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Tochter der Nacht, Sohn des Lichts

Winter-Wichtel-FF für Wieldy
von

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Luan & Chenlao

Liebe Wieldy,
 

du hast die ungewöhnlichste Wunschliste, die ich je gesehen habe. Und die Inspirierendste. Meine Wahl fiel auf deinen Wunsch Nr. 1 (oder besser gesagt, auf den obersten deiner Nummer 1-Wünsche xD) "Märchen".

Ich liebe Märchen in allen möglichen Formen. Für dich habe eines versucht zu schreiben, das ein bisschen asiatisch angehaucht ist, aber dennoch alle typischen Merkmale eines Märchens ausmachen sollte.

Als feststand, welches Genre ich schreiben möchte, fehlte nur noch die Handlung und die flatterte mir irgendwann vor die Nase. Ein Nachtfalter. Heraus kam das Naheliegendste - nein, kein Vampirmärchen *g* - ein Märchen über Licht und über Schatten.
 

Und hier ist es. Viel Spaß beim Lesen!
 

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Einer Legende nach soll die Stadt der Tausend Lichter von jeglichem Unglück verschont bleiben, so lange ihre Straßen und Häuser die Nächte heller machten.
 

Dass es so bleibt, dafür sorgt der fleißige Lampenmacher Xijian, bis eines Tages ein tragischer Unfall das Leben seiner kleinen Familie beinahe zerstört.
 

Danach wird es dunkler in der Stadt der Tausend Lichter...


 


 

Stadt der tausend Lichter
 

Einst, als die Lichter, die die Nächte der Menschen erhellten, noch flüchtig flackernde Flammen waren, gab es, umschlossen von Bergen mit sanften, runden Gipfeln und fächerförmig angelegten Reisfeldern, eine kleine Stadt, von der es hieß, dass, so lange ihre Straßen hell erleuchtet waren, alles Unglück von ihr fern blieb.
 

Etwas von der Stadt entfernt lebte in einem Häuschen der Lampenmacher Xijian mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Luan.

So schlicht das Haus des Lampenmachers auch war, so war alles was es umgab, in Fülle und Überfluss vorhanden: ein Garten, in dem die Blumen immer zu blühen schienen, umschloss das Haus wie die Arme einer Mutter ihr Kind und Obstbäume wechselten sich mit sorgsam zurechtgestutzten Ziersträuchern ab. Mitten durch den Garten floss, einer Lebensader gleich, ein kleiner Bach, an dem von Frühling bis Sommer Frösche lebten.

Jeden Abend flammten rund um das Haus und in jedem Baum des Gartens die Lampen auf, dass selbst die fleißig quakenden Frösche einen Moment lang inne hielten und mit großen, Tintenschwarzen Augen das Lichtermeer um sich herum bestaunten.
 

Xijians kunstvolle Lampen waren bis weit über die Grenzen ihrer Provinz bekannt. In den kleinsten Hütten und in den prächtigsten Häusern hingen Xijians Lampions, und so mussten er und seine Familie nie Hunger leiden, noch mangelte es ihnen an irgendetwas.
 

Trotz der Beliebtheit seiner Lampen, war Xijian stets bescheiden geblieben und saß Tag für Tag in seinem Haus und arbeitete emsig an seinen Lampions. Ihre unterschiedlich geformten Schirme waren zart wie Schmetterlingsflügel und ebenso farbig. Gefertigt wurden sie aus feinem, buntgefärbtem Reispapier und wenn die fragilen Gebilde trocken waren, bemalte Xijians Frau das dünne Papier mit wässrigen Farben, die ihre tatsächliche Pracht erst nach Entzünden der kleinen Kerze im Inneren der Lampe preisgaben.
 

Der fleißige Lampenmacher kannte kaum Ruhe und so geschah es nicht selten, dass er die Zeit vergaß und so lange an einer Lampe arbeitete, dass die Sonne, die eben noch zwischen den beiden niedrigsten Gipfeln der östlichen Berge aufgegangen war, bereits wieder hinter den Reisfeldern im Westen versank.

