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Una cosa tra fratelli

Die Welt ist überdacht mit Wahnsinn.
von

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Omicidio di Capodanno

Neujahrsmord
 

Die Residenz in Italien hat elf Zimmer, wenn man das Nebenhaus für die Bediensteten außer Acht lässt. Das ist für seine Verhältnisse eher wenig, aber er kann sich damit anfreunden. Es wird ja nicht lang dauern.

Er wird ihn finden und dann wird er ihn töten. Vielleicht macht er danach noch ein bisschen Urlaub; Italien ist ja schön. Auch im Winter.

Dass er ausgerechnet an Silvester hier ist, findet er äußerst amüsant. Man wird ein schönes, großes Feuerwerk veranstalten und dann wird das Jahr damit beginnen, dass er stirbt. Vortrefflich. Ganz vortrefflich.

Er selbst fände die Tatsache, dass seine Ermordung mit einem pompösen Feuerwerk eingeläutet wird, wahrscheinlich genauso lustig wie er. Zunächst drohte dieser Gedanke immer, seine Laune zu vermiesen, aber mittlerweile hat er sich damit abgefunden. Es ist egal. Und wahrscheinlich ist er sowieso zu dumm, diese Querverbindung zu schlagen.

Die Frage ist jetzt nur, wie er ihn finden soll. Ihre einzige Information war diese Region von Italien. Seinen genaueren Aufenthaltsort müssen sie jetzt noch rausfinden, er und seine Untergebenen. Wahrscheinlich wird er sich einfach etwas unter die Leute mischen und sich dort umhören. Früher oder später benimmt er sich ja immer auffällig.

Auf der anderen Seite ist er schon immer gut im Versteckspielen gewesen. Hat er ja auch sein müssen.

Aber er selbst ist auch schon immer besser gewesen. Natürlich.

Immerhin ist er der Prinz.

»Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf… Die Sicht auf das Feuerwerk wird vom Esszimmer aus am besten sein. Da ist das Panoramafenster.«

Er kichert, dann dreht er sich schwungvoll und breit grinsend zu der jungen Frau um, die gerade eines seiner Zimmer betreten hat. »Natürlich darfst du das«, sagt er gönnerhaft. »Aber ich denke, ich werde mir das Ganze sogar von draußen ansehen. Das ist wahres Panorama.«

»Wie Ihr wünscht.«

Die Angestellte wendet sich wieder zum Gehen. Mit wenigen, beherzten Schritten ist er bei ihr, legt ihr eng einen Arm um die Schultern und streift mit dem Gesicht durch ihr offenes Haar. »Willst du nicht mitkommen und mit dem Prinzen das Spektakel genießen?«

Ihr Körper hat sich augenblicklich versteift, das höfliche Lächeln ist verkrampft festgefahren. »I-Ich bin zum Küchendienst eingeteilt«, sagt sie leise.

»Ooh«, macht er langgezogen und gespielt traurig. »Wirklich? Wie schade.« Er grinst sie von der Seite an und seine Lippen berühren fast ihre Wange. »Na gut. Dann werd ich mir wohl eine andere Begleitung suchen müssen.«

Als er von ihr ablässt, verlässt sie hastig das Zimmer. Er kichert.

Vom Feuerwerk wird er nur den Anfang genießen, der ist sowieso am besten. Dann wird er unbemerkt den Garten verlassen und sich umsehen.

Es ist Zeit, dass er ein paar Leute kennen lernt.
 

Du hast große Lust, von zu Hause wegzulaufen. Es scheint dir einfach gesünder. Du willst dir gar nicht ausmalen, was passieren würde, würdest du noch länger in diesem Haus bleiben. Außerdem steht das überhaupt nicht zur Debatte. Du kannst nicht bleiben. Du hältst es nicht mehr aus, die ewige Streiterei nagt an deiner Psyche und dein gesamtes Privatleben schleift. Du kannst dich nicht auf die Schule konzentrieren, Freunde reden an dir vorbei. Und egal, wo du bist, du sitzt auf glühenden Kohlen. Bist du zu Hause, zählst du verzweifelt die Minuten, bis du irgendeinen Termin außerhalb dieser Wände hast; bist du nicht zu Hause, zählst du fast panisch die Minuten, bis du wieder zurück musst.

So kann es nicht weitergehen.

Du hast natürlich schon versucht, mit ihnen zu reden. Aber all diese Versuche sind bisher gründlich in die Hose gegangen. Erst wurdest du überhört, dann nur noch unterbrochen, dann kamst du überhaupt nicht mehr zu Wort und schließlich hast du selbst Ärger bekommen. Dir leuchtet nicht ganz ein, wieso.

Es ist jetzt gut ein Jahr her, dass sich deine Eltern getrennt haben. Sie gingen in Frieden auseinander, kein Gebrüll, kein fliegendes Geschirr, keine Scheidungsstreitereien. Sie sind Freunde geblieben, sagt deine Mutter. Du glaubst, dass das nicht unwesentlich damit zusammenhängt, dass dein Vater sie immer noch liebt. Dessen bist du dir sogar ziemlich sicher. Aber du hast es nie ausgesprochen – am Ende wäre es in einer gigantischen Diskussion ausgeartet, sie hätten dich niederargumentiert, es hätte niemanden weitergebracht.

Du hast resigniert.

Nur kurz nach der Trennung hatte deine Mutter einen neuen Freund. Gekannt hatten sie sich wohl vorher schon, und das war dann scheinbar ihre Gelegenheit, auch noch zusammenzukommen. Du magst ihren Freund. Als Mensch. Er ist nett. Ein netter Kerl, keine Frage. Er hat sich nicht aufgedrängt und anfangs hast du richtig gespürt, wie er sich Mühe gegeben hat, deine Sympathie zu erringen. Er hat nie versucht, dein Vater zu sein.

Schön und gut. Er ist nicht das Problem. Nicht so recht.

Das Problem ist viel eher, dass es wohl nicht möglich ist, eine friedliche Beziehung mit deiner Mutter zu führen. Du weißt nicht, ob es an den Männern liegt oder an ihr, oder ob es an niemandem liegt, aber du erachtest es als Tatsache. Mit deinem Vater hat sie sich auch ständig gestritten, das hat erst aufgehört, als sie nicht mehr zusammen waren.

Und mit ihrem neuen Freund hat es genau anderthalb Monate gedauert. Du hast nachgezählt, es waren genau sechs Wochen. Sechs Wochen heile Welt, Friede, Freude, Eierkuchen. Und dann ging es bergab.

Deine Mutter ist eine sehr robuste Frau. Du hast sie oft dafür bewundert und du bist froh, dass auch du deshalb stark und emanzipiert erzogen wurdest. Aber wo du einfach nur etwas frech und provokant bist, ist sie laut und jähzornig. Meinungsverschiedenheiten werden bei euch nicht ausdiskutiert. Deine Mutter gibt brüllend ihre Ansicht der Dinge kund und wer sich dann noch widersetzt, ist des Wahnsinns. Das gilt auch für dich, aber du hast diese Lektion schon vor Jahren gelernt und gehst Konfrontationen einfach aus dem Weg.

Ihr Freund hat das wohl nach Monaten immer noch nicht verstanden. Aber vielleicht versucht er auch nur, seinen Mann zu stehen. Sinnlos. Deine Mutter hat die Hosen an – immer.

Für gewöhnlich lässt er sich geduldig von ihr anschreien und versucht dann, zivilisiert weiter zu diskutieren. Und dann steigt deine Mutter auf die nächste Stufe, die dir selbst zum Glück immer erspart blieb: Sarkasmus. Bitterböser Sarkasmus, mit schwarzem Humor, trockenen Salven über die Erbärmlichkeit seiner Meinung, ach was, seiner Existenz, mit Auslachen und allem drum und dran. Mehr als nur einmal hattest du schon den Verdacht, dass sie dann an diesen Streitereien regelrechten Spaß hat.

Das Problem ist, dass du ihnen nicht ausweichen kannst. Du kannst den Fernseher oder deine Musik noch so laut drehen, die Stimme deiner Mutter ist einfach nicht zu überhören. Und selbst, wenn du die Lautstärke ignorieren könntest: Sobald du dein Zimmer verlässt, ist an der Atmosphäre alles spürbar. Das ganze Haus ist dann eisig.

Niemand spricht mehr – auch nicht mit dir. Die Nerven deiner Mutter sind für gewöhnlich noch Tage nach einem Streit zum Zerreißen gespannt. Du weißt, dass du sie nicht ansprechen solltest, weil du sie dann nur nervst. Ihrem Freund solltest du auch nicht allzu viel Aufmerksamkeit zukommen lassen, weil sie dann denkt, du hast dich auf seine Seite geschlagen, und sauer auf dich ist. Manchmal ist sie etwas kindisch.

Im Fall einer Krise, und der tritt mittlerweile zuverlässig fast jede Woche ein, wirst du also geflissentlich ignoriert und musst versuchen, allein durch den frostigen »Familienalltag« zu kommen. Meistens weißt du nicht einmal, weshalb sie sich streiten, aber du hegst den Verdacht, dass das vielleicht auch besser so ist.

Theoretisch könntest du zu deinem Vater fliehen, dessen Wohnung nicht weit weg von eurem Haus liegt, aber der würde wissen wollen, was passiert ist. Du würdest es ihm sagen und er wäre sofort auf der Seite deiner Mutter – aus unausgesprochenen, dir aber sehr wohl bekannten Gründen. Du hast es ein paar Mal versucht. Du hältst es nicht aus.

Und das gilt im Moment für alles: Du hältst es nicht aus.

Denn es ist ja nicht so, dass du nur unter der drückenden Situation zu Hause leidest. Eigentlich bemühst du dich immer um eine gute Portion gesunden Optimismus, aber im Moment hast du eindeutig eine Pechsträhne.

Vor wenigen Wochen hast du dich von deinem Freund getrennt.

Er war lang krank und du warst an seiner Seite, aber nach seiner Genesung musstest ihr feststellen, dass es nicht mehr so werden konnte wie früher. Ihr seid friedlich auseinandergegangen. Freunde geblieben.

Wie deine Eltern. Der Gedanke lässt dich immer wieder schaudern.
 

Es ist Silvester. In einer halben Stunde beginnt das neue Jahr, deine Mutter und ihr Freund haben im Nebenraum gerade aufgehört, sich anzuzicken. Du sitzt allein auf deinem Bett und starrst aus dem Fenster, auf deinen Wangen trocknen Tränen.

Zwei Freunde aus deinem lockeren, unsteten Bekanntenkreis haben dich auf eine Party heute Abend eingeladen, allerdings eher aus Höflichkeit. Ihr wusstet alle, dass du ablehnen würdest. Es war eine nette Geste, aber dir war gleich klar, dass es die Sorte Party werden würde, an die sich der Großteil der Gäste am nächsten Tag nicht mehr erinnert. Betrunkene sind lustig anzusehen – ungefähr zehn Minuten lang. Du hast dankend verzichtet.

Jetzt überlegst du dir, dass du vielleicht doch hättest hingehen sollen. Es wäre sicherlich erträglicher als das hier.

Am liebsten würdest du wirklich einfach deine Sachen packen und weglaufen, vor allem. Deine Freunde, auch dein Ex-Freund, sorgen sich um dich und sind dir wichtig, aber du willst eine Auszeit. Nein, du brauchst eine Auszeit. Du würdest dich am liebsten in den nächstbesten Flieger setzen und weit weg fliegen, ans andere Ende der Welt, weg von deinen Problemen, abschalten. Einfach nicht mehr daran denken müssen.

Aber du weißt, dass du nicht den Mumm dazu hast – und trotz allem willst du ja nicht, dass deine Eltern sich Sorgen um dich machen. Sie lieben dich, das weißt du. Sie haben im Moment nur Schwierigkeiten, dir das zu zeigen.

Bleiben kannst du trotzdem nicht. Du gibst dir einen Ruck und stehst vom Bett auf, schnappst dir den nächstbesten Pullover und ziehst ihn dir über. Dich am Zimmer deiner Mutter vorbei zu schleichen, wird kein Problem sein. Sie erwartet nicht, dass ihr Silvester zusammen feiert. Sie weiß, dass es schwierig ist.

Du schiebst den Mp3-Player in deine Hosentasche und die Kopfhörer in deine Ohren, stellst die Musik schon an, bevor du überhaupt das Haus verlässt. Schließlich trittst du vor die Tür, der Klang deines Lieblingslieds beruhigt dich allmählich, du schiebst die Hände in die Taschen deines Wintermantels.

Die Nacht ist mild. Der Schnee für dieses Jahr ist längst gefallen und geschmolzen, du siehst ein paar Sterne. Es sind höchstens zwei Grad unter null; du wirst nicht frieren. Das ist gut.

Denn du hast nicht vor, in diesem Jahr noch ein Haus zu betreten.

Invito

Einladung
 

Die Straßen sind wie leergefegt. Noch. In fünf Minuten ist dieses Jahr zu Ende und dann wird wahrscheinlich eine Flut Betrunkener nach draußen stürmen, um sich die Finger wegzuböllern. Bei dem Gedanken verziehst du das Gesicht. Du wirst dir dann irgendeinen ruhigen Platz suchen und dich verstecken, vielleicht von dort aus eines der vielen Feuerwerke beobachten.

Mittlerweile ist dir doch recht kalt, aber du willst noch nicht zurück. Du willst erst dann zurück, wenn dir die Vorstellung keine Bauchschmerzen mehr bereitet, keine Angst, keine Trauer. Du hoffst, dass das bald passieren wird. Das hoffst du wirklich.

Du weißt, dass hier in der Nähe ein ziemlich schönes, ziemlich großes Anwesen ist, wo sich selbst die betrunkensten Idioten nicht hin trauen. Es wird rund um die Uhr bewacht, von großen Männern in schwarzen Anzügen, die, wie du vermutest, sicher bis an die Zähne bewaffnet sind. Jeder, der unbefugt den Garten betritt, setzt sich unmittelbarer Lebensgefahr aus. Dabei erzählt man sich, dass in dem Haus eigentlich überhaupt niemand lebt. Es gehöre irgendeiner reichen Schnöselfamilie aus dem Ausland, wird aber auch dann bewacht, wenn die gar nicht da ist.

Dir ist das egal. Du wirst dich so nah wie möglich an die Gartenmauer stellen und hoffen, dass du dort von Krawall verschont wirst.

In dem großen Haus sind alle Fenster hell erleuchtet, aber das fällt dir gar nicht auf. Du bist von der Tatsache abgelenkt, dass Leute im Garten sind. Viele Leute – mehr als sonst. Du siehst noch einige von den hochgewachsenen Bodyguards, und zum ersten Mal entdeckst du auch einige Frauen – alle in einer Art Uniform, die extrem nach Hausmädchen aussieht. Oder Fetisch. Einen Moment lang fragst du dich, ob da vielleicht Orgien gefeiert werden, und musst dann tatsächlich etwas schmunzeln.

In deinen Ohren klingt noch immer Musik, du bleibst im Schatten der backsteinroten Mauer stehen und lehnst dich vorsichtig an. Flüchtig wirfst du einen Blick auf deine Uhr. Nur noch wenige Minuten. Ein Song, wahrscheinlich. Dann werden die Knaller losgehen, der Himmel wird erleuchtet werden und die ganze Stadt wird in Jubel und Euphorie ausbrechen – und das nur, weil ein neues Jahr beginnt.

Du bist alles andere als ausgelassen, aber irgendwie freust dich auch. Das vergangene Jahr ist wohl wirklich das ekligste deines Lebens gewesen. Du bist froh, dass es vorbei ist. Natürlich weißt du, dass der bloße Jahreswechsel nicht wirklich etwas ändern wird, deine Eltern werden noch immer getrennt sein, deine Mutter und ihr Freund werden sich noch immer streiten und die Atmosphäre zwischen dir und deinem Ex-Freund wird noch immer irgendwie unbeholfen und seltsam sein – aber zumindest lassen dich die zwölf noch völlig unbeschriebenen Monate, die vor dir liegen, wieder etwas Hoffnung sammeln, dass es bald aufhören wird. Vielleicht bringt das folgende Jahr ja eine Lösung. Möglich ist es. Das ist das einzige, worauf du dich konzentrieren willst. Du willst dich nicht dafür interessieren, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Lösung kommt. Nur dafür, dass die Möglichkeit existiert. Das reicht dir.

Ein erster, einsamer Böller fliegt hoch in den Nachthimmel und zerspringt dort in Funken. Hornochsen, denkst du. Sie sind eine Minute zu früh.

Aber Silvester richtet sich eben nicht nach deiner Uhr. Während du noch versuchst, in Ruhe die Sekunden zu zählen, fliegt irgendwo um die Ecke bereits die Tür eines Hochhauses auf und eine riesige Horde feierwütiger Italiener stürzt hinaus. Du beißt die Zähne zusammen und drückst dich an die Wand in deinem Rücken, willst nur sehen, nicht gesehen werden.

Und dann geht es los. »Null!«, ruft eine begeisterte, laute Stimme hinter dir, und augenblicklich folgt das vernehmliche Zischen mehrerer Raketen. Geistesabwesend führst du eine Hand nach oben, ziehst dir die Kopfhörer aus den Ohren. Ab jetzt hat die Musik keinen Sinn mehr, denn du hörst nicht mehr einen Ton davon.

Der Himmel wird taghell erleuchtet, staunend und mit etwas geöffnetem Mund legst du den Kopf in den Nacken. Das Knallen dröhnt in deinen Ohren, die Leute im Garten hinter dir scheinen genug Raketen zu haben, um mehrere Weltkriege auszutragen, aber du scherst dich nicht darum. Es lenkt dich ab. Und es sieht wunderschön aus.

Minutenlang stehst du nur regungslos an der Mauer starrst in den Himmel. Die unermüdlich pfeifenden und explodierenden Raketen tun sich dir auf wie ein gigantischer Blumenstrauß, blühen in allen erdenklichen Farben und nehmen dich völlig ein. Du bist fasziniert. Das Feuerwerk ist laut, pompös und riesig, größer als jedes, das du bisher beobachtet hast.

In kleinen weißen Wolken steigt dein Atem auf, deine Mundwinkel zucken unschlüssig, verziehen sich dann aber doch endlich zu einem begeisterten, kindlichen Lächeln. Es war richtig, rauszugehen. Denkst du jetzt an dein Zuhause, kannst du dir problemlos vorstellen, dorthin zurückzukehren und dich einfach nur darüber zu freuen, dass du am Leben bist und eine Familie hast.

Doch deine Idylle wird gleich wieder auf die Probe gestellt. Du hörst die pöbelnde Masse wieder um die Ecke biegen, die Gruppe, die vorher schon aus ihrem Hochhaus gestolpert ist, ist scheinbar schon wieder auf dem Rückweg. Wenn deine Augen dich nicht täuschen, sind es fünf Männer, und nur einer von ihnen schafft es, allein zu gehen. Sie wanken und grölen etwas, was wahrscheinlich ein Lied sein soll, doch du kannst weder Text noch Melodie erkennen. Mit einem leisen Seufzen drückst du dich fester an die Wand, bist dir sicher, dass du so nicht auffallen wirst.

Das schwankende Quintett geht an dir vorbei, du willst schon aufatmen, als zwei von ihnen Arm in Arm aus der Reihe tanzen und plötzlich mit den Gesichtern zu dir stehen. Beide fangen völlig synchron an zu grinsen. »Heeey, hübsche Frau!«, johlt einer.

Du siehst dich unwohl um, hast sogar noch einen Funken Hoffnung, dass irgendwo in deiner Nähe eine andere Frau steht, die sie vielleicht gemeint haben. Natürlich nicht. Sie haben dich entdeckt.

Trotzdem – oder gerade deshalb – bewegst du dich nicht, reagierst kein Stück mehr. Du willst wie eine Statue sein, vielleicht sind sie ja sogar betrunken genug, um das wirklich zu glauben. Wenn nicht, verlieren sie bestimmt schnell das Interesse, wenn du zu langweilig bist. Bestimmt. Hoffentlich.

»Heeeey!«, wiederholt der Kerl. »Komm doch mit hoch! Wir haben gerade noch Platz für eine! Wir wollen P-… wollen P-…« Er würgt. Du betest, dass er sich nicht übergeben wird, denn dann würdest du wohl wimmernd davonlaufen müssen und deine Vorstellung vom Doch-noch-Happy End an Silvester wäre völlig hinüber.

»Party machen«, endet er, und zu deiner Erleichterung behält er seinen Mageninhalt fürs Erste für sich.

Unter normalen Umständen hättest du vielleicht irgendetwas Schlagfertiges geantwortet, ihnen den Laufpass gegeben du wärst davonstolziert. Aber nicht heute. Du willst nicht sprechen, willst dir keine Gedanken darum machen, was du am besten sagen solltest. Du willst einfach nur deine Ruhe. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein.

Als du dich weiterhin nicht rührst, stößt der bisher stille andere seinem Kumpanen den Ellenbogen in die Seite. »Komm, wir holen sie uns.« Er nuschelt, aber du verstehst sehr gut, was er sagt. Vielleicht so eine Art Überlebensinstinkt.

Deinen Frieden kannst du dir wohl abschminken. Und die Pechsträhne ist durch das Feuerwerk offensichtlich auch nicht abgerissen. Wäre auch zu schön gewesen, denkst du dir.

Leise atmest du durch, versuchst, dich unauffällig umzusehen. Diese Kerle sind eindeutig zu benebelt, um dir wirklich hinterher zu kommen. Die Frage ist nur, wohin du fliehen sollst. Du willst noch nicht nach Hause, doch abgesehen von dieser Villa in deinem Rücken fällt dir kein Platz in der Stadt ein, der Schutz vor solchen Leuten bieten könnte. Und selbst das verfluchte bewachte Anwesen hat sein Versprechen nicht gehalten.

Die beiden Männer kommen näher, mittlerweile bist du auch den anderen dreien aufgefallen, die zwar noch stehen bleiben, dich aber bereits aufmerksam beäugen – nun ja, so aufmerksam, wie man mit diesem Alkoholpegel eben sein kann.

Ein leiser, verhaltener Fluch kommt über deine Lippen, du machst jetzt einfach wahllos einen Schritt zur Seite. Es ist Zeit zu handeln, sagst du dir.

Im nächsten Moment allerdings wirst du abgelenkt, von einem Ruf, der lautstark die Nachtluft zerreißt. »Oi! Orgelt!« Es ist die gleiche Stimme, die vorher so euphorisch die Null! gerufen hat, aber das fällt dir jetzt nicht auf. Du kommst gerade mal dazu, zu bemerken, dass die Feuerwerke verstummt sind.

»Beweg dich endlich!«

»Sehr wohl.«

In deinem Blickfeld taucht eine der Personen auf, die du vorher im Garten gesehen hast. Es ist ein großer, breiter Kerl in einem Anzug und im Halbdunkel der Nacht glaubst du, dunkle Hautfarbe an der Glatze zu erkennen. Wie paralysiert siehst du zu, wie er, geduldig und doch irgendwie gefährlich, auf die Gruppe zugeht.

Sie wechseln Worte, so leise, dass du sie nicht verstehst, aber sein Ton wirkt bedrohlich. Verwirrt starrst du ihnen entgegen, dein Verstand schleppt. Was passiert da? Wer ist dieser Kerl?

Ihre Stimmen werden lauter, der fremde Mann scheint sich anzuspannen. Du beobachtest ihn gebannt, erwartest eine handfeste Prügelei, doch dann wird deine Sicht versperrt. Von einem blütenweißen Hemd.

Blinzelnd hebst du den Kopf, du erblickst ein breites – ein unheimlich breites Grinsen mit den weißesten Zähnen, die du je in deinem Leben gesehen hast, der Rest des Gesichts, von der Nase aufwärts, wird von glattem blondem Haar verdeckt, so dicht, dass du dir über die Existenz von Augen dahinter wirklich nicht sicher sein kannst. Um seine Schultern liegt etwas, das aussieht, wie weißer Pelz, und davon hängt ein dunkelroter Umhang seinen Rücken hinab.

Vor dir steht ein junger Mann, du schätzt ihn älter als dich ein, aber nicht viel. Er ist höchstens einen halben Meter von dir entfernt, seltsamerweise scheint er sich unheimlich über deine Anwesenheit zu freuen, und du fragst dich dumpf, ob hier vielleicht irgendwo eine Kostümparty geschmissen wird.

»Keine Sorge«, sagt er. Seine Stimme klingt tatsächlich beruhigend in deinen Ohren. »Orgelt kümmert sich um die Typen. Solche Rüpel können wir hier nicht dulden.«

Du stellst dich kurz auf die Zehenspitzen und versuchst, ihm über die Schulter zu blicken, aber dieses weiße Fell versperrt dir die Sicht. So siehst du zurück zu dem Fremden vor dir und jetzt fällt dir auf, was er auf dem Kopf trägt: eine Krone.

Bestimmt ist hier irgendwo eine Kostümparty. Dann eben doch keine Orgie.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt er. In seinem Ton schwingt etwas mit, was du nicht ganz identifizieren kannst, aber davon lässt du dich nun nicht mehr beunruhigen. Dieser Haufen Betrunkene wird dir nichts tun. Das weißt du jetzt. Die beiden hier haben dich gerettet, und dein Gegenüber ist dir nah genug, dass du eine Fahne riechen könntest, wäre sie existent – was sie aber eindeutig nicht ist. Du hast tatsächlich an Silvester einen nüchternen Kerl gefunden, der dich beschützt.

