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Amnesie

von

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Dunkelheit

Der Stromausfall hatte tatsächlich das Sicherheitssystem des Museums lahmgelegt.

Dean bemerkte es bereits, als er durch die Tür trat. Die Kameras waren dunkel und die Bewegungssensoren wirkten wie tot. Auch die Chance, dass in dem Gebäude Wachpersonal postiert war, während man gleichzeitig glaubte, an diesem Ort herrschte ein gefährlicher Virus, war mehr als unwahrscheinlich.

Angesichts des Schnees und der allgemein chaotischen Lage in Willcox war offenbar auch noch keine Menschenseele auf den Gedanken gekommen, seine Aufmerksamkeit dem Museum zu widmen. Alle waren sie viel zu abgelenkt.

Dean kam dies mehr als gelegen.

Vorsichtig schlich er durch die Gänge, die aufgrund der abgedunkelten Fenster recht düster waren und bloß vom Licht seiner Taschenlampe ein wenig erhellt wurden. Immer wieder ließ er seinen Blick hin und her huschen, um jede potenzielle Gefahr rechtzeitig erkennen zu können. Das letzte Mal, als er unaufmerksam gewesen war, hatte Sam mit seinen Erinnerungen bezahlen müssen. Und Dean legte es nicht darauf an, dass mit ihm dasselbe passierte.

„Du musst dich vor dem Geist in acht nehmen“, meinte Dean zu Castiel, der ihm auf dem Fuße folgte. „Ich weiß zwar nicht, ob Woods auf Engel denselben Effekt hat wie auf Menschen, aber wir müssen es ja nicht unbedingt darauf anlegen, oder?“

„Ich bin auf der Hut, Dean“, sagte Castiel vollkommen ruhig. Nichts schien ihn aus der Fassung bringen zu können. Anstatt beunruhigt nach einem Geist Ausschau zu halten, der einem das komplette Gedächtnis ohne größere Probleme löschen konnte, ließ er seinen Blick fast schon interessiert über die verschiedenen Ausstellungsstücke schweifen.

„Du weißt schon, dass das hier keine Touristentour ist, oder?“, fragte Dean etwas gereizt. Es gefiel ihm nicht, dass der Engel dermaßen gefasst blieb. Irgendwie machte diese Haltung den Winchester nur noch nervöser.

„Natürlich weiß ich das“, sagte Castiel völlig ernsthaft. „Wieso sollte ich auch denken, dass wir eine Touristentour unternehmen?“
 

Dean unterdrückte ein Stöhnen, hatte aber wenig Lust, den Engel aufzuklären. Stattdessen nahm er eine der Eisenstangen, die er mitgenommen hatte, von seinem Gürtel und reichte sie Castiel.

Dieser starrte die dargebotene Waffe jedoch an, als wüsste er nicht, worum es sich dabei handelt.

„Hier, nimm schon!“, meinte Dean ungeduldig. „Du willst dich doch irgendwie gegen den Geist verteidigen können, sollte er auf die Idee kommen, dich anzugreifen, oder? Und mit deinem Mojo steht’s gerade nicht zum Besten, falls du dich erinnerst.“

Castiel zögerte noch einen Augenblick, dann aber nahm er die Eisenstange entgegen. Interessiert musterte er sie und machte somit nicht gerade den Eindruck eines mächtigen Kriegers. Vielmehr wirkte diese Waffe in seiner Hand völlig fehl am Platz.

„Wenn der Geist kommt, einfach draufhauen, okay?“, half Dean ihm auf die Sprünge, einfach weil er das Gefühl hatte, es nochmal extra erwähnen zu müssen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich wieder in Bewegung. Gemeinsam durchstreiften sie die verschiedenen Ausstellungsräume, welche absolut verlassen erschienen. Nirgends gab es ein Lebenszeichen … oder ein Zeichen des Geistes.

Schließlich begaben sie sich ins erste Stockwerk, dort, wo sich früher Barbara Woods‘ Zimmer befunden hatte. Dean fühlte sich ein wenig unwohl, als er den Flur entlangging. Immerhin hatte an diesem Ort alles seinen Anfang genommen. Sam hatte sein Gedächtnis verloren und unter Umständen würde es Dean ähnlich ergehen, wenn er nicht aufpasste.