Sobald die untergehende Sonne das Wasser der Reisterrassen in rotglühende Seen verwandelte, stand Xijian auf, ging durch den Garten und entzündete mit einem dünnen Holzstäbchen die Kerzen aller Lampen, die in den Bäumen hingen. Dann ging er zurück ins Haus und tat es dort gleich.

Xijian nahm wieder am niedrigen Tisch auf dem Boden platz und arbeitete im sanften Licht weiter an seiner Ware, die bald die Häuser ihrer zukünftigen Besitzer mit ihrem ebensolch zarten Kerzenlicht erfüllen sollten.
 


 

Xijian sah nie von seiner Arbeit auf, wenn sich die mit dünnem Papier bespannte Schiebetür am Kopfende des Raumes öffnete.

Auch so wusste er, dass gleich seine Frau durch die Tür treten würde, mit einem Tablett in den Händen, worauf zwei Schälchen aus durchscheinendem Porzellan standen. In einem war kaltes Wasser und in dem anderen heißer Tee. Sie würde sich neben Xijian knien und vor ihn die Schale mit dem heißen Tee auf die Tischplatte stellen. Das andere Schälchen platzierte sie gegenüber Xijian.

Dann würde sie sich nach der Lampe erkundigen, an der Xijian gerade arbeitete, und sie, während Xijian den Tee in kleinen Schlucken trank, gründlich begutachten, ehe sie wieder aufstand, zu einem niedrigen schwarzlackierten Schränkchen ging und aus einer Schublade ein flaches, grünes Jadekästchen nahm.
 

Das Kästchen, in dessen Deckel kleine Häuser und Vögel graviert waren, brächte sie zum Tisch, legte es neben das Wasserschälchen auf die Platte und nahm auf dem Boden gegenüber ihres Mannes Platz. Sie würde den kleinen Messingverschluss des Jadekästchens öffnen, es aufklappen und dann für wenige Augenblicke ihre Lider schließen, als könne sie nicht glauben, was sich, gebettet auf glänzend roter Seide, darin befand.
 

Xijian lächelte. Jede noch so kleine Handlung seiner Frau kannte er nach all den Jahren und jede einzelne davon liebte er auch nach dem tausend und zehnten Mal, dass sie sich wiederholte.

Ohne den Blick zu heben wusste er, dass seine Frau die Augen öffnen und auf den Inhalt des Jadekästchens hinabsehen würde. Und wie jedes Mal, so strahlte sie auch heute über ihr ganzes Gesicht, als sie sich die Pinsel in dem flachen Kästchen betrachtete. Es waren kostbare Pinsel. Xijian selbst hatte sie ihr geschenkt. An den Spitzen der sorgfältig geglätteten Pinselstiele befanden sich Kränze aus Tierhaar in unterschiedlicher Dicke. Sieben Pinsel waren es an der Zahl und jeder hatte seine eigene Aufgabe, die Xijians Frau ihnen gegeben hatte.
 

Den Rest des Abends würden die beiden dann schweigend weiter arbeiten. Xijian bog dünne Holzstäbchen zu unterschiedlich geformten Lampenkörpern, bespannte die Stäbchen mit dem hauchzarten Reispapier, verkleisterte die Kanten und stellte die fast fertige Lampe zum trocknen zur Seite. Seine Frau nahm sich dann einen nach dem anderen der bereits getrockneten Lampions und bemalte sie.
 

Nur heute war es anders.
 


 

Xijian hob den Kopf und sah von seiner Arbeit auf, als die Schiebetür früher und ruckartiger als sonst geöffnet wurde. Auf der Schwelle zwischen Arbeitszimmer und Flur stand seine Tochter Luan. In den Händen balancierte sie das Tablett ihrer Mutter, auf dem die beiden Schälchen leise klirrten. Konzentriert blickte das kleine Mädchen vor sich auf ihre zerbrechliche Fracht, die bedenklich auf dem glatten Tablett ins Rutschen geriet.

Xijian stand auf und ging seiner Tochter entgegen. Er nahm ihr das Tablett aus den unbeholfenen Händen und brachte es selbst zum Tisch.
 

Luan kniete sich neben ihren Vater an den Tisch und schaute ihm eine Weile gespannt dabei zu, wie dieser das Reispapier zurecht schnitt, es um das Stäbchengerüst wand und dann so verklebte, dass man nicht die kleinste Naht sah.