Kurz musst du an deine Pechsträhne denken, dann ringst du dich zu einem zaghaften Schmunzeln durch und blickst in sein Gesicht, dorthin, wo du seine Augen vermutest, falls es sie gibt. »Ja, mir geht’s gut«, sagst du. Du klingst viel höher als normalerweise und musst dich räuspern. Das ist dir peinlich, und es wird nur noch schlimmer, als du spürst, wie das Blut in deinen Kopf schießt. »Ähm… Danke.«

Er grinst weiterhin, vielleicht etwas breiter, kommentiert deine offensichtlich geröteten Wangen aber nicht. Dafür bist du ihm fast noch dankbarer als für den Einsprung als Retter. Du fühlst dich schon merkwürdig genug.

»Gern geschehen«, sagt er. Hinter seinem Rücken ertönen noch immer gedämpfte Geräusche, doch sie scheinen sich immer weiter zu entfernen. Er selbst macht keine Anstalten, auch nur einen winzigen Schritt von dir weg zu gehen. »Du solltest nicht mitten in der Nacht alleine hier herumlaufen. Schon gar nicht heute, wenn die halbe Welt erheblich alkoholisiert ist.«

Die Tatsache, dass er völlig fehlerfrei und klar erheblich alkoholisiert aussprechen kann, ist dein Beweis, dass er selbst nicht betrunken ist. Wahrscheinlich nicht einmal angetrunken. Das ist merkwürdig, aber es tut gut. So jemanden hast du heute gebraucht, denkst du dir plötzlich, obwohl dir das kindisch vorkommt – und kitschig.

»Ich hab frische Luft gebraucht«, antwortest du nur wahrheitsgemäß. Die Verlegenheit ist deiner Stimme noch immer anzuhören.

»Hmm«, macht er langgezogen. »Diese schöne frische Luft wird aber bald nach Erbrochenem und Schwefel stinken. Magensäure, noch mehr Alkohol… Das riecht nicht gut. Das ist auch gar nicht mehr frisch. Du solltest nicht hier draußen bleiben.«

Etwas irritiert blickst du zu ihm hoch. Seine Worte wirken zwar gewählt, aber irgendwie ist die Art, wie er spricht, nicht normal. Die Sätze sind so knapp. Kurz überlegst du, ob er vielleicht Ausländer ist, aber sein Italienisch ist perfekt, ohne den Hauch eines Akzentes.

Aber du willst ja auch keine Erbsenzählerin sein und lässt es einfach auf sich beruhen. Achselzuckend schiebst du die Hände in die Manteltaschen, blickst etwas an ihm vorbei. Er hat vermutlich Recht, es ist wohl an der Zeit, wieder zurück zu gehen. Auch, wenn du nicht wirklich willst. Bald wird dir kalt werden, du wirst nur noch mehr Unruhestifter treffen und gerade fällt dir auf, dass du langsam müde wirst. Wahrscheinlich wirst du den Schritt über die Haustürschwelle einfach tun müssen. Die Vorstellung ist nicht mehr so schlimm wie vor einer halben Stunde, als du das Haus verlassen hast, es ist in Ordnung, aber eigentlich ist es nicht das, was du jetzt am liebsten tun würdest. Am liebsten würdest du noch immer weiter abhauen und für lange Zeit fort bleiben.

Er beugt sich etwas näher zu dir, zerknirscht hebst du den Blick wieder. Dir fällt jetzt erst ein, dass du gar nicht geantwortet hast. Du willst gerade versuchen, dir irgendetwas Höfliches aus der Nase zu ziehen, als er selbst spricht.

»Du willst nicht nach Hause, hm?«

Überrascht starrst du ihn an. Sein breites Grinsen ist auf ein schiefes Lächeln geschrumpft, er klingt mit einem Mal viel ernster. Du öffnest den Mund, bringst aber kein Wort hervor.

Er gluckst leise und zuckt flüchtig mit den Schultern. »Du musst nicht antworten«, sagt er. Er klingt gleichgültig, und aus irgendeinem Grund tut dir das gut. Kein Mitleid, kein Verständnis. Einfach nur Akzeptanz. »Ich hab es dir angesehen. Wenn du nicht willst, solltest du auch nicht gehen. Nur hier draußen solltest du auch nicht bleiben. Unser Haus ist sicher.«

Was für eine billige Anmache, ist der erste Gedanke, der dir dazu kommt. Aber obwohl er dir so nah ist, kommt es dir nicht so vor, als wolle er dich wirklich anmachen. Immerhin hat er dich zunächst einfach nur vor diesen Säufern beschützt, die du im Übrigen überhaupt nicht mehr hören kannst. Es wirkt völlig naiv auf dich, aber irgendwie scheint er dir doch nur helfen zu wollen.

Etwas unbeholfen grinst du, trittst von einem Fuß auf den anderen. Du bist unsicher. Natürlich bist du das. »Man soll doch nicht mit Fremden mitgehen«, sagst du. »Und wo… Wo wäre das überhaupt?«

»Gleich hinter dir«, antwortet er, hörbar amüsiert. Als sich deine Augen weiten, verbreitert sich auch sein Grinsen wieder. »Ja, genau. Die Villa. Wir haben noch einiges an Essen und Trinken übrig, ich könnte dich einladen, das wäre kein Problem. Du wärst sicher und müsstest hier draußen nicht erfrieren. Und du gehst erst dann nach Hause, wenn du willst.«

Ungläubig starrst du zu ihm hoch, zögerst, nicht sicher, ob du etwas sagen solltest, und wenn ja, was.

Aber er nimmt dir die Entscheidung ab, indem er fortfährt. »Ach ja, der Fremde«, sagt er. »Weißt du was? Ich stelle mich dir einfach vor, dann bin ich nicht mehr fremd. Dann kannst du mitkommen und dich aufwärmen.«

Deinem Verstand geht das Ganze etwas zu schnell. Du bist völlig perplex. »Okay«, hörst du dich zaghaft sagen.

»Gut.« Mit einem Mal ist sein Gesicht deinem noch näher. Du zuckst etwas zurück, obwohl er noch immer nicht wirklich bedrohlich wirkt. Stattdessen nimmst du sogar wahr, wie gut sein Atem riecht. Wem bist du da nur in die Arme gelaufen?

»Mein Name ist Rasiel«, sagt er. »Und jetzt komm mit rein.«

Un buon diavolo

Ein guter Kerl
 

Du hast die Einladung angenommen. Ja, du bist mit einem Kerl mitgegangen, den du nicht kennst, der einen extrem seltsamen Namen hat, eine Krone auf dem Kopf trägt und dessen Haus von innen zu allem Überfluss auch noch aussieht wie ein Puff – oder zumindest so, wie du dir einen Puff vorstellst. Aber es war nun mal Silvester, deine Gedanken waren alles andere als geordnet und immerhin hat Rasiel dich beschützt. Allzu böse kann er es also nicht mit dir meinen.

Denkst du.

Im riesigen Anwesen hast du erst einmal eine Tasse heißen Kaffee bekommen und Rasiel hat sich mit dir in eines der vielen Zimmer verdrückt. Mit dir allein. Ihr habt euch auf ein ziemlich prunkvolles Sofa gesetzt, das du dir nie im Leben in dein eigenes Haus gestellt hättest, und dann hat er angefangen, Smalltalk mit dir zu führen. Du überlegst jetzt noch, ob er dich anmachen wollte oder nicht – du bist dir nicht sicher. Letztendlich war er die ganze Zeit über einfach nur nett zu dir und hat dir zumindest keine offensichtlichen Avancen gemacht.

Aber die ganze Sache ist schon seltsam.

»Und hast du gute Vorsätze für das neue Jahr?«, hat er irgendwann gefragt.

Du hast kurz überlegt und musstest dann lächeln. »Ich will glücklich sein«, hast du gesagt. Für richtigen Smalltalk warst du irgendwie zu sentimental.

Mit einem Grinsen hat er »Klingt gut.« geantwortet. Du hast ihn einen Moment abwartend angesehen, aber als er nichts weiter gesagt hat, hast du nachgefragt: »Und du?«

Er hat seinen Kopf etwas gehoben, wahrscheinlich ging sein Blick gegen die Decke, aber ohne Sicht auf seine Augen konntest du das natürlich nicht sicher wissen. Und für einen kurzen, ganz kurzen Moment verschwand das Grinsen von seinen Lippen. Das war das erste Mal an diesem Abend, dass du das gesehen hast. Und es hat nicht lang angehalten, nach höchstens zwei Sekunden war es wieder da. »Ich muss einige unfertige Sachen endlich zu Ende bringen«, hat er geantwortet.

Daraus wurdest du nicht schlau, aber du hast dich nicht daran gestört. Denn du wirst ja aus ihm allgemein nicht schlau. Jetzt immer noch nicht, wo du in deinem stillen Zimmer auf dem Bett sitzt, und darüber nachdenkst, was vor ziemlich genau zwölf Stunden geschehen ist.

»Du trägst gar kein Rot«, hat er zwischendurch gesagt.

Blinzelnd hast du an dir heruntergesehen und ihn dann fragend angeblickt. »Sollte ich?«

»Mir hat man gesagt, das sei Silvestertradition hier in Italien«, hat er gemeint. »Weil Rot das Böse vertreibt.«

Du hast an die betrunkenen Raufbolde denken müssen, die dir an die Wäsche wollten. Laut Rasiel hat Orgelt, einer seiner Butler, wie du jetzt weißt, sie wohl ziemlich vermöbelt. Du bist dir nicht sicher, ob du das gut finden sollst. »Vielleicht hätte ich dann heute etwas mehr Rot anziehen sollen«, hast du trocken gesagt.

Mit einem Mal hat sich sein Grinsen verbreitert, sodass du wieder fast alle seiner perlweißen Zähne hast sehen können, und erneut ist da etwas in seiner Stimme gewesen, das du nicht ganz deuten konntest, ein Unterton, der dir irgendetwas mitteilen wollte, was du aber partout nicht verstanden hast. Dabei hat er in erster Linie einfach nur amüsiert geklungen: »Wäre wohl besser für dich gewesen.«

Mit der Zeit hast du herausgefunden, dass er kein Italiener ist, aber wo er stattdessen herkommt, wollte er dir auch nicht so recht sagen. Er ist der Frage ausgewichen. Irgendwann hat er dann die Bemerkung fallen lassen, er sei ein Prinz und du hast es natürlich für einen Scherz gehalten. Als du ihn belustigt gefragt hast, wovon er denn bitte Prinz sei, hat er nur geheimnistuerisch gegrinst und die Schultern hochgezogen. Aber im Laufe des Gesprächs hast du mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass er diese Behauptung vollkommen ernst meinte. Sie zog sich wie ein roter Faden durch eure Unterhaltung. Prinz hier, Prinz da.

Nun – entweder hast du also einen Prinzen kennen gelernt, oder einen jungen Mann mit einer Art Zwangsneurose. Und letzteres würdest du sehr gern ausschließen, denn auf seine eigene Art und Weise findest du Rasiel sehr charismatisch.

Er ist charmant gewesen, hatte den Anstand, dich nicht danach zu fragen, weshalb du an Silvester weder bei Freunden noch bei deiner Familie warst, und nach längerem Bohren hast du ihn dazu breitschlagen können, dir zu erzählen, weshalb er hier ist: Er sucht seinen Bruder. Der ist wohl vor einigen Jahren von zu Hause weggelaufen. Rasiel hat nicht erwähnt, warum, und du hast auch nicht gefragt, das wäre unhöflich gewesen. Aber laut Rasiel haben sie Anhaltspunkte, dass sich sein Bruder jetzt hier in Italien aufhält, und er hat vor, mit ihm zu reden, hat er gesagt, ihm eine Aussprache anzubieten, »gewisse Dinge« zu klären. Das findest du natürlich löblich.

Gegen drei Uhr hast du dich wieder auf den Weg nach Hause gemacht, und Rasiel hat dir zum Abschied gesagt, dass du immer vorbeikommen kannst, wenn du willst. Du warst sofort gerührt, weil seiner Stimme anzuhören gewesen war, dass er auch auf Momente anspielte, in denen du es zu Hause nicht mehr aushältst. Zum Glück ist dir wenigstens das Rotwerden erspart geblieben, so hast du nur lächelnd genickt und dich bedankt.

Nun ist es also Vormittag und du sitzt in deinem Zimmer, das Haus ist völlig still, die Wogen zwischen deiner Mutter und ihrem Freund scheinen sich fürs Erste geglättet zu haben, obwohl es noch immer etwas kalt wirkt. Aber dir ist nur wichtig, dass sie sich nicht mehr anschreien. Dein Ex-Freund hat vor einer halben Stunde angerufen, um dir ein frohes neues Jahr zu wünschen, und ihr habt euch ein paar Minuten ganz normal unterhalten, wie es Freunde eben tun. Kein Gefühl von Das ging doch mal besser, keine Bedenken, dass du ihn irgendwann zurückhaben willst und es nicht mehr funktionieren wird. Gar nichts. Als wäre nie etwas zwischen euch passiert.

Und das macht dich unheimlich glücklich. Du kannst spüren, wie sich dein guter Vorsatz für dieses Jahr bereits bewahrheitet. Wenn es weitergeht, wie es angefangen hat, wird dieses Jahr großartig für dich werden.
 

Es wird nicht so weitergehen. Aber das weißt du noch nicht.
 

»Prinz Siel?«

»Hmm?«

»Wir haben Grund zur Annahme, dass er das Anwesen beobachten lässt.«

»Natürlich tut er das.«

»Also, sollen … wir die Beobachter auslöschen?«

»Nein. Doch. Nicht alle. Egal, wie viele es sind, tötet sie, aber lasst zwei am Leben. Bringt sie mir. Die werden uns sagen, wo er ist.«

»Sehr wohl. Und falls ihn bereits welche informiert haben… Sollten wir unsere Verteidigungsmächte hochziehen, für den Fall eines Angriffs?«

»Shesheshe… Er wird nicht angreifen. Dafür ist er gerade noch schlau genug. Er weiß, dass er schon längst verloren hat.«

»Was das angeht… Nach unseren neuesten Informationen kann er sich möglicherweise etwas besser zur Wehr setzen, als wir angenommen hatten.«

»Und warum sollte er das können?«

»Nun, wie es aussieht, hat er die Varia auf seiner Seite.«

Non una difficoltà

Kein Hindernis
 

»Die sind kein Hindernis.«

Immer wieder wiederholt er diese Worte in seinem Kopf. Kein Hindernis. Kein Hindernis!

Verdammtes, überhebliches Arschloch.

Natürlich wäre die Varia ein Hindernis für ihn. Er könnte mit einer verdammten Hundertschaft hier antanzen – na gut, das hat er wohl auch getan. Es könnten noch zehnmal so viele sein, er könnte die besten Leute ihres dämlichen Landes haben – die Varia würde sie alle aufhalten. Er hätte keine Chance.

Die Varia wäre das verdammt nochmal größte Hindernis der Welt – wäre sie tatsächlich auf seiner Seite.

Laut seinen Informanten hat Orgelt ihm das so gesagt. Er habe die Varia auf seiner Seite. Still lässt Belphegor den Blick schweifen. Hat er sie auf seiner Seite?

In diesem Verein ist jeder sich selbst am nächsten. Die Späher seines Bruders haben wahrscheinlich nur herausgefunden, dass er Mitglied ist. Offizier. Aber das heißt noch lang nicht, dass er sich Hilfe von ihnen erwarten kann.

Hilfe von der Varia. Das ist sowieso eines der absurdesten Dinge, die er jemals gehört hat. Die Varia hilft nicht, die Varia tötet. Sie hilft einem höchstens, wenn man sterben will. Und Belphegor will nicht sterben. Er will, dass sein Bruder stirbt, aber das in Auftrag zu geben, klingt nicht richtig. Sie würden ihn auslachen. Und es ist seine Sache. Seine ganz eigene Angelegenheit. Er könnte versuchen, sie anzuheuern, seine Leute aus dem Weg zu räumen, damit er problemlos an Rasiel rankommt, aber…

Mit unzufrieden verzogenen Mundwinkeln beobachtet er, wie die Klinge des Kommandanten gleich zwei Oberkörper in der Hälfte zerteilt. Gott, nein. Er kann sie nicht fragen. Er kann ihnen nicht sagen, dass sie ihm den Weg zu seinem Bruder ebnen sollen. Es würde seinen Ruf zerstören. Und er braucht seinen Ruf.

»Bel-Senpai, der Mann ist längst tot…«

»Halt die Fresse«, erwidert er automatisch. Dann erst wendet er den Blick dem Wächter zu, den er noch immer am Kragen festhält und in dessen Kehle er in den letzten Sekunden gedankenverloren herumgestochert hat. Er verzieht den Mund und lässt ihn los, schmiert das fremde Blut an seinen Händen am Jackett des Toten ab.

»Du bist nicht bei der Sache«, sagt Fran tonlos. Trotzdem klingt es, als würde er feixen.

»VOI! Hört auf zu trödeln!«

»Dann bring den Vollidioten halt alleine um!« Belphegor ist unmotiviert. Er will sich nicht um irgendeinen dummen Auftrag kümmern müssen, wenn sein wahnsinniger Bruder ihm im Nacken sitzt. Die Sache ist verdammt ernst.

Mit einem äußerst genervten Gesichtsausdruck dreht sich Squalo zu ihnen um, und es braucht keine Worte, um ihnen mitzuteilen, dass sie gefälligst die Schnauze zu halten haben. Fran verschränkt die Arme hinter dem Rücken und spaziert an ihm vorbei, und während Squalo etwas von Jungoffizieren und Babysitten murmelt, bleibt Bel zwischen den Leichen der erfolglosen Leibwächter stehen. Zähneknirschend betrachtet er die Rückseite des großen schwarzen Huts auf dem Kopf des Illusionisten. Er hat Recht. Er ist nicht bei der Sache.

Es geht schon wieder los. Rasiel ruiniert ihm alles, worin er gut ist.

»Wenn du nicht gleich deinen hässlichen Arsch bewegst, reiß ich ihn dir auf! VOOI, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!«

»Ja, ja, beruhig dich«, murmelt er, schiebt die Hände in die Taschen seines schwarzen Mantels und folgt den beiden.

Kaum haben sie ein paar Schritte in den angrenzenden Flur gemacht, kommt ihnen die nächste Horde Männer aus einem Seitengang entgegen. Squalo verdreht die Augen und gibt ein gereiztes Stöhnen von sich. »Dass die es überhaupt noch versuchen…«, brummt er. »Fran, du erledigst das. Wir gehen schon vor.«

»Ich hab aber keine Lust mehr«, mault Fran, dreht sich jedoch widerstandslos in die Richtung der Gegner. Es ertönt ein ohrenbetäubender Knall und sogleich gehen die ersten von ihnen zu Boden.

»Ich hab gehört, dein Bruder ist im Land«, sagt Squalo unverblümt.

Belphegor erstarrt. Seine Gesichtszüge entgleisen, aber glücklicherweise ist durch seine Mähne an blondem Haar, die sich in den letzten Jahren sogar noch verdickt hat, nicht viel davon sichtbar. Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder, muss leise schlucken. Abstreiten wird er es wohl kaum können. Die Frage ist, worauf der Kommandant hinaus will.

Zügig marschiert Squalo den Gang entlang, Belphegor hat durch den Schrecken Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten.

»Bist du gut genug?«, fragt er barsch.

Belphegor blinzelt. »Was?«

»Voooi!« Genervt blickt Squalo über die Schulter und Bel beschleicht der Verdacht, dass er sich nun einen Schlag auf die Nase eingefangen hätte, wären sie nicht auf einem Auftrag. »Ob du gut genug bist! Trottel. Du bist zu uns gekommen, weil du besser werden wolltest. Du sagtest, du willst gut genug sein um ihn zu kriegen. Also – bist du gut genug?«

Überrascht starrt er das an, was er von Squalos Kopf sehen kann, was größtenteils glattes silbriges Haar ist. Er hat nicht erwartet, dass sich irgendjemand daran erinnert, wie er damals zur Varia gekommen ist. Es ist über zehn Jahre her und Belphegor gefällt nicht mal wirklich, wie Squalo es ausdrückt. Diese Formulierung lässt ihn so schwach klingen. Und er war nie schwach.

Hastig holt er zu ihm auf, geht nun mit riesigen Schritten neben ihm her. »Ich denke…«, beginnt er, wird jedoch sofort unterbrochen

»Komm zum Punkt«, faucht Squalo. Richtig. Einen Satz, der an ihn gewandt ist, mit Ich denke zu beginnen, ist lebensgefährliche Zeitverschwendung. »Für ein verficktes Genie kalkulierst du verflucht langsam. Sag mir verdammt nochmal einfach, ob du gut genug bist oder Hilfe brauchst.«

»Ich brauch keine Hilfe«, sagt Belphegor prompt und schafft es sogar, ehrlich empört zu klingen.

Und er hält es nach wie vor für sehr unwahrscheinlich, dass er diese Hilfe, wenn er sie denn bräuchte, ausgerechnet von der restlichen Varia bekommen würde. Wahrscheinlich fragt Squalo nur, um ihn nachher auszulachen, wenn er doch bejaht.

»Na also«, schnaubt er. »Dann bring das Arschloch möglichst schnell um die Ecke, wehe, du lässt dich dadurch bei der Arbeit behindern.«

»Ja, ja… Ich werd’s schon irgendwie hinkriegen.«

Er nimmt noch einen verächtlichen Laut wahr, danach hat Belphegor keine Zeit mehr, zu reagieren. Squalos rechter Arm fliegt auf ihn zu, der Unterarm legt sich komplett über sein Schlüsselbein, wirft ihn rückwärts und drückt ihn gegen die nächste Wand. Die Hand hat sich grob um den Stoff seines Mantels geschlossen, seine Linke ist erhoben und die scharfe, blutverkrustete Klinge des Schwertes liegt seitlich an seiner Kehle. Belphegor hat instinktiv gehandelt, noch bevor er es selbst weiß, hält er Messer in der Hand, die zu dritt ebenfalls auf Squalos Kehle zeigen.

Verständnislos blickt er in das offensichtlich wütende Gesicht des Kommandanten und setzt gerade an, mit möglichst vielen Schimpfwörtern zu fragen, was zum Teufel das soll, als der beginnt, sich selbst zu erklären.

»Nicht irgendwie. Kapiert, dämlicher Flachwichser? Komm mir nicht mit irgendwie hinkriegen – entweder hast du einen Plan, wie du den Idioten im Alleingang erledigst, oder wir kommen mit. Ende.«

Belphegor verzieht irritiert das Gesicht, schnaubt dann. »Ihr haltet euch alle da raus, meine Familienangelegenheiten haben euch ‘nen Scheißdreck zu interessieren.«

Beide Stimmen sind jetzt gefährlich gesenkt, an beiden Kehlen ruhen Klingen, sie starren einander ins Gesicht wie lauernde Raubtiere, warten nur darauf, dass der andere einen Fehler macht. Aber das wird keiner von ihnen tun.

Squalos Griff um seinen Mantel verfestigt sich, seine Augen sind gefährlich verengt. »Du hast da ein verficktes Varia-Wappen auf deinem Ärmel«, raunt er. »Wenn du scheiterst und dich von so einem dahergelaufenen Prinzenpisser fertig machen lässt, ruinierst du unseren Ruf. Und ich sag dir, bevor er dich töten kann, kommen wir und reißen dich in Stücke. Ich lass nicht zu, dass du unser verfluchtes Image zerstörst, also entweder bringst du den Scheiß allein hinter dich, oder wir mischen mit. Voooi – verstanden?«

Jetzt leuchtet Belphegor endlich ein, was das Ganze soll. Es geht um den Ruf der Varia. Natürlich, wenn Squalo sich aufregt, geht es immer um den Ruf der Varia, oder seinen eigenen. Das erklärt einiges. Er beißt die Zähne zusammen und schnaubt herablassend. »Verstanden, Kommandant«, spuckt er ihm entgegen, und lässt dabei vor allem das letzte Wort wie die schlimmste Beleidigung auf Erden klingen.

Für einen Moment drückt sich die Klinge fester in Bels Kehle. Wahrscheinlich ist Squalo mit dem Tonfall seiner Antwort alles andere als zufrieden. Er setzt gerade an, etwas zu sagen, als er abgelenkt wird.

»Ich muss mich mit diesen ekelhaften Leuten rumschlagen, während ihr hier so innig rumturtelt? Das ist unfair.«

Beide Köpfe schnellen sofort in die Richtung des Illusionisten, der seelenruhig mitten im Gang steht. Erst jetzt fällt den zweien auf, dass es mittlerweile völlig ruhig um sie herum ist. Aber da sie anwesend sind, wird das nicht lang halten.

Vollkommen unisono wird Fran von beiden ein »Halt die Klappe« entgegengeworfen, mit nur dem Unterschied, dass das von Squalo auf »Fran« endet, während Belphegor sich wie immer lieber mit »Froschkopf« zufrieden gibt.

Fran zuckt mit den Schultern und schlendert weiter in die Richtung ihres eigentlichen Auftrags. Squalo entfernt schließlich das Schwert von Belphegors Hals, woraufhin er auch die Messer wieder in seiner Tasche verschwinden lässt. »Also?«, knurrt der Kommandant nur noch mürrisch.

