Zum Inhalt der Seite

Amnesie

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Hoffnungsschimmer

Dean atmete einmal tief ein.

Warum konnte nicht einmal – nur ein einziges gottverdammtes Mal!! – alles glatt laufen? Ohne Probleme, ohne Stress.

„Was willst du damit sagen?“, erkundigte er sich bei Castiel, nachdem er den Drang besiegt hatte, wie ein Verrückter herumzuschreien und aus lauter Frust das Zimmer auseinanderzunehmen. „Wieso bedeutet dieser Imael Ärger?“

Castiel legte die Kette wieder sorgsam auf den Schreibtisch und meinte: „Du hast ja bereits einige Engel kennengelernt …“

„Oh ja, und es waren allesamt die größten Arschlöcher“, zischte Dean aufgebracht, als die Erinnerungen an Uriel und Zachariah hochkamen. Mit einem Blick auf Castiel fügte er jedoch schnell hinzu: „Na ja, du bist die Ausnahme. Zumindest manchmal … Wenn du gerade Lust und Laune dazu hast …“ Er räusperte sich kurz und fragte rasch: „Inwiefern bedeutet Imael mehr Ärger als die anderen Mistkerle von Engeln?“

Castiel zeigte keinerlei Gefühlsregung, als wären ihm Deans Beschimpfungen völlig einerlei. Nur seine Augen blitzten kurz auf, was man entweder als Reaktion oder als Lichtspiegelung deuten konnte.

„Imael ist … anders“, sagte der Engel schließlich.

„Inwiefern anders?“, wollte Bobby wissen. Er hatte seine Waffe wieder gesenkt, behielt Fédon aber weiterhin scharf im Auge. Der Geist hätte nicht mal mit einem Muskel zucken können, ohne dass Bobby es bemerkt hätte.

Fédon schien das jedoch gar nicht zu interessieren. Er hatte sich vornübergebeugt und seinen Blick gesenkt, als wollte er alles irgendwie ausblenden und bloß seine Ruhe haben.
 

„Imael ist … speziell“, fuhr derweil Castiel mit seinen Ausführungen fort. Man merkte ihm an, dass es ihm schwer fiel, die richtigen Worte zu finden. „Er macht gerne Dinge, die … ungewöhnlich sind.“

Dean hob eine Augenbraue. „Du meinst, so etwas wie einen armen Bastard zu verfluchen und ihn an eine unmännliche Kette zu binden?“

Castiel nickte knapp. „Das ist ganz seine Art.“

Dean schaute kurz zu dem zusammengesunkenen Fédon, ehe er fragte: „Also war das Ganze hier eigentlich der Befehl des Himmels? Die Order Gottes, der Erzengel oder auf wen auch immer ihr braven Soldaten so hört?“

Castiel spannte seine Schultern ein wenig an. „Nein.“

„Nein?“

Castiel schwieg einen Moment und betrachtete den Schnee, der munter durch das Loch in der Wand ins Motelzimmer fiel. „Wie ich bereits sagte, ist Imael sehr speziell“, antwortete er letztlich. „Er hat … seinen eigenen Kopf, seine eigenen Ideen.“

Dean hob ungläubig seine Augenbraue und ließ diese Worte erst einmal eine Weile auf sich einwirken. „Du willst also damit sagen, dass er eigenständig denkt und handelt? Dass er fröhlich durch die Welt hüpft und macht, was ihm gefällt?“

Castiel verzog kaum merkbar sein Gesicht. „So ist es nicht, Dean“, entgegnete er daraufhin ernst. „Man kann sagen, er … nutzt Freiheiten.“

„Freiheiten?“ Dean legte seinen Kopf zur Seite und wusste ehrlich nicht, was er davon halten sollte. Bisher waren all die Engel, die er kennengelernt hatte, treue Krieger und Soldaten gewesen, die stets auf die Befehle von oben gehört hatten. Selbst Zachariah hatte Mächte über sich, deren Wünschen er folgte.

