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Dein Tod ist mein Leid

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Dein Tod ist mein Leid
 

"Im Dienst sehen wir uns wieder" versprach ich, denn so nennt sie das Leben, das nach dem Ausbildungslager kommt.

Dean Koontz, die Anbetung
 


 

Ich will soeben mein Zimmer verlassen und mich auf den Weg zu meinem Freund machen, da fällt mein Blick auf die Fotocollage über meinem Bett. Auf ihr sind lauter putzige Erdmännchen zu sehen. Die Fotos bringen eine Erinnerung mit sich.

Ich war einmal mit Papa im Zoo gewesen. Dort hatte es Erdmännchen gegeben, die mich vom ersten Augenblick an fasziniert hatten. Vater hatte mich auf den Arm genommen und ich hatte entzückt gerufen: "Die sind ja süß! Ich will auch so ein kleines Männchen Papa!"

Daraufhin hatte er mir erklärt, dass das nicht ginge, weil die "kleinen Männchen" in den Zoo gehörten. Darüber war ich sehr traurig gewesen und den Rest des Tages quengelte ich, ob ich wirklich keines bekommen könne.

Zwei Tage später hatte er mir dann diese Fotocollage geschenkt und gemeint, jetzt könnte ich mir meine "kleinen Männchen" wenigstens jeden Tag ansehen, auch wenn ich kein eigenes hatte.

Ich sehe mir das Bild gerne an, besonders wenn ich traurig bin.

Ich hätte sehr gerne noch mehr solche Erlebnisse mit ihm gehabt. Wie gern hätte ich ihm meine erste Liebe vorgestellt, wie gern hätte ich meinen Schulabschluss mit ihm gefeiert? Ich werde es nie erleben, dass er mich zum Traualtar führen wird und ich werde auch nie wissen, wie sehr er sich gefreut hätte, wenn er später mal Opa geworden wäre.

Ach Vater, warum ausgerechnet du ...?
 

Ich gehe die Straße entlang, auf dem Weg zur Bushalteselle.

Das Grün der Bäume erinnert mich an das Hemd, das unser Vater an seinem letzten Abend getragen hatte. Es hatte das gleiche, etwas dunklere Grün.

Ich weiß das noch so genau, weil er an dem Abend in mein Zimmer gekommen war, um mir eine gute Nacht zu wünschen und einen Kuss zu geben. Das hatte er selten gemacht. Oft war er abends nicht daheim gewesen und so hatte es manchmal Tage gegeben, an denen ich ihn nur beim Frühstück gesehen hatte. Aber dieses eine Mal war auch das letzte Mal und das stimmt mich traurig. Ich glaube, das Hemd hatte er gern und oft getragen. Er hat es auch auf dem Bild an, das ich von ihm habe.

Ich muss an meinen Traum von letzte Nacht denken. Ich hatte von einer Erinnerung mit ihm geträumt. Es war die Erinnerung an das letzte Weihnachten, an dem wir noch eine ganze Familie gewesen waren. Ich werde nie vergessen wie er mir den Stoffhund schenkte, meinen „Rudi“. Ich hänge heute noch sehr an diesem Hund, weil er das Letzte ist, was ich von unserem Vater habe. Der Heiligabend war sehr schön gewesen, im Gegensatz zu dem Ersten, ohne ihn. Wir hatten kein Geld für einen Baum gehabt und auch keines für Geschenke. Es war ein sehr trauriger Christabend gewesen, der Gedanke an unseren Vater immer präsent …
 

Janick küsst mich zur Begrüßung und es ist schön seine weichen Lippen auf meinen zu spüren, aber es erinnert mich auch daran, dass wir vielleicht noch 15 Jahre miteinander haben, wenn alles gut geht.

