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Gejagte Jäger

Wichtelgeschichte für Evenfall
von

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Herbstschnee

Aus den Kopfhörern des MP3-Players dröhnte ‚Kansas’. Die Musik war für die Ohren eines Menschen nur leise hören, doch für Andreas war sie laut. Sein Fuß wippte unbewusst im Takt, seine Lippen formten lautlos den Text. ‚Carry on, my wayward son. There’ll be peace when you are done.’ Andreas seufzte und schlug das alte, in Leder gebundene Buch zu, in dem er gelesen hatte. ‚Ich habe meinen Frieden noch lange nicht gefunden’, dachte er, als er die Musik ausstellte und den MP3-Player neben das Buch auf sein Bett warf. Er erhob sich und ging zum Fenster hinüber.

Der Himmel war von grauen Wolken verhangen. Die Chance, dass es Schnee gab, wie es der Wetterbericht angekündigt hatte, stand nicht schlecht. Andreas lehnte die Stirn gegen das kalte Glas. Ein Teil von ihm, der Teil, der immer noch ein kleiner Junge war, freute sich darüber, doch ein anderer war besorgt. Im Schnee konnte jeder, der es wollte seinen Spuren folgen, aber die Nacht im Haus zu verbringen war keine Option. Er sehnte sich danach unter dem Licht des Vollmonds durch den Wald zu streifen, die Gerüche der Natur wahrzunehmen, zu jagen, wie sie es immer getan hatten.

Andreas seufzte erneut leise, wandte seinen Blick vom Fenster ab und ging die Treppe hinunter.
 

Das große, alte Haus war still. Außer ihm und Emilie lebte niemand mehr dort. Sie waren die letzten, alle anderen waren fortgezogen, in der Hoffnung den Jägern zu entgehen. Andreas bezweifelte, dass es ihnen gelang, selbst wenn sie bis ans Ende der Welt flohen. Der Hass und das Misstrauen der Menschen würden ihnen auch dorthin folgen.
 

Andreas betrat die kleine, hell erleuchtete Küche und küsste Emilie auf die Wange.

Sie sah ihn fragend an. „Du hast wieder in der Familienchronik gelesen“, vermutete sie und strich ihm durch das dunkle Haar. Ihre Hände waren kalt und feucht. Sie hatte das Geschirr abgewaschen. „Warum tust du das, wenn es dich jedes Mal traurig stimmt?“, wollte sie wissen.

Andreas löste sich von ihr und ließ sich auf seinen Platz an dem wackeligen, alten Holztisch fallen. Er vergrub sein Gesicht in seinen Armen. Manchmal verstand er sich selbst nicht. Das trübe, graue Novemberwetter stimmte ihn immer melancholisch.

Eine zierliche Hand legte sich in seinen Nacken und massierte ihn sanft. Emilie sah man ihre Kraft nicht an. Für Fremde wirkte sie beinahe zerbrechlich, aber der Schein trog. Sie war stark, in manchen Dingen stärker als er. Andreas glaubte, dass nichts und niemand ihren Willen brechen konnten.

„Du bist ein Dummkopf“, sagte sie und stellte eine Tasse Kaffee vor ihm auf den Tisch, bevor sie sich neben ihn setzte.

Andreas seufzte, er wusste nicht zum wievielten Male an diesem Tag, als er sich aufrichtete. „Ich weiß“, murmelte er und umklammerte die Tasse mit beiden Händen. Sie war warm und schien einen Teil der Kälte zu vertreiben, die sich schon den ganzen Tag in seinen Knochen festgesetzt hatte.
 

Nachdenklich betrachtete Andreas die Holzmaserung der Tischplatte. Wie viele hier im Laufe der Jahre wohl schon gesessen hatten?

„Glaubst du an Vampire?“, fragte er plötzlich.

Emilie sah ihn einen Augenblick verdutzt an, bevor sie leise lachte. In der Stille klang es unangenehm laut. Sie räusperte sich und wurde wieder ernst. „Wie kommst du jetzt darauf?“

Andreas drehte die Tasse mit dem Weihnachtsmotiv in seinen Händen. „Urgroßvater Matthias hatte mehrmals von einer Frau berichtet, die nach feuchtem Laub roch“, antwortete er. „Jedes Mal, wenn er sie sah, schien sie keinen Tag gealtert zu sein, obwohl Jahre vergangen waren.“

Emilie legte den Kopf schief als überlegte sie. „Ich denke“, sagte sie schließlich, „dass sie eine Todesbotin war. Immer, wenn Matthias ihr begegnete, starb jemand. Seine Eltern und später der Mann, der ihn verwundete.“ Sie hob die Hand, um Andreas zu bedeuten, sie aussprechen zu lassen. „Warum sie ihm geholfen hatte, weiß ich auch nicht. Vielleicht war es einfach noch nicht seine Zeit.“ Emilie zuckte mit den Schultern. Sie nahm Andreas die Tasse aus der Hand und trank den Rest des mittlerweile lauwarmen Kaffees. „Denk jetzt nicht mehr darüber nach. Ich will die Nacht mit dir genießen“, fügte sie hinzu und küsste ihn auf die Schläfe. „Wir werden es wohl nie erfahren.“ Mit diesen Worten, stand sie auf, stellte die Tasse ins Spülbecken und ging in den Flur, um sich ihren Mantel anzuziehen. „Ich freu mich schon!“, rief sie Andreas zu. „Wir hatten schon ewig keinen Schnee mehr!“

Andreas sah aus dem Fenster. Dicke, weiße Flocken fielen vom Himmel. Er hatte gar nicht bemerkt, dass es zu schneien begonnen hatte. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er aufstand und Emilie folgte.
 

Andreas spürte den Wind in seinem Fell, als er über den gefrorenen Boden rannte und den Schnee aufwirbelte. Weder er noch Emilie bemerkten den Geruch von feuchtem Laub, der in der Luft hing.

Hier im Wald unter dem silbernen Licht des Vollmonds waren sie frei. Aber jede Freiheit hatte ihren Preis. Für ihre bezahlten sie seit Jahrhunderten mit Blut.



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