"Was ist mit deiner Mutter?", erkundigte sich Xijian bei seiner Tochter. "Geht es ihr nicht gut?"

Luan beugte sich ein wenig zu ihrem Vater vor und hielt sich ihre beiden kleinen Händchen wie einen Trichter um ihren Mund. "Sie weiß nichts davon, dass ich heute den Tee gemacht habe", flüsterte sie ihrem Vater verschwörerisch zu. "Verrätst du mich auch nicht?"

"Natürlich nicht", entgegnete Xijian seiner Tochter schmunzelnd. Er legte den Pinsel mit dem Kleister zur Seite, trank seinen Tee und sah seiner Tochter zu, die bereits wieder aufgestanden war, durch das Zimmer schlenderte und sämtliche Lampions betrachtete.
 

Es war ein besonders warmer Frühlingstag gewesen und Xijian hatte eine der Schiebetüren, die zum Garten führten, geöffnet, damit mit dem leichten Abendwind wenigstens ein bisschen Kühlung in den Raum gelangen konnte.
 

Xijian, dem die Ablenkung durch seine fröhlich plappernde Tochter gerade recht kam, stellte das Teeschälchen zur Seite. "Möchtest du die neue Lampe sehen?"

Luan klatschte begeistert in die Hände. "Ja, ja!"

Xijian nahm ein dünnes Holzstäbchen, hielt es an die Flamme eines Lampions, bis die Spitze aufflammte, und ging damit zur geöffneten Tür, wo die fertigen Lampen in einer Reihe auf dem Boden standen.

Vorsichtig entzündete Xijian die Kerze im Innern einer hellblauen Lampe.

Luans Augen wurden immer größer, je heller die Kerze in dem filigranen Lampion brannte und die gemalten Szenen auf dem Lampenschirm sichtbar wurden: Bunte Karpfen schwammen in einem kristallklaren See, während ein Kranichpärchen am Ufer entlang stakte.
 

Zufrieden saß Xijian am Tisch und hatte seine Freude an der Begeisterung seiner kleinen Tochter, die das Spiel der kleinen knisternden Flamme im Lampion betrachtet, als hätte sie nie etwas Schöneres gesehen.

In Luans schwarzen Augen spiegelte sich das ruhig brennende Kerzenlicht wider und über ihr Gesicht tanzten die Schatten im Takt der kleinen Flamme.

"Die Lampe ist für ein Fest", erklärte Xijian seiner Tochter. "Eine Familie hat sie zur Feier ihres neugeborenen Sohnes in Auftrag gegeben."

Fasziniert bestaunte das kleine Mädchen die aufgemalten Muster des Lampenschirms als ein kleiner Schatten zuckend darüber hinweg schwebte und taumelnd im Inneren der Lampe verschwand.
 

Luan schrak zurück. Ein Nachtfalter war, angelockt vom Licht des Lampions, in ebendiesen hineingeflogen und flatterte nun gefährlich nahe um die Flamme der Kerze herum.

Besorgt beugte Luan das Gesicht weiter über den Lampion.

"Armer kleiner Falter", flüsterte Luan zu dem hübschen, silbrig schimmernden Falter zu, der in der Lampe gefangen, von einer Seite zur anderen flatterte und sicherlich gleich in der Kerzenflamme umkommen würde. Das züngelnde Feuer leckte bereits nach den zarten Flügeln des kleinen Falters und Luan bekam Mitleid.
 

Schneller, als Xijian reagieren konnte, hatte Luan ihre Hände ausgestreckt und griff nach dem hilflosen Falter im Lampion, um ihn vor dem Tod im Feuer zu retten.

Der Lampion hielt den ungestümen Kinderhänden nicht stand und kippte um. Die Kerze fiel aus ihrer Befestigung am Lampenboden und stach den Papierschirm des Lampions in Brand.

Xijians Teeschälchen zerschellte klirrend auf dem Boden, als der Mann aufsprang. In einem Satz war Xijian bei seiner Tochter, aber noch ehe er Luans Hände erreichte, hatte sich das Feuer durch das Papier gefressen und war auf einen Ärmel von Luans Gewand übergesprungen.
 