Unwillkürlich fragte er sich, wie es wohl sein würde, alles zu vergessen. Sicher auf der einen Seite beängstigend und verwirrend, aber auf der anderen Seite auch irgendwie befreiend. Dean zumindest hatte ein paar Erinnerungen – vornehmlich die aus der Hölle –, die er liebend gern losgeworden wäre. Aber war es das wert, auch alles andere zu vergessen? Seine Eltern, seinen Bruder, die gemeinsame Zeit, die Monsterjagden, die schönen Frauen und den Impala?

War es das wirklich wert?
 

Dean entschied sich, nicht länger über dieses bedrückende Thema nachzugrübeln, und schaute sich konzentriert um. Sein Blick glitt nach rechts, in einen Raum, in dem antike Waffen gelagert waren. Etwas, das Dean weitaus interessanter fand als ramponierte Vasen und alte Ketten. Wenn er nur daran dachte, was er alles mit diesen netten Spielzeugen hätte anstellen können, hob sich gleich seine Stimmung.

Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen … nur um im nächsten Augenblick zu verschwinden.

Mit aufgerissenen Augen starrte er in den Raum, der ebenso wie der Flur und die anderen Zimmer völlig dunkel war.

Aber im Gegensatz zum Erdgeschoss hatte man vor die Fenster keine dicken Vorhänge gezogen, um das Innere vor neugierigen Blicken zu schützen.

Nein, die Dunkelheit kam von draußen!

Dean stürzte zum Fenster und schaute hinaus. Er schnappte entsetzt nach Luft, als er realisierte, dass die ganze Stadt in Finsternis versunken war. Als wäre es tiefste Nacht.

Automatisch warf Dean einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war gerade mal elf Uhr morgens.

„Was …?“ Er konnte bloß ungläubig den Kopf schütteln.

Auf dem Weg zum Museum war es tatsächlich stetig dunkler geworden, aber Dean hatte angenommen, dass sich bloß die Wolkendecke zuziehen würde. Irgendwann hatte es auch zu schneien angefangen, was seine Vermutung bestätigt hatte.

Aber nun?

Diese Dunkelheit kam nicht bloß von zusammengeballten Wolken. Es war, als hätte die Nacht entschlossen, schon um einiges früher einzubrechen.

Sehr viel früher.
 

„Das ist wirklich erstaunlich“, meinte Castiel, der neben Dean getreten war.

„Was ist hier nur los?“, wollte der Winchester wissen. „Was hat die Macht, den Tag in Nacht zu verwandeln?“

Castiel machte den Eindruck, als wollte er zu einer Antwort ansetzen, schloss seinen Mund dann aber wieder. Dean stupste ihn daraufhin auffordernd an und meinte bissig: „Du weißt es, nicht wahr?“

„Nein“, erwiderte Castiel.

„Aber du hast eine Ahnung?“

Castiel zögerte. Offenbar gefiel es ihm nicht, seine Annahme Dean gegenüber auszusprechen. Aber schließlich sagte er: „Die obersten Engel hätten durchaus die Macht, die Naturgesetze dermaßen zu verändern. Vorrangig die Erzengel.“

Dean spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. „Du denkst wirklich …?“

„Eigentlich nicht“, entgegnete Castiel sofort. „Die Erzengel hätten keinerlei Grund, der Stadt so etwas aufzubürden. Warum sollten sie es auch tun? Das ergäbe überhaupt keinen Sinn.“ Er schwieg einen Moment und meinte letztlich: „Und hätten sie sich wirklich dazu entschlossen, diese Stadt aus irgendeinem Grund zu zerstören, würde sie schon längst nicht mehr existieren.“

Dean holte einmal tief Luft. „Und außerdem hätte man dich kaum hierhergeschickt, wenn das ganze Durcheinander die Schuld des Himmels wäre, oder?“

„Genau“, bestätigte Castiel, auch wenn er nicht ganz so überzeugt klang, wie man es hätte vermuten können.

„Und was ist dann dafür verantwortlich?“

„Etwas mit den Fähigkeiten eines mächtigen Engels“, meinte Castiel. „Und das das Chaos liebt.“

Dean wusste nicht, ob ihm diese Antwort gefiel. Natürlich war es durchaus beruhigend, dass sie sich nicht mit einem Erzengel anlegen mussten, aber andererseits hätten sie dann wenigstens gewusst, mit wem sie es zu tun hatten.
 