Die Beschreibung von Imael hingegen … nun, es klang nicht gerade typisch engelhaft.
 

„Jetzt mal Klartext, Cas!“, verlangte Dean streng. „Was hat das alles zu bedeuten? Ist dieser Imael sowas wie ein Freigeist? Ein Rowdy? Ein Klassenclown, der sich einfach nicht an die Regeln halten kann?“

Castiel sah Dean einen Moment durchdringend an. „Die Gesetze des Himmels sind klar geregelt. Niemand kann dagegen verstoßen, ohne die Konsequenzen zu spüren.“ Er warf einen kurzen Seitenblick auf Fédon, der inzwischen sein Gesicht in den Handinnenflächen vergraben hatte und undefinierbare Geräusche von sich gab. „Imael bewegt sich immer im Rahmen der festgelegten Richtlinien, allerdings nutzt er diese auch gerne für …“

Er brach ab, offenbar unsicher, wie er es bezeichnen sollte.

„Für seine kleinen, persönlichen Freiheiten?“, half Dean ihm auf die Sprünge.

Castiel hielt einen Augenblick inne und legte seinen Kopf leicht zur Seite, als würde er angestrengt darüber nachdenken. Schließlich nickte er knapp. „Er ist besonders dafür berüchtigt, Menschen zu verfluchen, die seiner Meinung nach gegen die Regeln Gottes gehandelt haben.“

Dean wandte sich sofort an Fédon, der bei diesen Worten wieder seinen Blick gehoben hatte. Seine Miene war wutverzerrt, während er mit den Zähnen knirschte.

„So, du warst also ein böser Junge?“, hakte Dean nach und war in keinster Weise von dieser Erkenntnis überrascht. Fédon mochte in dieser Angelegenheit zwar das Opfer sein, sodass man fast schon Mitleid mit ihm haben konnte, aber das täuschte nicht über die Tatsache hinweg, dass es sich bei ihm offenbar nicht um einen herzensguten Menschen handelte, der Kinder Geschichten vorlas und sich um kleine Katzenbabys kümmerte. Stattdessen trieb er Unschuldige in den Selbstmord, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen und nicht unnötig leiden zu müssen.

Dean wollte ihm hingegen keinen Vorwurf machen. Wer war er denn schon, dass er sich erlauben konnte, ein Urteil darüber zu fällen? Nach unzähligen Jahren in der Hölle hatte er sich immerhin dazu bereiterklärt, Seelen zu foltern – etwas, das ihm vor seinem Tod niemals in den Sinn gekommen wäre.

Vielleicht war es Fédon ähnlich ergangen. Unter Umständen war er einst ein wenigstens einigermaßen anständiger Kerl gewesen, der sich zumindest keiner allzu großen Verbrechen schuldig gemacht hatte, bis er letztendlich durch den Fluch gebrochen worden war. Verbittert. Hoffnungslos.

Möglicherweise war sein Herz nach all den Jahrhunderten erkaltet.
 

„Was hast du angestellt?“, fragte Bobby derweil nach. „Gottes Gesetze nicht befolgt?“

Fédon warf dem Jäger einen finsteren Blick zu und schien zu erwägen, aufzuspringen und seinem Ärger freien Lauf zu lassen. Einfach auszuflippen, herumzuschreien und Gewalt anzuwenden. All die Jahrtausende, in denen er sich nicht hatte bewegen, nicht hatte sprechen können, endlich abzustreifen. Mal wieder zu leben, wenn es auch nur für einen Moment sein mochte.

