Merry Christmas
Ich hasse Weihnachten, dachte Kai mit ungewohnter Inbrunst, als er durch die verschneiten Straßen Moskaus stapfte. Ich hasse es wirklich. Das lag nicht nur an der übermäßigen Fröhlichkeit oder den furchtbaren Menschenmassen, die er absolut nicht leiden konnte und durch die er sich dennoch schieben musste, wenn er auch nur einkaufen wollte. Es war auch nicht die alleinige Schuld der übermäßigen Kitschigkeit, die sich in knallbunten Lichterketten und blendendem Lametta sowie glitzernden Christbaumkugeln und Dauerbeschallung mit den immer gleichen Weihnachts- Evergreens manifestierte.
Es war alles zusammen.
Und noch dazu kam…
Kopfschüttelnd ging er weiter und versuchte, die Gedanken zu vertreiben. Zumindest um Geschenke musste er sich keine Sorgen machen- seinem Großvater schenkte er garantiert nichts und der Hauptteil seiner ohnehin äußerst spärlich vertretenen Freunde lebte in Japan. Es gab nur ein Geschenk, um das er sich wirklich kümmern musste und das hatte er schon längst.
Mit Erleichterung erblickte der Halbrusse das Haus, in dem die Wohnung lag, die er mit Yuriy bewohnte. Eilig stieg Kai die Treppen bis zum letzten Stock hinauf, der komplett ihm gehörte, und schloss die Tür auf. Innen war es vollkommen dunkel und still und für einen Moment dachte Kai, dass der Rotschopf nicht da war, doch dann bemerkte das schwache Flackern von fünf Kerzen auf der Sitznische vor dem Fenster. Yuriy saß still neben den goldenen Lichtern und sah hinaus in das Schneetreiben. Das matte Kerzenlicht beleuchtete flackernd und warm seine bleichen Gesichtszüge, die friedlich wie ein stiller See wirkten. Er wirkte dabei ungewohnt weich und verletzlich und Kai empfand beinahe so etwas wie Ehrfurcht bei diesem Anblick, weshalb er es nicht wagte, sich zu rühren, um den Moment nicht zu zerstören. Yuriy jedoch hatte ihn schon längst gehört und drehte ihm lächelnd sein schönes Gesicht zu.
„Ich habe nachgedacht“, sagte er mit sanfter Stimme, während Kai seinen Mantel auszog und ordentlich aufhängte, weil er wusste, dass sein Wolf Unordnung nicht leiden konnte.
„Worüber?“, wollte der Halbrusse wissen und schnürte seine Stiefel auf, stellte sie neben den Kleiderständer, tappte zu dem Rotschopf und setzte sich neben ihn. „Warum genau fünf Kerzen?“, erkundigte er sich und sah wie gebannt in die kleinen Flammen. Nach kurzer Pause, in der er blind aus dem Fenster gesehen hatte, antwortete Yuriy: „Zwei für meine Eltern, zwei für deine Eltern und die Fünfte ist für deinen Großvater.“
„Du hasst ihn doch.“
„Aber dir bedeutet er immer noch etwas, selbst wenn du es nicht zugeben willst oder sogar davon überzeugt bist, dass es nicht so ist.“ Er machte eine Pause und fuhr mit wie üblich eiskalten Fingern zärtlich über Kais Hals hinunter zu den Schlüsselbeinen, wo er kurz verweilte, ehe er wieder hinauf zu Kais Unterkiefer glitt und ihn sorgfältig nachzeichnete. Bleich, er war so bleich…
„Hast du deine Tabletten genommen?“, wollte Kai wissen und zitterte unter Yuriys Berührung, die heute so gar nichts Festes an sich hatte, sondern leicht wie ein unbeschriebenes Blatt Papier war. In die eisblauen Augen trat bei Kais Frage dafür ein harter Ausdruck und der Halbrusse wusste, dass er ihn in seinem Stolz verletzt hatte. „Ja“, antwortete er dennoch und drehte dann den Kopf weg.