Ein Gedanke schoss Dean plötzlich durch den Kopf. „Ein Trickster vielleicht?“

Noch deutlich erinnerte er sich an die letzten Begegnungen mit einem bestimmten Exemplar dieser Rasse. Nie war es besonders erfreulich für die Brüder gewesen. Trickster waren raffiniert, erfinderisch, mächtig … und sie liebten das Chaos.

„Das Ganze würde zu dem schwarzen Humor eines Tricksters passen“, meinte Dean. „Zumindest zu dem, den wir getroffen haben.“

Castiel aber schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Trickster mögen zwar mächtig sein, das gebe ich zu, aber niemals im Leben hätte einer von ihnen das hier bewerkstelligen können.“

Dean schürzte die Lippen. „Mehrere?“

„Unmöglich.“

Dean nickte verstehend. Und wenn er ehrlich zu sich war, war er auch erleichtert, dass kein Trickster an diesem Schlamassel Schuld war. Er hatte keine große Lust, sich mit einem auseinanderzusetzen. Das letzte Mal, als sie einem begegnet waren, war Dean unzählige Tode gestorben. Er selbst konnte sich zwar nicht mehr daran erinnern, aber Sams Berichterstattung und dessen dazugehörige fahle Gesichtsfarbe waren mehr als ausreichend gewesen.
 

„Wir sollten uns erst um den Geist kümmern“, riss ihn Castiels Stimme aus den Gedanken.

Dean zuckte unwillkürlich zusammen. „Ja“, meinte er noch etwas geistesabwesend. „Ja, du hast Recht …“

Er warf noch einen letzten Blick auf die finstere Stadt, ehe er sich widerwillig abwandte. Ein Teil von ihm wollte auf der Stelle zu Sam eilen und sich davon überzeugen, dass alles in Ordnung war. Nur schweren Herzens konnte er sich zusammenreißen.

Stattdessen kramte er, als sie wieder in den Flur gingen, sein Handy hervor und wählte Bobbys Nummer.

„Dean?“, meldete sich dieser, seine Stimme verzerrt. Offenbar stand es mit den Telefonverbindungen auch nicht mehr zum Besten. Dean fragte sich, wie lange sie wohl noch funktionieren würden.

„Ist bei euch alles okay?“, wollte Dean wissen.

„Alles bestens“, meinte Bobby. Anscheinend versuchte er, gelassen zu wirken, aber Dean hörte deutlich die Anspannung in seinem Tonfall. „Na ja, abgesehen davon, dass vermutlich bald die Welt untergeht. Oder zumindest Willcox …“ Ein Geräusch war daraufhin zu hören, das klang, als würde er sich am Bart kratzen. „Bei euch ist auch finstere Nacht?“

„Dunkler als in Batmans Höhle.“

„Es ist vor ungefähr fünf Minuten passiert“, fuhr Bobby fort. „Schon vor einer halbe Stunde wurde es immer düsterer und dann plötzlich … Nacht!“ Er hielt kurz inne. „Der Motelbesitzer hat offenbar einen Freund, der direkt an der Grenze wohnt. Er sagt, außerhalb der Stadt ist es weiterhin heiß, schneefrei und helllichter Tag.“

Dean nickte. Er hatte auch mit nichts anderem gerechnet. Was auch immer mit Willcox geschah, es hatte keinerlei Auswirkung auf die Außenwelt.
 

„Und was ist mit Sam?“, erkundigte sich Dean.

„Alles in Ordnung“, sagte Bobby nach einem kurzen Zögern.

Dean runzelte die Stirn. „Bobby?“, hakte er argwöhnisch nach.