Janick ist krank und wir wissen beide, dass er wahrscheinlich dran sterben wird. Der Tod hat seine eiskalten Finger um ihn gelegt und wird ihn nicht loslassen. Es ist sinnlos gegen ihn anzukämpfen. Man kann es zwar versuchen, aber über kurz oder lang wird man diesen Kampf verlieren. Ich denke, der Tod hasst mich genauso sehr wie ich ihn. Er nimmt mir alles, einfach alles. Und ich habe Angst, dass Janick selbst den Tod herbeiführen wird, so ist er doch wegen seiner Krankheit depressiv geworden und hat mir schon einige Male von dem Gedanken erzählt, es einfach zu tun. Ich flehe ihn innerlich an, es nicht zu tun, aber mir ist bewusst, dass der Tod ihn mir so oder so nehmen wird …

Janicks Bartstoppel kitzeln ein wenig. Das bringt den Gedanken, dass Vater auch immer leicht gekratzt hatte, wenn er mir einen Gute-Nacht-Kuss gab. Es ist schwer, einfach loszulassen ...

Mein Freund geht zu seiner Anlage und legt Tina Turner ein. Vater hatte diese Sängerin auch gerne gehört. Kurz nach seinem Tod hatte ich mir all seine Schallplatten geholt und sie mir stundenlang angehört ...

Janick setzt sich auf sein Bett und will sich eine Zigarette anzünden, doch ich nehme sie ihm ab. „Du weißt, der Arzt hat gesagt dass es nicht gut ist, wenn du rauchst. Dein Körper braucht alle Abwehrstoffe. Diese Scheißdinger schwächen doch nur dein Immunsystem“, sage ich ernst, aber er nimmt mir den Glimmstängel aus der Hand und murmelt etwas davon, dass er doch schon versucht, aufzuhören.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er die gleiche Marke wie mein Vater raucht: Marlboro …
 

Ich sitze in meinem Zimmer, das Bild von meinem Vater in der Hand.

Ich vermisse ihn. Oft denke ich, dass mit ihm vieles besser wäre. Aber er wird nie mehr bei mir sein, diese Erkenntnis schmerzt immer noch. Heute ist es genau elf Jahre her, dass er gestorben ist. Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es erst gestern gewesen.
 

Es war an meinem sechsten Ostersonntag gewesen. 1996.

Mein Zwillingsbruder und ich waren mit der Eiersuche fertig und hatten uns auf das Sofa gelümmelt. Unsere Mutter war beim Bügeln. Wir spaßten und alberten rum und lachten viel. Wo Papa war, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, aber das war nichts Ungewöhnliches. Sonntags schlief er entweder bis mittags oder er hatte die Nacht bei einen seiner Freunde verbracht. Kurze Zeit später sollte ich erfahren, dass letzteres zutraf.

„Legst du Bibi Blocksberg ein, Mami?“, frage ich gerade und hielt unserer Mutter die Kassette entgegen, die mir der ‚Osterhase’ gebracht hatte, als es an der Tür klingelte. Sie stellte das Bügeleisen zur Seite, murmelte ein „Gleich“, und verschwand im Flur, um zu öffnen.

Mein Bruder und ich vernahmen zwei männliche Stimmen, konnten aber nicht verstehen, was sie sagten, denn unsere Mutter hatte hinter sich die Wohnzimmertür geschlossen. Als sie wieder hereinkam, war jegliche Freude aus ihrem Gesicht verschwunden. Ich werde nie vergessen, wie traurig es aussah. Ihre Augen blickten kummervoll und todtraurig.

Sie setzte sich zu uns aufs Sofa und bat uns, zu ihr zu kommen. Ihre Stimme klang heiser, gebrochen. Benjamin, mein Bruder, und ich legten die Köpfe auf den Schoss unserer Mutter, er auf der einen Seite, ich auf der anderen. Sie strich uns beiden durchs Haar. „Benny, Nadine…“ Sie rang sichtlich nach Fassung. „Papa wird nicht mehr nach Hause kommen.“

„Ist er in den Urlaub gefahren?“, fragte Benjamin. Mutter versuchte zu lächeln, aber es misslang.

