auf all eure Rückendeckung. Auf den wilden Mob, der mich in Stücke reißen soll. Auf euer göttliches Wunder, das mich nun erschlägt für all meine ach so bösen Taten. Und… ich warte immer noch.“

Sierra verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich brauche weder Rückendeckung, noch Wunder. Diese Leute haben euch aufgenommen. Sie gaben euch Heim und Hof und einen Platz in ihrer Mitte. Sie haben zu euch gestanden. Sie haben euch geholfen. So muss das hier nicht laufen.“

Amüsiert lachte Kafka erneut auf. „Oh, muss es wohl nicht, nein. Wird es aber. Tut es bereits.“

Sierra rollte demonstrativ mit den Augen. „Ich rede nicht mit dir, Schwachkopf.“ Sie setzte sich langsam in Bewegung auf Kafka zu. Seine vier Schläger spannten sich an, traten einen Schritt vor, warnend, mahnend – aber noch immer hinter Kafka. Sierra aber blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer. Stattdessen glitt ihr Blick zu Maximilian.

Und sie konnte es in seinen Augen sehen. Er verstand.

Sebastian und Brunhild waren die nächsten, die ins Stocken gerieten. Dort drüben stand ihr Vater. Die stämmigen Arme vor der breiten Brust verschränkt, einen bohrenden, warnenden, rügenden Blick wie nur ein enttäuschter Vater ihn haben konnte, die buschigen Brauen zusammengezogen. Beide waren schockstarr. Einzig Fridolin schien sich an seines Vaters Missfallen wenig zu stören – was Sierra nicht überraschte. Ein Punkt, um den sich jedoch seine zwei anderen Kinder kümmern konnten, als der alte Gunnart mit wenigen Gesten zu verstehen gab, dass sie ihren übereifrigen Bruder aufhalten sollten.

Und dann stand Sierra direkt vor Kafka. Vor ihm und ohne seine Leibwachen, die sich einmischten. Und noch immer trug er ein siegessicheres Grinsen. „Na, meine Hübsche, was jetzt? Stichst du mich jetzt ab? Das wird immer noch das ganze Dorf aufwiegeln. Ganz zu schweigen davon, dass du dann eine kaltblütige Mörderin bist. Ich habe nichts Ungesetzliches getan, mein Täubchen. Weißt du, was man im Kerker mit so hübschen jungen Dingern wie dir anstellt?“

Sierra unterdrückte ein Frösteln. „Jetzt? Jetzt komme ich auf dein Angebot zurück, vergnüge mich und du, du kannst froh sein, dass es dich nicht deine Seele kosten wird…!“ Mit einem Ruck, den sie sich selbst geben musste, drängte sie sich an Kafka heran. Ob er sie nun aus Reflex wegschieben wollte oder nicht, irgendwie landete sein Arm an ihr, um sie. Und mit der Berührung brach, wie Sierra es sich erhofft hatte, auch ihre Illusion – für ihn zumindest.

Der Rest der Welt sah nur, wie Kafka Siara Alaric küsste. Denn sie verstand sich inzwischen genug darauf, die Szenerie so zu manipulieren, dass es den Eindruck erweckte, als ginge die Initiative von ihm aus. Sie stemmte sogar die Hände gegen seine Brust, als wolle sie ihn auf Biegen und Brechen von sich drücken, während sie genau jene zugegeben anstrengende und unbequeme Haltung tatsächlich dafür nutzte, ihn auf genau der richtigen Distanz zu halten.

Zum Rest der Welt zählte Thorin Eichenschild.

Der nicht teilte.

Schon gar nicht seine Eroberungen.

Es war nach Sierras kleinem Gewaltmarsch nicht völlig zufällig gewesen, dass Gunnart und Thorin ausgerechnet in einer Seitengasse vor dem Platz ineinander liefen. Gunnart hatte das Gespräch gut genug lenken können, um Thorin rechtzeitig klar zu machen, dass Sierra sich da vertan haben müsse. Man wäre wohl besser beraten, das mit ihr direkt zu klären – also führte er Thorin aus der Gasse auf den Platz. Wo er seine Kinder im Zaum halten und Thorin die Aussicht bieten konnte.

