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Fortissimo

von

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10. Satz: Grave

10. Satz: Grave

(schwer, feierlich, ernst)
 

„Eingesperrt.“

Ryuichi lächelte ihn an. Seine Augenbrauen machten dabei etwas Komisches. Hinaufgezogen kräuselten sie sich in der Mitte und nach außen hin, nach rechts und links fielen sie schräg hinab. Genau dazwischen, über der Nasenwurzel und unter der Stirn, bildete sich eine Falte. Obwohl seine Brauen das taten und obwohl seine Augen mitmachten, lächelte Ryuichi trotzdem. Es sah fast aus, als würde er es ernst meinen.

„Eingesperrt“, wiederholte er und breitete kurz die Arme aus, „all diese kleinen Existenzen.“

An den Gehegen vorbeilaufend hielt er Tatsuhas Hand fest in seiner eigenen. All diese kleinen Existenzen.

„Die Welt ist ein Zoo. Ein Käfig für jeden. Immer einsam, nie allein.“

„Das klingt traurig“, sagte Tatsuha und Ryuichi antwortete:

„Traurig ist nur ein Wort.“

Sie schauten sich die Tiere an, verschwommene Geschöpfe vor Glas und Gitterstäben. Einen Moment fühlte sich Tatsuha, als wäre daran etwas falsch und als befände er sich auf der verkehrten Seite.

„Wir müssen draußen bleiben. Menschen werden von ihnen ausgesperrt.“

„Haben wir sie nicht eingesperrt?“

„Das glaubst du, weil der Raum auf deiner Seite der Gitterstäbe größer ist. Aber ist er das wirklich?“

War er das wirklich?

Nachdenklich einer ungreifbaren Lösung auf der Spur drehte sich Tatsuha auf dem Absatz herum, bis er Ryuichi wieder begegnete. Dessen Gesicht, kindlich, erwachsen und geheimnisvoll zugleich, tauchte unvermittelt zwischen den Gitterstäben auf. Kurzzeitig wunderte sich Tatsuha, wieso der Sänger sich eingeschlossen hatte. Mit den Händen die harten Eisenstangen umklammernd erkannte er jedoch bald, dass er selbst es war, der sich in einem Käfig befand. Schwere Ketten hielten ihn fest und wilde Tiere teilten seine Gefangenschaft, doch duldeten sie seine Anwesenheit nicht.

„Warum bist du dort und nicht hier?“, hörte sich Tatsuha rufen.

Von der anderen Seite kam die Antwort:

„Weil unsere Welten zu verschieden sind.“

Waren sie das wirklich?

Konnte nur ein anderer Sänger, ein ebenbürtiger Gefährte und Rivale, jenes kämpferische Spiel bestreiten, nach dem es Tatsuha verlangte?

Unerreichbar. Eingesperrt. Die wilden Tiere umkreisten ihn bereits. Sie schnappten nach seinen Händen, begruben ihn unter mächtigen Tatzen, legten ihre gewichtigen Pranken auf seinen Körper, bissen und nagten an seinen Fingern.
 

Vom Laut eines beschwerlichen Stöhnens geweckt, welches offenbar aus seinem eigenen Mund gedrungen war, wurde Tatsuha mit einem plötzlichen Ruck wach. Seine Handgelenke schmerzten, seine Finger ebenso wie sein Brustkorb, was, wie er schnell feststellte, von dem Gewicht herrührte, das auf ihm lastete. Ein warmes, beruhigendes, lebendiges Gewicht.

Er blinzelte und sah zuerst die Schlieren eines grauen Morgenlichts über seine Zimmerdecke wandern. Allerdings stimmte der Blickwinkel nicht. Er lag zu nah am Fenster, in einer unbequemen Haltung. Der Fernseher lief, sodass er mit seinen langsam erwachenden Sinnen Gespräche vernahm, die er zuerst nicht verstehen konnte, als wären sie in fremden Sprachen formuliert. Bald jedoch füllten sich die Worte mit Inhalt, ergaben ein klar strukturiertes Bild und endeten in einer bedeutungslosen Dauerwerbesendung.