„Nein, mein Schatz. Papa ist jetzt im Himmel...“

Schweigen. Entsetzliche Stille.

Ich verstand nicht, was Mutter da sagte, aber ich wusste, dass es etwas ganz schlimmes war. Und als sie anfing zu weinen, wusste ich, dass es das Schlimmste auf der Welt war, denn es war das erste Mal, dass ich unsere Mutter habe weinen sehen.

Dann schrie mein Bruder los. „Nein! Nein, du lügst! Ich will zu Papa!“ Er hieb auf unsere Mutter ein, schmiss sich anschließend in die Kissen und weinte ...
 

Und wieder einmal frage ich mich: warum?

Eigentlich ist die Antwort darauf so simpel. Es hatte nicht lange gedauert, bis uns unsere Mutter darüber aufklärte, dass unser Vater Drogen genommen hatte. Dadurch war eine Hirnschlagader geplatzt.

Trotzdem: warum?

Heute weiß ich, dass unser Vater dreimal auf Entzug gegangen war aber es nie geschafft hatte. Ich weiß noch, wie er einmal monatelang nicht daheim gewesen war. Für mich zeigt der Versuch, sich von der Sucht zu befreien, dass er uns geliebt hatte.

Ich wünsche mir heute sehr oft, ich hätte wenigstens ein Jahr mehr gehabt, um mit ihm etwas zu unternehmen, um ihn besser kennen lernen zu können. Denn, wenn ich so darüber nachdenke, dann wird mir klar, dass ich unseren Vater kaum kannte. Dafür war die Zeit einfach viel zu kurz und ich viel zu klein. Vater war immer liebevoll gewesen. Er konnte mich immer trösten und zum Lachen bringen. Wir hatten mal Urlaub an der Nordsee gemacht und haben dort Drachen steigen lassen. Der Drachen war im Baum hängen geblieben und wir hatten ihn nicht mehr rausbekommen. Benjamin und ich waren darüber sehr bestürzt gewesen, woraufhin Vater vorschlug, uns einen eigenen zu basteln. Später hatten wir uns einen aus einem blauen Sack und zwei Stöcken, sowie einer Kordel und Klebeband zusammengeschustert. Insgesamt hatte das Basteln mit unserem Vater am meisten Spaß gemacht.

Das ist einer meiner schönsten und liebsten Erinnerungen. Natürlich gibt es auch einige unangenehme, welche, die zeigen, dass er verantwortungslos gewesen war. Er hatte mich zum Beispiel mal in eine Kneipe mitgenommen – später wurde mir klar, dass er sich dort sein Suchtmittel besorgt hatte.

Unsere Mutter ruft zum Essen und unterbricht meinen Gedankenfluss. Ich werfe noch einmal einen Blick in die braunen Augen unseren Vaters. Ich finde, sie gleichen der Erde auf seinem Grab ...

Wieso hatte er nicht rechtzeitig aufhören können? Ich glaube, wenn Papa mehr Zeit gehabt hätte, hätte er seine Sucht in den Griff bekommen. Da bin ich mir sicher. Er hätte einfach nur mehr Zeit gebraucht.

Ich hasse den Tod! Er hat dich mir weggenommen!
 

Manchmal, wenn unsere Mutter bei unserer Oma sitzt, redet sie schlecht über ihn. Ich finde das nicht richtig, ich finde es unfair. Er war kein schlechter Mensch. Klar, er hinterlies Schulden und das Kindergeld, die Halbwaisen- und Witwenrente reichten nicht aus. Mutter musste das Putzen aufgeben und bei der Johanniter als Aushilfe anfangen, aber er war nie handgreiflich geworden und – was noch wichtiger ist – er hatte versucht, aufzuhören!

Ich sitze am Esstisch und mustere Benjamin. Ich finde, dass er Vater Tag für Tag ähnlicher sieht. Er hat die gleichen markanten Gesichtszüge, die gleichen hohen Wangenknochen und wenn er sich das Haar wachsen lässt, hat er die gleiche, so sehr verhasste Locke im sonst glatten Haar, wie Vater. Und der Tod hat längst angefangen, nach ihm zu greifen.