Einen Moment nimmt Belphegor sich Zeit, um ihn zu mustern, abzuwägen, nachzudenken. Sein Bruder wird gegen die Varia nicht ankommen. Er kann tun, was er will, gegen diese Leute hat er schlicht und einfach keine Chance. Er müsste ihnen nicht einmal direkt sagen, dass er Hilfe braucht, seinen eigenen Bruder zu erledigen. Sicherlich würde es reichen, ihnen die erschlagenden Zahlen zu nennen, die seine Armeen beschreiben, und dann einfach Squalo vorzuschicken, der sich dann lautstark um ihren Ruf sorgt. Damit wäre der Peinlichkeit vorgebeugt, er müsste sich nicht die Blöße geben und hätte volle Rückendeckung, um endlich diese unfertige Sache zu erledigen. Es wäre nahezu perfekt, der sichere Sieg.

»Ich mach’s allein«, sagt er.

Squalo nickt und lässt ihn los, holt dann zu Fran auf, ebenso wie Bel selbst.

»Vooi, hast du irgendwen übrig gelassen?«

»Nö. Sollten jetzt durchkommen.«

»Shishishi… Na endlich. Hat ja auch lang genug gedauert. Und Froschkopf – dir klebt da noch Blut im Gesicht. Du siehst beschissen aus.«

»Das ist nicht sehr nett, Bel-Senpai. Außerdem hast du selbst überall Blut.«

»Ja, aber mir steht das.«

»VOOOI! Ihr zwei nervt. Wenn ich nochmal einen Auftrag mit euch machen muss, geht ihr beide mit drauf.«

»Shishishi – den Versuch würd ich zu gern sehen.«

»Kannst du jetzt sofort haben!«

»Dann komm doch her.«

»Sollten wir nicht zuerst unseren Job erledigen…?«

»Schnauze!«
 

Er muss es ohne sie schaffen. Das ist seine Pflicht als der wahre Prinz.

La camera dodicesima

Das zwölfte Zimmer
 

Tage verstreichen. Gut eine Woche lang siehst du Rasiel nicht, doch er weicht nicht aus deinen Gedanken. Nein, du bist nicht verknallt. Dessen bist du dir ziemlich sicher. So schnell geht das bei dir nicht, und letzten Endes ist er immer noch … verkorkst.

Aber gerade das ist es. Das ist es, was dich davon abhält, nicht mehr über ihn nachzudenken. Er ist so anders. Du findest keine vergleichbare Bekanntschaft, niemanden, der auch nur ansatzweise so ist wie er.

Rasiel ist ein Mysterium. Manchmal wirkt er in deinen Erinnerungen nahezu wahnsinnig, aber nicht so, dass es dir Angst macht.

Ein paar Mal schon hast du dich bei dem Gedanken ertappt, dass er womöglich wirklich ein Prinz ist. Immerhin lebt er in diesem gigantischen Anwesen, das laut seiner Aussage aber einfach nur so etwas wie ein Ferienhaus ist. Das heißt, eigentlich lebt er in einem noch größeren Haus. Und er benimmt sich so vornehm. Er ist ein Gentleman. Du bist ihm richtig dankbar, dass er dich an Silvester aufgegabelt hat – jedes Mal, wenn du darüber nachdenkst, verschlimmert sich das Szenario, was passiert wäre, hätte er dich nicht vor diesen Männern bewahrt.

Er ist dein Retter. Irgendwie.

Du hast noch niemandem von deiner neuen Bekanntschaft erzählt. Noch ist es nur für dich, und du bezweifelst sowieso, dass dir irgendjemand glauben würde. Die ganze Geschichte ist ja auch absurd. Und irgendwie hast du das Gefühl, dass deine Eltern sich große Sorgen machen würden. Größere als sonst – wieso auch immer.

Sobald die Schule wieder losgeht, holt dich dein Alltag ein. Es wird nur noch ein halbes Jahr dauern, bis du deinen langersehnten Abschluss in den Händen hältst. Deine Mutter und ihr Freund fauchen sich über jede Lappalie an, aber du überstehst es, weil dich die Handvoll guter Kumpel (du willst sie nicht unbedingt Freunde nennen) in der Schule effektiv ablenken können.

Erst, wenn du wieder zu Hause bist, wird es problematisch. Deine Mutter ist schlecht gelaunt, deine Hausaufgaben überfordern dich – alles ödet dich an.

Also ist es irgendwann so weit. Schon morgens hast du deiner Mutter angekündigt, dass du später nach Hause kommen wirst. Da wusstest du allerdings noch nicht, was du vorhast. Eigentlich hast du gedacht, du machst nur ein paar Umwege, gehst spazieren, um den Kopf frei zu bekommen.

Und jetzt stehst du vor der großen, schweren Holztür von Rasiels Anwesen. Du kommst dir komisch vor. Er ist ein vornehmer, reicher Kerl, der seinen Bruder sucht, bestimmt ist er vielbeschäftigt, und du willst einfach zu ihm spazieren, weil dir zu Hause langweilig ist und du deine Hausaufgaben nicht schaffst. Das ist dämlich. Aber du willst zu ihm.

Einige Sekunden brauchst du, bis du die Klingel gefunden hast, die im Vergleich zu allem anderen irgendwie grotesk schlicht wirkt, dann drückst du auf den kleinen Knopf. Du kannst hören, wie im Inneren des Hauses eine schöne, dir aber unbekannte Melodie erklingt. Auf den Fliesen in der Eingangshalle ertönt das Klackern von hohen Schuhen, dann öffnet dir eines der Hausmädchen die Tür. Sie mustert dich mit hochgezogenen Brauen, wahrscheinlich weiß sie nicht, wer du bist. Du glaubst auch nicht, dass du sie an Silvester gesehen hast. »Ja, bitte?«

»Hallo«, sagst du vorsichtig. »Ähm, ich… Ich möchte zu Rasiel.«

Das Mädchen sieht dich an, als wäre es völlig unerklärlich, dass irgendjemand freiwillig Rasiel besuchen möchte (was ja auch der Fall ist – aber das weißt du Naivchen eben noch nicht). Sie scheint nach einer Antwort zu suchen und holt Luft, aber bevor sie etwas sagen kann, wird sie an der Schulter gepackt und mit sanfter Gewalt zur Seite geschoben.

Und dann steht er vor dir, mitten in seiner eigenen Eingangshalle. Er sieht genauso aus wie an Silvester, hat sogar die gleichen Klamotten an, aber du gehst zu seinen Gunsten schwer davon aus, dass er sie zwischendurch gewaschen hat oder einfach das gleiche Hemd ein paarhundert Mal besitzt.

Er nennt deinen Namen und zum ersten Mal glaubst du, etwas wie Gefahr in seiner Stimme zu hören. Hinterhalt. Vielleicht Schadenfreude. Dummerweise dringt diese Erkenntnis nicht bis in dein Bewusstsein vor und du führst das ungute Gefühl darauf zurück, dass du einfach unangemeldet hier reinplatzt – eben weil dir nicht wohl war. Dir will kein Grund einfallen, weshalb Rasiel bei deinem Anblick ausgerechnet schadenfroh sein sollte, also machst du dir auch keine Sorgen.

»So eine Überraschung«, sagt Rasiel, obwohl er überhaupt nicht überrascht wirkt.

»Hi.« Du grinst verhalten, kratzt dich am Kopf. Jetzt weißt du wirklich nicht mehr, wie du anfangen sollst. Was zum Teufel suchst du hier? »Ich…«

»Komm rein.« Die Tatsache, dass er einfach deinen Arm packt und dich über die Schwelle zieht, lenkt dich vom Befehlston ab. »Alles in Ordnung? Hast du Stress zu Hause?«

Perplex blickst du zu ihm hoch, seine warme Hand liegt noch immer an deinem Arm, obwohl sie dich nicht mehr festhält. »Ähm, ich… Es ist schon in Ordnung«, bringst du hervor. »Ich brauch nur ‘ne Auszeit.«

»Alles klar«, sagt Rasiel. Prüfend musterst du sein Gesicht. Der verständnisvolle Ton scheitert irgendwie. Er wirft dem Dienstmädchen einen undefinierbaren Blick zu, das daraufhin aus der Eingangshalle verschwindet und wendet sich wieder dir zu. Du spürst, wie sein Blick über dich gleitet, dann grinst er. »Kommst du etwa von der Schule?«

Du blinzelst kurz und tastest nach dem Rucksack auf deinem Rücken, der ihm wohl aufgefallen ist. »Jaah«, sagst du, und bevor du etwas hinzufügen kannst, lässt er sein seltsames Kichern verlauten.

Das hast du an Silvester schon ein paar Mal gehört, erst dachtest du, er hat vielleicht einen Sprachfehler, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Du fandest es nie bedrohlich, nur sehr eigen, eines der vielen Dinge eben, die an ihm einzigartig sind, und es klingt jedes Mal anders. Diesmal schwingt kindliche Freude darin mit.

»Hast du Hausaufgaben auf? Ich könnte dir helfen.«

Überrascht öffnest du den Mund, schließt ihn wieder, denkst darüber nach. Da sind tatsächlich Aufgaben, denen du dich nicht gewachsen siehst. Deshalb bist du zwar eigentlich nicht hier, aber genau genommen weißt du ja gar nicht, weshalb du hier bist.

»Wenn … dir das nichts ausmacht«, sagst du zögernd. Du bist immer noch überwältigt von seiner Nettigkeit.

»Klar«, grinst er. »Ich hatte nie so richtig Hausaufgaben, mein Bruder und ich wurden zu Hause unterrichtet. Interessiert mich sowieso mal, wie das aussieht. Und ich werd dir garantiert alles erklären können.« Er wendet sich ab, lässt deinen Arm los und schlendert in die Richtung einer weiteren schweren Tür. Als du ihm folgst, hebt er die Hand zu einer pseudobescheidenen, wegwerfenden Bewegung. »Die Leute sagen, ich bin ein Genie.«

Du ziehst die Brauen hoch, machst ein paar große Schritte, um zu ihm aufzuholen. »Ein Genie?« Er nickt nur, woraufhin du glucksen musst. »So richtig? Also… Sowas wie ein Wunderkind?«

»So haben sie mich genannt«, sagt Rasiel ohne einen Anflug von Humor.

Du weißt nicht, ob du ihm das glauben sollst. Aber vielleicht wird er dir beim Lösen deiner Hausaufgaben ja den Beweis liefern.

Er dreht den Kopf zu dir, du glaubst, dass er dich anschielt, kannst es aber natürlich nicht wissen. »Bist du beeindruckt?«, fragt er.

Das weißt du nicht so recht. Aber du grinst. »Prinz und Genie, huh?«, sagst du. »Da hab ich wohl den Hauptgewinn gezogen.«

Wie es aussieht, gefällt ihm das. Er lacht kurz, sein ewig währendes Grinsen wird breiter und schließlich öffnet er die Metalltür, auf die er zusteuerte. »Nach dir«, sagt er.

Du trittst ein – und wärst fast über die drei kleinen Stufen gestolpert, die abwärts in den Raum führen.

Neugierig siehst du dich um. Wie fast alles im Anwesen ist das Zimmer in einem schwachen Gelb gehalten, nur die Decke auf dem breiten Schreibtisch in dessen Mitte ist blutrot. Er und die zwei Stühle sind aus sehr dunkelbraunem Holz, das Zimmer an sich wirkt warm, nur dieser Tisch ist … gewaltig. An dreien der vier Wände stehen hohe Regale, die voll und ganz mit Büchern gefüllt sind.

Geräuschvoll fällt hinter euch die Tür ins Schloss, erst jetzt fällt dir auf, dass das an den Wänden nicht wirklich Tapete sein kann. Eigentlich sieht es eher aus wie … Eierkartons. Aus Schaumgummi.

Stirnrunzelnd machst du einen Schritt auf die Wand zu und streckst eine Hand aus, um das weiche, nachgebende Zeug zu berühren. »Was ist das?«, fragst du.

»Schallisolation«, antwortet er prompt, stolziert an dir vorbei und lässt sich auf einen der Schreibtischstühle fallen. »Deshalb ist das mein Lieblingsraum. Hier ist man immer ungestört.«

»Aha«, machst du langsam. »Und was treibst du bitte in einem schallisolierten Zimmer?« Dir würde höchstens einfallen, dass man hier drin super ein Schlagzeug verdreschen könnte, aber er sieht nicht wirklich danach aus, als gehöre das zu seinen Hobbys.

»Hmm…« Rasiel wiegt den Kopf, als würde er überlegen, obwohl du dir sicher bist, dass er das nicht tut, dann grinst er dich schief an. »Zum Beispiel bespreche ich hier mit meinen Spionen meine nächsten Schlachtpläne.«

Darauf ziehst du eine Braue hoch und gluckst sarkastisch. »Alles klar«, sagst du nur.

Er winkt dich zu sich und du sinkst auf den Stuhl neben ihm, breitest schließlich deine Biologiehausaufgaben auf seinem monströsen Schreibtisch aus. Eigentlich hast du gedacht, dass du dafür Internet brauchen würdest, oder eines der tausenden von Büchern in diesem Raum, aber auf diese Aussage wirkt er fast empört. Er wisse das auch so, behauptet Rasiel pikiert, und erklärt dir schließlich, dass Botulinustoxin die Freisetzung von Acetylcholin im synaptischen Spalt blockiert, wodurch das in den synaptischen Bläschen bleibt und das Aktionspotenzial nicht vom Endknöpfchen über die Rezeptoren in die postsynaptische Membran geleitet werden kann.

Du hast zwar kein Wort verstanden, aber jedes mitgeschrieben, um in der nächsten Biostunde damit anzugeben. Gnädigerweise sagt er dann noch, dass das einfach bedeutet, dass der Stoff die Muskeln zum Erschlaffen bringt und schon eine winzige Dosis zum Tod führen kann. »Mit Giften kenn ich mich aus«, fügt er vielsagend hinzu – obwohl es für dich natürlich überhaupt nicht vielsagend ist, weil du wieder mal nicht weißt, worauf er hinaus will.

Er schaut dir auch bei deinen restlichen Hausaufgaben über die Schulter. Buchstäblich. Irgendwann steht er von seinem Stuhl auf und stellt sich hinter deinen, und jedes Mal, wenn er dir etwas erklärt, greift er dicht an deinem Körper vorbei und spricht, während sein Gesicht direkt neben deinem ist. Hin und wieder wird dir ziemlich warm und du bist dir sicher, dass deine Wangen sich mehr als einmal blassrosa verfärben, aber entweder fällt es ihm nicht auf, oder er spricht dich nicht darauf an – wofür du ziemlich dankbar bist.

Letztendlich verbringt ihr noch eine ganze Weile in diesem schallisolierten Raum, den Rasiel aus irgendwelchen Gründen zwischendurch »das zwölfte Zimmer« nennt. Deine Hausaufgaben sind für deine Verhältnisse ziemlich schnell erledigt, und dann fahrt ihr damit fort, euch über Gott und die Welt zu unterhalten, über deine Mutter, ihren Freund, kurz sogar über deinen Ex-Freund, aber dann wechselst du lieber das Thema und fragst ihn über seinen Bruder aus. Über den erzählt er dir nicht wirklich viel, nur, dass sie wohl langsam eine Spur von ihm haben. Und Rasiel meint, dass er sich sicher ist, sein Zwilling wird sich freuen, ihn zu sehen. Den Optimismus findest du erfrischend.

Zwischendurch bringt euch eines der Dienstmädchen (die Rasiel gegenüber noch immer seltsam distanziert sind) warmes Essen, und als du die Residenz wieder verlässt, bist du satt und ziemlich zufrieden. Die Sonne geht bereits unter, als du zu Hause ankommst, empfängt dich deine Mutter mit einem ungewohnt warmen Lächeln und scheint ehrliches Interesse daran zu haben, wo du warst. Nach ein paar Minuten findest du heraus, dass ihr Freund nicht da ist, daran liegt es wohl. Aber das ist dir jetzt egal. Du erzählst ihr fröhlich, dass du den Mittag bei einem sehr netten Kumpel verbracht hast, machst dir jedoch eine gedankliche Notiz, dass dir diese Bezeichnung für Rasiel eigentlich nicht gefällt.

Deine Mum freut sich für dich, deine Hausaufgaben sind erledigt, du bist entspannt und hast das starke Gefühl, dass die Pechsträhne von letztem Jahr sich endgültig zur Glückssträhne gewandelt hat.

Du irrst dich.
 

In der folgenden Zeit vergeht kein Tag, an dem du nicht bei Rasiel bist. Manchmal bleibst du nur zwanzig Minuten, manchmal fürs Essen, manchmal mehrere Stunden. Deine Mitarbeitsnoten schießen in die Höhe, deine Mutter freut sich, dass du mal wieder »unter Leute« kommst, die Welt ist schön. Er hilft dir jedes Mal bei den Hausaufgaben, ihr seid jedes Mal in dem schallisolierten Raum, von dem du herausgefunden hast, dass er »das zwölfte Zimmer« ist, weil das Haus offiziell nur elf Zimmer hat und dieses etwas … geheim ist. Das findest du aufregend.

Rasiel bringt dich zum Lachen und zum Vergessen. Meistens sitzt ihr nah beieinander und es passiert dir immer öfter, dass du dich plötzlich an ihn gelehnt und in seinen Armen wiederfindest.

Okay, vielleicht bist du doch ein wenig verknallt. Ein klitzekleines Bisschen.

Es ist mittlerweile Mitte Februar und einige Grad über Null. Du hast früh Schulaus und bist auf dem Weg zu Rasiel. Eigentlich hast du keine Hausaufgaben, heute waren sie alle gnädig, aber du wirst ihn trotzdem besuchen. Dann habt ihr eben mal nichts zu tun. Vielleicht könnt ihr ja … was anderes tun. Vorerst freust du dich auf das warme Essen, das immer von irgendwelchen Sterneköchen zubereitet wird und somit regelmäßig zum Highlight deines Tages mutiert.

Der Rucksack ruht locker auf deinen Schultern, ist nicht viel drin, und du schlenderst gut gelaunt die Gasse entlang. Der Straßenbau hier ist noch typisch italienisch. Es ist alles aus Stein, aus großen, grauen Fragmenten, und die Straßen sind eng und leer. In dieser schmalen Allee bist du völlig allein.

Zumindest denkst du das. Aber nicht mehr lang.

Du hörst nicht einen einzigen Laut. Keine Schritte, kein Atem, kein Rascheln von Kleidung. Wer immer sich dir nähert, tut das völlig still. Du bemerkst es erst, als du einen Luftzug in deinem Nacken spürst. Und willst du es im ersten Moment noch als Windstoß abtun, meldet sich direkt darauf deine Intuition.

Abrupt bleibst du stehen, siehst vorsichtig über die Schulter. Ein Lächeln breitet sich auf deinem Gesicht aus, Rasiel?, willst du schon sagen – als dir auffällt, dass das nicht Rasiel ist.

Die Gesichtszüge sind gleich. Die frappierende Ähnlichkeit rührte wohl von der Tatsache, dass ihre Gesichter so ähnlich sind und dieser Kerl seine hellblonden Haare bis über die Augen trägt. Aber sie sehen anders aus, sie sind völlig durcheinander, und seine Kleidung ist nicht halb so formell wie die von Rasiel. Du siehst einen schwarz-lila gestreiften Pullover und denkst spontan, dass Rasiel sowas wohl nie anziehen würde.

Aber die Krone – diese Krone…

»Was…«, setzt du irritiert an, weiter kommst du nicht.

Schmerzhaft fest schließen sich Finger um dein Handgelenk, deine Füße verlieren den Boden unter ihnen und du stolperst, fliegst kurz durch die Luft, bis du die Wand hinter dir spürst. Unangenehm drückt sich der Rucksack in deinen Rücken, aber das interessiert dich nicht groß. Der Schock sitzt tiefer. Mit weit aufgerissenen Augen starrst du deinem Gegenüber entgegen, den Mund fragend geöffnet, und suchst nach Worten.

Schließlich greift er auch dein anderes Handgelenk und presst beide unerbittlich neben deinem Körper gegen die raue Wand. »Was zur Hölle plant er?«

Seine Stimme ist gesenkt und bedrohlich, und auch sie unterscheidet sich von der Rasiels. Sie ist viel leiser, und so eindeutig unheilvoll. Außerdem wirkt sie aufgebracht. Als sei er wütend. Und du weißt einfach nicht, was das soll – ist das ein Scherz? Versucht der angebliche Prinz vielleicht, dir aus Spaß einen Schrecken einzujagen? Wenn ja, findest du das überhaupt nicht lustig. Das Herz schlägt dir bereits jetzt bis zum Hals, schwer schluckend versuchst du, dich zu beruhigen, jedoch vergeblich.

»Ich…«, stammelst du. »Ich weiß nicht, was…«

Und plötzlich verstehst du. Die Ähnlichkeit – natürlich, warum bist du da vorher nicht drauf gekommen? Es ist doch offensichtlich, verdammt. Du schüttelst innerlich den Kopf über dich, während deine Stimme versucht, wieder zu Kräften zu kommen.

»Du bist Rasiels Bruder«, hauchst du schließlich heiser.

La camera dodicesima II

Das zwölfte Zimmer II
 

Der schlimmste Schmerz sitzt in deinen Armen. Es ist auch der einzige, den du wahrnimmst, weil er sich bis zu deinen Schulterblättern zieht, dort in das Kratzen in deiner Kehle übergeht und von dort aus schließlich direkt deinen ganzen Verstand zu lähmen scheint, obwohl das natürlich körperlich nicht wirklich möglich ist. Aber so etwas ist dir im Moment vollkommen egal.

Es ist, als bestünde die ganze Welt nur noch aus drei Faktoren. Du, Rasiels Bruder, dessen Namen du nie erfahren hast, und Angst. Deine Umwelt ist wie aufgelöst, du siehst nur noch ein paar unscharfe Umrisse, die dich nicht im Geringsten interessieren. In deinem Fokus liegen nur noch sein Gesicht, deine Angst und die Schmerzen.

Sie beginnen in deinen Fingerspitzen, weil sein Griff um deine Handgelenke so fest ist, dass ihnen das Blut abgedrückt wird. Das Gefühl verlässt sie nach und nach, aber noch pochen sie unangenehm und du spürst sie pulsieren, als seien sie viel breiter als es eigentlich möglich ist. Dir kommt der Gedanke, dass sie bestimmt absterben können, wenn er diese Position noch eine Weile lang halten kann, und instinktiv glaubst du, dass dieser Mensch damit kein Problem hätte.

Direkt darunter sitzt das widerliche Kratzen an deinem Handrücken, der noch immer gegen die raue Wand hinter dir gedrückt wird und wahrscheinlich längst wundgerieben ist. Ein wunder Handrücken ist momentan aber deine kleinste Sorge.

Die Angst lässt dich verkrampfen. Du vergisst immer wieder, zu atmen, deine Lunge fühlt sich an, als sei sie nur noch höchstens faustgroß, deine Kiefer schmerzen, weil du sie permanent aufeinanderdrückst, und auch hier sitzt der heftigste Krampf in deinen Armen, die du von den Halsbeugen bis in die Handgelenke anspannst.

Rasiel hat dir nie viel über ihn erzählt. Dass es ihn gibt, und dass er von zu Hause weggelaufen ist. Dass er immer ein wenig das schwarze Schaf war. Aber im Moment erinnerst du dich vor allem an eine Aussage:

»Er reagiert häufig etwas über«, sagt Siel, über die Korrektion deiner Mathehausaufgaben gebeugt, »und eigentlich ist er zu irre, um da draußen frei rumzulaufen.«

Du weißt jetzt, dass er es ist. Seit du es ausgesprochen hast, bist du dir völlig sicher, dass der Mann dir gegenüber Rasiels entlaufener Zwillingsbruder ist. Du weißt allerdings nicht mehr, ob es klug war, dieses Wissen auszusprechen.

Sein Gesicht scheint dir völlig ausdruckslos. Hättest du die Nerven dazu, könntest du sehen, dass auch er die Zähne zusammengebissen hat. Aber das fällt dir nicht auf, dir kommt nicht in den Sinn, dass auch er angespannt ist – du kennst ihn nicht, du weißt nicht, dass das überhebliche Grinsen fehlt, und dass der ganze gutgelaunte Hochmut aus seiner Haltung gewichen ist.

»Oh, wow«, antwortet er schließlich trocken auf deine Feststellung, der Sarkasmus beißt sich mit der scharfen Drohung in seiner Stimme. »Wir haben hier ja noch ein Genie.«

Du hast absolut keine Ahnung, was er dir damit mitteilen möchte, dein IQ befindet sich in diesem Moment auf dem Stand einer ausgetrockneten Birne. Dich interessiert nur noch, wie du aus dieser Situation fliehen kannst. Rasiels Worte kreisen unerbittlich in deinem Kopf und werden mit jeder Runde lauter, dieser Kerl soll wahnsinnig sein, dieser Kerl soll unberechenbar sein und du verstehst einfach nicht, was er von dir will. Du weißt nicht, wozu er fähig sein könnte, aber so, wie er momentan aussieht, traust du ihm einiges zu. Viel zu viel.