Sein Freund seufzte. „Es ist … irgendwas stimmt nicht mit dem Jungen.“ Bobby schwieg einen Augenblick und fügte schließlich hinzu: „Ich finde es beunruhigend.“

Dean spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Bobby Worte wollten ihm ganz und gar nicht gefallen. „Wovon redest du? Etwa der Amnesie?“

„Damit kann ich leben“, entgegnete Bobby. „Aber … er hat mir ein Bild gemalt.“

Dean lachte auf. Darum ging es also? „Ich versteh schon, warum du das beunruhigend findest.“ Dean grinste breit. „Und, hast du dich wenigstens angemessen gefreut, ohne seine Gefühle zu verletzen? Ich sag’s dir echt ungern, Bobby, aber manchmal kannst du ganz schön unsensibel sein.“

Am anderen Ende der Leitung war ein abfälliges Schnauben zu hören. „Sei nicht so frech, Bursche!“, knurrte Bobby. „Es geht nicht darum, dass er mir ein Bild gemalt hat. Es geht darum, dass … es fantastisch ist.“

Dean blinzelte. „Bitte?“

„Das Bild … es ist, als hätte Monet es gezeichnet. Nicht Sam.“

Dean wusste im ersten Augenblick nicht, was er sagen sollte. „Ich … ich versteh nicht …“

„Ich auch nicht, Dean“, meinte Bobby seufzend. „Hör zu, irgendwas ist mit Sam passiert. Vielleicht sogar nicht nur mit ihm, sondern mit der ganzen Stadt. Vielleicht könnte ich jetzt auch ein Monet-Bild malen, wenn ich mich dransetzen würde.“

Dean hatte das Gefühl, dass sein Kopf explodierte. Der Schnee, die Dunkelheit und nun auch noch Sams verborgenes Talent.
 

„Wir sind da“, meldete sich plötzlich Castiel.

Dean blickte verwirrt auf. Er hatte bloß einen Schritt vor den anderen gesetzt und dabei gar nicht gemerkt, dass der Engel ihn in Barbara Woods‘ ehemaliges Zimmer geführt hatte.

Er atmete einmal tief durch. „Hör zu, Bobby, Cas und ich werden uns jetzt erst mal um den Geist kümmern. Vielleicht löst sich ja alles in Wohlgefallen auf, wenn sie endlich in Frieden ruht.“

„Ja, vielleicht“, stimmte Bobby zu. „Viel Glück.“

„Danke“, murmelte Dean und klappte anschließend sein Handy zu. Tausend verschiedene Gedanken rasten ihm durch den Kopf und machten ihn zunehmend nervöser. Die Sorge um Sam übermannte ihn förmlich. Er musste sich geradezu zwingen, nicht sofort kehrtzumachen und wieder zum Motel zurückzulaufen. Durch Schnee und Finsternis.

„Was ist los?“, erkundigte sich Castiel. Intensiv musterte er Dean und schien sich nicht daran zu stören, dass in diesem Zimmer jederzeit ein wütender Geist auftauchen könnte.

„Es geht um Sam“, erklärte Dean. In einigen wenigen Worten schilderte er seinem Gegenüber, was Bobby ihm mitgeteilt hatte. „Irgendwas stimmt ganz und gar nicht.“

„Sam kann plötzlich atemberaubend zeichnen?“

„Es sieht so aus.“

„Konnte Barbara Woods gut zeichnen?“

Dean, der bereits damit begonnen hatte, seinen Blick schweifen zu lassen, legte seine Stirn in Falten und schaute skeptisch zu dem Engel. „Was hat das denn damit zu tun?“

Castiels Miene blieb unverändert, als er meinte: „Barbara Woods hat ihre Krankheit – die Amnesie – auf Sam übertragen. Unter Umständen ist das aber nicht alles gewesen.“

Dean hob eine Augenbraue. „Du denkst, sie hat Sam auch noch ihr Zeichentalent mitgegeben?“ Er lachte spöttisch auf. „Ist das echt dein Ernst?“

Castiel legte ein wenig seinen Kopf schief. „Es ist nur eine Vermutung“, entgegnete er. „Und wäre es so unwahrscheinlich?“

Dean wollte gerade enthusiastisch nicken und Castiel aufzeigen, auf welchem Holzweg er sich befand, aber kaum hatte er seinen Mund geöffnet, realisierte er, dass ihm kein einziges Gegenargument einfiel. Castiels Mutmaßung klang vielleicht verrückt … doch völlig unmöglich war es sicherlich nicht.

Dean verzog gequält seine Mundwinkel. „Ich weiß nicht, ob mir das gefallen soll.“
 

Doch anstatt sich mit diesen wenig erfreulichen Gedanken herumzuschlagen, zwang er seine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Er ließ das Licht der Taschenlampe durch den großen Raum wandern und sagte: „Wir müssen irgendwelche Überreste von Barbara Woods finden. Haare, Fingernägel, Blut, Hautschuppen – einfach irgendwas.“

Seine Hoffnung schwand jedoch, als er sich intensiver umschaute. Für die Ausstellung war das Zimmer auf Hochglanz poliert und offenbar auch noch renoviert worden. Wahrscheinlich würden sie nicht mal ein Staubkorn finden.