„Gottes Gesetze?“ Fédons Stimme war leise, aber nicht weniger drohend. Eher wie ein Vulkan, in dessen tiefsten Inneren es brodelte und der kurz vor der Explosion stand. „Als dieser verfluchte Bastard damals bei mir auftauchte und mich mit diesem Fluch belegte, hatte ich nicht mal die leiseste Ahnung, wer dieser Gott überhaupt war, von dem er die ganze Zeit sprach. Ich dachte, er redet vielleicht von Zeus oder Hades, doch er nannte keinen Namen. Bezeichnete dieses ominöse Wesen bloß als den Einen Wahren.“ Er schnaubte verächtlich. „Das war alles lange bevor die Menschen anfingen, an nur einen Gott zu glauben. Wie also konnte ich damals seine Gesetze verletzen, wenn ich noch nie etwas von ihm gehört hatte?“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich hatte darüber hinaus auch keinen blassen Schimmer, was ein Engel überhaupt war! Das einzige Wesen, das mich damals annähernd an so etwas erinnerte, ist Nike gewesen.“

Dean hob eine Augenbraue. „Nike? Der Sportartikelhersteller?“

Fédon starrte ihn an, als würde er ihn für abgrundtief dumm halten. „Die hellenische Siegesgöttin, du ungebildeter Idiot!“

Dean verzog verärgert sein Gesicht, verzichtete aber darauf, Fédon für sein unfreundliches Verhalten die Nase zu brechen. Am Ende wäre bloß Sam der Leidtragende gewesen und hätte Dean wahrscheinlich noch Jahre später vorgehalten, dass er seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnte.
 

„Im Grunde ist es völlig egal, was du angestellt hast“, meinte Bobby abwinkend. „Wir rufen einfach diesen Engel und sagen ihm, dass er alles wieder in Ordnung bringen soll. Es kann ja wohl kaum in seinem Interesse sein, dass Willcox im Chaos versinkt.“

Dean warf bei diesen Worten einen unauffälligen Blick zu Castiel und bemerkte, dass dieser bei weitem nicht so überzeugt davon zu sein schien wie Bobby. Eine Tatsache, die den Winchester überaus nervös machte. Wenn Imael die einzige Chance war, dass alles wieder in seinen Normalzustand zurückversetzt wurde, war es nicht unbedingt förderlich, wenn er sich letzten Endes als unkooperativ erweisen würde.

Allerdings hatte Dean bisher noch keinen Engel getroffen, der ihnen nicht auf die eine oder andere Art Probleme bereitet hatte. Selbst Castiel war zu Anfang wenig hilfreich gewesen und hatte Dean oft an den Rand des Wahnsinns getrieben mit seinen knappen und kryptischen Andeutungen und seinen unterlassenen Hilfeleistungen.

Wie würde es also mit Imael laufen? Einem Engel, der offenbar unkonventioneller dachte als seine Kollegen und es sich frei herausnahm, Menschen nach Gutdünken zu verfluchen. Würde er dafür einstehen, dass sein Verhalten mitverantwortlich war für die Situation in Willcox, und etwas dagegen unternehmen? Oder würde er bloß die Schultern zucken und sich nicht weiter darum kümmern?

Dean hatte keine Ahnung und selbst Castiel schien unsicher, wie Imael letzten Endes reagieren würde. Sie hatten also bloß die Wahl, ins kalte Wasser zu springen und es einfach zu versuchen. Viel schlimmer konnte es immerhin nicht werden.

„Aber kann er uns überhaupt hören?“, fragte Bobby unvermittelt, seine Stirn in Falten gelegt. „Immerhin ist die ganze Stadt ja irgendwie … abgeschottet.“

Ein berechtigter Einwand, wie Dean fand. Als er kurz nach der Entdeckung des Schnees nach Castiel gerufen hatte, hatte dieser absolut nichts mitbekommen. Wäre er nicht mit den Winchesters verbunden gewesen und von den himmlischen Mächten nach Willcox geschickt worden, um die Lage zu untersuchen, hätte er wahrscheinlich niemals erfahren, in was für einem Schlamassel die Brüder mal wieder geraten waren.