»Bitte«, fiepst du mühsam. Dein Brustkorb ist wie zugeschnürt, jeder Atemzug schmerzt. Irgendwo hast du das Gefühl, dass du überreagierst, dennoch bangst du um dein Leben. »I-Ich weiß nicht, was… Bitte lass mich los!«

»Du weißt nicht, was ich meine«, raunt er, schwankt zwischen Feststellung und Frage, und du starrst ihn aus großen Augen an. Dass du seine Augen nicht sehen kannst, verunsichert dich ungemein. Vielleicht könnten sie dir Aufschluss darüber geben, wie wahnsinnig er tatsächlich ist.

Irgendwo in deinem Hinterkopf, nur ganz zart, merkt jemand an, dass es bei Rasiel doch genauso ist.

Er hebt den Kopf etwas an und atmet lang durch die Nase ein und wieder aus. Wie es aussieht, sammelt er sich. Du weißt nicht, ob das gut ist oder nicht. Du weißt gar nichts mehr.

»Dann erklär ich’s dir eben.« Der Griff um deine Handgelenke lockert sich und überwältigende Erleichterung will sich in dir breitmachen – bevor er umso stärker wieder aufgenommen wird und du einen leisen, erschrockenen Schmerzenslaut von dir geben musst. »Das verfickte zwölfte Zimmer«, zischt er. »Was erzählt er dir da drin?«

Überfordert blickst du gegen die chaotische, hellblonde Haarpracht und völlig aus dem Zusammenhang gerissen kommt dir der Gedanke, dass er dich bestimmt innerlich auslacht, weil du die ganze Zeit zentimeterweit an seinen Augen vorbeiglotzt. »N-Nichts«, bringst du mühsam hervor. Dein Sprachzentrum scheint auf Autopilot geschaltet zu haben und dafür bist du unglaublich dankbar, denn du siehst dich nach wie vor nicht in der Lage, nachzudenken. »W-Wir sitzen da nur und… und essen, und…« Selten wirkte etwas so unpassend, aber du wirst tatsächlich rot. »Er hilft mir bei den Hausaufgaben…«

Einige Sekunden lang ist es völlig still zwischen euch. Niemand regt sich. Du atmest flach, sodass es dir fast selbst überhaupt nicht auffällt und du dich wunderst, warum du noch nicht erstickt bist. Irgendwoher weißt du, dass er dich anstarrt. Dass er nachdenkt. Dass er versucht, abzuwägen, ob er deinen Worten Glauben schenken kann, und zum ersten Mal in deinem Leben betest du. Wenn sein Bruder schon ein Genie ist, kann er doch auch nicht ganz dämlich sein, er muss dir doch ansehen, dass du die Wahrheit sagst, er muss doch merken, dass du keine Ahnung hast, worauf er hinauswill.

Du hast eigentlich eine Ahnung, die sich aber eben nur darauf bezieht, dass er eindeutig wahnsinnig ist und sich möglicherweise einfach nur irgendetwas einbildet.

Er kommt dir näher. Sein Atem streift deine Wange und fühlt sich an, als hinterließe er gigantische Brandnarben. »Das zwölfte Zimmer«, sagt er leise, und so langsam, als seist du ein begriffsstutziges Kleinkind, »ist ein abgelegener, schallisolierter Raum, der besser gesichert ist als das beschissene Weiße Haus. Er wurde gebaut, um lästigen Spionen zu entgehen, weil niemand ohne Befugnis durch diese verdammte Tür kommt. Nichts, was dort drin besprochen wird, dringt nach außen, es ist die perfekte Umgebung für Pläne, die niemand kennen soll, das zwölfte Zimmer ist ein verfickter Geniestreich und du erzählst mir, er hilft dir da drin bei den Hausaufgaben?«

Du kannst nicht antworten. Was sollst du schon sagen? Es ist die Wahrheit – auch wenn du nicht wusstest, dass dieser Raum tatsächlich so gut abgesichert ist. Aber letztendlich hast du hier ja mit einem Irren zu tun, vielleicht sind es auch nur irgendwelche Verschwörungstheorien, die nicht einmal wahr sind. Also schweigst du, siehst ihn nur weiterhin an und bettelst mit deinem Blick.

Deine Fingerspitzen sind taub. Das fällt dir erst auf, als er von deinen Handgelenken ablässt und seine Handflächen stattdessen links und rechts von dir gegen die Wand stemmt, während deine Arme von ganz allein langsam absinken. Sein rechter Mundwinkel zuckt. Das hältst du für ein sehr schlechtes Zeichen und denkst, dass es vielleicht langsam Zeit ist, dich mit deinem Tod oder zumindest lebenslanger Verstümmelung abzufinden.

»Bist du Italienerin?«, fragt er tonlos.

Du nickst mechanisch.

»Hast du irgendwas mit der Mafia zu tun?«

In den ersten Sekunden hättest du fast laut gelacht. Dann kehrt die Angst wieder und du schüttelst einfach nur den Kopf.

Sein anderer Mundwinkel zuckt jetzt ebenfalls, bis du ein entrücktes, schiefes Grinsen auf seinen Lippen erkennen kannst. »Woher kennst du Siel?«, fragt er und dir fällt auf, dass er seinen Namen ausspricht, wie andere Leute Scheiße oder Abschaum sagen.

»Er hat mich an Silvester beschützt und dann zu sich eingeladen«, hörst du dich heiser flüstern. Alles funktioniert automatisch. Du willst nur noch überleben und hier weg. Dein Herzschlag schmerzt in deinem Hals.

Er gibt ein Schnauben von sich, das wütend und amüsiert zugleich klingt. Dann schüttelt er den Kopf – und stößt sich von der Wand ab. »Er hat mich verarscht«, stellt er fest, sieht dich noch einen Moment an und dreht sich dann um, während er ausladend mit den Schultern zuckt. »Er hat mich verarscht!«

Und im nächsten Moment wirbelt er herum, es geht so schnell, dass du es nicht einmal schaffst, zusammenzuzucken. Er dreht sich um hundertachtzig Grad und in der gleichen Bewegung schnellt sein Arm nach vorn, ein Surren zerreißt für Sekundenbruchteile die Luft und dann steckt etwas neben dir in der Wand, in der Steinwand, etwas aus Metall, das noch immer vibriert und vor sich hin summt, und in deinem Unterbewusstsein wird dir klar, dass ein Messer dich gerade um wenige Zentimeter verfehlt hat. Es steckt genau neben deinem Kopf, exakt auf Augenhöhe. Du siehst es nicht an, erkennst es nur am äußersten Rand deines Blickfeldes und starrst weiter dein Gegenüber an, der mittlerweile wieder die Hände in den Taschen seines Mantels hat und da steht, als habe er sich überhaupt nicht vom Fleck bewegt.

Dann grinst er. Und sein Grinsen ist dem Rasiels so ähnlich, dass du schreien möchtest. »Hau ab«, sagt er. Seine Stimme klingt anders, nicht mehr wütend. Du erkennst den Hinterhalt sofort, weil er nicht versucht, ihn zu verstecken. »Geh zurück zu ihm. Sieh mich nicht so an, ich töte dich nicht. Ich will, dass du zu ihm gehst und ihm sagst, dass ich weiß, was er vorhat. Und dass er es sich in den Arsch schieben kann. Los, geh, sag ihm das. Sag ihm, die Zeiten haben sich geändert.«

Du erwiderst nichts. Du funktionierst nur noch. Du atmest ein, du atmest aus. Du wendest den Blick von ihm ab, löst dich von der Wand, richtest deinen plattgedrückten Rucksack und verlässt die Gasse. Du mischst dich in die Menschenmenge auf der Hauptstraße und fällst niemandem auf. Die Lähmung hält viel länger, als du jemals gedacht hättest.
 

»…und dass die Zeiten sich geändert haben.« Du musst dich räuspern, dein Mund fühlt sich an wie die Sahara. Zum ersten Mal wagst du es, trotz der Übelkeit in deiner Magengrube einen Schluck vom warmen Kakao in deinen Händen zu nehmen. »Rasiel, was…«

Er sitzt rechts von dir in einem Sessel, der identisch zu dem ist, in dem du mit angezogenen Beinen und einer Decke um die Schultern kauerst, hat den rechten Fußknöchel auf das linke Knie gelegt, die Arme verschränkt und sich zurückgelehnt. Zum ersten Mal seit Langem weißt du nicht, wo er hinsieht, sein Gesicht ist ausdruckslos und mit der Erkenntnis, dass er nicht einmal ansatzweise grinst, wird dir noch schlechter.

»Was heißt das…?«

Nun dreht er den Kopf zu dir und auf seinen Zügen erscheint ein seltsames Lächeln, das du noch nie vorher gesehen hast. »Es heißt, dass wir jetzt sicher wissen, dass er hier ist«, sagt er ruhig. »Und dass wir uns darum kümmern können. Es ist alles in Ordnung.«

Alles in Ordnung. Dir ist zum Heulen zumute, aber das schaffst du noch nicht. Es wird später soweit kommen, aber vorerst ist dein Verstand noch viel zu paralysiert dafür. Es ist alles in Ordnung, meint Siel. Sie kümmern sich darum. Sie finden ihn und ziehen ihn aus dem Verkehr. Es ist alles in Ordnung.

Du ziehst die Beine enger an deinen Körper und klammerst dich an der warmen Tasse fest, als sei sie dein Leben. »Er hat mir so Angst gemacht«, sagst du leise.

Rasiel steht vom Sessel auf und lässt sich stattdessen auf der Armlehne neben dir nieder. Er legt einen Arm um deine Schultern und drückt dich an sich und du schließt die Augen und atmest angestrengt ein und aus.

»Ach, Bel«, sagt er. Du willst automatisch fragen, ob das sein Name ist, aber er lässt dir keine Zeit. »So war er schon immer. Mach dir keine Sorgen. Ich regel das alles und er wird dir nie wieder etwas tun.«

Du nickst geschlagen und glaubst nicht, dass er lügt. Du siehst ja auch nicht, wie er über deinen Kopf hinweg zu dem Mann im Türrahmen, zu Orgelt, blickt, und sich mit dem Daumen der freien Hand quer über die eigene Kehle fährt. Du siehst nicht, wie Orgelt nickt und geht. Du siehst auch nicht, wie sehr Rasiel sich zusammenreißen muss, um nicht zu lachen.

Du vertraust. Ein allerletztes Mal.

Ordinazione

Auftrag
 

Flupp. Fump? Flapp. Nein, zack. Oder eher zapp? Vielleicht etwas ohne Vokale. Sssp. Ffffpmmm. Oh. Das ist gut. Ffff für den Moment, in dem es durch die Luft fliegt, p für den Moment, in dem es in der Wand stecken bleibt, und mmm für den Moment, in dem es noch vibriert.

Wenn Belphegor ein Messer in die Wand wirft, macht es also Ffffpmmm. Das war wichtig, herauszufinden.

Wie es wohl klingt, wenn er es in Frans Hut wirft? Bel würde es gern ausprobieren, es wäre eine willkommene Ablenkung, damit er nicht weiter über seinen Bruder nachdenken muss. Es muss ganz anders klingen, weil der Stoff des Huts nicht vergleichbar ist mit dem Material der Wand, weshalb für gewöhnlich auch das nachträgliche Vibrieren der Messer ausbleibt.

Aber Fran ist nicht hier. Der Idiot hat sich mal wieder irgendwohin verzogen, jedenfalls ist er nicht hier im Aufenthaltsraum, dabei wäre er in diesem Moment einmal in seinem Leben nützlich.

Stattdessen ist Lussuria hier, liegt auf einem der großen Sofas und blättert in einer Zeitschrift, von der Belphegor gar nicht wissen will, welche Abartigkeiten die nun wieder behandelt. Fakt ist, dass Luss es fertig bringt, immer dann behindert zu kichern, wenn Belphegors Gedanken zu Rasiel abdriften, und das macht es dann noch schlimmer.

Er hat sich reinlegen lassen. Die Erkenntnis nagt schwer an ihm, aber er kann es einfach nicht abstreiten. Er hat sich reinlegen lassen, von seinem halbtoten, vernarbten, irren Kakerlakenbruder.

Dass es Rasiel auffallen wird, wenn er dieses hässliche Anwesen beobachtet, das war ihm von vornherein klar. Sein Bruder ist nicht dumm (nicht in dieser Hinsicht) und wenn es um Kriegsführung geht, ist es schwer, ihm etwas vorzumachen. Deshalb hat Bel erst gar nicht versucht, zu vertuschen, was er tat. Das wäre nur sinnlos und lächerlich gewesen. Aber beobachten musste er ihn trotzdem. Rasiel beobachtet ihn ja auch. Sie brauchen jede Information, die sie kriegen können, und ob sie die nun offensichtlich oder heimlich bekommen, ist eigentlich egal.

Die Brüder haben schon immer mit offenen Karten gekämpft. Ihnen blieb nie etwas anderes übrig – weil jeder den anderen durchschaut.

Zumindest im Regelfall. Diesmal hat Belphegor irgendwie geschlafen, und das ist peinlich, und der Gedanke daran, wie Rasiel nun dort sitzt und über ihn lacht, treibt ihm sein Mittagessen zurück in den Rachen.

Das dämliche zwölfte Zimmer. Bel kann sich noch genau erinnern, wie er und Siel ihrem Vater über die Schulter sahen, als er diese Räume in jedem ihrer vielen Anwesen erbauen ließ. Bel selbst rechnete dafür das meiste aus. Siel lachte über ihn, weil er »Fußvolk-Arbeit« erledigte, aber Belphegor scherte sich nicht darum. Hin und wieder hat er sich schon immer gern die Finger schmutzig gemacht.

Er hat gesehen, wie Rasiel dich immer und immer wieder mit in dieses Zimmer nahm. Er hat nicht gewusst, wer du bist. Er hat versucht, es herauszufinden, aber der einzige Erfolg, den er dabei erzielt hat, klang zunächst sinnlos.

Jetzt nicht mehr.

Du bist ein ganz normales Mädchen. Tatsächlich bist du einfach nur irgendein Kind aus Italien, das von Rasiel benutzt wird und zu beschränkt ist, um es zu bemerken.

Belphegor ärgert sich über dich, damit er sich nicht über sich selbst aufregen muss.

Eine Finte. Eine gigantische, dumm grinsende Finte. Siel nahm dich ständig mit in diesen Raum, in dem sonst nur wichtige Leute, Spione und Kriegsführer saßen, und du warst da drin, um Belphegor auf eine falsche Fährte zu führen. Damit er sich lächerlich macht. Damit er falsche Schwerpunkte setzt und womöglich viel zu früh einschreitet.

Und er ist einfach darauf reingefallen.

»VOOOOOOIII!«

Und jetzt lässt man ihn nicht einmal in Ruhe darüber nachdenken, wie er seinen Bruder zur Rache lynchen kann. Womit hat er das verdient?

»Wo zur Hölle ist der Rest?«

»Woher soll ich das wissen?«, keift Belphegor und wirft ein weiteres Messer in die Wand, das fast bis zum Anschlag darin verschwindet. »Ist es nicht dein Job als Kommandant, über die Truppe Bescheid zu wissen?«

»VOOOI – Wenn du sterben willst, dann sag das einfach, Grinsefresse!«

»Komm doch her und versuch’s –«

»Habt euch lieb, Kinder«, sagt Luss zu seiner Zeitschrift und blättert um. »Außerdem grinst Bel-Chan heute gar nicht, irgendwas stimmt nicht mit ihm.«

Squalo schnaubt. »Macht sich wahrscheinlich Sorgen um seinen Schwulettenbruder, die Witzfigur.«

Bel versteift sich von oben bis unten. Wer ist hier die verfickte Witzfigur?, will er sagen, aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Stattdessen bewegt sich sein Arm, so schnell, dass scharfer Schmerz von seinem Ellenbogen bis hoch in die Schulter zuckt, doch er ist jetzt nicht in der Position, sich darum zu scheren. Das Messer hat Squalos Gesicht knapp verfehlt, weil er seinen Kopf rechtzeitig zur Seite bewegt hat. Dennoch hat es zwei oder drei lange, silberne Haare mitgenommen und eindrucksvoll an die geschlossene Tür hinter ihm gepinnt.

Belphegor kauert auf dem Sessel, zwischen seinen Fingern blitzen weitere Messer auf. Er ist bereit zum Angriff, das Gesicht verzerrt vor Anspannung und Wut, was jedoch nichts ist im Vergleich zu Squalos aufgebrachtem Knurren, dessen Schwertspitze wenige Zentimeter über dem Boden völlig stillhält.

Einen Sekundenbruchteil lang starren sie einander an, abwartend, berechnend, dann schlägt Lussuria die Zeitschrift auf den Sofatisch. Das die Stille zerreißende Geräusch ist so unpassend, dass sowohl Belphegor als auch Squalo zusammenzucken und irritiert die Köpfe zur Seite drehen.

»Jetzt lasst euch endlich in Ruhe«, sagt Luss in seinem besten Nanny-Tonfall. »Das führt doch zu nichts. Wieso bist du überhaupt hier, Squ-Chan?«

Für einige Augenblicke starrt Squalo den Sonnenwächter an, als wisse er nicht einmal, wer er ist, dann gibt er ein leises Schnauben von sich und knallt einen hellbraunen A4-Umschlag auf den Tisch. »Wir haben so ‘nen saudummen Auftrag bekommen«, brummt er. »Lächerlich einfach, gibt aber ‘nen Haufen Zaster, also wird wohl irgendein Haken dran sein. Deswegen soll sich einer von euch Pappnasen die Scheiße mal ansehen.«

»Dass du immer so viel fluchen musst…«, murmelt Lussuria in einen leisen Seufzer, während er sich nach vorn beugt, um die Papiere aus dem unbeschrifteten Umschlag zu zupfen. Er überfliegt das Deckblatt und neigt den Kopf etwas, bevor er deinen Namen vorliest.

»Sagt mir nichts.«

»Mir aber«, hört Belphegor sich sagen, bevor die Information überhaupt in seinem Kopf angekommen ist. »Gib her.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, zieht er die Blätter zu sich. Wohin die Messer in seiner Hand verschwunden sind, könnte er in diesem Moment selbst nicht sagen, er hat längst auf Autopilot geschaltet. Bel muss nachdenken.

Es besteht kein Zweifel. Dein Name, deine Personalien, deine Adresse, sogar die Adresse deiner Schule. Ein Foto ist beigefügt, auf dem du vor der Haustür sitzt und deine Schuhe bindest, und dennoch wurde dein Aussehen bis ins kleinste Detail beschrieben. Auch deine Eltern sind erwähnt, mit dem Vermerk, dass sie nicht zu verschonen sind, sollten sie einschreiten – was eine ziemlich unnötige Anmerkung ist, wenn man es sowieso schon mit der Varia zu tun hat.

Stirnrunzelnd hebt Bel den Kopf. »Haben wir ein Bild des Auftraggebers?«

»Liegt bei, du Volltrottel«, faucht Squalo gereizt, woraufhin Belphegor nur das Gesicht verzieht und sich wieder den Unterlagen zuwendet.

Die Auftraggeber fügen nie von selbst ein eigenes Foto bei, sie geben sich der utopischen Annahme hin, sie blieben anonym. Aber die Varia forscht immer nach, sie wollen wissen, wer ihnen da etwas unterjubeln will. Immerhin stehen sie schon weit genug in der Schusslinie.

Das unterste Blatt ist ein farbig ausgedrucktes Bild eines hässlichen Mannes mit farblosem Bürstenschnitt und einer blassen Narbe in der Unterlippe. Bel weiß nicht, ob er es zerfetzen oder einrahmen sollte. Es regt ihn auf, aber gleichzeitig ist es die perfekte Gelegenheit.

»Das ist einer von Siels Leuten«, sagt Bel.

»Häh?«, macht Squalo.

»Mein Bruder«, fügt er hinzu und klingt wie immer, als müsse er die Worte Silbe für Silbe auswürgen. »Mein Bruder hat den Auftrag gegeben.«

Von Lussuria kommt ein leises »Oooh«, während Squalo nur verständnislos das Gesicht verzieht. »Warum sollte er sowas machen? Er weiß doch, dass du hier bist, oder?«

Belphegor zuckt mit den Schultern und legt alle Papiere offen nebeneinander auf den Tisch. Ihm darf nichts entgehen. »So, wie ich ihn kenne«, antwortet er dabei, »tut er das aus Spaß.«

Squalos irritierter Blick weicht nicht; Lussuria kichert. »Ihr seid euch ähnlich«, behauptet er.

»Sind wir nicht«, sagt Bel ruhig. Er ist nicht mehr aufgebracht. In seinem Kopf reift ein Plan.

»Freaks«, schnaubt Squalo leise, bevor er sich mit der rechten Hand durch den langen Pony fährt. »Vooooi – dann übernimm meinetwegen den dämlichen Auftrag.«

»Gut«, sagt Belphegor – und damit kehrt endlich das breite Grinsen zurück auf seine Züge. Er rafft die Unterlagen wieder zusammen, schiebt sie zurück in den Umschlag und steht auf. »Ich sorg dafür, dass wir die Kohle bekommen, und ich die Kakerlake loswerde.«

Der Ausdruck in Squalos Gesicht ist mittlerweile fast grotesk angewidert; die plötzliche Zuversicht nervt ihn – weil sie genau das bedeutet, was direkt darauf passiert: Auf dem Weg aus dem Zimmer bleibt Bel neben ihm stehen und feixt zu ihm hoch. »Und lern endlich mal, Genie richtig auszusprechen«, sagt er. »Du sagst immer Freak, das heißt was ganz anderes, Dummkopf.«

Lussurias Glucksen und Squalos durchaus beeindruckend lange Beleidigung überhört der Prinz einfach, während hinter ihm die Tür ins Schloss fällt und er sich auf den Weg zum Froschkopf macht.

Illusione

Illusion
 

Die Nacht ist schwarz. Gewitterwolken versperren die Sicht auf Sterne und Mond, bewegen sich jedoch kaum vom Fleck, da das Gewitter selbst auf sich warten lässt. Die ebenso schwarzen Wipfel der Bäume kannst du gegen den dunklen Himmel nur sehen, weil du nun schon seit einer Stunde hier liegst und hinausstarrst.

Deine Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Du bist todmüde.

Aber du kannst nicht schlafen.

Irgendjemand ist da draußen.

Du weißt nicht, wer es ist, und du willst auch keine Panik schieben. Es ist einfach nur so ein Gefühl, dass dort draußen noch jemand ist. Du könntest nicht einmal sicher sagen, dass dieser Jemand ausgerechnet dich beobachtet, so weit willst du eigentlich nicht gehen. Du glaubst einfach nur, zu wissen, dass sich irgendwo auf der Straße vor eurem Haus jemand befindet, der dort nicht hingehört – und das schon seit mindestens einer halben Stunde.

Du würdest wirklich gern schlafen, statt dir nur selbst Angst zu machen – aber du hast deine Begegnung mit Rasiels Bruder noch nicht vergessen. Und du wirst den Gedanken nicht los, dass es er ist, der da draußen lauert.

Wie sich in der nächsten Minute herausstellt, hast du Recht. Es geht alles verdammt schnell, so schnell, dass du nicht einmal einen letzten klaren Gedanken fassen kannst.

Du drehst dich auf die Seite, mit dem Gesicht zu deiner Zimmertür, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie aufgeht. Erst siehst du nur einen Umriss und begehst den gleichen Fehler wie beim ersten Mal: Rasiel!, denkst du, und dann – Nein. Bel. Dir fällt die Frisur auf. Der fehlende Fellkragen. Und diese Körperhaltung, die einfach nicht stimmt. Und dann fällt dir auf, dass du verloren bist.

Du reißt die Augen auf, schnappst nach Luft und windest dich kurz unter deiner Bettdecke, bevor du es schaffst, dich aufzusetzen; erst dann fühlst du dich fähig, zu schreien – aber da ist es schon zu spät.

Aus deiner Kehle dringt lediglich ein armseliger, gedämpfter Laut, den niemand hören wird außer dir und ihm. Seine Hand liegt fest auf deinem Mund und mit einem Ruck, von dem dir schwindelig wir, drückt er dich zurück in dein Kissen. Deine Arme schnellen nach vorne, du umklammerst sein Handgelenk und starrst fassungslos in das Gesicht, von dem du in der Dunkelheit nur flüchtig einen Pony und ein paar missmutig verzogene Lippen erkennen kannst. Du strampelst, du trittst nach ihm und Tränen treten in deine Augen, doch alles, was daraufhin passiert, ist eine Verstärkung des Drucks, den seine Hand ausübt. Im nächsten Moment pressen sich Daumen und Zeigefinger derselben Hand auf deine Nase und nehmen dir deine letzte Möglichkeit, zu atmen, und das ist der Punkt, an dem die Panik verhindert, dass du noch irgendetwas mitbekommst.

Du siehst nicht, wie Bels freie Hand in seinen Mantel greift. Du bemerkst nicht, wie er das Messer zieht und damit ausholt. Und zu deinem eigenen Glück spürst du auch nicht, wie die Klinge in der folgenden Sekunde deine Kehle durchtrennt.

Blut benetzt dein Kissen, das Laken und die Wand hinter deinem Bett. Noch immer starrst du Belphegor aus großen Augen an, zuckst, gurgelst unter seiner Hand – und stirbst. Bel richtet sich auf, entfernt langsam seine Finger aus deinem Gesicht, und sieht still zu dir hinab. Blind versenkt er das Messer zwischen deinen Blutspritzern in der Wand – er muss seinem Bruder ein Zeichen setzen, dass er hier war. Dann schnaubt er, verächtlich, und wendet sich ab.