„Lass mich raten“, sagte Dean daraufhin zähneknirschend. „Das letzte bisschen, das von Babara Woods noch übrig war, befindet sich jetzt vermutlich im Staubsauger des Reinigungspersonals. Oh nein, warte – wahrscheinlich in irgendeinem Staubsaugerbeutel auf der Mülldeponie.“

Castiel musterte ihn skeptisch und schien sich zu fragen, ob Dean mit ihm redete oder Selbstgespräche führte.

Der Winchester seufzte derweil resigniert auf. „Wir werden nie etwas finden. Sam wird für immer und ewig ein Kleinkind-Monet bleiben.“

„Es wird schwierig werden“, meinte Castiel bestätigend. Offenbar hatte er seinen letzten Rest Mojo aktiviert, um die Situation genauer zu analysieren. „Aber ich glaube, wir befinden uns dennoch am richtigen Ort.“

Dean wollte zu einer Antwort ansetzen, verstummte aber abrupt, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln bemerkte. Sofort wirbelte er herum und riss seine Waffe hoch.

Und zielte direkt auf Barbara Woods.
 

* * * * *
 

„Du bist ein Idiot!“

„Du weißt es wirklich, jemanden aufzumuntern.“

„Aber du bist nun mal ein Idiot!“

Mica bedachte Cormin mit einem harten Blick und beobachtete, wie dieser sich ächzend auf der ausgebleichten Couch niederließ, die man im Pausenraum aufgestellt hatte.

Nur mit Mühe und Not waren sie den Jägern entkommen und hatten schließlich ein Bürogebäude zu ihrem Zufluchtsort erklärt. Das kleine Haus war vollkommen leer, was vermutlich mit der ungewöhnlichen Lage in Willcox zusammenhing. An solch einem Tag ging niemand zur Arbeit, als wäre nichts geschehen.

Mica erschauerte, als sie an den Schnee dort draußen dachte. Mit ihm hatte alles angefangen. Nun waren sie keine mächtigen Dämonen mehr, sondern schwach und von der Situation heillos überfordert.

Cormin hatte es nicht mal geschafft, seine Hülle zu heilen, die von den Gewehrschüssen stark in Mitleidenschaft gezogen worden war. Stattdessen hatte er mühevoll das Gefäß wechseln müssen – das zumindest hatte noch anstandslos funktioniert – und sich im Körper eines jungen Mannes mit Stoppelbart, einer typisch militärischen Kurzhaarfrisur und eisgrauen Augen eingenistet.

Trotzdem war er noch angeschlagen. Bei dem Versuch, seine alte Hülle wiederherzustellen, hatte er viel zu viel seiner eh schon bescheidenen Kraft verbraucht. Mica hatte ihm unter die Arme greifen müssen, sonst hätte er es gar nicht erst bis an diesen Ort geschafft.

Und dennoch blieb er unerschütterlich.
 

„Du willst dich wirklich noch mit den Jägern anlegen?“ Mica schüttelte fassungslos den Kopf, während sie den Wasserhahn aufdrehte und sich etwas Wasser ins Gesicht spritzte. Es war zwar eiskalt, weckte aber wieder ihre Lebensgeister.

„Es ist eine einmalige Chance“, meinte Cormin lächelnd. „Du hast Sam doch selbst erlebt. Wir könnten ihn in seiner derzeitigen Verfassung wahrscheinlich mit einem Schokoriegel anlocken.“

Mica seufzte genervt. „Er wird beschützt!“, erinnerte sie ihn. „Und ich denke nicht, dass sich die anderen Jäger mit Schokoriegel ablenken lassen.“

Zähneknirschend ließ sie das Wasser über einen Lappen laufen und legte sich diesen anschließend auf die Wunde an ihrem Oberarm. Der Schuss hatte sie zwar nur gestreift, dennoch tat es höllisch weh. Nicht zuletzt, weil sie ihre Schmerzen zunächst hatte ignorieren müssen, um Cormin zu helfen.