Der Plan klappte wie am Schnürchen.

Bis einschließlich des Momentes, als eine Naturgewalt namens Thorin Kafka an der Schulter packte. Sierra ließ Kafka in genau jenem Moment los, zufrieden mit dem Ausdruck schierer Panik angesichts der Erkenntnis, dass er gerade einen Tiefling geküsst hatte und was das möglicherweise für sein Seelenheil bedeuten würde. Gedanken, um die er sich sicherlich später noch würde Sorgen machen können. Sierra konnte sich nicht vorstellen, dass Denken sonderlich leicht viel, wenn Fäuste wie Hammerschläge auf den Schädel eindroschen. Oder die Rippen. Oder so ziemlich jeden anderen Teil, der Thorin in seiner Rage in die Quere kam.

Sierra dagegen zog sich zu Lanzelot zurück, der nunmehr neben dem Eingang des Gasthauses stehend ausharrte und sich das Spektakel anschaute – wie inzwischen viele der Dörfler. „Zugang zum Depot sollte kein Problem mehr sein“, erklärte sie leise, „Kafka hat sich bemüht, seine Schläger nichts wissen zu lassen. Aber Brunhild war aufmerksam und hat gesehen, wie man das Schloss öffnet und wo er den Schlüssel versteckt hält. Ihr solltet es dringend rationieren, wirklich. So knapp ihr könnt. Aber es gibt keinen Grund mehr, darüber Existenzen zu ruinieren.“

Lanzelot bemühte sich, all seine Dankbarkeit in einem Lächeln unterzubringen. „Danke. Wirklich. Vielen, vielen Dank. Costlein schuldet euch… viel. Und ich noch mehr. Er… er wird ihn aber nicht umbringen, oder?“

Zweifelnd sah Sierra zurück. Thorin verlor, einem Bär ähnlich, oftmals das Interesse an Gegnern, wenn die sich zu wehren und zu zucken aufhörten. Das schien auch hier der Fall. „Nein, keine Sorge. Aber er wird vermutlich einige Tage bettlägerig sein und Hilfe brauchen bei selbst den kleinsten Tätigkeiten. Vielleicht lehrt ihn das sogar etwas. Denkt ihr, das bekommt ihr hin? Ihm zu helfen?“

Lanzelot verzog leicht das Gesicht. „Viele werden meinen, dass er diese Hilfe nicht mehr wert sei. Aber egal, wie tief er gesunken ist… er ist immer noch einer von uns. Ich denke, wir werden uns gut um ihn kümmern. Und wer weiß, vielleicht lernt er hieraus ja wirklich etwas. Das ist das zweite Mal, dass seine… seine Geschäftspraktiken ihn so teuer zu stehen kommen. Vielleicht begreift er’s ja diesmal?“

„Ja. Vielleicht“, spekulierte auch Sierra und verzog das Gesicht, als sie irgendwo hinter sich eine Rippe unter einem Stiefel brechen hörte. Wenig später kehrte Thorin bei ihnen ein. Sein bohrender Blick suchte nach Erklärungen, Rechtfertigungen, vielleicht sogar neuen Zielen. Sierra dagegen… kannte ihn. Sie lächelte ihm zu und ließ ihn wissen, wie sehr er ihr aufgelaufen war. „Danke“, flüsterte sie ihm sogar zu, die Hand auf seinem Unterarm. Wäre er ihr wirklich wütend deshalb gewesen, hätte er ihn weggezogen – das tat er jedoch nicht. Wann hatte Thorin sich je beschwert, wenn man ihm eine gute Gelegenheit bot, sich auszutoben?

„Wir nehmen jetzt den Proviant und ziehen nach Norden ab“, erwiderte er noch immer grollend wie eine massive, gewaltige Sturmfront.

„Westen“, gab sie unverhofft zurück.

„Die Häfen liegen im Norden“, erklärte Thorin das Offensichtliche mit Nachdruck.

