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Fortissimo

von

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7. Satz: Staccato

7. Satz: Staccato

(hart, unverbunden, kurz abgestoßen)
 

„Stört dich das?“ Tatsuha wedelte mit einer Schachtel Zigaretten in der Luft herum, um Ryuichi zu verdeutlichen, was er mit seiner Frage meinte. Dieser zuckte mit den Schultern.

„Mach ruhig. Noriko-chan raucht ebenfalls. Kumagoro manchmal auch, aber er will damit aufhören, weil ihm der Hals davon kratzt und er ständig sein Fell ankokelt.“

„Lass das Licht gedimmt“, verlangte Tatsuha sanft, als sein Gast die Hand zum Schalter ausstreckte. Einige mit Papier bespannte Standleuchten warfen geringe Helligkeit aus den Raumecken ins Innere. Das Fenster öffnend lehnte sich Tatsuha an den Rahmen und blies den Rauch seiner entzündeten Zigarette in die Nachluft. „Schadet das nicht ihrem Gesang?“

Ryuichi zuckte teilnahmslos mit den Schultern, während er auf einem Hasenohr von Kumagoro herumkaute und nuschelte:

„Noriko kann machen, was sie möchte. Es ist nur wichtig, dass ich herausragend singe.“

„Also würdest du nicht...?“

Erneut wedelte Tatsuha mit seiner halbleeren Zigarettenschachtel und wieder zuckte Ryuichi lediglich mit den Schultern. An einer Hauswand in der Nähe war ein Reklameschild defekt. Es flimmerte auf, wurde abwechselnd hell und dunkel und surrte dabei wie ein Mottenfänger. Nachdenklich zog Tatsuha an seiner Zigarette.

„Ich glaube, er hat Angst vor mir“, sagte Ryuichi, auf kindliche Weise in sich gekehrt. Verwundert schaute Tatsuha bei dieser Aussage zu ihm auf. Natürlich wusste er, wer gemeint war. Es ging ohnehin nie um eine andere Person.

„Wer hätte das nicht?“ In übertriebener Belustigung ging Tatsuha auf die Mutmaßung ein, um hinter einer aufgesetzten guten Stimmung seine schlechte Laune zu verbergen. „Du bist ziemlich durchgeknallt, aber falls es dich aufmuntert...“ Er grinste, als würde er die Zähne fletschen. „Ich habe keine Angst vor dir.“

„Er hat gesagt, ich sei sein Idol!“

Aggressiv zog Tatsuha stärker an seiner Zigarette. Da hatte er bereits diverse Treffen mit Ryuichi arrangiert, ihn mittlerweile sogar in seine eigene Wohnung befördert und dennoch schien dieser in manchen Situationen geistig völlig abwesend zu sein. Zum Kotzen. Spätestens jetzt war Tatsuha angepisst.

„Warum will er trotzdem nicht mir gehören?“, jammerte Ryuichi. „Stattdessen will er...“

„Meinen Bruder“, fuhr Tatsuha dazwischen.

„Was hat der, was ich nicht habe?“, quengelte Ryuichi weiter.

„Er ist groß, cool, erwachsen, hat einen tollen Körperbau und ein schönes Gesicht. Wer könnte ihm schon widerstehen?“

„Du bist gemein.“ Die Lippen aufeinanderpressend taxierte Ryuichi ihn von der Seite, bevor er sich mit seinem Plüschtier im Arm über den Boden und den unordentlich ausgebreiteten Futon rollte. Tatsuha fragte sich, ob Ryuichi ihn nur provozieren wollte oder ob er sich tatsächlich kein Stück für ihn interessierte.

„Ich habe nicht gesagt, dass du keine dieser Eigenschaften besitzt“, relativierte er seufzend. „Groß bist du allerdings wirklich nicht. In Bezug auf seine Vorzüge ist mir mein Bruder übrigens sehr ähnlich.“

„Stimmt, du siehst echt gut aus.“ Rücklings auf dem Futon liegend kostete Ryuichi die hoffnungsvolle Überraschung des Teenagers mit einer kurzen, unbekümmerten Pause aus, bis er sich dessen Wortwahl anschloss und hinzufügte: „Erwachsen bist du allerdings nicht.“

Sogleich schnippte Tatsuha seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster, war in Windeseile bei dem älteren Mann auf dem zerwühlten Stoff seiner Schlafstätte und hielt dessen Handgelenke mit eisernem Griff fest. Es verschaffte Tatsuha ein Hochgefühl, dass er durch seine körperliche Konstitution überlegen und es somit ein Leichtes für ihn war, den Sänger in seine Gewalt zu bringen.