„Außerdem bist du geschwächt“, fuhr Mica fort. „Das wäre Wahnsinn.“

„Ich bin schnell wieder auf den Beinen.“

„Cormin …“ Sie schloss kurz ihre Augen. „Wir haben keine Macht mehr! Hast du das etwa schon vergessen?“

Ihr Partner tat dies jedoch mit einem Schulterzucken ab. „Ich war zunächst überrascht, das gebe ich zu. Deswegen haben uns diese Menschen überrumpeln können. Aber das wird mir sicherlich kein zweites Mal passieren.“

„Cormin …“

„Ich bin ein Krieger, Mica!“, erklärte er mit Nachdruck. „Ich weiß mich an Situationen anzupassen. Und auch wenn unsere Lage momentan alles andere als gewöhnlich ist, müssen wir damit eben zurechtkommen.“

Mica bewunderte ihn ein wenig für seine Gefasstheit. Sie selbst war einfach nur entsetzt gewesen und spürte auch noch in diesem Augenblick ein Knoten in ihrem Magen. Sie wollte im Grunde nichts lieber, als einfach aus der Stadt zu verschwinden.
 

„Und wie willst du es anstellen?“, hakte Mica widerstrebend nach.

„Ich habe in meinem langen Leben viel gelernt“, erklärte Cormin mit Stolz in der Stimme. Er beobachtete Mica und wartete anscheinend auf irgendeine Reaktion, weswegen sie bloß ihre Augen verdrehte. „Unter anderen habe ich mich auch mit der Hexenkunst beschäftigt. Und ich kenne einen sehr wirksamen Schlafzauber.“

„Schlafzauber?“ Höhnisch lachte Mica auf. „Das ist dein großer Plan?“

Cormin war durchaus brüskiert, dass sie für seinen Vorschlag so wenig Begeisterung zeigte. „Genau wie die anderen Dämonen bist du in deinem Denken festgefahren“, zischte er. „Ihr glaubt alle, man müsste rohe Gewalt anwenden, um Sam Winchester zur Strecke zu bringen. Aber in Wahrheit ist es sehr viel klüger, raffiniert vorzugehen. Es ist ratsamer, die Hintertür zu benutzen, anstatt vorne hereinzuplatzen.“

Mica konnte ihm in dieser Hinsicht nicht unbedingt widersprechen. Somit schwieg sie und musterte ihn abwartend.

„Jeder Dämon, der bisher versucht hat, Sam zu erwischen, ist kläglich gescheitert“, fuhr Cormin fort. „Ist überhaupt schon einmal jemand auf den Gedanken gekommen, Sams Essen zu vergiften? Oder einen professionellen Auftragskiller zu engagieren, der Sam aus beeindruckender Entfernung eine Kugel ins Herz schießt? Oder einfach nur auf ihn zuzugehen und ihn niederzuschießen, ohne vorher eine lange Rede zu halten?“

Mica blinzelte. Meinte er das wirklich ernst?

„Ich gebe zu, das klingt alles nicht besonders ehrenvoll“, meinte Cormin. „Aber meine Güte, wir sind Dämonen! Es heißt doch allerorts, wir wären hinterhältig und böse.“
 

Mica blieb einen Moment still und ließ seine Worte erst mal sacken. „Du willst also … Sams Essen vergiften?“

Cormin winkte ab. „Das war nur ein Beispiel. Damit du verstehst, worauf ich hinauswill.“

Mica nickte langsam. „Ich versteh schon“, gab sie zu. „Und dieser Schlafzauber …?“

„Er wird wirken“, sagte Cormin überzeugt. Er grinste wie ein kleiner Junge.

„Und wie willst du Sam aus dem Motelzimmer locken, das ganz sicher mit Salz abgesichert wurde?“

„Wir werden schon einen Weg finden.“ Er klang über alle Maßen selbstsicher. Offenbar war er wirklich überzeugt, dass das funktionieren würde.

Seufzend setzte sich Mica neben ihm auf die Couch und merkte plötzlich mit einem Mal, wie ausgelaugt ihr Körper war. Die Aussicht, sich mit ein paar Jägern herumzuschlagen, kam ihr im Moment nicht besonders berauschend vor.

„Du bist verletzt“, stellte Cormin unvermittelt fest. Er starrte auf den Lappen, den Mica auf ihre Verletzung drückte.