„Imael ist derjenige, der den Fluch ausgesprochen hat“, erinnerte Castiel sie mit Nachdruck, als würde er tatsächlich annehmen, sie hätten dies in der Zwischenzeit bereits wieder vergessen. „Und mit der Hilfe des Geistes dürften wir ihn rufen können.“
 

Dabei warf er einen Blick zu Fédon, der bei diesen Worten nun alarmiert aufblickte. Eine Weile starrte er Castiel einfach nur mit einer undefinierbaren Miene an, ehe er schließlich entschieden den Kopf schüttelte.

„Auf keinen Fall!“, erwiderte er entschlossen. „Auf gar keinen Fall!“

Dean schnaubte. „Du hast hier nun echt kein Mitspracherecht, Bastard! Was du willst, ist uns scheißegal!“ Er umklammerte seine Waffe fester. „Also sei ein braver Caspar und mach bloß keine Mätzchen, dann werden wir dir auch nicht wehtun.“

Aber Fédon schien ihn überhaupt nicht gehört zu haben. Er war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und ab, während er unentwegt den Kopf schüttelte. „Auf keinen Fall!“, wiederholte er, während sein Blick unfokussiert hin und her huschte und sein Körper zu zittern begann. „Nicht dieser Engel! Nicht dieser Engel!“

Er wirkte wie ein Irrer, der überhaupt keinen Bezug mehr zur Außenwelt hatte und bloß mit sich selbst redete. Dean spürte, wie bei diesem Anblick Unruhe in ihm aufstieg. Fédon war zuvor noch so selbstbewusst und überheblich gewesen, aber plötzlich schien das alles nur noch Vergangenheit. Einzig der Gedanke daran, Imael wieder gegenüberzustehen, bereitete ihm offenbar schreckliche Angst.

Im Grunde auch kein Wunder, wenn man bedachte, was der Engel das letzte Mal mit ihm angestellt hatte. Wahrscheinlich befürchtete Fédon, dass nun alles noch schlimmer und grauenvoller werden würde.

„Jetzt komm runter, verdammt!“, meinte Dean zähneknirschend. „Für einen Nervenzusammenbruch haben wir echt keine Zeit. Also hör auf zu flennen und verhalt dich wie ein Mann!“

Aber Fédon war schon seit langer Zeit kein Mann mehr. Geschweige denn ein Mensch. Stattdessen war er kaum mehr als ein Bewusstsein, das niemand wahrnahm bis auf seine Opfer und das in keinster Weise etwas an seinem Schicksal zu ändern vermochte.
 

„Verflucht, lass das Gejammere!“, ereiferte sich Dean erneut. „Glaubst du echt, es kann noch schlimmer für dich werden?“

Nun hielt Fédon mitten in seinen Bewegungen inne und warf dem Winchester einen düsteren Blick zu. „Natürlich kann es das! Der Engel könnte dafür sorgen, dass ich die Schmerzen zehnmal heftiger spüre. Oder er kümmert sich darum, dass ich mit den Menschen, die die Kette anfassen, nicht mehr reden kann, sodass Selbstmord keine Option mehr ist. Ich würde bloß noch vor mich hinvegetieren und vor Angst langsam zergehen.“

Dean wollte ihm gerade entgegen schleudern, dass ihm das vollkommen gleich war, doch plötzlich verdrehte Fédon seine Augen und sackte wie in Zeitlupe zu Boden. Der Winchester zuckte unwillkürlich zusammen und war viel zu überrascht, um überhaupt zu reagieren, doch Castiel trat rechtzeitig ein und verhinderte, dass Fédons Kopf – Sams Kopf! – hart auf dem Linoleum aufschlug. Beherzt griff er den Geist an den Schultern und ließ ihn vorsichtig zu Boden sinken.