„Meinst du, du wärst so viel erwachsener?“

„Was machst du denn, Tatsuha-kun?“ Ryuichi wimmerte fast, als er sich unter ihm zur Wehr setzte, die Augen ängstlich geweitet. Ein paar Utensilien, mit denen er rasch hätte gefesselt werden können, lagen in Reichweite. Das wusste Tatsuha allzu genau, doch er langte nicht danach und rührte sich nicht mehr, während er den Anderen unter sich betrachtete. Er konnte dessen Hilflosigkeit nicht genießen. Denn das war es nicht, wonach er verlangte.

Es wäre zu einfach.

„So macht es keinen Spaß“, entschied er unvermittelt. Abrupt machte er sich von Ryuichi los, strich ihm lachend durch das wirre Haare und tat, als habe er nur einen Scherz gemacht.

Ob er gelassen oder glaubhaft wirkte, war ihm momentan egal.

Was war das Geheimnis hinter der charakterlichen Wechselhaftigkeit des Sängers? Warum war es nicht er, Tatsuha, der diese Seite in Ryuichi auslöste? Es musste doch irgendeinen Weg geben. Einen Weg ohne Shuichi Shindo.

Um mit der Schnelligkeit seiner Worte deren Sinn zu verschleiern, zischte Tatsuha äußerst zügig:

„Ich werde dafür sorgen, dass du mich ernst nimmst.“

Damit zündete er sich genervt eine weitere Zigarette an.
 

Gleichmäßig in einem Raster waren über ihm medizinballgroße Öffnungen angeordnet. Ringsum alles schwarz drang bloß aus diesen oberen Löchern diffuses Licht. Mutig steckte Tatsuha seinen Kopf durch solch ein erleuchtetes Rund. Sein Trommelfell vibrierte von klingelnden Geräuschen, die nach Pachinko oder Kasino klangen. An der Oberfläche bemerkte er, dass er sich tatsächlich in einer Spielhölle befand. Er war ein Maulwurf und lugte aus einem Whac-A-Mole hervor.

Ein weißes Gespenst ohne Füße, mit einem Dreieck auf der Stirn und Kerzen an den Schläfen, wurde auf ihn aufmerksam, huschte schnell näher und schlug ihm mit einem Holzhammer auf den Schädel.

„Wach auf!“, brüllte das Gespenst fröhlich und schlug ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal zu. „Wach auf! Wach auf! Wach auf! Wach auf! Wach...!“
 

Ächzend regte sich Tatsuha. Sein Geist schälte sich aus den Fängen des unsinnigen Traumes, der ihn bis eben festgehalten hatte. Allmählich wurde sein Verstand klarer. Er kam endlich zu Bewusstsein. Zusammen mit der Realität traf ihn leider auch die volle Wucht von stechenden Kopfschmerzen. Sie hämmerten gegen seine Schädeldecke wie kurz zuvor die Schläge des obskuren Gespenstes. Begleitet wurde das Pulsieren in seinen Schläfen von einem Klingeln und hölzernen Pochen, das ihn ebenfalls an seinen Traum erinnerte.

Erst jetzt registrierte Tatsuha, dass diese Geräusche nicht eingebildet, sondern real waren. Jemand klopfte und klingelte ziemlich energisch an seiner Wohnungstür.

Gequält stöhnend erhob er sich und stieß dabei einige leere Bierdosen um, von denen er sich am vorigen Abend ein paar zu viel gegönnt hatte, einerseits aus Frust, andererseits, wie er zu seiner Schande gestehen musste, um seine jugendliche Erregbarkeit zu hemmen, die durch die Anwesenheit des von ihm angebeteten Sängers ausgelöst wurde. Tatsuhas Emotionen waren mittlerweile unentwegt damit beschäftigt, mit seinem Körper Roulette zu spielen. Nach Roulette fühlte sich auch seine Umgebung an, die sich wirbelnd im Kreis drehte. Wie spät war es überhaupt? Der Morgen war grau und trüb und viel zu früh.

Im Aufstehen bemerkte Tatsuha, wie schlecht und schwindlig ihm eigentlich war. Seine nackten Unterarme, die nicht vom Stoff seines kurzärmligen Shirts bedeckt waren, zierte ein unansehnliches Tatamimuster.

Währenddessen lag Ryuichi in knapper Entfernung noch immer friedlich auf dem Futon und schlief mit seinem Plüschtier im Arm wie ein kleiner Junge. Ein einunddreißigjähriger kleiner Junge. Tatsuha konnte nicht bestimmen, ob sein Idol zu unbedarft oder zu sadistisch war, um seine Annäherungsversuche ernst zu nehmen. Wahrscheinlich traf beides zu.