„Du bist echt ein Blitzmerker“, meinte Mica kopfschüttelnd. Unweigerlich musste sie lächeln, als sie bemerkte, dass Cormin tatsächlich ein wenig zerknirscht erschien, dass er es nicht schon früher registriert hatte.

„Du willst es also durchziehen?“, hakte sie schließlich nach.

„Unbedingt. Wir dürfen die Chance nicht einfach verstreichen lassen.“

„Und was ist, wenn sich die ganze Sache mit dem Schnee bald von selbst klärt? Wenn wir unsere Kräfte wieder zurück haben, Sam aber nicht sein Gedächtnis?“

Just in diesem Moment brach draußen die Dunkelheit herein. Schon die ganze Zeit zuvor war es düster gewesen, nun aber schien es urplötzlich Nacht geworden zu sein.

Mica verzog angesichts dieses Anblicks bloß ihr Gesicht. „Vergiss einfach, was ich gerade gesagt habe.“

Sie spürte, wie ihr Herz schwer wurde.

Cormin würde auf jeden Fall seinen Plan in die Tat umsetzen, ob mit oder ohne sie. Außerdem musste Mica zugeben, dass der Gedanke, Sam Winchester tot vor sich auf dem Boden liegen zu sehen, einen unglaublichen Reiz ausübte.

Somit nickte sie. „Ich bin dabei.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DoctorMcCoy
2010-03-16T13:01:14+00:00 16.03.2010 14:01
Hach, jetzt hätte ich beinahe vergessen noch einen Kommi zu schreiben. Habe es ja gestern vor dem Schwimmen gelesen, hatte aber keine Zeit mehr, meine Meinung kund zu tun.

Also, wie nicht anders zu erwarten, hat mir das Kapitel natürlich mal wieder sehr gut gefallen. Natürlich auch zum Einem, weil Cas jetzt endlich offiziell dabei ist. Ich liebe diesen Engel einfach. *hihi*

Die gemeinsame Jagd von Dean und Cas ist einfach zu geil. Wie Dean meinte, er müsste aufpassen und Cas immer noch ganz locker durch das Museum spaziert. Oder wie Cas die Eisenstange nur schräg angeschaut hat, als ob er gar nicht wüsste, was es mit diesen Ding auf sich hat.
Aber seine Idee, dass Barbara wohl gut zeichnen konnte und das auch auf Sam übertragen hat, war doch wirklich nicht schlecht. Noch ein bisschen Übung und Cas würde wahrscheinlich zu einem hervorragenden Jäger mutieren.

Aber das Beste war ja die Sache mit der Dunkelheit. Ich musste ständig daran denken, dass sie alle urplötzlich von der Dunkelheit überrascht wurden. Die ganze Zeit hatte ich diesen Satz im Kopf und konnte nicht aufhören zu grinsen.
Und wie Dean dann Cas ausquetscht, da er anscheinend etwas weiß. Ah-ha, ein Erzengel hätte so etwas also veranstalten können. Aber wahrscheinlich sehr unwahrscheinlich, dass es einer war, sonst hätten sie ja wohl Cas nicht dorthin geschickt, oder? Aber was für uns unlogisch klingt, könnten für die Engel wiederum logisch sein. Manchmal steige ich nicht hinter deren Denkweise.

Und du hörst natürlich wieder auf, wenn es gerade so richtig spannend wird und der Geist hinter denen steht. Du bist schon gemein, Sarah. Ich hoffe für dich, dass du schon am nächsten Kapitel arbeitest, sonst könnte es für dich schlecht ausgehen.

Die Szene zwischen Cormin und Mica war auch mal wieder ganz süß. Sie scheinen mit der ganzen Situation auch mehr als zufrieden zu sein. Ich hoffe nur, dass die beiden keine Angst im Dunkeln haben.
So, man liest sich dann im nächsten Kapitel.
HDGDL Lady_Sharif
Von:  RyouAngel
2010-03-16T10:31:35+00:00 16.03.2010 11:31
Das ist wiedermal ein tolles Kapitel!
Ich bin so gespannt wie es im Museum weiter geht und was sich diese fiesen Dämonen noch so einfallen lassen
*grinsl*
Also spann mich nicht zu lange auf die Folter, ja?

Deine RyouAngel


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