„Verdammt, jetzt fällt der uns auch noch in Ohnmacht!“, beschwerte sich Dean lautstark, nachdem er die erste Schrecksekunde überwunden hatte. „Kann der Tag noch besser werden?“

„Imael hat ihm die schlimmsten Qualen beschert, die man sich nur vorstellen kann“, entgegnete Bobby und sah den leblosen Körper fast schon ein wenig mitleidig an. „Ich kann verstehen, warum die Aussicht, ihn wiederzusehen, ihn nicht gerade begeistert.“

Dean stöhnte genervt auf, konnte aber auch nicht widersprechen. Auf gewisse Art und Weise war es tatsächlich nachzuvollziehen. Im Grunde konnte man bloß froh sein, dass Fédon nicht völlig ausrastete und seinen eh schon angeschlagenen Verstand komplett verlor, während er wie wild und wahnsinnig auf alles einschlug, was ihm in die Quere kam.

Obwohl das vielleicht durchaus noch eintraf.
 

„Brauchst du denn seine Hilfe, um diesen Imael zu rufen?“, erkundigte sich Dean schließlich bei Castiel, der neben dem Bewusstlosen kniete und ihn aufmerksam musterte. Kurz strich er ihm auch über die Stirn, was den Winchester ein wenig verwirrte, doch bevor er dazu kam, nachzuhaken, antwortete der Engel: „Nein. Nur seine Anwesenheit ist erforderlich.“

Dean nickte grimmig. Das waren wenigstens gute Nachrichten. „Dann ist es vielleicht ganz praktisch, dass er weg ist.“

Doch kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, bemerkte er, dass Fédons Augenlider wieder zu flattern begannen. Ein dumpfes Ächzen kam aus seiner Kehle, während er versuchte, zu erfassen, was überhaupt passiert war.

„Du kannst ruhig noch was länger schlafen, Dornröschen“, entgegnete Dean daraufhin abwinkend, als er zu ihm trat. „Du gehst uns sowieso auf die Nerven.“

Der Angesprochene runzelte leicht die Stirn und betrachtete den Winchester ehrlich verwirrt, ehe er seinen Mund öffnete und mit leiser Stimme fragte: „Dean?“

Dean fuhr bei diesem einen Wort unweigerlich zusammen. Es war nicht viel, bloß ein einziger Hauch, und dennoch erkannte er sofort, dass alles anders war. Der Blick, die Tonlage …

„Sam!“
 

Dean atmete auf, über alle Maßen erleichtert, wieder seinen Bruder zurückzuhaben. Sofort beugte er sich hinunter und half Sam, sich langsam aufzurichten. Dieser schaute verwundert durch das Zimmer und schien immer noch nicht zu begreifen, was eigentlich los war.

„Erinnerst du dich an irgendwas?“, hakte Dean besorgt nach.

Sam antwortete eine Weile nicht, sondern sammelte alle Eindrücke ein, die er erfassen konnte, bevor er schließlich nach einer schier halben Ewigkeit sagte: „Ob die Amnesie weg ist, meinst du?“

„Nein, eigentlich …“ Dean verstummte und legte seinen Kopf schief. „Ist sie denn weg?“

Sam schwieg erneut eine Weile, offenbar ziemlich beschäftigt, seine Gedanken zu ordnen. „Ich glaube nicht“, meinte er letztlich.

Dean bemerkte, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte, die er nun laut ausstieß. Eigentlich hatte er wenig Hoffnung gehabt und trotzdem hatte er sich irgendwie an sie geklammert wie ein Ertrinkender. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein.

Doch anstatt Sam die Enttäuschung, die sicherlich auf seinen Gesichtszügen zu lesen war, erkennen zu lassen, packte er seinen Bruder am Arm und half ihm, sich wieder auf die Beine zu stellen. Auch Castiel stützte ihn von der Seite, damit er das Gleichgewicht bewahren konnte.

„Geht’s so oder willst du lieber setzen?“, erkundigte sich Dean.