Schockstarr schaute Luan auf ihre Ärmel hinab, die zu brennen begannen. In Windeseile fraß sich das Feuer den Stoff ihrer Arme hinauf und in die Haut des kleinen Mädchens. In Panik riss Luan ihre brennenden Arme vor ihr Gesicht.

In Xijians Brust verkrampfte sich alles und jeder Schritt, den er auf seine Tochter zumachte, schien eine Ewigkeit zu dauern. Einen Moment lang stand Luan still vor ihm, ihr Gewand und ihr Haar brannten lichterloh, ehe sie zu Boden sank.

Mit bloßen Händen versuchte Xijian die Flammen zu löschen, die sich gierig über den Körper seiner kleinen Tochter hermachten.
 

Luans Mutter, die im Garten die Rufe ihres Mannes und das panische Schreien ihrer Tochter gehört hatte, ließ alles fallen, was sie gerade in den Händen gehalten hatte und eilte zum Haus.

In der geöffneten Verandatür des Arbeitszimmers blieb sie wie angewurzelt stehen. Zwischen umgeworfenen und zertretenen Lampen kniete Xijian auf dem Boden und hielt seine Tochter im Arm, die vor ihm auf dem Boden kauerte und leise wimmerte.

"Bring Wasser, Frau, bring Wasser", rief Xijian unter Tränen.
 


 

Es war stiller geworden im Haus des Lampenmachers.

Nach wie vor entzündete Xijian abends die Lampen in ihrem Häuschen, jedoch deutlich weniger als zuvor und immer begleitet von den schmerzhaften Erinnerungen, was mit seiner Tochter geschehen war.

Viele Nächte ohne Schlaf waren nun schon vergangen, seit Luan beim Versuch, einen in einen Lampion gestürzten Nachtfalter vor dem Feuer zu retten, plötzlich selbst in Flammen gestanden hatte. Nur knapp hatte die kleine Luan den Unfall überlebt. Aber unter die Freude über das Leben ihrer Tochter, mischte sich der Kummer über die Narben, die ihr geliebtes Kind davongetragen hatte.
 

Luan legte den Spiegel beiseite, ohne hineingesehen zu haben. Zwölf Jahre waren nunmehr vergangen, seit sie das letzte Mal in einen Spiegel gesehen hatte. Selbst den Blick in spiegelnde Möbel vermied sie. Und egal, wie oft ihre Eltern ihr auch versicherten, was für eine hübsche junge Frau sie war, die Narben würden nie wieder verschwinden. Sichtbar für jeden zogen sie sich von ihren Wangen hinab über ihre Arme hin bis zu ihren Fingerspitzen. Lediglich die Narben auf ihrem Oberkörper ließen sich unter Kleidern verbergen.
 

Die Blicke von der spiegelnden Tischplatte abgewendet, kniete Luan an ihrem niedrigen Tisch und kämmte sich das Haar, das einem schwarzen Wasserfall gleich über ihre Schultern floss. Doch nicht einmal ihr Haar, das in den Jahren nach dem Unfall wieder so schön wie zuvor nachgewachsen war, konnte über die Narben hinweg helfen. Luan ging nie aus dem Haus, so lange es noch hell war. Erst im Dunkel der Nacht traute sich die junge Frau vor die Tür. Selbst wenn jeder in der Stadt vom traurigen Schicksal der Tochter des Lampenmachers wusste, mitleidige Blicke erntete sie stets, wo immer sie sich blicken auch ließ. So hatte Luan kurze Zeit nach ihrer Genesung aufgehört, nach draußen zu gehen, wenn es Tag war und sie anderen Menschen begegnen würde.
 

Luan erhob sich und ging nach draußen in den Garten. Es war ein wunderschöner Sommerabend. Der Jasmin duftete süß mit jeder warmen Böe, die die Bäume in Bewegung versetzten und überall im Garten erklangen leise Windspiele.

Tief atmete Luan die frische Luft ein und folgt den Steinplatten in den hinteren Teil des Gartens. Je weiter sie ging, um so älter wurden die Bäume und um so mehr liebte Luan sie. Hier fühlte sie sich wohler als im Haus, wo sie in allen Winkeln und hinter jeder Ecke mit künstlicher, von Menschenhänden erschaffenen Schönheit konfrontiert wurde. Im Garten jedoch war alles von natürlicher Schönheit. Hier wuchs alles, wie es ihm gefiel.