Dieser Auftrag pisst ihn an, weil er genau weiß, dass er von Rasiel kam, aber nicht weiß, was er davon halten soll. Deshalb grinst er nicht, obwohl die Arbeit getan ist. Und deshalb verlässt er den Tatort nicht wie sonst auf irgendeine spektakuläre Art durch das Fenster und über die Dächer, sondern einfach ungesehen durch die Haustür.
 

Zumindest ist es das, was Rasiel sieht.

In Wahrheit bist du an diesem Abend nicht einmal bis zu deinem Bett gekommen. Du warst erst mit einem Fuß im Bad und hattest keinerlei Ahnung, dass du nicht allein warst, als du nur noch einen dumpfen Schlag irgendwo an deiner Rückseite spürtest. Deinen eigenen Aufprall bekamst du schon nicht mehr mit.

Der Rest war Frans Sache.
 

Das erste, was du spürst, ist der ziehende Schmerz in deinem Nacken. Danach wird diese Erkenntnis von einer viel angenehmeren abgelöst: Du merkst, dass du weich liegst. Sehr weich. Du fühlst dich müde, wie erschlagen eben, und der erste klare Gedanke, den du fassen kannst, ist, dass du hier liegen bleiben und weiterschlafen willst.

Aber natürlich wirst du direkt darauf aus diesen ruhigen Gedanken gerissen.

»Na, endlich. Hast ja lang genug geschlafen.«

Du fragst dich, woher Rasiels Bruder überhaupt weiß, dass du wach bist. Und dann fällt es dir auf: Rasiels Bruder.

Du bist bei Rasiels Bruder.

Die Panik ist von einer Sekunde auf die andere da, wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Du öffnest die Augen und setzt dich mit einem Ruck auf, von dem dir schlecht wird, ziehst die Beine an und automatisch verkrampft sich dein Körper, als dein Blick ihn gefunden hat: Bel sitzt auf einem breiten Stuhl, hat einen Ellenbogen auf seinen Nachttisch und das Gesicht in seine Hand gestützt, und betrachtet dich mit einem Ausdruck eher minderen Interesses.

»B-Bel«, bringst du mühsam hervor, ohne es wirklich selbst zu registrieren.

»Belphegor«, korrigiert er ruhig. »Ich heiße Belphegor.«

Das wusstest du nicht. Rasiel hat ihn fast nie beim Namen genannt, erst, als du ihn schon selbst getroffen hattest. Dann hat er immer nur »Bel« gesagt und du hattest wirklich andere Sorgen, als ihn zu fragen, ob das ein Spitzname ist.

Du findest, dass der Name gefährlich klingt. Du hast Angst.

Während dein Körper zu zittern beginnt, siehst du dich um. Das Zimmer irritiert dich maßlos und macht dir deshalb nur noch mehr Angst, obwohl du es in normalem Zustand bestimmt unterhaltsam gefunden hättest.

Die Wände sind in bravem Weiß gestrichen, hin und wieder hängen große Blätter daran, auf denen Dinge gekritzelt sind, die du nicht erkennen kannst, und sie sind alle mehrfach mit Messern durchbohrt, die du schon einmal gesehen hast. Aber du versuchst, nicht an dieses »schon einmal« zu denken. Außerdem siehst du überall verwaschene Flecken, hellere und dunklere, zwischen den Blättern. Wüsstest du, dass Bel dort hin und wieder aus einer Laune heraus Blut an die Wände geschmiert hat, würdest du jetzt vielleicht wieder wegtreten.

Den Boden kannst du überhaupt nicht sehen. Nicht einen Zentimeter – er ist voll mit Kleidung, Messern, Papier und – du glaubst es kaum – Konsolenspielen. Wo sich die Konsole selbst befindet, kannst du nicht feststellen, aber das interessiert dich im Moment auch nicht im Geringsten. Deine Augen liegen auf dem Chaos am Boden, der nur aus schwarzen Hosen, gestreiften Oberteilen, beschrifteten Mappen und CDs zu bestehen scheint. Diese blanke Unordnung reicht, um dich an den Rand der Verzweiflung zu treiben, weil sie dir auf Anhieb zeigt, wie sehr sich Bel von seinem Bruder unterscheidet. Bei Rasiel ist es immer ordentlich, sauber und aufgeräumt, du weißt, wie er es hasst, wenn etwas herumliegt und damit nicht seinen Regeln folgt. Dieser Raum hier sieht aus wie Rasiels Alptraum und ist somit automatisch auch dein Alptraum. Denn Belphegor ist offensichtlich das völlige Gegenteil von Rasiel. Und Rasiel war immer sehr gut zu dir.

»Was…« Dein Mund und deine Stimmbänder bewegen sich bereits, als du deinen Kopf noch drehst und ihn langsam, noch immer so lähmend fassungslos, zurück zu Bel drehst. »Wirst du…«

»Nein«, antwortet er, bevor dein Verstand die Frage überhaupt fertig formulieren konnte. »Ich werd dich wieder nicht töten, hast Glück. Wenn du dich auch nur halbwegs geschickt anstellen kannst, hab ich Verwendung für dich.«

Du schluckst, dann steht dein Mund wieder offen, deine Lippen sind trocken, aber das bemerkst du nicht. Langsam, aber sicher, beginnt dein Kopf wieder, zu arbeiten, du starrst Bel an und starrst ihn an und verstehst irgendwann und starrst ihn weiter an. Verwendung. »Ver-… Verwendung…?«

Belphegor kichert. Ein eiskalter Schauer läuft deinen Rücken herunter, du schüttelst dich und das scheint ihn noch mehr zu amüsieren. Plötzlich wirkt er Rasiel wieder ähnlich, und es ist egal, ob das der Fall ist oder das Gegenteil, beides ist für dich einfach nur wahnsinnig unheimlich. Du kannst nicht glauben, dass dieser Mensch Rasiels Bruder ist. Du kannst nicht glauben, dass diese jungen Männer tatsächlich verwandt sind.

»Richtig, Verwendung«, wiederholt er und nickt. »Ist ganz einfach, ich werd hin und wieder bei dir vorbeisehen und dann erzählst du mir, was mein Bruder so treibt. Wenn das gut klappt, werd ich dir auch nicht wehtun. Wahrscheinlich. Und dann werden wir beide den kleinen Schleimscheißer los und du wirst nie wieder etwas von mir hören. Klingt doch überraschend fair, oder nicht?«

Du findest, dass das tatsächlich überraschend fair klingt, nach allem, was du von Belphegor gehört und selbst erlebt hast. Irgendwo ist also ein Haken. Wahrscheinlich in diesem »Wahrscheinlich« nach seinem halbherzigen Versprechen, dir nicht wehzutun. Und in der Tatsache, dass er Rasiel »loswerden« will.

»Wirst… Willst…« Dir ist schlecht, du kannst nicht auf das antworten, was er eigentlich gesagt hat, du musst Übelkeit und einen gigantischen, trockenen Kloß in deinem Hals herunterschlucken, um weitersprechen zu können. »Willst du ihn töten…?«

Belphegor gluckst, als hättest du ihn gefragt, ob das Gras grün ist. »Natürlich will ich ihn töten«, sagt er. Natürlich will er Rasiel töten. Das Gras ist grün und natürlich will er seinen Bruder töten.

Träge kriechen deine Gedanken zurück an den Tag, an dem du Rasiel zum ersten Mal getroffen hast. Silvester. Neujahr. Ihr habt bei ihm gesessen und geredet, über eure Vorsätze fürs neue Jahr, über eure Erwartungen und Vorhaben. Rasiel erzählte zuerst nur, dass er Dinge zu erledigen hatte, unfertige Dinge. Dann erzählte er, er wolle seinen Bruder suchen, hier in Italien. Weil sein Bruder abgehauen war und er ihn nun wieder mal sehen wollte, mit ihm reden wollte. Obwohl er ein schwieriger Kerl und irre sei. Er wollte mit ihm reden. Das hatte er dir gesagt.

»Er wollte dir nur eine Aussprache anbieten«, sagst du kleinlaut, starrst Bel aus ängstlichen Augen gegen die undurchdringliche Haarmähne. Sehr wohl hast du den Gedanken im Hinterkopf, dass dich solche Aussagen möglicherweise das Leben kosten können, aber das Ganze erscheint dir so unglaublich ungerecht, dass du es einfach loswerden musst. Nach allem, was Rasiel dir über ihn und Bel erzählt hat, wollte er einfach nur der nette Bruder sein und die Wogen glätten. Und Bel … will ihn umbringen. Warum auch immer. Weil er wahnsinnig ist.

Das Amüsement ist so schnell aus Belphegors Gesicht gewichen, dass du erschrickst. Vom Grinsen ist nichts mehr übrig und er sieht dich einige Momente einfach nur still an. Du kannst seine Augen nicht sehen, sein Blinzeln, wie perplex du ihn gemacht hast. Dann fängt er sich, dann neigt er den Kopf auf die Seite, schmunzelt erst, grinst dann wieder und kichert leise. »Hat er dir das etwa gesagt? Eine Aussprache anbieten will er mir? Kommt nach Italien, lässt seine hässlichen Vollidioten nach mir fahnden und alles beobachten, um mit mir zu reden, ja? Und, hat er dir auch gesagt, worüber er mit mir reden will?«

Du atmest ein und wieder aus. Du drückst den Rücken etwas durch, bleibst im großen, weichen Bett sitzen und siehst ihn tapfer an. Natürlich ist er skeptisch. Er ist vor Jahren von zu Hause abgehauen und nicht ganz richtig im Kopf. Natürlich glaubt er dir nicht. Aber du glaubst Rasiel. Noch.

»N-Nicht direkt«, antwortest du wahrheitsgemäß. »Er meinte… Er meinte, er wolle … einige Dinge mit dir klären…Weil er… E-Er hat gesagt, er hätte es schade gefunden, dass du damals gegangen bist.«

Bel schnaubt. Es klingt belustigt, aber nur zur Hälfte. »Ja, das hat er, das hat er schade gefunden«, meint er und klingt nicht mal sarkastisch, was dich nur noch mehr irritiert. Glaubt er dir nun oder nicht? »Was hat der Arschkriecher denn noch so erzählt? Hat er auch erwähnt, warum ich gegangen bin?«

Kurz senkst du den Blick, beißt dir auf die Unterlippe und zwingst dich, ihm wieder ins Gesicht zu sehen. »Darüber wollte er nie reden«, sagst du leise.

»Darüber wollte er also nie reden«, sagt Bel sofort und lacht und du zuckst zusammen. Sein Lachen ist kalt, aber nicht humorlos, er scheint das wirklich lustig zu finden, nur auf eine Art und Weise, die dir alles andere als geheuer ist.

»Hör mal«, fängt er an und nennt deinen Namen. »So heißt du doch, richtig?« Du nickst und glaubst, dass die Frage unnötig war und er nickt auch und du glaubst, dass er sich gern bestätigen lässt. »Siel hat dir wahrscheinlich erzählt, dass ich der böse Bruder bin, das schwarze Schaf, das abgehauen ist. Stimmt soweit. Kann ich unterschreiben. Aber so wie’s aussieht, hat er dir ja auch erzählt, ich sei hier der einzige Irre. Siel ist nicht hier, um mit mir zu reden. Siel ist nicht hier, um irgendwas mit mir zu besprechen oder mir eine verfickte Aussprache anzubieten. Siel ist hier, um sich an mir zu rächen. Siel ist hier, um mich zu töten.«

Rasiel tötet keine Menschen. Das ist dein erster Gedanke. Dann kommen die nächsten. Siel hat Butler, die auf sein Kommando hin eine ganze Truppe ausgewachsener Betrunkener verprügelt. Siel hat ein schallisoliertes Zimmer mitten in seinem gigantischen Anwesen. Und du hast dir schon mehr als nur einmal gedacht, dass Siel nicht alle Tassen im Schrank hat.

Aber das reicht nicht. Du glaubst Belphegor nicht, weil du ihm nicht glauben willst. Dümmlich steht dein Mund offen, du schüttelst zaghaft den Kopf.

»Hat er dir gesagt, dass ich irre bin?«, fragt Bel unverblümt. Du nickst. Er nickt auch. Schon wieder. Das ist dir unheimlich. »Stimmt. Bin ich. Das Wichtige daran ist nur, dass er auch irre ist. Wie das mit Zwillingen so ist, nicht wahr? Ich blond, er blond – ich irre, er irre. Wir sind beide Psychopathen, frag mich nicht, wieso. Liegt wahrscheinlich in den Genen. Und wenn wir miteinander klargekommen wären, wäre das kein Problem gewesen. Aber wir haben uns von Anfang an gehasst.« Belphegor zuckt mit den Schultern, und du weißt sofort, dass er in diesem Punkt lügt. »Einfach so. Ohne Grund. Wir haben uns gehasst, also haben wir uns geprügelt. Und es ist jedes Mal ein bisschen mehr ausgeartet. Also hab ich ihn eben irgendwann aufgeschlitzt.«

Er spricht in einem Tonfall, als erzähle er dir von dem Marmeladenbrot, das er gefrühstückt hat, und dein Mund klappt noch weiter auf und du stierst ihn an und willst aufspringen und wegrennen, an ihm vorbei und raus aus der Tür, von dir aus kannst du auch aus dem nächsten Fenster klettern und einfach runterfallen, Hauptsache, du kommst weg von diesem Kerl. Aber du kannst dich nicht bewegen.

Er hat ihn irgendwann aufgeschlitzt.

»Hat ihm nicht so gefallen«, fährt Belphegor fort, er hat den Kopf etwas gesenkt und scheint seine Fingernägel zu betrachten und du willst ihm die Augen auskratzen, sollte er welche haben. »Und dem Rest auch nicht. Und weil er mich seitdem auch aufschlitzen will, bin ich lieber abgehauen. Das ist eigentlich bis heute der Stand der Dinge. Ich bin hier und Siel will mich tot sehen. Und ich will ihn genauso tot sehen. Nichts Aussprache. Wir haben noch nie viel von Reden gehalten. Wir warten nur noch auf den Moment, in dem wir einander zerreißen können. Und dich hat er nur benutzt, um näher an diesen Moment zu kommen.«

Du kneifst die Augen zu, es fällt dir schwer, die ganze Information schnell genug zu verarbeiten, dein Kopf schmerzt, als habe Belphegor ihn mehrmals gegen die Wand geschlagen, statt einfach nur mit dir zu sprechen, und das Schlucken tut dir weh. »Ich habe nichts mit… mit dieser Sache zwischen euch beiden zu tun«, sagst du heiser. Du zitterst immer noch. Dir ist kalt und heiß gleichzeitig und du hast selbst keine Ahnung, wie das funktionieren soll. Es ist einfach so. Die Welt um dich herum ist wie in Watte gepackt, alles dringt durch eine dicke Schicht Schaum zu dir hindurch, und das ist nicht halb so angenehm wie es sein sollte.

Belphegor grinst so breit und so schief und so ähnlich wie sein Bruder, dass dir für einen Sekundenbruchteil schwarz vor Augen wird. »Mehr als du denkst«, sagt er leise. »Vielleicht warst du am Anfang nur Zeitvertreib für ihn, da bin ich nicht sicher. Vielleicht hat er sich Informationen durch dich erhofft. Ist eigentlich egal. Auf jeden Fall hat er vor einer Weile damit angefangen, dich als Köder zu benutzen.« Er zuckt die Achseln. »Dummerweise bin ich für einen kurzen Moment darauf hereingefallen, aber das macht nichts. Fakt ist, dass er dich benutzt hat, um ein gewisses Ziel zu erreichen, was ihm auch gelungen ist. Und Fakt ist auch, dass er dich deshalb nicht mehr braucht. Und dass er deshalb den Auftrag gegeben hat, dich zu töten.«

Töten.

Du wünschst dir, er würde ein anderes Wort gebrauchen und nicht immer dieses. Du fährst beim Klang des Wortes buchstäblich zusammen, weil er es nun in Verbindung mit dir benutzt hat.

Töten.

Dich töten.

»Aber…«, stammelst du, deine Stimme brüchig und fremd, ohne zu wissen, was du sagen willst. »Aber wenn er mich nicht mehr bräuchte, dann… Er… Er k-…«

»…könnte dich einfach gehen lassen?«, vollendet Bel deinen Satz und du glaubst vage, dass du das vielleicht ausdrücken wolltest. »Stimmt schon. Du bist niemand Wichtiges, niemand Großes. Keiner aus der Familie, weder aus seiner, noch aus meiner. Eigentlich bist du nur ein stinknormales Gör, er könnte sich einfach von dir abwenden, wenn er genug von dir hat. Aber ich hab’s dir ja gesagt. Siel ist irre. Siel sucht immer Unterhaltung, denn wir Psychopathen hassen die Langeweile. Sie macht uns noch schlimmer. Und es wäre viel zu öde für ihn, dich einfach zurückkehren zu lassen in dein normales Leben, wenn du deinen Zweck erfüllt hast. Er will die Welt zerbröckeln sehen, er will dich brennen sehen. Also lässt er dich töten. Ohne großen Sinn. Weil du sonst eben eventuell im Weg stehen und nerven könntest. Er will, dass du stirbst, damit er sich daran aufgeilen kann, einfach so. Glaub mir. Ich weiß, wie er tickt, ich kenne ihn. Immerhin bin ich sein Bruder.«

Es ist merkwürdig, wie er den letzten Satz ausspricht. Es fällt dir direkt auf. Mit Spott, mit Ablehnung, mit Ekel. Es passt nicht zum Rest, nicht zum Klugscheißern, zur Schadenfreude. Irgendetwas stimmt in dieser Bruderbeziehung nicht, gewaltig. Aber das war dir schon vorher klar. Und jetzt ist es dir ziemlich schnuppe.

»Du hast ihn lang nicht mehr gesehen«, flüsterst du, deine letzte Verteidigung.

Bel kichert, zieht langsam die Schultern hoch und lässt sie wieder sinken. »Wir sind Zwillinge«, meint er – wieder diese Abscheu, diese Verachtung im Unterton. »Hin und wieder sind wir uns verdammt ähnlich.«

Du beißt dir auf die Lippe, dein Kopf raucht. Dir gehen die Argumente aus und das verunsichert dich. Du willst nicht, dass Bel Recht hat, egal womit, aber je länger du darüber nachdenkst, desto mehr sieht es danach aus.

Du sitzt im Bett eines Psychopathen, du hast absolut keine Ahnung, wie du hier überhaupt hingekommen bist und wo genau du dich befindest, du hast fürchterliche Angst und hast schon wieder vergessen, was Belphegor mit dir vorhat (statt dich zu erinnern, dass er dich noch »verwenden« will, gehst du längst wieder davon aus, dass du hier sterben wirst, weil das einfach besser passt), und du kannst nicht wirklich klar denken. Das ist dein letzter Strohhalm. Ein großer Teil deines Verstandes schenkt Belphegors Worten Glauben, und der ganze Rest in deinem Kopf sagt, dass das jetzt in Ordnung geht, weil du eben verwirrt bist. Sobald du zurück bei Rasiel bist, überzeugst du dich wieder vom Gegenteil und die Welt ist wieder so heil und fair, wie du gedacht hast.

Aber jetzt, für den Moment, kannst du dich nicht gegen Bels Worte wehren. Und du musst daran denken, wie oft dir Rasiel suspekt vorkam. Du hast es verdrängt, natürlich, weil es viel mehr Momente gab, in denen er dir nicht suspekt vorkam, aber dein Unterbewusstsein hat es immer geahnt, und dein Unterbewusstsein vergisst nichts und hat jetzt jeden dieser Augenblicke parat, um sie dir mit einem spöttischen Ich hab’s dir ja gesagt zu präsentieren.

Da war immer etwas, was du nicht verstanden hast. In seiner Stimme, in seinen Gesten, in seinen Blicken, ja, auch in denen. Du hast nie sehen können, wo sie hingehen, aber du hast es erahnen können, mit der Zeit immer besser, und dann waren da seine Gesichtsausdrücke, das Grinsen, das Kichern, das Lachen, jedes flüchtige Lächeln. Alles hatte immer diesen Beigeschmack, der dir aufgefallen ist, ganz leicht, ganz leise, und den du totgeschwiegen hast, weil du ihn eh nicht identifizieren konntest.

Hättest du dich ein bisschen mehr angestrengt, und hättest du dich nicht so Hals über Kopf in deinen Ritter mit der Krone verknallt, hättest du diesen Beigeschmack längst identifiziert. Aber das wollen wir dir nun nicht ankreiden, du hast genug Probleme.

Der Beigeschmack heißt Lüge. Manchmal schmeckte er auch ein bisschen wie Hinterhalt, wie Boshaftigkeit, Vor- oder Schadenfreude, und hin und wieder schmeckte er einfach nur wie Da ist noch mehr, aber du sagst es mir nicht. Denn auch das ist Lügen. Oh ja, hier ist es wie vor Gericht. Dinge zu verschweigen ist auch eine Falschaussage.

Dass Rasiel seinen eigenen Bruder töten will, dass er dich von vorn bis hinten über den Tisch gezogen und ausgenutzt hat, das glaubst du noch nicht. Noch nicht so richtig. Vielleicht ziehst du es in Erwägung, aber du glaubst es nicht. Was du mittlerweile jedoch zugibst, ist, dass Rasiel einen gewaltigen Dachschaden haben muss. Denn wenn du einfach nur diesen Glauben als Tatsache nimmst, ergibt plötzlich alles viel mehr Sinn. Seine seltsamen Äußerungen, die du nicht verstehen konntest. Seine Gesten, sein Kichern, seine undurchdringlichen Untertöne. Alles, was sich dir nie erschließen konnte, ist absolut kein Rätsel mehr, wenn du annimmst, dass er schlicht und einfach verrückt ist.

Und dann kann es sein, dass Bel Recht hat. Und dann kann es sein, dass er dich umbringen lassen will. Einfach so.

»Wieso bin ich noch nicht tot?«, hörst du dich hauchen.

Das Grinsen ist wieder da, und es ist unglaublich breit, und wenn er keine Ohren hätte, denkst du, würde er im Kreis grinsen, und dann hättest du fast laut und hysterisch losgelacht, aber du kannst dich gerade noch zurückhalten. Dieser Wahnsinn ist ansteckend und das Letzte, was du willst.

»Hab doch gesagt, ich hab Verwendung für dich«, sagt Bel. Dann beugt er sich zur Seite und in dir wächst der Impuls, über seinen Rücken hinweg zu springen und aus der Tür zu stürmen, nur für einen Sekundenbruchteil, dann ist er wieder weg. Du siehst dabei zu, wie er am Boden einen seiner gestreiften Pullover zur Seite schiebt und eine Mappe darunter hervorzieht, als habe er ganz genau gewusst, dass sie sich an diesem Punkt des Chaos befindet. Er lässt einen kleinen Haufen Blätter aus der Mappe in seine Handfläche fallen, bevor die leere Mappe selbst einfach wieder auf den Boden segelt. »Also«, sagt er geschäftig, und es klingt geschauspielert, weil es nicht zu ihm passt. »Wenn dir danach ist, kannst du hier alles nachlesen. Seinen ganzen Wahnsinn, sozusagen. Na ja, oder zumindest einen guten Auszug davon. Das hier ist der Auftrag an uns, dich zu töten. Wir, das sind ich und der Rest. Meine Kollegen. Erklär ich dir vielleicht später mal, ist jetzt nicht wichtig. Jedenfalls hat mein Bruder uns damit beauftragt, dich um die Ecke zu bringen, was ein ziemlicher Witz ist, aber das bestätigt ja auch nur, was ich dir schon gesagt habe.« Belphegor legt dir die Blätter in den Schoß, dein Kopf ist leer, als er aufsteht, siehst du automatisch zu ihm hoch. »Ich geh jetzt für ‘ne Weile raus. Lies dir das Zeug solang durch, wenn dir danach ist. Und denk darüber nach, ob du mir meinen kleinen Gefallen tun willst oder nicht. Ich komm später wieder und frag dich nochmal, und wenn du richtig antwortest, kannst du gleich wieder nach Hause.« Er dreht sich um, fischt aus dem für dich absolut undurchsichtigen Durcheinander einen langen schwarzen Mantel und streift ihn sich umständlich über. »Ach ja, du solltest nicht vor diese Tür treten, außer du willst jetzt schon sterben, aber dann kannst du mir das auch einfach sagen.«

Er wartet wohl noch eine Antwort ab, aber du willst definitiv nicht sterben, also sagst du nichts und siehst dabei zu, wie er geht. Dann blickst du zu den Blättern in deinem Schoß. Und dann beginnst du, zu weinen.
 