„Alles in Ordnung“, erwiderte der Jüngere, während er sich an einem halbherzigen Lächeln versuchte, das tatsächlich ein wenig an den alten Sam erinnerte. Dean fiel jedoch sofort auf, dass sich sein Bruder leicht an die Tischplatte anlehnte, wohl in der Befürchtung, unter Umständen vielleicht doch wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sein Blick wirkte zwar klar und fokussiert, als wäre gerade eben rein gar nichts passiert, doch Dean beschlich das unruhige Gefühl, dass Sam noch nicht mal annähernd auf der Höhe war. Wie auch, mit einem Geist in seinem Kopf?

Dean warf einen Blick zu Castiel und erkannte zu seiner Erleichterung, dass der Engel von den derzeitigen Umständen offenbar in keiner Weise beunruhigt war. Vielmehr erweckte er den Eindruck, als hätte er mit nichts anderem gerechnet.
 

„Also schön, was ist hier los?“, fragte Dean, an niemand bestimmten gerichtet. Aufmerksam schaute er von Sam über Castiel zu Bobby. „Warum ist Sammy wieder da?“

„Vielleicht konnte Sam wieder die Kontrolle übernehmen, als der Geist ohnmächtig wurde“, mutmaßte Bobby. Immer noch hielt er seine Waffe umklammert und schien in nächster Zeit nicht gewillt, sie zur Seite zu legen. Auch wenn Fédon fürs erste verschwunden schien, vermochte er jederzeit zurückzukommen. Ganz zu schweigen von all den Zombies und Dämonen, die dort draußen lauerten und die Jäger ohne Vorwarnung erneut hätten angreifen können.

„Es handelt sich nicht um eine Ohnmacht“, erwiderte Castiel ruhig. „Der Geist hat sich zurückgezogen.“

„Und hat Sam das Feld überlassen?“, hakte Dean nach.

Der Engel musterte den Winchester eine Weile schweigend und schien wohl zu überlegen, ob es sich bei dieser Aussage um eine typische Formulierung der Menschen handelte oder ob er in Betracht ziehen sollte, dass Dean den Kern der Sache nicht erkannt hatte. Schließlich aber nickte er zustimmend, sicher besonders angesichts der Tatsache, dass weder Sam noch Bobby bei Deans Worten in irgendeiner Art seltsam reagiert hatten.

„Wie auch immer“, meinte der Ältere abwinkend. „Soll sich der Feigling doch irgendwo in den hintersten Ecken von Sams leeren Hirn verstecken, uns kann’s egal sein. So stört er uns wenigstens nicht.“

Und auf diese Weise ist Sam auch wieder bei uns, dachte Dean bei sich, während sich auf seinen Lippen ein Lächeln abzeichnete. Sein Bruder mochte zwar weiterhin an Amnesie leiden und keinen blassen Schimmer davon haben, mit welchem Ende der Waffe man auf einen Feind zielte, aber das kümmerte Dean im Moment wenig. Ein Sam mit gelöschter Festplatte war immer noch um Welten besser als ein herzloser Geist, der Unschuldige in den Selbstmord trieb und den man nicht mal ordentlich zusammenschlagen konnte.
 

„Er ist immer noch da, irgendwie“, sagte Sam zögerlich, fast so, als wäre er sich nicht sicher, ob Dean dies überhaupt hören wollte. „Er kriegt alles mit.“

„Umso besser“, entgegnete Dean schulterzuckend. „Wär ja noch schöner, wenn der Mistkerl nicht wenigstens ein bisschen leiden und sich vor Angst in die Hosen scheißen würde.“

Castiel wirkte für einen Moment, als wollte er Dean darauf aufmerksam machen, dass Fédon überhaupt keine Hosen besaß und im Grunde nicht mal einen eigenen Körper hatte, doch letztlich behielt er es sich für sich. In der Zwischenzeit war Bobby zu Sam getreten, hatte ihm kameradschaftlich auf die Schulter geklopft, sodass Sams Beine beinahe eingeknickt wären, und betont, wie froh er wäre, dass der verlorene Sohn zurückgekehrt sei. Im gleichen Atemzug machte er aber auch nochmal deutlich, dass der Jüngere trotz alledem immer noch entsetzlich dafür büßen würde, dass er Bobby vor nicht allzu langer Zeit hinterrücks niedergeschlagen hatte. Offenbar ein ausgesprochen wichtiger Punkt für Bobby, den er nicht müde wurde zu erwähnen, ganz gleich, um welche Situation es sich handelte.