„Ja das mag ja sein und sobald wir fertig sind, können wir ja auch zu den Häfen im Norden. Aber das Anwesen seiner Lordschaft Marrkus Hedwig von Szueborn liegt drei Tagesreisen westlich von hier. Ich habe mich mit Gunnart und Lanzelot unterhalten. Sie stimmen zu, dass die Bekämpfung der Ursache der Hungersnot definitiv Vorrang haben sollte vor Symptombekämpfungen wie Kafka da drüben. Übrigens gute Arbeit, nochmal. Solange wir seiner Lordschaft mal einen Besuch abstatten, gewähren Gunnart und Lanzelot uns sogar freien Zugang zum Depot. Wir können Also Vorräte für die Dreitagesreise mitnehmen. Ich bin sicher, seine Lordschaft wird uns dann weiter behilflich sein können. Du und dein Charme, ihr werdet das schon regeln, nicht?“ Ihr Herz flatterte und schwankte in seiner Position zwischen ‚schlug ihr bis zum Halse‘, ‚rutschte ständig in ihre Kniekehlen‘ und ‚irgendwo in ihrer Brust, am hektische Kreise drehen‘. Sie befand sich auf dünnem Eis. Sehr dünnem Eis. Sie wusste das. Thorin wusste das.

Er könnte sie im Grunde genauso gut einfach hier mitten im Nirgendwo stehen lassen. Sie wollte unbedingt nach Westen? Gut, fein, sollte sie doch!

Stattdessen hob er eine Braue. Sein Blick bohrte. Bohrte weiter. Sie hielt ihm stand. Es war keine leichte Aufgabe, wirklich nicht. Jeder, der jemals Ziel und Opfer dieses Blickes eines Thorin Eichenschilds wurde, konnte das bestätigen. Würde das bestätigen. Aber sie vollbrachte das nicht Unmögliche, aber zumindest Schwierige und hielt stand.

Dann brach Thorin ab und richtete sich an Lanzelot, der unter seinem Blick, obgleich nicht mal mehr ansatzweise bohrend oder drohend, dennoch ein Stück zusammenschrumpfte. „Wir reisen vorzeitig ab. Wir werden jetzt packen. Kümmert euch darum, dass das Depot offen ist, wenn wir dort ankommen – wir haben eine Dreitagesreise vor uns und je früher wir losmarschieren, umso früher kommen wir nach Norden.“ Lanzelot nickte ergeben und verschwand ins Innere. Zusammen mit Thorin.

Sierra blieb noch einen Moment draußen stehen. Seufzte tief und gedehnt aus. Erleichtert. Die Last eines gefühlten Gebirgszuges fiel ihr von den Schultern ab und ihr hektisch flatterndes Herz beruhigte sich ein klein wenig, fand in einen nicht mehr suizidalen Rhythmus zurück. Ihr Blick schweifte über den Platz zu den langsam aus ihren Hütten kommenden Einwohnern Costleins, zu Gunnart, der seine Söhne und seine Tochter aufklärte und zu Kafka. Maximilian half dem blutig gedroschenen Bündel gerade auf die Beine und hielt inne, um ihr auf die Distanz hinweg kurz dankbar zuzunicken.

Nun, sie hatte vielleicht doch etwas Gutes bewirkt.

Und das ganz ohne Gewalt. Also… ohne dass sie gewalttätig werden musste. Wofür hatte man einen Thorin, der-

„Kommst du?!“, brandete dessen Stimme aus dem Schankraum in ihre Richtung.

Fürchterlich zusammenzuckend und das Herz wieder irgendwo auf der Flucht, war der adrenalinschwere Moment der Euphorie und des Triumphes kurz gebrochen. „J-Ja, klar, gleich!“, brachte sie hervor und eilte ihm nach, dann nach kurzem Moment sogar an ihm vorbei die Treppen hinauf. Thorin sah ihr mit einem zufriedenen Schmunzeln nach.

Zu lernen hatte das Mädchen noch viel.

Aber sie war auf einem guten Weg.



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