Sobald du wieder sehen kannst, liest du dir alles durch, was Belphegor in deinen Schoß hat fallen lassen. Die Gänsehaut will nicht weichen, sie reicht von deinen Haarwurzeln bis zu deinen Zehenspitzen und lässt dich verkrampfen. Du zitterst wie Espenlaub, atmest durch den Mund und kriegst dennoch nicht genug Luft, weil sich deine Lunge anfühlt, als sei sie so groß wie ein Stecknadelkopf. Die Papiere sind eine Abhandlung über deine Person. Dein Geburtsdatum, die Orte, wo du dich aufhältst, wenn du nicht bei Rasiel bist, deine Hobbys, all deine Schwächen und deine mickrigen Stärken, die natürlich keinem Killer in die Quere kommen. Da ist ein Foto von dir, wie du vor der Tür sitzt und deine Schuhe bindest und du hast absolut keine Ahnung, wer dieses Foto wann von dir gemacht haben soll. Und am schlimmsten ist dieser Vermerk, dieser Vermerk über deine Eltern, dass sie kein Problem darstellen sollten, und dass sie ruhig auch sterben können, wenn es gerade in den Kram passt. Dein ganzes Leben steht auf diesen Blättern, und direkt darauf folgt eine vorlaute, breit grinsende Erlaubnis, es in einem Zug auszulöschen. Komplett. Das Foto, über dem »AUFTRAGGEBER« steht, zeigt nicht Rasiel, aber du erkennst den Mann mit der hässlichen Bürste auf dem Kopf und der Narbe im Gesicht. Du weißt, dass er bei Rasiel arbeitet, du weißt nur nicht, was genau er da tut. Aber du weißt, wie sich Rasiels Angestellte verhalten, diese Leute haben keine eigene Meinung, diese Leute spuren. Es kann natürlich sein, dass er von allein darauf kam, dass du sterben sollst, und von sich aus den Auftrag gegeben hat. Aber das glaubst nicht einmal mehr du.
 

Als Belphegor wiederkommt, kannst du nicht mehr weinen. Du fühlst dich müde und willst hier einfach umfallen und in dem großen, wundervollen Himmelbett schlafen, egal, ob Bel hier ist oder nicht. Du willst hier schlafen, bis alles vorbei ist, bis die beiden wahnsinnigen Brüder sich gegenseitig umgebracht haben und du dir wieder belanglose Sorgen über deine Mutter und deinen Ex-Freund machen kannst.

Du hast die Blätter zurück in den Umschlag gestopft und als Bel fragt, ob du ihn behalten willst, schüttelst du nur wortlos den Kopf. Du glaubst, dass alles fest in deinem Kopf sitzt und nie mehr dort hinausgehen wird. Du glaubst, dass diese Papiere das letzte sein werden, was du siehst, wenn du irgendwann die Augen schließt und stirbst.

Belphegor schiebt die Hände in seine Manteltaschen und fragt dich, ob du noch weißt, welche Verwendung er für dich haben könnte. Du nickst. Er fragt, ob du »dabei« bist. Du zögerst. Dein Blick gleitet ab zu den Messern, die in der Wand stecken. Dein Nacken schmerzt wieder. Als du zurück zu ihm siehst, grinst Bel, als könne er deine Gedanken lesen. Du nickst wieder.

Er scheint sich zu freuen, flötet ein leises »Gut« und sprengt dir dann endgültig das Hirn weg. Er erzählt dir, dass du dich gerade auf Sizilien befindest und ein Flieger und ein Wagen bereitstehen, die dich zurück nach Hause bringen. Bis vor deine Haustür – was eine gewaltige Strecke ist. Du bekommst Bruchstücke wie »Meine Mutter…« und »Wie lange war ich…« heraus, er winkt ab und lehnt sich an die Wand. Das haben sie alles geregelt, meint er. Es sei alles perfekt. Rasiel würde denken, du seist tot, der ganze Rest würde denken, es wäre alles in Ordnung. Deine Mutter habe dich heute früh aufstehen und zur Schule gehen sehen, deine Lehrer und Freunde hätten dich dort getroffen und niemandem sei etwas aufgefallen. Und du kämst genau rechtzeitig nach Hause, um deiner Mutter weiszumachen, du hättest gerade Schulaus.

Du solltest nach Hause gehen und deinen Schock verarbeiten, sagt er. Es widert dich an, wie Recht er mit dieser Einfühlung hat.

Der Gedanke, dass Rasiel dich nun für tot hält, ist unheimlich. Du hast nicht den Hauch einer Ahnung, wie diese ganze Illusion vor deiner Mutter, deinen Lehrern und deinen Freunden funktioniert haben soll (dass es tatsächlich eine Illusion war, weißt du natürlich nicht), aber du willst nicht darüber nachdenken. Du kannst es nicht einmal. Stumm arbeitest du dich aus dem Bett heraus, lässt dich von Belphegor durch die Flure eines gigantischen Anwesens leiten, das du dir nicht ansiehst, kletterst in das kleine Flugzeug und fliegst durch halb Italien nach Hause.

Und auch, wenn du es selbst nicht glauben kannst, lebst du einfach weiter.

Inferno

Hölle
 

Es ist, als sei nichts passiert. Du sitzt beim Frühstück und starrst deine Mutter an, du sitzt im Unterricht und starrst deine Lehrer an, du sitzt in der Pause und starrst deine Freunde an, und nun sitzt du im Bus und starrst die Welt an.

Wie sie sich einfach weiterdreht.

Du findest das unglaublich faszinierend. Du bist entführt worden, niedergeschlagen und gekidnappt, und jetzt wirst du erpresst und musst dich nebenher fragen, ob der Mann, in den du dich verguckt hast, vielleicht ein Wahnsinniger ist, der dich töten will. Und dennoch passiert nichts. Du sitzt hier und sitzt eben hier, atmest ein und wieder aus, blinzelst, isst, trinkst und lebst. Und alle anderen auch.

Dein gesamtes Leben steht Kopf, aber die Welt interessiert das nicht, die Welt ist so wie immer und dreht sich und dreht sich, und vielleicht liegt es daran, denkst du, dass dir so schwindelig ist. Schon die ganze Zeit. Weil die Erde sich weiterdreht, du dich aber nicht, weil du aufgehört hast, dich mit zu drehen und nun mittendrin stillstehst. Natürlich wird einem da schwindelig.

Du bist aus dem Flugzeug gestolpert und direkt darauf in einen Wagen gestiegen, der dich bis in deine Straße gefahren hat. Die letzten Meter bist du allein gelaufen, damit deine Mutter den Wagen nicht sieht, das wusstest du, irgendwie wusstest du das. Und dann kamst du heim und es gab Mittagessen und deine Mutter hat dich gefragt, wie es in der Schule war, und du hast gesagt, wie immer, und hättest gerne darüber gelacht. Dann bist du ins Bad gegangen und hast das Mittagessen wieder rausgekotzt, und den restlichen Tag hast du damit verbracht, auf deinem Bett zu sitzen und zu starren, bis du dich hingelegt hast und einfach so eingeschlafen bist.

In der Schule hat dich niemand gefragt, wo du gestern warst. Sie haben mit dir geredet, als seist du da gewesen, und du hast akzeptiert, dass sie das vielleicht wirklich denken. Wieso auch immer. Du weißt ja auch nicht, woher die gemachten Hausaufgaben in deinem Rucksack kommen. Alles, was mit Belphegor zusammenhängt, ist unerklärlich, und du belässt es dabei.

Du steigst aus dem Bus aus und versuchst, nach Hause zu gehen, aber es klappt nicht. Mechanisch schlägst du den Weg zu Rasiels Anwesen ein.

Du hast wirklich gedacht, was du gesehen hast, würde dich abhalten. Du hast wirklich gedacht, diese Akte über deinen eigenen Tod würde dir, Detail um Detail, im Gedächtnis bleiben und dich daran hindern, wieder zu ihm zu gehen.

Aber du hast dich geirrt. Du hast nicht bedacht, wie gern du ihn hast und wie nett er zu dir war. Du wolltest erst dann wieder zu ihm gehen, wenn es deine »Abmachung« mit Belphegor nicht mehr anders erlaubt, und hier stehst du nun, einen Tag später, und hasst dich dafür, dass du so verknallt bist.

Wie immer macht dir eins der Dienstmädchen auf und zum ersten Mal glaubst du, ihren abschätzigen Blick zu verstehen. Wenn Rasiel wirklich so ist, wie du befürchtest, bist du ein ganz schöner Idiot, hier ständig wieder aufzukreuzen. Genau das müssen sie denken. Und genau das denkst du langsam auch.

Du trittst trotzdem ein. Die Macht der Gewohnheit.

»Er ist noch oben und arbeitet«, sagt die junge Frau neben dir tonlos. »Aber ich sag ihm gleich Bescheid, du kannst dich schon mal –«

Sie spricht noch weiter, aber der Rest ihres Satzes verschwindet einfach, weil im selben Moment die Welt untergeht.

Der Teil von dir, der alles in Zeitlupe beobachtet, findet es lustig, wie verzögert ihr reagiert. Sie steht noch da und redet weiter und du stehst noch da und siehst sie an, obwohl du kein Wort mehr verstehst, obwohl die Erde unter euren Füßen buchstäblich zu beben beginnt.

Und dann begreift ihr.

Der belustigte Zuschauer in dir wird mitgerissen und zu Boden getrampelt und im nächsten Sekundenbruchteil ist es, als habe er nie existiert. Du strauchelst, du strauchelst im Stehen und klammerst dich aus purem Reflex am nächstbesten Türrahmen fest. Deine Ohren klingeln noch immer von der unglaublichen Explosion über euren Köpfen, die bis runter in deinen Bauchnabel nachvibriert, als du direkt vor dir einen spitzen Schrei wahrnimmst.

Das Dienstmädchen konnte ihre Balance nicht halten, vor deinen Augen geht sie zu Boden, als habe jemand ihr Rückgrat gekappt, und du kannst nur dastehen und erschrocken keuchen und starren und keuchen. Irgendetwas bröckelt von der Decke herunter. Das ganze verdammte Haus bebt. Und dieses Geräusch, dieser ohrenbetäubende, gigantische Schlag –

Und dann ist es vorbei.

Der Aufruhr hat nur zwei Sekunden gedauert, vielleicht drei. Für einen Augenblick ist es erdrückend still, dann ertönen gedämpfte Schritte über euren Köpfen, und Rufe, die du nicht verstehen kannst.

Mechanisch schluckst du den Kloß in deinem Hals herunter, beugst dich etwas hinab und hältst der jungen Frau am Boden eine Hand hin. »I-Ist alles in Ordnung?«, fragst du. Deine Stimme zittert fast so sehr wie deine Knie.

»Geht schon«, murmelt sie, während sie ungelenk aus ihren hohen Schuhen schlüpft. Danach greift sie deine Hand, ihre Finger sind eiskalt, aber deine wahrscheinlich auch, und zieht sich auf die Beine.

»Was war das?«, hörst du dich flüstern.

»Es kam von oben…«, antwortet sie, stirnrunzelnd blickt sie zur Decke, von der noch immer feiner Staub rieselt, und dann kannst du beobachten, wie sie etwas versteht, was du nicht verstehst, und ihre Gesichtszüge langsam entgleisen.

»Rasiel«, haucht sie. Ihre Finger gleiten aus deiner Handfläche, ihre Strümpfe rutschen über den Boden, und dann läuft sie. Du stehst da und blickst ihr perplex nach, und dann begreifst du und rennst hinterher.

Rasiel ist oben, hat sie gesagt. Und diese Erschütterung, was auch immer das nun war, kam ebenfalls von oben.

Ihr sprintet die Treppen hoch, nehmt zwei der mit Samt überzogenen Stufen auf einmal, auf der Hälfte kommt euch einer der Butler entgegen, der erst wirkt, als wolle er euch etwas sagen, es aber dann wohl doch zu eilig hat, und dann kommt ihr im ersten Stock an und du wärst fast rücklings wieder umgekippt und die Treppe heruntergefallen. Doch du läufst weiter, ignorierst diesen unglaublichen Geruch, der dir entgegenschlägt, in die Nase und deine Lungen eindringt und sich anfühlt, als würde er nie wieder weichen. Es riecht nach Staub, nach Dreck und nach Rauch, nach verbranntem Haar und verbrannter Haut, und es riecht nach Blut und nach Tod, und es ist diese Mischung, die dich denken lässt, dass genau so die Hölle riechen muss.

Das Dienstmädchen bleibt in einem Türrahmen stehen, doch du hättest das Zimmer auch ohne sie gefunden. Ein hektischer Mitarbeiter mit blutigen Händen rennt hinein und gleich wieder heraus, du hörst jemanden gehetzt fluchen – und vor allem hörst du Rasiels heiseres, schmerzerfülltes Stöhnen.

Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, schiebst du dich an der jungen Frau vorbei und stürzt in den Raum, registrierst die zerborstenen Fenster und die zerbröckelte Wand, ohne dich groß umzusehen, und fällst neben dem am Boden liegenden Prinzen auf die Knie.

»Rasiel«, ist das einzige, was du herausbringst. »Scheiße, Rasiel.«

Dir gegenüber, auf seiner anderen Seite, kniet einer der Bediensteten, sein Jackett liegt neben ihm, er hat die Ärmel hochgekrempelt und er hält Rasiels Kopf in einer Hand. Die andere hält etwas, was aussieht wie ein Leintuch, und drückt es gegen seine Schläfe, und du denkst, dass das so furchtbar lächerlich ist, weil er nicht nur dort blutet, sondern überall.

Überall.

»W-Wieso hilft ihm denn niemand?«, stammelst du. Du willst deine Hände an seine Schultern legen, zuckst jedoch zurück, weil er kalt ist und weil er zittert. »Wo ist der Rest?«

»Das ganze Stockwerk wurde attackiert, fast alle sind verletzt und e-ein paar sind tot«, sagt der junge Butler dir gegenüber hektisch und tupft unbeholfen über Rasiels Schläfe, als Rasiel einen erstickten Laut von sich gibt. »Wir versuchen Ärzte kommen zu lassen, aber aus irgendwelchen Gründen sind die alle außer Reichweite…«

»Bel…«, bringt Rasiel heraus, seine Stimme nicht mehr als ein halbtotes Kratzen, und du erschauderst. »Miese … Ratte…«

Es erschließt sich dir, ohne dich zu überraschen. Belphegor hat angegriffen. Genie gegen Genie – und es steht eins zu null.

Du beißt die Zähne zusammen. Du hast nicht das Gefühl, als hättest du nachgedacht, du hast nicht einmal das Gefühl, als funktioniere dein Hirn, aber irgendwie ist trotzdem alles klar. Du bist klar – klarer als du es in den letzten Stunden und Tagen je warst, und nur für diesen Moment. Es ist nötig und es funktioniert.

Du siehst auf, registrierst, dass das Dienstmädchen schon wieder verschwunden ist, akzeptierst es, und wendest dich an den jungen Mann. »Geh du auch nach Ärzten suchen«, sagst du fest, ohne selbst zu wissen, wie du das schaffst. »Sorg dafür, dass einer kommt, verdammt. Ich halt die Blutung hier in Schach. Ich kann das, ich weiß, was zu tun ist. Aber ihr müsst Ärzte holen.«

Er sieht dich an, er glaubt dir, er lässt das Leintuch los und steht auf und geht, und du hast gelogen. Du weißt nicht, was zu tun ist, du hast nur eine Ahnung, weil du dich flüchtig an deinen Erste-Hilfe-Kurs erinnern kannst, aber du weißt, dass Rasiel blutet, und du weißt, dass das Blut gestoppt werden muss und dass es da nicht viele Möglichkeiten gibt.

Während du den Bediensteten die Treppe herunterrennen hörst, nimmst du das Leintuch in die Hand und beginnst damit, es in Streifen zu reißen. Als du glaubst, dass du genug hast, ziehst du deinen Pullover aus, knüllst ihn zusammen und legst ihn behutsam unter Rasiels Kopf, und plötzlich spürst du, dass er dich ansieht.

Zur bereits erschreckenden Mischung aus Kraftlosigkeit und Tod in seinem Gesichtsausdruck schleicht sich ein schwacher Hauch Perplexität. »Du…«, macht er, und dann spricht er stockend deinen Namen aus und lässt ihn wie eine Frage klingen. Du antwortest nicht. Jemand in deinem Hinterkopf will dir sagen, dass er dich laut Belphegor bis eben für tot gehalten hat, aber du vergisst es, du vergisst es.

Du schiebst sein zerfleddertes Hemd beiseite und suchst nach Wunden, du verbindest alles, was du finden kannst, mit den schlechten Streifen aus Stoff, auf den Rest legst du deine provisorischen Verbände, so, dass du hoffst, dass sie das Blut wenigstens ein wenig stillen, und dann rutschst du wieder zu seinem Kopf, hältst ihn mit einer Hand und drückst den letzten Rest Leinen gegen die kleine Wunde an seiner Schläfe. Zwischen ihr und den Haarsträhnen siehst du ein geschlossenes Auge, aber du versuchst, es nicht zu beobachten. Wenn Rasiel das nicht zeigen will, wird das schon seinen Grund haben, denkst du.

Weil niemand kommt, fängst du an, mit ihm zu reden. Du erzählst ihm, was ihr gerade in Biologie durchnehmt, obwohl du dich vor ein paar Stunden ums Verrecken nicht daran erinnern konntest. Du erzählst von deiner Mutter und von seiner Krone, du entlockst ihm kraftlose, kurze Antworten über Gott und die Welt, nur, damit er wach bleibt, damit er am Leben bleibt, weil er nicht sterben soll, weil du nicht willst, dass er stirbt.

Weil du diesen Gedanken nicht loswirst, diesen Gedanken, dass du ihn brauchst.

Der Mann, in den du dich verliebt hast, soll nicht sterben, denkst du.
 

Auch später wirst du nie einschätzen können, wie lang du so mit ihm gesessen hast. Irgendwann kommen sie wieder, die Butler, und sie haben Ärzte dabei, und die nehmen Rasiel mit. Und du bleibst sitzen und siehst ihnen nach, um dich herum liegen Scherben, Trümmer und Fetzen, und es riecht immer noch nach Blut und nach der Hölle.

Du fängst an zu weinen. Du stehst auf und willst gehen, aber du kannst es nicht, deine Beine lassen dich einfach nicht.

Verloren stehst du mitten in einem Flur des gigantischen Anwesens, und du weinst und du weinst und du kannst nicht mehr damit aufhören, und du weißt einfach nicht, wohin mit dir.

Um dich herum zerbricht die Welt.
 

Am späten Nachmittag findet dich eines der Dienstmädchen, wie du vor seinem Arbeitszimmer am Boden kauerst und trotz der schmerzenden Augen noch immer weinst. Sie sagt dir, dass er über den Berg ist, aber jetzt erst einmal viel schlafen wird. Sie sagt dir, dass du nach Hause gehen und das auch tun sollst. Und dass er sich morgen sicher über dich freuen wird.

Also stehst du auf und gehst. Als du zu Hause ankommst, sitzen deine Mutter und ihr Freund Arm in Arm vor dem Fernseher, also kannst du einfach an ihnen vorbeischleichen, den Staub, den Gestank und die Tränen von dir duschen und deine Klamotten unauffällig in die Wäsche schieben.

Deine Hausaufgaben hast du nicht, und du scheißt auf sie. Draußen wird es gerade dunkel, als du ins Bett gehst. Draußen wird es schwarz, als du immer noch zusammengerollt und krampfend unter der Decke liegst und nicht weißt, wohin mit deinen tausend Gedanken, die du alle nicht greifen kannst. Draußen wird es hell, als du langsam einschläfst und von Belphegor, Messern und der Hölle träumst.
 

Als dein Wecker geht, stehst du auf und ziehst dich an. Du gehst in die Küche und sagst deiner Mutter, dass du irgendwie keinen großen Hunger hast, dann nimmst du deinen ungepackten Schulranzen, wünschst ihr einen schönen Tag und gehst aus dem Haus.

Du bist froh, dass du volljährig bist und dir selbst eine Entschuldigung schreiben kannst. Denn heute bist du definitiv krank.

Wie viele Stunden du geschlafen hast, weißt du nicht genau, aber mehr als drei können es nicht gewesen sein. Die Aufregung des vergangenen Tages nagt noch immer schwer an dir und deinem Körper, du hast Muskelkater, als hättest du Rasiel auf deinen Armen durch ganz Italien getragen. Und du weißt nicht, ob er es wirklich durch die Nacht geschafft hat.

Du weißt auch nicht mehr so sicher, ob du überhaupt willst, dass er es geschafft hat.

Es wäre so einfach. Hätte er es nicht geschafft – dann wäre plötzlich alles wieder einfach. All diese Dinge, die dir diesen grässlichen Kopfschmerz bescheren, wären hinfällig. Belphegor bräuchte dich nicht mehr. Und du müsstest dir keine Gedanken mehr darum machen, ob er Recht hat, ob Rasiel wahnsinnig ist, ob er will, dass du stirbst, und ob du wirklich an seiner Seite bleiben willst.

Auf keine dieser Fragen hast du eine Antwort. Und du kannst dich nicht genug konzentrieren, um dich wirklich darum zu kümmern, einmal eine zu finden. Deshalb schließt du dich einfach ein weiteres Mal der Gewohnheit und der Sorge einer Verliebten an – und kommst vor Rasiels Tür zum Stehen.

Ein Butler macht dir auf, er sieht so müde aus, wie du dich fühlst, und lässt dich wortlos hinein. Er erklärt dir den Weg zu Rasiels Zimmer und du steigst durch die Überreste an Staub und Trümmern, die noch vereinzelt in den Fluren des ersten Stocks liegen. Dir ist schlecht und unglaublich kalt. Es hört nicht auf, als du sein prunkvolles Zimmer betrittst und dich an das große Himmelbett setzt. Auch, wenn du versuchst, dir eine Erwärmung in deinem Innern einzureden, als du Rasiel ins Gesicht blickst.

Die Kälte hört nicht auf.

Rasiel dreht seinen Kopf in deine Richtung, ein schmales Lächeln umspielt seine Lippen und du kaufst es ihm nicht ab. Du kaufst es ihm einfach nicht ab.

»Sie haben gesagt, du hast mir das Leben gerettet«, sagt er, seine Stimme ist noch immer ungewöhnlich leise, klingt aber zumindest schon mehr nach ihm.

Du verziehst das Gesicht. »Deine Leute und die Ärzte haben dir das Leben gerettet«, antwortest du. »Ich hab nur auf dich aufgepasst.«

»Ohne dich wäre ich wahrscheinlich verblutet«, beharrt er. Das glaubst du nicht. Er hätte schon irgendwie durchgehalten; so wichtig bist du nicht. Außerdem bist du dir ja gar nicht mehr sicher, ob du nicht einfach hättest gehen sollen.

»Wie geht’s dir heute?«, fragst du.

Rasiel gluckst. »Die haben mich vollgepumpt. Deshalb bin ich eigentlich einfach nur ein bisschen müde, sonst nichts.« Sein Amüsement weicht wieder, als er seufzt. »Und dir? Ich wollte eigentlich nicht, dass du sowas mitkriegst…«

»Schon okay«, lügst du. »Ich komm damit schon irgendwie klar. Es… Es war dein Bruder, richtig?«

Rasiel nickt. »Aber du musst keine Angst haben«, sagt er dann, was in deinen Ohren einfach nur wie ein Witz klingt. »Ich hab dir gesagt, dass ich nicht mehr zulassen werde, dass er dir etwas tut. Und dabei wird es auch bleiben. Das hier läuft zwischen ihm und mir, dir wird nichts passieren.«

Am liebsten wärst du aufgesprungen und hättest ihm ins Gesicht geschlagen. Weil Belphegor dir schon etwas getan hat, weil dir schon etwas passiert ist, und weil Rasiel ein verfickter Heuchler ist, wenn er dir sowas weismachen will, obwohl er Leute beauftragt, dich zu töten, einfach so, aus Spaß.

Du bleibst still sitzen, lächelst geschlagen und nickst.

Du schauspielerst.

Und damit hörst du vorerst nicht mehr auf. Egal, wo du bist, egal, wer bei dir ist, du schauspielerst. Du behältst deine Maske, sie sitzt perfekt, sie verrutscht nicht ein einziges Mal, obwohl du selbst nicht den Hauch einer Ahnung hast, wie du das anstellst. Es ist alles, wozu du noch fähig bist, aber es ist auch das einzige, was noch funktioniert – und es reicht. Die Maske deckt jeden Bereich deines Lebens ab und niemand zweifelt sie an. Sie ist perfekt.

Und du gehst unter.

Rasiels Genesung geht erstaunlich schnell. Du weißt nicht, wie das vonstattengeht, und es interessiert dich auch nicht. Irgendwann hast du mal ein warmes, gelbes Licht unter dem Türspalt zu seinem Zimmer kommen sehen, bevor irgendein seltsam aussehender Mitarbeiter herauskam und du reingehen durftest, und du hast wirklich keine Vorstellung davon, was das darstellen sollte. Mittlerweile fragst du dich sowas nicht mehr. In Rasiels Haus, Anwesenheit und Verwandtenkreis geschehen seltsame Dinge und niemand hält es für nötig, dir das zu erklären. Erst hat dich das frustriert, jetzt schürt es nur noch dein Misstrauen.

So ganz willst du immer noch nicht glauben, dass Rasiel ein Psychopath ist, seinen Bruder töten will und diesen Auftrag gegeben hat, dich umzubringen. Aber du gestehst dir problemlos ein, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Dass er dich belogen hat, dass er dir Dinge verschwiegen hat und dass er das immer noch tut. Du glaubst Belphegor – Rasiel hat dich für tot gehalten, dessen bist du dir sicher, und nun stehst du wieder bei ihm auf der Matte und er verliert kein Wort darüber. Wahrscheinlich hast du in Wirklichkeit keine Ahnung von ihm.