„Worüber hast du nachgedacht?“, wiederholte Kai seine vorherige Frage in dem Versuch, Schadensbegrenzung zu betreiben. Lange Zeit blieb es still und er sah mit leerem Kopf, leerem Herzen in die tanzenden, windenden Flämmchen, streckte die Finger aus, um sie zu berühren und wurde von Yuriy fürsorglich daran gehindert.
„Ich habe…über Weihnachten nachgedacht.“ Jetzt geisterten die schmalen Finger wieder über Kais Haut, ließen ihn schaudern und lächeln zugleich. „Ich finde es irgendwie tröstlich, dass jemand geboren wurde, der unser aller Sünden auf sich genommen hat. Ich finde…auch vor allem die Vorstellung tröstlich, dass… Hm. Dass am Ende etwas Wunderbares auf uns wartet, egal, wie viel wir gelitten, egal, wie viel wir gesündigt haben.“
Unentwegt streichelten Yuriys todeskalte Finger über Kais warme Wangen, Lippen, Jochbeine und Kai fror plötzlich trotz der beheizten Wohnung, trotz den flackernden Lichtern neben sich.
„Sprich nicht so“, flüsterte er. „Nicht vor Weihnachten.“ Es spielte dabei keine Rolle, dass er es hasste.
„Wie denn?“, fragte Yuriy ruhig, fast heiter und der Halbrusse entzog sich seinem Griff, um heftig zu erwidern: „Als würdest jeden Augenblick…“ Er schluckte unmerklich. „Als würdest du jeden Augenblick sterben.“
Die blauen Augen weiteten sich beinahe unmerklich und ein kleines, schönes, rätselhaftes Lächeln erschien in Yuriys Mundwinkeln, doch er entgegnete nichts, sondern streifte stattdessen Kais schwarzen Pullover von dessen Schultern, um sich die anmutige Nackenlinie des Halbrussen hinaufzuküssen.
„Du bist so schön“, murmelte er dabei, die zärtlichen Worte vibrierend und wärmend an Kais Haut. „Ohne dich bin ich gar nichts.“
„Sag das nicht.“
Yuriy lächelte und zog Kai an sich, um ihn lange und liebevoll auf die Lippen zu küssen. „In Ordnung.“
Zärtlichkeit. Sanftheit. Weihnachten hatte wirklich eine seltsame Wirkung an sich.
„Das Fest der Liebe, Kai. Es ist irrelevant, dass der Konsum eine Kitschhölle daraus macht. Bei Schokolade achtest du auch nicht auf die Verpackung, nicht wahr? Es zählt, was… deine Seele fühlt. Dass du an etwas glauben kannst. Nur das. Und sonst gar nichts.“
Kai wollte über die Feierlichkeit in Yuriys Worten lachen, doch da war keine Feierlichkeit. Nur Aufrichtigkeit und… vielleicht sogar unendliche Liebe.
„I’ll take it by your side“, sang Yuriy ganz leise und sah Kai ernst an. „Ich liebe dich. Das weißt du doch?“
Ja, dachte Kai so inbrünstig, wie er Minuten zuvor gedacht hatte, dass er Weihnachten hasste, obwohl er es doch gar nicht hassen konnte mit diesem wunderbaren, bildschönen, seltsamen, einzigartigen, komplizierten, todkranken Menschen bei sich, der unerschütterlich an seiner Seite stand.
„Ja“, sprach er seinen Gedanken dann auch aus, spürte jedes Detail an Yuriy, innerlich und äußerlich. „Ja. Ich weiß.“
„Das ist gut“, sagte Yuriy und lehnte sich an Kai. Gemeinsam schwiegen sie, um einfach nur zu sein. Der helle Schein der Flammen strich liebkosend über ihre Konturen und verwischte ihre Schatten zu einem einzigen. Wie von selbst verhakten sich ihre Finger und Yuriy sah zu Kai, um diesen abermals mit seinem kleinen, schönen Lächeln zu bedenken.
Gemeinsam saßen sie auf der Fensterbank, bis die Flammen sacht, wie von Geisterhand bewegt, nach Stunden eine nach der anderen verloschen.
Yuriy schloss die Augen und Kai hoffte still auf ein Weihnachtswunder.