Ich sehe es nicht gerne, wie kaputt mein Bruder durch die ganzen Chemotherapien ist. Es macht mich sauer, dass der Tod trotzdem nicht von ihm lässt, dass die Tumore in seiner Lunge und an seinen Lymphknoten nicht verschwinden und er deshalb bald operiert werden muss ...

Wäre unser Vater noch hier, könnte ich dass alles viel besser verarbeiten - da bin ich mir sicher. In all den Jahren, in denen er nicht mehr da ist, hätten wir ihn oft gebraucht.

Nach seinem Ableben wurden mein Zwillingsbruder und ich ungewöhnlich aggressiv. Wir machten die Dinge anderer Kinder kaputt, schlugen unsere Mitschüler, die uns wegen unseres Vaters hänselten. Einmal, als ein Klassenkamerad zu mir sagte, ich solle doch meinen Vater „über den Tisch ficken“ brach mein Bruder ihm die Nase. Unsere Aggressionen wurden sogar so schlimm, dass unsere Mutter sich nicht besser zu helfen wusste, als uns in eine Therapie zu geben. Aber auch sie hatte sich in dieser Zeit stark verändert. Sie schrie viel öfter, es gab ab und an mal einen Klaps auf den Hintern. Sie hatte auch viel weniger Zeit. All die schönen Ausflüge in den Park, zum Oberwaldhaus oder in den Zoo blieben aus. Natürlich war sie immer bemüht, soviel Zeit wie möglich mit uns zu verbringen, aber oft gelang es ihr einfach nicht. Ich weiß noch, was für eine Angst ich hatte, Mutter würde vor lauter Arbeit tot umkippen. Die Befürchtung, sie könne allein sein, hatte ich ebenfalls. Woher diese Angst mit dem Alleinsein kam, das weiß ich bis heute nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich damals beschlossen hatte, unserer Mutter viel im Haushalt zu helfen und nicht mehr zum Spielen raus zu gehen, damit sie nicht allein war. Ich war ganz bestürzt, als ich bemerkte, dass Mutter deshalb anfing, sich Sorgen um mich zu machen.

Zu dieser Zeit konnte ich nicht älter als acht oder neun gewesen sein. Nein, die Zeit nach Vaters Tod war ganz gewiss nicht einfach und sie ist es heute immer noch nicht ...

Der erste Schultag nach diesem schrecklichen Ereignis war für mich schlimm gewesen. Meine Lehrerin hatte mit uns einen Stuhlkreis gebildet und dann die Klasse darüber informiert, was für einen Verlust ich in den Osterferien erlitten hatte. Darauf hatte ich sauer reagiert und angefangen zu schreien, dass sie das nichts angehe. Dann war ich weinend aus dem Zimmer gerannt.

Wenn ich heute darüber nachdenke, dann kommt die gleiche Wut wieder auf. Ich denke, sie hatte kein Recht, es meiner Klasse zu sagen, denn die Sache geht nur mich und meine Familie etwas an.
 

Ich gehe am Abend spazieren. Das mache ich immer, wenn ich allein sein möchte. Durch die Straßenlaternen, die in größeren Abständen aufgestellt sind, ist es nicht richtig dunkel, aber ich kann die Sterne am Himmel trotzdem sehen.

Als unser Kanarienvogel "Franky" gestorben war, hatte Vater mir erzählt, er wäre nun oben bei den Sternen und wäre selbst einer. Natürlich weiß ich heute, dass es Unfug ist. Genauso wenig gibt es einen Gott. Gäbe es einen, hätte er mir meinen Vater gelassen. Trotzdem ist es ein schöner Gedanke, dass mein Vater einer von diesen vielen Sternen sein könnte.

Ach Papa, ich liebe dich!



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