Luans schmale Finger glitten sachte über das raue Holz der Bäume, deren Rinde ihrer vernarbten Haut glich. Luan ging so oft des Nachts im Garten spazieren, dass sie jeden einzelnen der alten knorrigen Bäume blind an den Furchen seines Stammes erkannte. Jeder hatte seine ganz eigenen Rillen und Rundungen.
 

Als das Plätschern des kleinen Baches lauter wurde und der Duft des Blauregens den des Jasmin abgelöst hatte, öffnete Luan die Augen. Sie war im hintersten Teil des Gartens angelangt.

"Nicht erschrecken", erklang eine leise Stimme vor Luan.

Die junge Frau jedoch tat genau das, wovon ihr die Stimme abgeraten hatte: sie erschrak furchtbar. Vor ihr, von den langen Ranken und Blüten des Blauregens fast verdeckt, stand eine Gestalt. Die großen Augen in dem vom Mondlicht bläulich bleich beschienenen Gesicht waren starr auf sie gerichtet. In den Händen hielt der Fremde eine Dolde des Blauregens unter dem er stand.

Instinktiv hob Luan die Arme vor ihr entstelltes Gesicht, um es vor dem Fremden zu verbergen.

Der Mund des Unbekannten bog sich zu einem schüchternen Lächeln.

"Was tut Ihr hier?", erklang Luans, von ihren Stoffärmeln gedämpfte Stimme.

Der Fremde blieb ihr die Antwort schuldig und Luan spähte neugierig zwischen den weiten Ärmeln ihres Gewandes hindurch. Der Mann hatte den Blick nun gesenkt und Luan konnte ihn ohne Scheu mustern. Für einen Mann war er außerordentlich zierlich, mit sanften Gesichtszügen und ebenso bedachten Gesten. Das glänzend schwarze Haar hatte er am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden und am Leib trug er ein bodenlanges, silberdurchwirktes Gewand unter dessen Saum ein paar reichbestickte Schuhe hervor lugte. Der Stoff war ohne Zweifel teuer und sein Träger wohl kaum ein Raufbold, der Luan hatte tatsächlich erschrecken wollen, dachte sich die junge Frau.
 

"Es ist dunkler als früher", ertönte nun die sanfte Stimme des Mannes.

Luans Augen weiteten sich fragend. Sie ließ die Hände sinken, blieb aber noch immer auf Abstand zu dem Unbekannten im nächtlichen Schatten eines Mandarinenbäumchens stehen. "Was meint Ihr?"

Der Fremde hob eine Hand und zeigte auf einen Punkt hinter Luan. "Früher hingen hier in jedem Baum mindestens ein Lampion und abends, wenn es dunkel wurde, wurden sie entzündet", erklärte der junge Mann ruhig.

Luan machte einen Schritt zurück. Der Unbekannte hatte recht. Vor ihrem Unfall hatten stets Lampen ihren Garten erhellt, aber seit jenem Abend im Frühling vor zwölf Jahren hatte nie wieder ein Lampion den nächtlichen Garten beleuchtet. Doch das war sehr lange her.

"Woher wollt Ihr das wissen?" Luans Stimme zitterte. "Ich kann mich nicht an Sie erinnern."

Der fremde Mann senkte nun wieder den Blick. "Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe", entschuldigte er sich bei Luan und verbeugte sich vor ihr. Dann ging er den Weg, den Luan gerade gekommen war, zurück in Richtung Haus.

Luan trat zur Seite und ließ den jungen Mann passieren. Mit jedem Schritt den er tat, raschelte sein bodenlanges Gewand.
 

Mit bis zum Hals klopfendem Herzen wartete Luan atemlos, bis sie auch sicher war, dass der Fremde wirklich verschwunden war. Dann lief sie zurück in ihr Haus.

"Wo ist er hin?", rief Luan ihrer Mutter aufgeregt zu, die gerade wie jeden Abend mit dem Tee in das Zimmer ihres Mannes wollte.