Aber du glaubst, dass auch er keine Ahnung mehr von dir hat. Du bist dir sicher, dass er eine Maske trägt. Jedoch bist du dir fast genauso sicher, dass er deine Maske noch nicht bemerkt hat.

Du benimmst dich so wie immer. So, wie du dich benommen hast, bevor all das passiert ist. Du tust so, als lägest du ihm noch immer zu Füßen, du tust verknallt. Und er tut plötzlich genau dasselbe. Er schwärmt von dir, er beharrt darauf, dass er ohne dich gestorben wäre und dass du ihm in der Zeit, in der ihr euch kennt, unglaublich wichtig geworden bist. Er behauptet, ihr seid durch irgendeinen Scheißdreck verbunden und er rückt dir auf die Pelle. Mit jedem Tag ein bisschen mehr.

Manchmal verschließt du dich einfach vor der offensichtlichen Lüge und gibst dich der Vorstellung hin, all das sei echt. Du schließt die Augen und stellst dir vor, es sei der alte Rasiel, den du kennen gelernt hast, den es wahrscheinlich gar nicht gibt. Du stellst dir vor, du seist immer noch so verliebt und er sei immer noch der unanfechtbare Ritter. Und dann genießt du die Nähe, die Wärme, die von ihm ausgeht. Du vergisst die Masken, den Wahnsinn, die Erpressung, alles. Du gönnst dir eine kurze Auszeit und konzentrierst dich nur noch auf das Schöne, auf den Atem in deinem Nacken, auf die Finger an deiner Haut und auf die Illusion, dass alles gut ist.

So wie jetzt.

Seit vier Tagen ist Rasiel auch das letzte große Pflaster los. Abgesehen von einem großen Hämatom an seinem Knie ist alles wieder soweit verheilt. Wie üblich benutzt er die neu gewonnene Bewegungsfreiheit, um dir näherzukommen. Und du lässt es zu, weil es schön ist, zwischen all der Verwirrung deines Geistes einmal einen anderen Körper bei dir zu haben, einen, der dich wärmt und dir nichts tut (denn selbst, wenn Rasiel einen Auftrag gegeben hat, bist du dir einer Sache sicher: Er würde sich nicht selbst die Hände schmutzig machen.).

Einmal mehr hat er dir bei deinen Hausaufgaben geholfen und du warst die ganze Zeit eher angeekelt von ihm, doch als alles erledigt war und du die Müdigkeit spürtest, war dir die viele Nähe nur noch recht. Und nun liegst du seitlich auf seinem großen Bett, er liegt hinter dir und atmet gegen deinen Hals, und seine kühlen Fingerspitzen bringen deine Bauchmuskeln zum Zucken, als sie immer wieder ruhig darüberstreichen.

Irgendwo fühlt es sich wahnsinnig falsch an, aber irgendwo anders ist es eben immer noch Rasiel, in den du dich verliebt hast. Ein anderer Rasiel, ein gelogener Rasiel, aber eben Rasiel. Also lässt du geschehen, also schließt du die Augen und spürst, versuchst, dir zu sagen, dass das schön ist, und versuchst, zu hoffen, dass er nicht zu weit geht.

Und all deine Fassung bröckelt, als er deinen Hosenknopf öffnet.

»Was machst du da?«, fragst du leise, als du nach unten schielst und selbst etwas überrascht bist, dass du viel ruhiger klingst, als du dich plötzlich fühlst.

Rasiels Antwort ist ein kaum hörbares, amüsiertes Schnauben und das Öffnen deines Reißverschlusses.

Mit zusammengebissenen Zähnen greifst du um sein Handgelenk, ziehst seine Finger von deinem Hosenbund und drückst seine Hand wieder auf seine Seite. »Lass das«, befiehlst du.

Und als du deine Hose wieder zumachen willst, geht alles ganz schnell. Rasiel packt deinen Arm und zieht ihn auf deinen Rücken, du zuckst zusammen, weil es wehtut, willst dich hoch- und wegdrücken und nach ihm treten, doch es funktioniert nichts mehr. Stattdessen manövriert er seinen freien Arm unter deinem Körper hindurch, greift dort deine andere Hand und zieht auch diese zu sich, sodass er letztendlich beide deiner Handgelenke mit Leichtigkeit auf deinem Rücken festhalten kann.

Du willst ihm zwischen die Beine treten, aber du kommst nicht hoch genug. In deinem Augenwinkel erscheint der blonde Pony und der Rest von Rasiels Gesicht, er grinst, und du hast Angst. Deine Hände hält er mittlerweile nur noch mit einer Hand, die andere liegt wieder an deinem Bauch, deine Hose ist immer noch offen, sein Gesicht verschwindet wieder aus deinem Blickfeld und du spürst seinen heißen Atem an deiner Kehle.

»Du musst dich nicht wehren«, meint er leise, seine Lippen streifen deine Schlagader. »Wir wissen doch beide, dass du schon vor Wochen genau das hier wolltest.«

Du hast Lust, dich zu übergeben, nicht, weil seine Hand ein weiteres Mal auf dem Weg in deine Hose ist, sondern weil er Recht hat. Weil du das vor Wochen wirklich noch gewollt hättest, weil du dir genau das gewünscht hast, und weil du jetzt verstehst. Er hat dich ihm verfallen lassen, hat die ganze Zeit den Gentleman gemacht und dich zappeln lassen, und jetzt bekommst du die Quittung für dein blindes Verliebtsein. Jetzt, wo du nicht mehr willst.

»Hör auf«, sagst du, so laut du noch kannst. »Ich will das nicht, Rasiel, ich will gehen.«

Er kichert, so wie üblich, und du holst aus und willst mit voller Wucht nach ihm treten, doch im selben Moment richtet sich Rasiel hinter dir auf, sodass es dir so gut wie unmöglich ist, ihn noch zu treffen. Du siehst ihn grinsen, bevor du nur noch blondes Haar wahrnimmst, und seine Lippen an deinem Hals, und diesen unbeschreiblichen Ekel.

Als seine Hand in deinen Slip rutscht, zuckst du zusammen und drückst instinktiv deine Beine aneinander. Du bist von Kopf bis Fuß verkrampft, eigentlich willst du dich winden und treten und ihn anschreien und beleidigen, aber du bringst keine Bewegung zustande. Du liegst nur da und spannst dich an, atmest zu schnell und betest, betest, dass er aufhört, dass das hier nicht passiert.

Seine Finger schaffen es zwischen deine Beine. Du gibst ein Wimmern von dir, er lacht.

»Du solltest diese Ehre genießen«, sagt Rasiel.

Du willst überhaupt nichts mehr genießen. Genau in diesem Moment willst du nur noch, dass er stirbt.

Rifugio

Zuflucht
 

Du willst nicht. Du willst nicht. Du willst nicht.

»Ich will nicht…«

Deine Stimme nur ein schwaches Wimmern, von dem du Sekunden später gar nicht mehr weißt, ob es wirklich deine Kehle verlassen hat.

Willst nicht.

Du willst nicht, dass das passiert. Du willst nicht, dass er das tut. Du willst nicht, dass er das Bild zerstört, das du von ihm hattest. Du willst nicht, dass sein Bruder Recht hatte. Du willst nicht, dass das alles wahr ist, dass es die bittere Realität ist, dass dieses Bett existiert, dass er existiert, dass du existierst. Du willst nicht, dass er dafür sorgt, dass dies hier die Wahrheit ist.

Er soll aufhören.

»Hör auf… Bitte.«

Du willst nicht.

Aber was interessiert ihn schon dein Wille?

Deine Arme schmerzen, deine Schultern, dein gesamter Rücken – weil Rasiel deine Hände noch immer festhält, weil du dich verkrampfst und versuchst, dich freizuwinden, und so die Schmerzen nur noch schlimmer machst. Du wolltest nach ihm treten, doch er konnte problemlos ausweichen, du wolltest dich auf den Bauch rollen, doch er hat dich einfach zurückgerissen, du willst ihn anbetteln, doch er hört dir nicht zu.

Zwischen deinen Beinen bewegen sich seine Finger, und du schwitzt und keuchst und versäumst in keinem Moment, daran zu denken, wie abstoßend du ihn findest, obwohl – oder gerade weil – dein Körper gegen dich arbeitet. Hilflos presst du deine Beine zusammen, doch es bringt nichts, er ist schon längst dort, wo er sein wollte. Mit einem Mal kommt dir seine Vorliebe für schwarzen Nagellack in den Sinn, und in deiner Verzweiflung ist es ausgerechnet dieser Gedanke, der dich endgültig zum Weinen bringt.

»Bitte hör auf«, winselst du ein weiteres Mal, ohne wirklich wahrzunehmen, dass es deine Stimme ist, die du da hörst. »Rasiel, bitte…«

Aber er hört nicht auf, und du weißt, dass er in Wahrheit gerade erst anfängt. Du weißt, dass er sich Zeit lassen wird, und du weißt, dass du noch einiges vor dir hast – du weißt es einfach, und dieses Wissen treibt dich an den Rande des Wahnsinns, mit einer solchen Wucht, dass du glaubst, ohnmächtig zu werden, und dich ärgerst, als du es nicht wirst.

Dein Shirt klebt an dir, du zitterst und drückst dein warmes Gesicht in das Kissen, das bereits feucht von deinen Tränen ist – und es klopft an der Tür.

Du reißt deinen Kopf so schnell wieder hoch, dass dir schwindelig wird, aber das ist dir egal. Hoffnungsvoll starrst du die Tür an, du holst Luft, doch Rasiel kommt dir zuvor.

»Ein Laut und ich knebel dich«, zischt er dir zu.

Die lähmende Panik kehrt augenblicklich zurück und du starrst in sein Gesicht, starrst das Grinsen an, das nur noch wahnsinnig und aufgeregt wirkt und seinen ganzen Charme längst verloren hat.

Rasiel verlagert mehr Gewicht auf dich, sodass dein Kopf wieder im nassen Kissen landet, und antwortet nicht, doch es klopft erneut.

Du willst Luft holen und brüllen, dem Menschen vor der Tür irgendetwas entgegen schreien, völlig egal, was. Du bezweifelst sowieso, dass ganze Wörter oder gar Sätze deinen Mund nun verlassen könnten, du willst einfach nur irgendetwas kreischen, was deine Angst zum Ausdruck bringt und irgendjemanden davon überzeugen könnte, dir zu helfen. Aber eben jene Angst ist es, die dich davon abhält.

Rasiel hat noch viel mit dir vor. Und er wird sich von nichts aufhalten lassen.

Denkst du.

»Prinz Siel!«

Du kannst Rasiel gegen deinen Nacken schnauben spüren und ein angewidertes Schütteln erfasst deinen ganzen Körper.

»Nicht jetzt!«, ruft er energisch über die Schulter.

Einen Augenblick lang ist alles still, und alles, was du hörst, ist dein eigener, stockender, flacher Atem, den das Kissen fast gänzlich erstickt.

»Es geht um Euren Bruder…«

Minimal drehst du dein Gesicht vom Kissen weg, schielst so weit du kannst über die Schulter, um festzustellen, dass Rasiels Grinsen spurlos verschwunden ist. Es geht also um Belphegor. Rasiel ist auf dem besten Weg, dich zu vergewaltigen, und jemand klopft an der Tür, weil es um Belphegor geht.

Von einer grotesken Sekunde auf die andere grinst Rasiel wieder, und es ist so schief und entrückt, dass du ihm am liebsten so laut wie möglich ins Gesicht geschrien hättest. Ein Glucksen entweicht Siels Kehle und er schüttelt den Kopf. »Der versaut einem echt alles, oder?«, sagt er.

Genau das sagt er, mitten in dein Gesicht. Und dann zieht er mit einem unangenehmen Ruck seine Hand aus deiner Hose und lässt deine Hände los, um sich umzudrehen und vom Bett aufzustehen.

Einfach so.

Du liegst fassungslos da und weinst und atmest und zitterst, und siehst dabei zu, wie er, ohne dich noch einmal anzusehen, auf die Zimmertür zuschlendert. Einfach so…

Mit dem Rücken zu dir führt er eine Hand zu seinem Gesicht und irgendwo in deinem Hinterkopf kannst du erahnen, dass er sich wohl die Finger ableckt.

»Wäre besser, wenn du noch da bist, wenn ich wiederkomme«, sagt er beiläufig.

Und dann ist er weg. Und die Tür ist zu und du hörst ihn nicht mehr, nur noch dich selbst, und dein Schluchzen, und deinen Herzschlag, und dein Würgen. Du drehst dich auf die Seite, bis du verschwommen den Boden erkennen kannst, und übergibst dich.
 

Du weißt nicht, wie lang du schon so dort liegst. Es kommt dir vor, als seien es Tage, aber dein letzter Rest logisches Denken sagt dir, dass es wahrscheinlich maximal ein paar Minuten sind. Noch immer liegst du bäuchlings auf dem Bett und noch immer hängt dein Kopf von der Bettkante. Noch immer siehst du nur verschwommen, doch du versuchst erst gar nicht, genauer hinzuschauen, weil dir der ätzende Geruch, der von der Pfütze am Boden aufsteigt, schon reicht. Du willst es nicht auch noch sehen.

Dein gesamter Körper zittert und schmerzt, du verkrampfst dich immer wieder und weißt, dass es das ist, was dir diese Schmerzen einbringt, kannst jedoch dennoch nicht damit aufhören. Du glaubst, dass es das einzige ist, was dich bei Verstand hält.

Die Angst ist mittlerweile so groß, dass sie völlig abgestumpft ist. Sie bringt dich nicht mehr zum Weinen. Sie bringt dich nicht mehr zum Wimmern oder Aufschreien. Sie bringt dich nicht mehr zu kleinem Nachwürgen alle paar Sekunden. Sie ist einfach nur noch da. Und das ist schlimm genug.

Du schließt für einen kurzen Moment die Augen und bereitest dich auf das Schlimmste vor, als du hörst, wie die Tür sich öffnet und wieder schließt. Doch es passiert nichts. Die Schritte, die du näherkommen hörst, sind leicht und vorsichtig, niemand spricht und niemand fasst dich an.

Und dann tauchen polierte, schwarze Frauenschuhe in deinem Blickfeld auf. Jemand seufzt. »Scheiße.«

Du kennst die Stimme. Schwach hebst du den Kopf, du siehst unklar, doch du erkennst die junge Frau, die vor dir steht.

Das Dienstmädchen, dem du aufgeholfen hast, als Rasiel angegriffen wurde. Das Dienstmädchen, das dir so oft die Tür geöffnet und dich genauso oft verständnislos beäugt hat. Hier steht sie, betrachtet dein Erbrochenes sichtlich angewidert und blickt dir dann ins Gesicht, als sie dir eine Hand entgegenstreckt.

Über deine Lippen kommt nur ein heiseres Keuchen.

Sie verdreht die Augen. »Jetzt steh schon auf. Ich bring dich hier raus, bevor er wiederkommt. Aber tragen kann ich dich nicht, also beweg dich.«

Du verstehst schnell, reagierst jedoch langsam. Dass diese Frau nicht besonders begeistert von Rasiel ist, war dir schon klar, als du sie zum ersten Mal gesehen hast. Und jetzt will sie dir helfen. Das ist alles, was du wissen oder verstehen musst. Sie will dir helfen, zu entkommen, und ist damit wahrscheinlich deine einzige Chance, diesen Alptraum zu umgehen. Also musst du aufstehen. Dich zusammenreißen und von diesem verfluchten Bett aufstehen.

Deine Hände finden die Matratze und stützen sich darauf ab, sodass deine Arme dich zitternd und unerträglich langsam hochdrücken. Du bist dir sicher, dass du wieder zusammenbrechen wirst, dass du einfach zurück aufs Bett fallen und nie wieder aufstehen können wirst, dass das Dienstmädchen dir nicht helfen kann und Rasiel zurückkommt und alles vorbei ist.

Und plötzlich stehst du. Du wankst, du schwitzt, du bebst, die Welt um dich herum dreht und dreht sich viel zu schnell, aber du stehst.

Die Frau, deren Namen du nie erfahren durftest, nickt stumm und ergreift deinen Arm, der sich wie Gummi führen lässt, um ihn um ihre Schulter zu legen. Kraftlos schlurfst du neben ihr her, während sie völlig selbstverständlich einen der großen Wandteppiche in Rasiels Zimmer zur Seite schiebt und mit dir durch die Tür dahinter geht.

»Wir nehmen den Hinterausgang«, erklärt sie und du gibst dir alle Mühe, ihr zuzuhören und nicht lauthals in Tränen auszubrechen. »Und dann läufst du irgendwohin, wo er dich nicht vermutet. Und bleibst da eine Weile lang. Und dann hoffst du. Kapiert?«

»Danke«, hörst du dich sagen, obwohl deine Stimme keine Stimme mehr ist, sondern nur noch ein heiseres Kratzen irgendwo in deinem Hals.

»Schon gut«, sagt sie leise, ohne dich anzusehen. »Ich hab ja drauf gewartet, dass du desillusioniert wirst, was ihn angeht, aber ich hab dir wirklich nicht gewünscht, dass es auf diese Art und Weise passiert.«

Du würgst, du stolperst, du spürst Tränen in deinen Augen und schmeckst Blut, als du dich in deine Unterlippe verbeißt.

»Tut mir leid«, murmelt sie rasch.

Ihr geht durch enge, schwach beleuchtete Gänge, die du noch nie vorher gesehen hast und auch jetzt nicht groß beachtest, bis sie irgendwann eine Tür aufstößt und ihr euch im Hinterhof wiederfindet. Dir ist klar, dass sie soeben einen von Rasiels Geheimgängen benutzt hat, von denen er wahrscheinlich einige hat, um dich aus dem Anwesen zu führen. So ganz in dein Bewusstsein vorgedrungen ist es allerdings noch nicht. Du erwartest noch immer, jede Sekunde wieder auf seinem Bett zu dir zu kommen.

»Weißt du irgendeinen Ort, an den du fliehen kannst?«, fragt sie und blickt dir eindringlich in die Augen, während du trüb den Zaun anstarrst.

»Ja«, antwortest du, obwohl du selbst keine Ahnung hast, von welchem Ort du wohl reden magst.

»Gut. Dann beeil dich. Und… Und halt die Ohren steif, okay? Gib nicht auf.«

Du hättest fast gelacht, weil du dir nicht vorstellen kannst, dass sie weiß, wie nah dran du daran bist, aufzugeben. Und zwar alles. Du würdest aufgeben, zu versuchen, allein auf zwei Beinen zu stehen, du würdest aufgeben, zu versuchen, dir einen Ort auszudenken, an den du flüchten kannst, du würdest aufgeben, zu versuchen, generell klar zu denken, du würdest sogar aufgeben, zu atmen. Zu leben. Du hast absolut keine Motivation, damit weiterzumachen – es schien dir noch nie so sinnlos wie jetzt.

Doch du bist tatsächlich zu apathisch, um aufzuhören. Dein Verstand hat sich schon so weit verabschiedet, dass er keine Kontrolle mehr über deinen Körper hat. So nickst du einfach trotzdem, löst dich von der Stütze des fremden Dienstmädchens und gehst mit unsicheren Schritten auf das Gartentor zu. Du wünschst dir, du würdest ins Licht laufen, als du es öffnest und hinter dir wieder schließt, doch in Wahrheit erstreckt sich vor dir nur eine ganz normale Allee, die in ganz normale Straßen einer ganz normalen Stadt führt, die du, zitternd, weinend und völlig unbemerkt von allen Passanten, durchquerst.
 

Und dann stehst du plötzlich vor seiner Tür.

Du klingelst, und er öffnet, und er sieht dich an, als seist du der Tod höchstpersönlich, und du hast noch Zeit, zu denken, dass du so wahrscheinlich auch aussiehst, bevor du aufschluchzt, auf die Knie fällst und dir schwarz vor Augen wird.

Als die Welt um dich herum wieder Farbe und Form annimmt, liegst du seitlich und zusammengerollt auf weichem Untergrund, spürst eine warme Hand an deiner Schulter und feuchte Spuren überall in deinem Gesicht. Du zitterst, deine Nase ist zu und einige Sekunden lang lauschst du deinem eigenen, rasselnden Atem, bis du es wagst, den Blick zu heben.

Du liegst auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer, er sitzt auf dem Couchtisch davor, streicht sachte mit dem Daumen über deine bebende Schulter und sieht dich besorgt an. »Geht’s?«, fragt er vorsichtig.

Du schluckst laut. »W-Was…?«

»Hast du dich ein bisschen beruhigt?«, fragt er, und du registrierst, dass er absichtlich etwas langsamer spricht.

Du verstehst ihn. Du brauchst nur ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass du scheinbar gar nicht ohnmächtig warst.

»Ich…«, stammelst du, siehst dich hilflos im geräumigen, hellen Wohnzimmer um und kneifst dann die Augen zu, die sich erneut mit Tränen füllen. »I-Ich bin irgendwie … w-weggetreten… Oder so…«

»Oh«, macht er leise. Du ziehst die Nase hoch, wischst dir die Tränen aus den Augen und stellst erst bei dieser Gelegenheit fest, dass du in eine Decke gewickelt bist, und er lächelt dich mild an. »Verstehe. Na ja, du … bist auf der Türschwelle zusammengeklappt und hast seitdem nur noch geweint, geschluchzt und geschrien. Du hast ein paar Mal versucht, was zu sagen, aber ich hab dich nie verstehen können. Und jetzt hast du dich hier zusammengerollt und hast geweint, und in den letzten Minuten ist es ein bisschen besser geworden… Wie … fühlst du dich?«

»Beschissen«, nuschelst du augenblicklich und blickst starr gegen sein schwarzes Shirt. Das Dienstmädchen hat gesagt, du sollst irgendwohin flüchten, wo du vor ihm sicher bist. Und jetzt hat es dich ausgerechnet hierhin verschlagen?

Mit zitterndem Unterkiefer hebst du den Kopf, siehst ihm ins Gesicht und registrierst selbst nicht, wie flehend dein Blick ist, als du fragst: »Kannst du mich beschützen?«

Beniamino ist überrascht, dann lächelt er wieder sachte. Er nickt und streckt eine Hand aus, um dir die Tränen von der Wange zu wischen, und du zuckst nicht einmal zurück, weil du deinem Ex-Freund vertraust.

Salvete Rasiel.

Rettet Rasiel.
 

Ihr sitzt nebeneinander, seine linke Hand hält deine linke, seine rechte streicht sachte über deinen Rücken, und langsam beruhigst du dich.

Soweit du zurückdenken kannst, hatte Beniamino schon immer diese Wirkung auf dich. Vielleicht war das sogar einer der Gründe, weshalb du dich vor so langer Zeit in ihn verliebt hast. Egal, worüber du dich aufregst, ob du wütend, traurig oder verzweifelt bist, er muss sich nur neben dich setzen und schweigen, einfach nur anwesend sein, und du wirst mit jeder Sekunde ruhiger.

Deine Tränen sind getrocknet, alle paar Atemzüge erzitterst du noch immer unter einem heiseren Schluchzen, aber du kannst zumindest wieder sehen und hast nicht mehr das Gefühl, zu ersticken. Deine Augen schmerzen und dein Kopf fühlt sich dick an, aber du bist froh, dass du nicht mehr weinst. Du bist froh, dass du hier bist, dass er hier ist und er dich hält und du ruhig wirst. Du bist froh, dass du endlich mal wieder den Raum hast, dich in der Welt zurechtzufinden, sanft zurück auf den Boden der Tatsachen zu kommen, anstatt brutal darauf aufzuschlagen.

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, bringst du heiser heraus.

Beniamino lächelt gequält. »Du musst mir gar nichts erzählen«, sagt er sanft. »Wenn du nicht willst, oder noch nicht kannst, dann musst du auch nicht. Ich bin der letzte, der dich zu irgendwas zwingt. Komm erstmal wieder zur Ruhe, und dann sehen wir weiter.«

»Der Typ, von dem ich dir erzählt hab«, sagst du prompt. Plötzlich weißt du ganz genau, wo du anfangen sollst, und du willst nicht warten. Du willst nicht noch weiter zur Ruhe kommen, du willst genau jetzt alles aus dir rauserzählen, damit du es hinter dich gebracht hast und Beniamino nicht mehr im Dunkeln tappen muss. Aber größtenteils, damit du es hinter dich gebracht hast.

»Weißt du, der… der, den ich an Silvester kennen gelernt hab. Als wir danach telefoniert haben, hab ich dir von ihm erzählt.« Du redest schnell, weil du am liebsten alles auf einmal loswerden würdest, und weil du das Gefühl hast, dass du nur unverständlichen Buchstabensalat ausspucken würdest, würdest du dich bremsen. Aus dem Augenwinkel kannst du ausmachen, wie Beniamino nickt. »E-Er hat… Er ist… Ich…« Du beißt die Zähne zusammen und atmest leise durch. Während Beniamino beruhigend über deinen Rücken streicht, stellst du fest, dass du noch nicht aussprechen kannst, was heute passiert ist. Vielleicht ist es besser, von vorn anzufangen.