„Magical Power Up Tsubasa! Fühlen Sie sich so leicht wie eine Feder. Verwenden Sie dieses Sportgerät und Sie werden schlanker und glücklicher! Zu Gast ist heute Rumiko-san. Hallo, Rumiko-san!“

„Guten Morgen! Ich freue mich hier sein zu dürfen.“

„Noch vor wenigen Wochen hat Rumiko-san fünfzig Kilo gewogen.“

„Zu viel gegessen und in meiner Freizeit komme ich nur selten hinaus. Peinlich, peinlich, aber ich habe Süßigkeiten doch so gern, ojemine.“

„Das alles macht gar nichts mit Magical Power Up Tsubasa!“

„Jetzt wiege ich unter vierzig Kilo!“

„Was für ein Glück für dich, Rumiko-san. Applaus! Applaus!“

„I don’t care for myself.“

Aus der Realität unterbrach murmelnder Gesang das Geschwätz der Werbesendung und erinnerte Tatsuha an die Last auf seinem Leib.

Ryuichi war zurückgekehrt, irgendwann, nach etlichen Stunden, in denen Tatsuha in der vergangenen Nacht versucht hatte sich von der Heizung zu befreien und schließlich erschöpft eingeschlafen war. Eine seiner Hände war mittlerweile von der Fessel gelöst worden. Stattdessen wurde sein Arm von dem Sänger festgehalten, der sich ungeniert auf ihn gelegt hatte und ihm hierbei einen Ellbogen in die Rippen bohrte, während er an den Fingern des jungen Priesters nuckelte.

Tatsuha seufzte. Kein Wunder, dass seine Fingerkuppen weh taten, wenn jemand eine unbestimmte Zeit lang auf ihnen herumgekaut hatte.

„Ryuichi, wach auf.“

Tatsuha bewegte sich ein wenig und versuchte ihn damit aufzuwecken. Zwar wäre er gern noch länger liegen geblieben, die Wärme des fremden Körpers an seinem eigenen genießend, dummerweise machte ihm etwas einen Strich durch die Rechnung, das ihn bereits in den letzten Stunden zu quälen begonnen hatte.

„Ryuichi.“

Allmählich reagierte der Sänger auf die Weckaktion, regte sich müde und hörte schließlich damit auf, die fremden Finger als Beißring zu missbrauchen.

„Deine Hände sind eisig, Tatsuha-kun“, grummelte Ryuichi verschlafen und undeutlich.

„Weil du mich hier ohne Decke liegen gelassen hast“, stellte Tatsuha trocken fest. „Egal. Wer selbst kalt ist, muss nicht frieren. Seit wann bist du wieder da?“

„Erst seit kurzem. Es wurde schon hell.“ Ryuichi dachte nicht daran, aufzustehen, machte es sich hingegen mit dem Kopf auf der Brust des Anderen bequem.

„Warst du die gesamte Nacht unterwegs?“, wollte Tatsuha wissen und streichelte, an die Decke starrend, durch Ryuichis zerwuscheltes Haar. Leise schnurrend antwortete dieser:

„Nein, heute habe ich auf einer Parkbank übernachtet.“

„Konntest du etwa den Rückweg nicht finden?“

„Es gab Pläne, die mir den Weg zeigen wollten. Anleitungen, wie ich mein Leben führen sollte.“ Die Augen schließend schüttelte Ryuichi den Kopf, als wollte er die vergangenen Stunden abwerfen, seine Pilgerschaft in Vergessenheit geraten lassen. Die letzte Nacht war wie ein Labyrinth gewesen. „Das war alles so bunt und verwirrend. Ich verstand es nicht. Ich habe nicht verstanden, was ich tun muss.“

„Bitte geh nicht wieder weg.“

Tatsuha sprach diesen Satz aus, bevor er sich davon abbringen oder überhaupt darüber im Klaren werden konnte, was er sagte.