„Okay, okay“, unterbrach Dean die herzzerreißende Wiedersehensfreude. „Dann lasst uns mal diesen Engel rufen und alles wieder geradebiegen.“

Er glaubte, noch nie zuvor in seinem Leben derart voller Tatendrang gewesen zu sein. Nichts wünschte er sich mehr, als dass alles wieder normal würde. Er wollte den Schnee verschwinden und die erbarmungslose Hitze des Hochsommers zurückkehren sehen. Tagsüber sollte wieder die Sonne scheinen, so wie es sich gehörte. Die Toten sollten in ihren Gräbern verschwinden. Dean wollte sogar miterleben, wie die Dämonen ihre Kräfte zurückerlangten und Gegenstände und Personen mit einem Handschwenk durch die Gegend schleuderten.

Es sollte nur endlich alles wieder in den Normalzustand versetzt werden!
 

„Ähm, Dean?“, meldete sich plötzlich Sam. Er hatte seinen Bruder genau im Blick, sodass es einem schon fast unheimlich werden konnte.

„Was gibt’s, Sammy?“

„Du lächelst immer noch.“

Dean nickte bestätigend, während sich seine Mundwinkel nur noch weiter nach oben verzogen. Er war mehr als bereit, Fédon und diesem ganzen verdammten Fluch in den Arsch zu treten!

„Ich weiß, Sam“, sagte er. „Das tun Menschen normalerweise, wenn sie sich freuen.“

Sein Bruder jedoch schüttelte den Kopf. „Das meinte ich gar nicht.“

„Was denn dann?“

Es war aber schließlich Bobby, der antwortete: „Er redet von deiner Stirn, Junge. Von diesem fetten Smiley, der uns alle schon die ganze Zeit so dämlich angrinst.“

Dean zuckte bei diesen Worten zusammen, als die Erinnerung ihn wieder einholte. Die Zombies, die Dämonen, das Auftauchen von Fédon – das alles hatte ihn glatt vergessen lassen, dass Cormin ihn, während der Schlafzauber aktiv gewesen war, verschandelt hatte!

Sofort stürzte er ins Badezimmer und warf einen Blick in den Spiegel. Er sah derangiert und mitgenommen aus, wie ein Kerl, der schon seit drei Uhr morgens auf den Beinen war und im Grunde den lieben langen Tag nichts anderes getan hatte, als stundenlang durch den hohen Schnee zu stampfen und sich mit übernatürlichen Wesen zu prügeln.

Der große, breit lächelnde Smiley wirkte angesichts des Rests seiner Erscheinung seltsam grotesk.
 

Dean grummelte vor sich hin, während er Wasser über ein Handtuch laufen ließ und sich übers Gesicht wischte. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass die Farbe nicht wasserfest war, und er sich somit nicht dazu genötigt sehen musste, mit einem Smiley auf der Stirn einem Engel gegenüberzutreten.

Das wäre ja noch schöner gewesen!

Das wirst du wirklich bereuen, Cormin!, dachte er bei sich, während er sich gedanklich die Notiz machte, nach der Auflösung des Fluchs nicht einfach die Beine hochzulegen und das sorgenfreie Leben zu genießen, sondern sofort auf Dämonenjagd zu gehen und diesem verfluchten Bastard schreckliche Höllenqualen zu bescheren.