Stolpernd erreichte Tatsuha die Tür und riss sie wütend auf.

„Wer stört?“

„Das wurde auch Zeit“, begrüßte ihn Toma Seguchi mit einem kalten Lächeln. „Ist er bei dir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er Tatsuha mit seiner behandschuhten Rechten beiseite, um in die Wohnung zu gelangen. Kurz machte er den Eindruck, als würde er nach einem Rundumblick abfällig die Nase rümpfen, dann jedoch sah sein Gesicht wieder auf übliche Weise mild und aggressiv zugleich aus.

Der ehemalige Präsident von N-G Records nickte in Ryuichis Richtung, welcher weiterhin schlafend auf dem Boden lag, und fragte freundlich:

„Wolltest du ihm helfen, sich den Kopf freizuvögeln?“

„Ich habe ihn nicht angerührt.“

„Ryuichi ist zurzeit unausstehlich.“ Seguchi zupfte teilnahmslos an den Fingerenden seiner Handschuhe. Entweder erwartete er, dass sein Bandpartner nicht so bald erwachte, oder es war ihm schlichtweg egal, falls dieser die Aussagen mitbekam. „Wenigstens nutzt er seinen Elan gewinnbringend und liefert pausenlos einen Hit nach dem anderen ab. Es liegt nur an seinem Perfektionismus, seiner Unzufriedenheit und Selbstkritik, dass er momentan so schwierig ist.“

„Bist du nicht ein bisschen kaltherzig? Du forderst immer nur Leistung von ihm und verlangst womöglich zu viel.“

Unbeeindruckt heftete Seguchi seinen Blick auf Tatsuha, wobei sein Lächeln eine Spur eisiger wurde, als er sagte:

„Ich nahm an, du seist ein Fan von Nettle Grasper. Wenn du so ahnungslos daherredest, muss ich das wohl stark bezweifeln. Dann hast du Ryuichi Sakuma nicht verstanden.“

„Er hat all diese Songs innerhalb von drei Wochen aus dem Ärmel geschüttelt! Was ist mit denen davor? Die hat er doch...“

„...in Amerika geschrieben, das stimmt. Diese Stücke waren für ihn allein. Für ihn als Solokünstler.“

Tatsuha öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Er wusste, dass es stimmte, was sein Schwager über Ryuichis vergangene Karriere sagte, aber trotzdem ergab es keinen Sinn. Es war anders, als es den Anschein hatte. Bevor er seine Bedenken äußern konnte, räumte Seguchi jedoch ein:

„Er hat keinen einzigen davon veröffentlicht. Frag dich mal, wieso.“ Einige Sekunden ließ Seguchi seine Aufforderung nachklingen und fügte schließlich hinzu: „Es war K, der Ryuichi nach Amerika gelockt hat.“

„Wozu das alles?“ Aufgebracht packte Tatsuha seinen Besucher am dichten Fellkragen seiner Kleidung. „Die Auflösung der Band, sein Verschwinden, die angebliche Solokarriere, die Schauspielerei. Sag mir, wieso! Wie soll K ihn denn von hier weggelockt haben?“

„Ich rate dir, meinen Kragen loszulassen“, befahl Seguchi leise. „Der Mantel war teuer.“ Mit knirschenden Zähnen lockerte Tatsuha seinen Griff. Daraufhin glättete der blonde Keyboarder geflissentlich seine Kleidung, ging zu seinem Bandleader hinüber und neben ihm in die Hocke. Er betrachtete Ryuichi mit einem Gesichtsausdruck, den Tatsuha schwer deuten konnte. Genauso schwer war auch die kryptische Erklärung zu verstehen, die Seguchi nun ablieferte. „K hat ihn mit dem Hasen zum Flughafen gelotst. Ryuichi ist nur dem Kaninchen gefolgt und danach in ein tiefes Loch gefallen, aus dem er drei Jahre lang nicht herausgekrochen ist.“

Gedankenversunken schaute Tatsuha hinab auf Ryuichis schlummerndes Gesicht. Dessen Lippen bewegten sich kaum merklich.

„I thought it would be easy“, sang er beinahe stumm, „too easy to lose you.“

Überdeutlich konnte Tatsuha den Klang jener vertrauten Stimme vernehmen. Mehr als damals glaubte er in diesem Moment, sein Herz müsste daran zerbrechen.



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