„Wieso nicht?“, fragte Ryuichi unbescholten. „Wieso sollte ich nicht weggehen, Tatsuha-kun? Du kannst mir doch auch nicht helfen und mir sagen, was ich tun soll. Warum sollen Menschen nicht einfach so verschwinden, ohne dass es jemand merkt?“

Tatsuha schluckte schwer. Von dieser Warte aus hatte er es noch gar nicht betrachtet. Er befürchtete, Ryuichi käme nicht mehr zurück. Nicht aus Gehässigkeit, sondern schlichtweg deshalb, weil er es vergessen könnte. Weil er Tatsuha vergessen könnte. Der einzig glückliche Umstand war der Liedtext auf seiner nackten Haut. Ihn würde Ryuichi sicher nicht vergessen.

„Mach mich los.“ Die Forderung kroch dem Winterfrost vergleichbar über den Boden des Raumes, über abgenutzte Tatami und rissige Holzdielen, die unter dem Gewicht und durch die unbekannten Bewegungen des Hauses leise knarrten. Tatsuhas Hals kratzte. Ihm tat sein schneidender Tonfall längst in der Kehle weh.

Ryuichi allerdings schien sich in keiner Weise angegriffen zu fühlen und fragte schmollend:

„Wieso denn?“

„Du hast mich hier angekettet, glaubst du, das ist bequem? Ich kann mich kaum rühren.“

„Das war doch der Zweck meiner Aktion, Tatsuha-kun.“

„Dann ist dieser Zweck jetzt zur Genüge erfüllt. Außerdem habe ich Hunger.“

„Ich kann dich füttern. Was magst du denn?“

„Okonomiyaki. Aber darum geht es nicht!“ Handschellen und Heizungsrohr führten im Zuge eines neuerlichen Befreiungsversuchs klirrend und rasselnd ein Zwiegespräch. „Du kannst mich hier nicht ewig festhalten!“

„Aber warum denn nicht?“

„Weil ich mal aufs Klo muss!“, brüllte Tatsuha nun frei heraus.

„Das stört mich nicht.“

„Mich aber!“

Widerwillig leistete Ryuichi der Aufforderung endlich Folge und ließ sich von Tatsuha zum Schlüssel der Handschellen dirigieren. Dessen Unmut verwandelte sich hierauf rasch zurück in seine übliche Selbstsicherheit.

„Ach so, was die Sache mit dem Füttern anbelangt“, erwähnte Tatsuha mit einem Grinsen, bevor er, von den Fesseln befreit, ins Badezimmer eilte, „da nehme ich dich beim Wort.“
 

Sie hoben mit dem Handrücken die am Eingang aufgehängten Stoffbanner an und beugten sich beim Eintreten unter ihnen hindurch.

„Guten Tag. Wir freuen uns, Sie in unserem Restaurant willkommen zu heißen. Bitte folgen Sie mir. Ich werde Ihnen einen Platz zuweisen. Wünschen Sie, am Tresen zu speisen?“

Da es relativ zeitig und das Geschäft noch nicht lange geöffnet war, saß nur ein einziger anderer Gast vor seiner Mahlzeit aus einem mit Weißkohl gebratenen Pfannkuchen. Ryuichi und Tatsuha schlenderten der Empfangsdame hinterher, welche die beiden Männer mit höflicher Verbeugung bat, auf den hohen Hockern an der bislang freien Theke Platz zu nehmen. Nach der Bestellaufgabe erfüllten zunehmend geschäftiges Treiben und der Duft von Essen das Lokal. Während der Küchenchef diverse Zutaten in einer Schüssel vermengte und sie zischend auf die den gesamten Tresen entlanglaufende Herdplatte goss, jaulte er fröhlich ein paar japanische Volkslieder.

Tatsuha beobachtete den Entstehungsprozess seines Okonomiyakis und wagte sich zur Überbrückung der Wartezeit an eine gefährliche, womöglich aussichtslose Frage.

„Was ist damals geschehen?“

Dampf waberte um sie herum hinauf zur Decke, zwei Spatel schabten über die pechschwarze Herdplatte und ein Lied verklang dissonant zwischen all diesen Geräuschen.

Den verdutzten Blickkontakt einfangend und aufrechterhaltend präzisierte Tatsuha mit äußerster Eindringlichkeit seine bereits häufig gestellte Frage.

„Warum habt ihr aufgehört?“



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