Während er sich einen vor Schmerzen schreienden Cormin lebhaft vorstellte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Sam sich auf einem Stuhl niederließ und seine Schläfen massierte. Offenbar hatte er Kopfschmerzen, vielleicht tobte auch Fédon in seinem Inneren wie ein Berserker und wollte ihn davon überzeugen, abzuhauen, wie er es schon einmal erfolgreich getan hatte. Zumindest wirkte Sam ziemlich erledigt, was Dean nur noch mehr anstachelte, Imael zu rufen und die ganze Geschichte endlich zu beenden.

Castiel nahm in der Zwischenzeit die Goldkette vom Tisch und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden, ehe er Bobby einen Blick zuwarf, der gerade damit beschäftigt war, sich zu bewaffnen, als würde er in den Krieg ziehen. Überall, wo er Platz an seinen Körper fand, steckte er Messer, Pistolen, Weihwasser und Gewehre hin, als erwartete er, in der nächsten Sekunde von allen Seiten angefallen zu werden. Er wollte anscheinend auf alles vorbereitet sein.

„Also schön“, verkündete er, als er das letzte Messer in seine Gesäßtasche gestopft hatte und Dean wieder mit einer unbemalten Stirn aus dem Badezimmer trat. „Dann lasst uns mal den Engel rufen!“
 

________________________________________________
 

So, diesmal nach etwas längerer Zeit, ein neues Kapitel ^^ Ich werde mich jetzt aber bemühen, schneller weiterzuschreiben und diese Story zu einem (hoffentlich) würdigen Ende zu bringen.
 

Und nochmal vielen herzlichen Dank für all euren lieben Kommentare! :)
 

By the way, für die, die's interessiert: Die griechische Göttin Nike sieht mit ihren Flügeln tatsächlich aus wie ein Engel (vielleicht kennt ja der ein oder andere die berühmte Statue 'Nike von Samothrake', die heute im Louvre steht), sie hat mit den Engeln an sich aber nicht wirklich was zu tun.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  DoctorMcCoy
2010-08-13T18:05:37+00:00 13.08.2010 20:05
Du lächelst immer noch ... das tue ich wahrscheinlich gerade auch, aber nicht so, wie Dean. Hach, den Smiley hatte ich ja schon wieder vergessen, aber schön, dass du ihn nochmal erwähnt hast. Es wäre zwar bestimmt lustig gewesen, diesen Engel zu rufen und wie er den Smiley da auch der Stirn von Dean betrachtet hätte, aber das hätte ja Deans Würde gekränkt. Sowas geht ja gar nicht :)
Sonst hat mir das Kapitel natürlich auch generell sehr gut gefallen. Wurde viel erzählt, aber das ist gut so. Liebe deine Dialoge. Die wirken immer so lebendig. Als ob man da mit im Raum stehen würde. Okay, wäre mir im Moment ein bisschen zu kalt, aber für Cas, Bobby, Dean und Sam (man betrachte die Reihenfolge!) würde ich das schon auf mich nehmen. Und Imael wäre bestimmt auch interessant, mal kennen zu lernen.

Wirklich genial, wie sich Bobby zum Schluss mit Waffen nur so zumauert. Weiß er eigentlich, dass die Waffen, die er sich da eingepackt hat, bei Engeln so rein gar nichts bewirken? Oder will er einfach auf weitere Dämonen/Zombie-Angriffe gefasst sein?
Und Sam ist wieder da, nicht zu vergessen. Zwar unser "Die Amnesie ist noch da"-Sam, aber immerhin ansatzweise Deans Bruder. Da ist doch auch Dean direkt besser drauf und sieht genau so aus, wie sein Smiley auf der Stirn.
Haha ... ich freue mich schon aufs nächste Kapitel. Ob Imael Castiel kennt oder ob sie sich nur von hörensagen kennen.
Bin schon sehr gespannt darauf.
Lg Lady_Sharif


Zurück