"Wen meinst du?" Das verwirrte Gesicht ihrer Tochter beunruhigte die Mutter.

"Der Mann, der junge Mann aus unserem Garten. Du müsst ihn doch gesehen haben!"

Luans Mutter schüttelte den Kopf. Ungläubig sah sie ihrer aufgeregten Tochter nach, die davon stürmte, noch ehe die Frau hatte antworten können.
 


 

Am nächsten Abend beobachtete Luan verborgen von blühenden Sträuchern den Teil des Gartens, in dem sie am Abend zuvor den Fremden getroffen hatte.

Als es so dunkel war, dass die Vögel verstummten und an ihrer Stelle die Zikaden ihre Abendlieder sangen, tauchte er tatsächlich wieder auf. Sein silbrig schimmerndes Gewand war zwischen den vom Mondlicht beschienenen Blättern und Blüten des Blauregens kaum zu erkennen und hätte Luan nicht gewusst, dass es sich um einen Menschen handelte, so hätte sie ihn sicher für ein Trugbild aus Schatten und Licht gehalten.

Still verharrte Luan an ihrem Platz. Der Fremde wandelte durch den Garten, als kenne er ihn bereits. Jeden blühenden Zweig besah er sich, an jeder Blume roch er, ehe er genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war.
 


 

Lange dachte Luan über die Worte des fremden Mannes aus dem Garten nach.

Eines Abends ging sie zu ihrem Vater, der über seine Arbeit gebeugt an seinem niedrigen Tisch saß. Xijian war alt geworden, Silberfäden durchzogen sein Haar und sein Rücken war vom vielen gebeugten Sitzen krumm geworden.

"Vater", sprach Luan Xijian an, der aufsah und seiner Tochter zulächelte. Luan kniete sich neben Xijian. "Ich hätte gerne einen Lampion."

"Was hast denn damit vor?" Zweifelnd blickte Xijian seine Tochter an. Es war das erste Mal, dass sie diesen Wunsch äußerte.

"Ich möchte ihn im Garten aufhängen", erklärte Luan. Sie griff die Hand ihres Vaters und drückte sie sachte. "Ganz so wie früher", fügte sie lächelnd hinzu.

Xijian blieb skeptisch, aber Luan sah ihn entschlossen an. Die bittenden Blicke seiner Tochter erweichten Xijian schließlich. Er erhob sich und schlurfte zu einer Ecke des Raumes, in dem sich auf Regalen, in Schränken und auf dem Fußboden die Lampen stapelten, die entweder nicht abgeholt worden waren, oder die Xijian für seine eigene Familie hergestellt hatte.

"Such dir einen aus", sagte Xijian zu seiner Tochter.

Strahlend sah Luan auf die vielen bunten Lampions und nahm dann einen aus der Menge.
 

Den ausgesuchten Lampion in den Händen, betrat Luan den Garten. Sie hing die bunt bemalte Lampe an einen Ast des Blauregens, wo ihr der Fremde zwei Abende zuvor begegnet war.

Xijian, der seiner Tochter mit einem brennenden Holzstäbchen gefolgt war, entzündete die Kerze in der Lampe.

Sofort ergoss sich das sanfte Licht des Lampions auf seine Umgebung: Blätter, Blüten, Rinde, Gras und Xijian und Luan standen im tanzenden Kerzenschein des Lampions, der sachte im lauen Abendwind hin und her schwankte.

"Genau das hat all die Jahre gefehlt", lobte Xijian die Idee seiner Tochter.

Still betrachtete Luan ihr Werk. Ihrem Vater erzählte sie nichts davon, wie sie auf die Idee gekommen war - dass ein Fremder, der ihren Garten einfach so betreten hatte, sie an die Lampions erinnert hatte und daran, wie lebendig sie damals den Garten hätten wirken lassen.

Xijian ging und ließ Luan zurück.

Die junge Frau setzte sich auf einen Stein in der Nähe des Blauregens und wartete.
 

Eine bleiche Hand schob die bis zum Boden herabhängenden Zweige des Blauregens beiseite. Der junge Mann, der schon zwei Abende zuvor an genau dieser Stelle gestanden hatte, trat einen Schritt vor, ohne jedoch das wartende Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. Eine Weile sah er stumm zu Luan, die, vom Licht des Lampions beschienen, auf einem Stein saß und geduldig wartete.