»Er heißt Rasiel«, sagst du. Weil du konzentriert deine Knie anstarrst, um ruhig zu bleiben, entgeht dir, wie Beniaminos Gesichtszüge entgleisen. »Ab Silvester war ich eigentlich ständig bei ihm, er war …die ganze Zeit wirklich nett und ich hab mich dann … fürchte ich…«

»Warte, warte, warte«, sagt Beniamino. Du hörst ihn schlucken und siehst ihn etwas überrascht an, nur um festzustellen, dass er mindestens genauso überrascht aussieht. Wenn nicht sogar geschockt. »Wie… Wie heißt er?«

»Rasiel«, wiederholst du verständnislos, gluckst dann etwas verloren. »Ist ein komischer Name, ich w-…«

»Wie sieht er aus?«, fragt Ben ernst.

»Äh – blond«, sagst du, blickst ihm noch immer in die Augen und weißt nicht, was er auf einmal von dir will. »Normalgroß, sehr schlank… Er… Eh… Meistens hat er sowas wie … eine Tiara auf dem…«

»Oh Gott.« Einen Moment lang noch starrt Beniamino dich fassungslos an, dann steht er ruckartig auf und schlägt eine Hand vor seinen Mund. »Oh, heilige Scheiße«, hörst du ihn gegen seine Finger nuscheln.

»Wa-Was ist?«, fragst du, langsam wirst du wieder panisch.

Beniamino steht nur da, in seinem Wohnzimmer, drückt sich die Hand auf den Mund und starrt die Wand an. Sekundenlang. Du musst die Zähne zusammenbeißen, um nicht schon wieder anzufangen, zu weinen, weil der Idiot dich gerade verdammt aus der Bahn wirft, als er sich endlich wieder zu dir dreht.

Du kannst beobachten, wie er einmal ruhig durchatmet, dann setzt er sich wieder auf das Sofa und legt die Hand zurück dorthin, wo sie hingehört: auf deinen Rücken. »Tut mir leid«, sagt er leise und lächelt fahrig. »Er…erzählst du weiter?«

Etwas verstört siehst du ihn an. Was in aller Welt sollte das denn eben? Ben scheint nicht vorzuhaben, es dir zu erklären, und dummerweise ist dein Kopf viel zu müde, um selbst irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Also seufzt du und senkst den Blick wieder in deinen Schoß, unsicher.

»Bitte«, sagt Beniamino.

Das ist jetzt einfach nur noch seltsam, aber du widerfragst nicht. In deinem Schoß reiben deine Finger immer wieder über deine leicht feuchten Handflächen, du beobachtest sie dabei wie ein Außenstehender, und weißt nicht, wie du weitererzählen sollst. In deinem Kopf spuken hundert Versionen herum, alle stimmen, aber jede hat einen anderen Wortlaut. Es gibt so viele Wege, ihn wissen zu lassen, was dir gerade passiert ist – und du entschließt dich für den kürzesten.

»Ich hab mich in ihn verliebt und er wollte mich vergewaltigen«, murmelst du.

»Fuck«, entfährt es Ben.

Du schluckst schwer, du willst nicht, dass die Tränen wiederkommen, und glücklicherweise schafft es Beniamino, sie davon abzuhalten, indem er dich an sich drückt und seine Finger in deinen Haaren versenkt und dich ein paar Mal beruhigend vor- und zurückwiegt.

»Das ist alles nur meine Schuld«, flüstert er.

Dein Herz setzt einen Schlag aus. Du zuckst in seiner Umarmung und hebst dann langsam den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können, während dein Bauch sich urplötzlich anfühlt, als seien sämtliche Innereien daraus verschwunden. »Wovon redest du?«, fragst du heiser.

Er hat die Augen zugekniffen und seufzt zittrig, bevor er sich auf die Unterlippe beißt. »Ich fürchte, es ist an der Zeit, dass ich dir die Wahrheit über mich erzähle«, sagt er, ohne dich anzusehen.

Mit offenem Mund und schmerzhaftem Herzklopfen starrst du ihn an, und mit einem Mal beginnen auch seine vorigen Reaktionen, einen furchtbaren, übelkeitserregenden Sinn zu ergeben.

»D-Du kennst ihn?«, schlussfolgerst du, deine Stimme wird lauter und drückst deine Hände gegen seinen Oberkörper, und er lässt dich sofort los, damit du von ihm wegrutschen kannst. »Ben… B-Ben! Was hast du mit ihm zu tun

»Es ist nicht so, wie du jetzt denkst«, sagt er und sieht dir endlich wieder ins Gesicht, wobei er wirkt, als habe er grade eine ganze Zitrone gegessen. »Es ist nur…« Er presst die Lippen aufeinander und schon sinkt sein Blick wieder. »Wäre ich nicht gewesen, wäre Rasiel heute gar nicht am Leben. Dann gäbe es einen Irren weniger auf der Welt und er hätte dir das nie antun können.«

Du blickst ihn an und versuchst, zu verstehen, was er dir sagen will. Und es funktioniert nicht. Seine Worte hallen immer wieder in deinem Kopf nach und du hörst ihnen immer wieder zu, aber sie wollen dir einfach nicht einleuchten. Du hast keine Ahnung, wovon er spricht.

»Was?«, fragst du nur.

Gequält lächelt Ben dich an. »Ich hab dir nie irgendwas über meine Kindheit erzählt«, sagt er. »Das hole ich jetzt nach.«

Und während du noch befürchtest, an deiner eigenen, überladenen Gedankenwelt verzweifeln zu müssen, beginnt Beniamino, dir zu erzählen, wieso es Rasiel ohne ihn nicht mehr gäbe.
 

Beniamino wurde in eine Familie geboren, die schon seit Generationen dem Königshof diente. Seine Eltern waren beide Mitarbeiter in der Hauptresidenz, niemand herausragend Wichtiges, aber dennoch Teile des großen Ganzen, und so war Ben prädestiniert dafür, früher oder später dasselbe zu tun.

Er kam anderthalb Jahre nach den Prinzenzwillingen auf die Welt, bekam die beiden jedoch nur sehr selten zu Gesicht. Er war gerade fünf Jahre alt, als seine Eltern begannen, das Drama kommen zu sehen. Er verstand nicht, wovon sie sprachen, und selbst sie gingen nicht davon aus, dass es derart blutig ausgehen würde, doch Beniaminos Eltern entging nicht, was sich dort anbahnte.

Ben selbst traf es natürlich völlig unvorbereitet. Im Sommer noch hatte er fröhlich seinen sechsten Geburtstag mit seinen Eltern gefeiert. Kurz danach hatte es begonnen. Der Herbst wurde davon überschattet, dass beide Prinzen ständig gegen Verletzungen, Knochenbrüche und Vergiftungen behandelt werden mussten. Im Winter gab es fast jeden Tag eskalierende Schneeballschlachten zwischen den beiden. Beniamino war nicht dabei, hörte aber davon, dass deren Geburtstagsfeier und das nachfolgende Weihnachtsfest die völlige Katastrophe waren. An Silvester gab es mehrere »Unfälle« mit Feuerwerkskörpern. Und Ende Januar fand der Krieg der beiden Brüder ein jähes Ende.

Der Tag hatte völlig normal angefangen, was das Geschehen vielleicht noch etwas schwerer fassbar machte. Beniamino würde nie vergessen, dass er friedlich mit seinen Eltern gefrühstückt hatte, bevor die beiden zur Arbeit angetreten waren. Er selbst war zurück in sein Zimmer gegangen, um mit seiner Holzeisenbahn zu spielen. Er musste gut zwei Stunden auf dem Boden gesessen und Waggons hin und her geschoben haben, als es begann.

Von einer Sekunde auf die andere waren Schreie zu hören. Mehrere. Spitze, erschrockene Schreie und tiefe, gutturale Schmerzenslaute. Ben saß da und starrte verstört die Tür an, minutenlang – während draußen der Tumult losbrach. Er hörte Füße über den Boden trampeln, Menschen rannten in alle möglichen Richtungen und riefen sich Dinge zu, die er größtenteils nicht verstand. Sie schrien von Arterien, Wahnsinn und Messern. Von Notärzten, Schusswaffen und Rasiel.

Rettet Rasiel.

Zwischen all den Begriffen und panischen Stimmen, die er nicht zuordnen und verstehen konnte, erfasste Beniaminos Verstand doch diesen einen Satz.

Rettet Rasiel.

Und plötzlich löste er sich aus seiner Starre, weil er endlich begriffen hatte, was dort draußen, vor seiner Tür geschah. Dort draußen waren Menschen in Panik, weil irgendwer verletzt war, weil viele Leute verletzt waren, und weil einer der Prinzen offenbar in Gefahr war.

Als habe sie ihm einen elektrischen Schlag verpasst, warf er seine Holzeisenbahn von sich und sprang auf, er riss seine Zimmertür auf und sprintete hinaus auf den Gang, huschte, kaum gesehen, an den aufgeregten Menschen vorbei, die durch die Flure sprinteten, und rannte. Er wusste nicht, wohin er wollte, aber er wusste, dass er seine Eltern finden musste.

Rettet Rasiel, riefen die Leute.

Beniamino rannte an vielen Leichen vorbei – jedoch ohne zu registrieren, dass es Leichen waren. Er beachtete sie nicht groß, ging davon aus, sie seien ohnmächtig, vielleicht sogar nur Puppen, die am Flurrand lagen. Es war ihm egal, er wollte nur seine Eltern finden und wissen, dass sie nicht so da lagen.

Doch als er schlitternd im Türrahmen stehen blieb und sie und das ganze Blut auf den weißen Fliesen verteilt sah, wusste er, dass es schlimmer als eine Ohnmacht war. Dass es keine Puppen waren, sondern seine Eltern.

Und dass sie tot waren.

Haltlose Hyperventilation baute sich in seiner Brust auf, er zog die Luft ein und atmete nicht mehr aus, trockenes Schluchzen verließ seine Lippen bereits, bevor sich die ersten Tränen in seinen Augen bildeten. Er setzte gerade an, seinem Schock und der plötzlichen Trauer lauthals Luft zu verleihen, als ein großer Arm ihn um die Hüfte packte und vom Türrahmen wegwirbelte.

»Sieh nicht hin«, sagte jemand, der eindeutig heiser und gestresst war.

Um sie herum rannten noch immer Menschen auf und ab, gaben sich Dinge in die Hand und riefen Anweisungen, oder um Hilfe. Und sie schrien und sie weinten.

Zitternd sah Beniamino hoch in das Gesicht eines Mitarbeiters, den er entfernt kannte. Er sah mit einer Mischung aus Ernst und Mitleid zurück und machte den Weg zum Türrahmen nicht mehr frei. Er solle nicht hinsehen, hatte er gesagt. Er solle nicht hinsehen. Aber Beniamino wollte hinsehen, er wollte seine Eltern sehen, er wollte sie nicht verlassen müssen.

Rettet Rasiel, schrie man hinter ihm.

Ben drehte um und rannte. Seine Beine trugen ihn von allein, er wusste nicht, wohin, er wusste nicht, wieso. Er wollte zu seinen Eltern und versuchen, sie wieder zum Leben zu erwecken, er wollte einfach nur bei ihnen sein und alles andere vergessen, aber irgendein Teil seines Verstandes schien kapiert zu haben, dass er das jetzt nicht konnte. Dass man ihn nicht ließ. Also lief er, blind, durch das Chaos, und auf den Garten zu.

Und dort begriff er, dass er wusste, wo Rasiel war. Dass er von seinem Zimmer aus immer beobachten konnte, wohin er ging. Und dass niemand in diese Richtung lief, um nachzusehen.

Rettet Rasiel, schrie man in seinem Kopf.

Also rannte er weiter, quer durch den gigantischen Garten und auf das Wäldchen zu. Er kämpfte sich durch Büsche und Äste, die ihm entgegen schlugen, duckte sich darunter hinweg und stolperte über Wurzeln, bis er die Grube fand.

Beniamino kam strauchelnd zum Stehen. Er sah Rasiel am Boden der erdigen Grube liegen, blutend. Er wusste, dass es Rasiel war. Er wusste es einfach.

Er wusste, dass Rasiel am Boden lag und er wusste, dass Belphegor über ihm stand. Er wusste, dass das Blut am Dolch in Belphegors Hand von Rasiel stammte und dass Belphegor drauf und dran war, ihn umzubringen.

Für einen kurzen Augenblick tänzelte Beniamino unsicher auf der Stelle. Er hatte Angst, er wollte weglaufen und Hilfe holen, doch er wusste, dass es zu spät für Rasiel sein würde, wenn er jetzt noch ging. Er wusste, dass Belphegor ihn noch nicht bemerkt hatte, aber… Konnte er so etwas…?

Rettet Rasiel, flüsterte sein Verstand.

Ben hörte sich selbst laut schlucken. Dann spürte er, wie seine Muskeln sich anspannten. Wie seine Fäuste sich ballten. Wie er sich vom Boden abdrückte. Er spürte die Luft an ihm vorbeifliegen, noch immer nicht sicher, was er gerade tat. Er schaute wie in Zeitlupe dabei zu, wie er die Arme ausstreckte und Belphegor immer näherkam.

Und dann prallten sie aufeinander und Beniaminos kleiner Körper riss Belphegors kleinen Körper zu Boden. Mit einem Faustschlag gegen Belphegors Unterarm flog der Dolch aus seiner Hand – der Prinz schlug zurück und Ben spürte, wie ihm für Sekunden schwarz vor Augen wurde, doch er rangelte weiter, und dann hörte er entfernt eine Kinderstimme, die schrie und brüllte – erst Stunden später würde ihm klar werden, dass das seine eigene Stimme war.

Er und Belphegor waren ein wütendes, dreckiges Knäuel, das am Boden der Grube herumrollte; Beniaminos Gegner bekam den Dolch wieder zu fassen, nur, um ihn wieder zu verlieren, nachdem er Ben einen einzelnen, tiefen Schnitt zugefügt hatte, Ben schlug, tritt, biss und kratzte, völlig ohne Verstand, ohne einen einzigen Gedanken – und plötzlich wurde er weggezogen, etwas Großes und Schwarzes versperrte ihm die Sicht. Sein Unterbewusstsein registrierte noch, dass Orgelt endlich gekommen war, um Rasiel zu retten. Dann fiel er in den Armen des anderen Butlers, der ihn aus der Rangelei gezogen hatte, in Ohnmacht.
 

»Belphegor ist noch am selben Tag erfolgreich abgehauen, um der Varia beizutreten«, endet Beniamino und reibt sich die Stirn.

Dein Kopf fühlt sich an, als sei er kurz davor, zu platzen.

»Bevor ich ihn … überfiel, hatte er es geschafft, seine Eltern umzubringen. Der König und die Königin waren tot, ein Prinz war weggelaufen und der andere schwerverletzt. Gut zwei Drittel aller Angestellten hat Belphegor in seinem Amoklauf abgeschlachtet oder zumindest übel erwischt. Darunter meine Eltern. Ich bin noch am Königshof geblieben, bis ich dreizehn war, hab geholfen, ihn wieder aufzubauen, und so weiter. Aber Rasiel wurde unerträglich, ich hab es schließlich nicht mehr ausgehalten. Sie ließen mich gehen, weil sie wussten, dass der Tod meiner Eltern mich schwer erwischt hat. Italienisch war damals die einzige andere Sprache, die ich konnte, also bin ich hierher gereist, obwohl ich fürchterliche Angst hatte, dass Belphegor mich hier findet.« Er zuckt mit den Schultern. »Mit den Jahren hat sich diese Angst einfach … relativiert. Schätze ich.«

»Aber…«, krächzt du, deine Kehle genauso trocken wie deine weit aufgerissenen Augen. »Aber deine Eltern… Ich … hab sie doch gesehen, wenn ich dich besuchen war… Sie haben mir die Tür aufgemacht, sie… Sie waren oft hier…«

Ben lächelt gequält. »Das waren Illusionen«, sagt er leise.

»Was…?«

»Illusionen«, wiederholt er. »Ich bin ein Illusionist.«

Du hast die Geschichte von Bels Amoklauf noch nicht einmal ansatzweise verdaut, als er beginnt, dir die nächste Portion Wahnsinn aufzutischen. Er erzählt von Flammen – erschreckenderweise erklärt er sie anhand der Varia und vergisst natürlich nicht, dir bei der Gelegenheit auch einiges über die Mafia zu erzählen. Du willst ihm nicht glauben, nicht ein einziges Wort, doch so vieles, was du mit Bel und teilweise auch mit Rasiel erlebt hast, ergibt plötzlich viel mehr Sinn. Belphegors seltsame Fragen, als er dich in der Gasse überfiel. Der Auftragsmord, den Rasiel nie zugegeben hat. Der ganze … Krieg.

Beniamino hat Beweise. Für ein paar Sekunden lässt er die Frau im Wohnzimmer stehen, die du immer für seine Mutter gehalten hast, und erklärt noch einmal, wieso sie in Wahrheit nicht existiert. Dann lässt er sie wieder verschwinden – einfach so – und erklärt, dass sie nicht einmal ansatzweise aussieht wie seine richtige Mutter. Er streicht seine Haare zurück und zeigt dir die Narbe an seiner Stirn. Als ihr zusammen wart, hast du ihn einmal danach gefragt und er sagte, es sei ein Unfall gewesen, den er als Kleinkind gehabt hatte, und er könne sich nicht daran erinnern. Tatsächlich war es mal die Platzwunde, die Belphegors Faust hinterlassen hat.

Er sagt, dass er noch drei andere Narben hat, über die er dich angelogen hat. Er sagt, dass sie in Wahrheit von dem Dolch kommen, mit dem Bel seinen Bruder umbringen wollte. Er sagt, dass er sie dir zeigen kann, aber du lehnst ab. Du glaubst ihm. Du hast nicht genug Kraft, um ihm nicht zu glauben. Du akzeptierst schlicht und einfach alles, was du gehört hast.

Beniamino entschuldigt sich, mehrmals, und sagt, dass er alles tun wird, damit es dir besser geht. Du weißt nicht, was du antworten sollst. Ihr sitzt da und schweigt.

Irgendwann stehst du auf und rufst deine Mutter an, um ihr zu sagen, dass du bei einer Freundin übernachtest und erst morgen nach der Schule nach Hause kommst. Dann gehst du wieder ins Wohnzimmer, kriechst zurück auf die Couch und schläfst gute zwei Stunden später weinend in Bens Armen ein.



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Kommentare zu dieser Fanfic (22)
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Von:  BlueBird_RX580
2011-06-08T21:29:34+00:00 08.06.2011 23:29
Ich jalt mich kurz:
..Siel dieser *piiiiep*...
Das Dienstmädchen ist echt super lieb..
Uuund..
Das Ende ist genauso gut geschreiben wie der Anfang und die Mitte~
*Daumen hoch*
Weiter so~<3

LG
Deblue
Von: abgemeldet
2011-03-12T16:33:20+00:00 12.03.2011 17:33
Wow...
ALso ich muss ja sagen, dein Schreibstil ist echt gut. Die Story reißt einen richtig mit, das man nicht aufhören kann zu lesen.
Bis man irgendwann merkt, das es nciht weiter geht><
Und dann..is der Moment da, den ich so unglaublich fürchte. es ist spannend und dann hört es auf.

Wird sie vergewaltigt oder nicht?oo kommt sie werg? bringt sogar sie ihn vielleicht um? fragen über fragen..
Und dei werden erst im nächsten Kapitel geklärt. Also freu mich auf das nächst eund bin gespannt, was für eine Wendung, die geschichte noch so mit sich bringt.
Von:  Ruruka_Akakuromori
2011-01-30T14:42:53+00:00 30.01.2011 15:42
Ich mag das Kapi auch und man sehr gut die Gefühle von den Mädchen verstehen.
Von:  dumm
2011-01-30T12:27:18+00:00 30.01.2011 13:27
*GASP*

Ich mag das Kapitel. Wunderbar beschrieben, ich mag deinen Schreibstil so unglaublich und hör dir gern beim Vorlesen zu.

40 LBS!

[/konstrukitv]

SCHREIB SCHNELL WEITER!32435466576786regenbogenkotzendeEinhörner
Von: abgemeldet
2010-10-29T04:47:14+00:00 29.10.2010 06:47
Yo-ho-HO!

Ich hab mir das Kapitel ausdrucken lassen und es dann gestern noch im Bett gelesen, daher weiß ich nicht mehr die Einzelheiten, die ich besonders toll - oder eben nicht toll - fand, aaaber sicher ist, dass ich sehr viel Spaß beim Lesen hatte und bei einer Stelle musste ich laut auflachen, zumindest die werd ich mal eben suchen...
...
Ah ja, hier [und eigtl war es klar, dass ich darüber lachen würde]

> [...] und du willst ihm die Augen auskratzen, sollte er welche haben.

LOL. Das war gut. Echt. XD
Ja, da waren noch einige gute Stellen, aber mein Gehirn funktioniert um diese Uhrzeit noch nicht so ganz... Ich fahr heute übers WE nach Hamburg! :D Random? Nein, STREUSELCAKE!
I'd rather fuck you than kiss you.
...
...
XD DAs ist voll der Xanxus-Satz. Oder Squalo. Und nein, das war eigtl nicht auf dich bezogen, das kam nur gerade aus der Musikanlage. Okay, das klingt jetzt unheimlich.
Yaaay, Randomness am Morgen!
Du hast ein paar... kA, wie nennt man das? Stilmittel? - Jedenfalls hast du sowas desöfteren benutzt, nicht nur in diesem Kapitel, auch schon in den übrigen Sachen, die du in letzter Zeit schreibst. Die kommen voll gut. Moment, ich such n Beispiel raus...

> Der Beigeschmack heißt Lüge.

Solche Sachen. Aber das speziell meinte ich grad eigtl nicht, ich such noch mal weiter...

> [...] du starrst Bel an und starrst ihn an und verstehst irgendwann und starrst ihn weiter an.

Da. Sowas.
Ich mag das total. Veggieburger. ... Streich das. Jedenfalls liest sich das voll gut - finde ich jedenfalls.

BAM.
Von:  dumm
2010-10-25T18:16:41+00:00 25.10.2010 20:16
SCHREIB BITTE SCHNELL WEITER.
xDDDD

SUPI GEMACHT. BELPHEGOR IST SO qEIL UND HOT.

[/konstruktives Kommentar]

Ich hab sie heute früh vor der Arbeit noch gelesen.
Und ich muss sagen, dass mein erster Gedanke war "Yay! Endlich mal ein längeres Kapitel." Und dann hatte ich es gelesen und fand, dass es viel zu kurz war. D: D:

Ich mag das Kapitel. AUCH WENN DU DUMME KUH MICH ANGELÜGT HAST. VON WEGEN HAND INNER HOSE. ARSCHLOCH! PAH! UND SOWAS IST MEINE FREUNDIN! WIE ENTTÄUSCHEND!12345647589767521111!!111
Eh, ja. Nein. Whatever.
hat Spaß gemacht es zu lesen. Ich mag den Anfang, die Mitte und den Schluss, Belphegors Zimmer, Frans Hut und das kleine Flugzeug.

Ich freu mich auf das nächste Kapitel. <3

Und ich liebe diese FF.
Und dich auch ein bisschen.
Von:  Sherry-Yumi
2010-05-20T19:24:47+00:00 20.05.2010 21:24
Tolles Kapitel!
Aber wirklich zu kurz!
Luss war irgendwie total cool, so gechillt xD
nur Squalo fand ich irgendwie bisschen komisch, aber kein Wunder, wenn Bel sich so ernsthaft mit ihm anlegen will.
ich freu mich total auf das nächste Kapitel und hoffe, dass "ich" bald wieder auftauche! Und ich bin auf Bel's Plan gespannt...wehe er verschont mich nicht! xDD

Von: abgemeldet
2010-05-18T07:19:56+00:00 18.05.2010 09:19
Yaaaiy, Froschkooopf! :D
Wenn eine Box Of Rape vorkommt, weiß ich nicht, ob ich weiterlesen will. D<

Btw,
> Vorsicht, es wird laut, brutal und unsittlich (ja, genau das). Also tendenziell eher mal ab 16.
steht das schon länger da oder ist das neu und bedeutet, dass ich diese Rape-Sache ernst nehmen muss? /D

Jeeedenfalls ist Luss cool und Bel ja sowieso. Rasiel nicht. XD Orgelt ist der wahre Thronfolger. Das weiß nur keiner. [Der Gedanke kam mir eben am Ende, ignorier das. XD]
Oh und der Anfang war lustig. XDD
Und irgendwie lässt du Squalo ziemlich wie nen Idioten dastehen in dieser FF. Als wäre er wirklich schwer von Begriff. <DDD
Von:  dumm
2010-05-18T00:43:17+00:00 18.05.2010 02:43
CAN'T WAIT FOR THE FUC*IN BOX OF RAPE!

Das Kapitel war viel zu kurz. Schäme dich!
Von:  BarbieTosa
2010-04-07T14:17:28+00:00 07.04.2010 16:17
MomomomoMOMENT MAL!!!!
Rasiel, diese blöde, hässliche, dämliche Kakaerlake, will 'du' umbringen?!
Oo
OK, noch ein grund mehr, warum ich Bel mag!
& Siel am liebsten in ne Zementmaschiene stecken würde!
Oder in die Waschmaschiene...
Je nachdem, wo er mit seinem dickn arsch reinpasst!
Ja, ich bin von Mr. Geniestreich der Natur angekotzt!!
...
OK, jetz hab ich mich abreagiert.
^^
Tolles Kappi, man hat mal wieder das gefühl, mitten drin zu steckn, was man ja auch soll.
xD
Wirklich gut geworden. ;)

lG
Dat Strawberry
x3


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