Die Worte seiner Mutter hallten in seinen Ohren nach. "Geh, Chenlao, und lass die Tochter des Lampenmachers Xijian wieder lachen. Sie hat dir das Leben neu geschenkt und ihre eigene Schönheit dafür hergeben müssen. Schau nur, wie unglücklich sie nun ist." Und Chenlao hatte den Rat seiner Mutter befolgt. Ohne Luan würde er nicht mehr leben. Sie hatte ihn aus dem Feuer des Lampions gerettet...
 

Chenlao trat aus dem Schatten des Blauregens. Luan wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Rascheln der Blätter erklang und sofort erkannte sie ihn. Es war der Fremde von vorgestern, auf den sie gewartet und für den sie den Lampion aufgehängt hatte. Sogleich hob Luan wieder die Arme vor ihr Gesicht.

"Das ist nicht nötig", unterbrach der fremde Besucher ihr Tun. "Ich kenne Euer Gesicht."

Luan ließ die Arme sinken. Sie war froh, dass der Unbekannte nicht sehen konnte, wie sie errötete.

"Ich habe mich das letzte Mal nicht vorgestellt. Verzeiht." Chenlao verbeugte sich höflich vor Luan. "Mein Name ist Chenlao."

Luan senkte ihre Blicke. "Ich bin Luan, Tochter-"

"Tochter des Lampenmachers Xijian", führte Chenlao Luans Satz weiter. "Ich kenne Euch seit Eurer Kindheit. Ihr habt hier immer im Garten gespielt und-"

Luans entsetzter Gesichtsausdruck ließ Chenlao verstummen.

"Ich bin hier früher oft mit meinen Eltern spazieren gegangen", entschuldigte sich Chenlao.

Luans erschrockene Blicke wurden wieder sanfter.

Chenlao zeigte auf den Lampion im Blauregen. "Es sieht sehr schön aus. Heller als die letzten Jahre."

Luan nickte lächelnd. "Wir haben noch genügend Lampions", sagte sie leise und lächelte.
 

Von da an suchte Luan alle paar Tage einen neuen Flecken im Garten aus, den sie am Abend erhellen wollte. Das ging so lange, bis keine einzige ungenutzte Lampe mehr im Arbeitszimmer ihres Vaters stand. Stattdessen war der Garten wieder allabendlich von Lampions hell beschienen, so dass es aussah, als säßen in jedem Baum und in jedem Strauch Glühwürmchen in den Zweigen.

Allmählich verlor Luan so ihre Angst vor der Helligkeit und auch Chenlaos Besuche wurden immer häufiger, je mehr der Garten wieder im Licht der Lampen erstrahlte.

Sein Geheimnis aber, warum er kam, behielt Chenlao für sich.
 


 

~ * Ende * ~



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  jumjum
2010-06-18T12:16:30+00:00 18.06.2010 14:16
einfach nur schön wunder wudner schön ich hätte gerene mehr zu lesen davon gehabt *-* wie chenlao ihr es dan doch ncoh sagt oder sie es merkt, wie sei vieleicht aus liebe zu chenlaoselber anfängt lampen zu bauen. Ich vermisse luans geschichte diefürmich grade erst begonnen hat wo sie doch grade erst das leben endeckt. Mir ging es wie Moonshine ich wahr auch überarscht als Chenlao plötzlich der nachtfalter von damals fahr! wie kommt er zu seinermenschlichen gestalt?! Magst du nciht weiter schreiben BITTE :3
Alles Lübe Jumjum
Von: abgemeldet
2010-04-21T08:44:01+00:00 21.04.2010 10:44
Eine wunderschöne Geschichte, die ich als Kind ganz gewiss genauso geliebt hätte wie in diesem Augenblick. Du zeichnest trotz Luans Unfall ein friedliches Bild in jeder Kante, in jedem Baum und in jedem einzelnen Augenblick deines Werkes.
Allein der Moment, in dem die Frau des Hauses den Tee brächte und dann das Jadekästchen öffnet, weckte bei mir den Eindruck als ob man sie tatsächlich schon seit Jahren immer und immer wieder dabei beobachtet hätte. Luans Auftreten mit dem Tablett ist da nicht nur ein zum Schmunzeln bringendes Kontrastprogramm, sondern vor allen Dingen auch eine bezaubernde Art ihren kindlichen, ungestümen Charakter zu beschreiben. Man leidet mit ihr, als sie den Nachtfalter retten möchte - und auch wenn ich eingangs dachte, sie würde gewiss einen sehr wichtigen Lampion oder gar alle ruinieren - diese Wende war weitaus tragischer.
Chenlao hat sich am Ende wohl nur durch sein silbriges Gewand verraten, sonst hätte ich kaum geahnt, dass er der Nachtfalter gewesen wäre ehe das Zitat seiner Mutter auftauchte. Ich mochte die geisterhafte, beruhigende Art mit der er durch den Garten strich ungemein. :-)
Der einzige orthographische Fehler, der mir auffiel "Was hast [du] denn damit vor?", eine Frage ihres Vaters.
Nichtsdestotrotz, ich weiß schon welchem Kind ich dieses Märchen vorlesen werde. Ich bin sicher, dass ihre Augen genauso leuchten werden wie die Luans beim Anblick der Lampenschirme! Wirklich sehr bezaubernd und großartig abgerundet. Ein tolles Werk!

Liebe Grüße,
abgemeldet

Von: abgemeldet
2010-04-04T18:43:00+00:00 04.04.2010 20:43
Ich kann mich meinen Vorgängern/innen nur anschließen. Dieses Märchen ist einfach wundervoll.
Dass ein Falter als Mensch auftaucht würde mich in anderen Geschichten stören, aber hier passt es so gut dazu. Anfangs war ich leicht irritiert, bis ich mir in Erinnerung gerufen habe, dass ich gerade ein Märchen lese :). Echt toll.
Von:  Shizuno
2010-04-03T14:50:43+00:00 03.04.2010 16:50
Eine wirklich wunderschöne Geschichte!
Schade das sie nur so kurz ist, ich hätte gerne noch ein wenig weiter gelesen :3
Von:  moonlily
2010-04-01T18:16:31+00:00 01.04.2010 20:16
Ich kann mich meinem Vorschreiber nur in allen Punkten anschließen. Du hast ein wunderbares Märchen geschrieben und ich bin sicher, dein Wichtelkind hat sich sehr darüber gefreut.
Auch die Idee, die Geschichte in Asien spielen zu lassen, finde ich schön und atmosphärisch sehr gut umgesetzt. Man hört bei Luans Spaziergängen geradezu die Zikaden. ^^
Dass es sich bei Chenlao um den geretteten Schmetterling handelt, kam für mich überraschend, aber es gefällt mir. Irgendwo ist es natürlich schade, dass er ihr sein Geheimnis nicht verrät. Vielleicht magst du noch mal eine Fortsetzung dazu schreiben? ^___^

Liebe Grüße
Moonlily
Von:  -Moonshine-
2010-03-23T15:53:21+00:00 23.03.2010 16:53
Hallo,

ich bin ein bisschen geschockt - ist denn noch niemand auf die Idee gekommen, dieser absolut wunderschönen Geschichte einen Kommentar zu hinterlassen? Das grenzt fast schon an ein Verbrechen. ^^
Ich liebe dein Märchen. Du baust eine wundervolle Atmosphäre auf und man kann sich richtiggehend auf die Geschichte einlassen. Die Charaktere sind alle sehr sympathisch und ich war doch ziemlich überrascht, dass Chenlao letztendlich der Nachtfalter von einst war, aber ich find die Idee sehr schön. Ich war richtig gerührt, und bin es immer noch. Ich hab echt mitgefühlt und mitgelitten. <3
Dein Schreibstill ist auch toll. Flüssig und gut zu lesen.
Hach. Ich ärger mich ein bisschen, dass ich die Geschichte nicht schon früher gelesen habe. :) Da habe ich echt was verpasst. Aber besser spät als nie.
Zu kritisieren hab ich rein gar nichts.
Vielen Dank für dieses herzerwärmende Stück Glück am heutigen Tag.

LG
Eli


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