Zum Inhalt der Seite

Das Maleficium

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die Gaststube war zum Brechen voll. Ebenso wie alle anderen Gasthäuser und Kneipen der Stadt Galdoria, in denen das Ende des Krieges gefeiert wurde.

Leute stießen mit ihren Humpen an, und ihre Gesänge verstärkten den Lärm in der Gaststube noch. Lebhafte Gespräche wurden von übermütigen Rufen übertönt, die aus Freude über den Waffenstillstand oder auch einfach aus Trunkenheit erklangen. Die Tische waren alle besetzt; Jung und Alt saßen beieinander und feierten diesen Tag, der wohl auf immer einen Platz im galdorianischen Kalender haben würde. So wurde an allen Tischen ausgelassen gezecht und gelacht… bis auf einen.

„An dem Abend im Rebellenlager- “, begann Brynja, deren Stimme dann aber ins Stocken geriet. Sie wandte sich nach allen Seiten, als ob sie jemand belauschen würde, was in dieser lebhaften und lautstarken Stimmung kaum wahrscheinlich war. Dann schüttelte sie den Kopf und begann von Neuem. „Ich sollte euch ausrichten, er dankt euch allen, dass ihr ihn auf seiner Reise begleitet habt.“

Iria und Dorian bemühten sich, sie über den Lärm der feiernden Menge hinweg zu verstehen. Beide dachten sie, dass es passendere Orte für diese Aussprache geben mochte, doch die erste warme Mahlzeit seit Tagen hatte sie an diesen Ort gelockt, und nun saßen sie satt und müde beieinander.

Nadim löffelte immer noch an seinem Nachschlag. Hargfried, der neben ihm saß und offenbar gar keine Furcht bei ihm mehr auslöste, ließ seinen nervösen Blick mit einer Mischung aus Erheiterung und Unruhe über die lachenden und auf den Waffenstillstand anstoßenden Menschen gleiten.

„Das war alles? Hat er sonst nichts gesagt?“ fragte Dorian. „Was ist überhaupt mit ihm passiert“, murmelte er und erinnerte sich der letzten Momente mit ihm. Brynja verdrehte die Augen, als würde sie sich für die Worte genieren, die sie wiedergab, erfüllte dann aber doch das Versprechen, das sie gegeben hatte.

„Es klingt wie ein Ammenmärchen… Aber bitte. Ich will es auch so erzählen, wie er es mir gesagt hat. Lacht aber nicht, ich gebe es nur wieder, wie er es mir aufgetragen hat…“
 

Einige Zeit später saßen sie alle wortlos da, wie betäubt von Brynjas Worten.

Um sie herum herrschte immer noch die Fröhlichkeit darüber, dass sich die Armee des Nachbarlandes zurückgezogen und dass die neue Führung bereits Verhandlungen begonnen hatte.

„Das ist schwer zu glauben“, sagte Nadim nach einer Weile und hielt sich dabei seinen überfüllten Magen.

„Ja. Dass Sarik und dieser heilige York…“, begann Iria leise und blickte nachdenklich in ihre leere Schüssel.

„Wieso hat er denn nie etwas gesagt?“ fragte Dorian mit leiser Empörung in der Stimme. Sein unzufriedener Blick traf dabei Brynja, die schnaubend auflachte.

„Hättest du es ihm denn geglaubt?“ fragte sie zurück, und Dorian wusste darauf nichts zu erwidern. Er lehnte sich zurück und streckte seine Glieder, die immer noch schmerzten.

„Er ist zurückgekehrt, um einen weiteren Krieg zu beenden“, flüsterte Dorian so leise, dass es außer ihm niemand hörte. Vor seinem inneren Auge sah er noch einmal jene Welt, in der der heilige York gelebt hatte, und in die er einen Blick hatte werfen dürfen, damals, in dem Zugabteil.
 

Schließlich verließen sie das Gasthaus.

Die warme Frühlingssonne fiel auf das Pflaster von Galdoria, und Dorian blinzelte ihren kräftigen Strahlen entgegen. Ihre Wärme kitzelte ihn in der Nase. Es schien ihm, als wäre er nie weg gewesen.

„Nun… Ich werde wieder meines Weges gehen“, sagte Brynja nach einigen Momenten des Schweigens, in denen nur das ferne Lärmen der Versammlung und das Zwitschern der Vögel auf den Dächern die Frühlingsluft um sie herum erfüllt hatte.

Einen wortlosen Blick des Verstehens tauschten sie noch mit ihr, bevor sie sahen, wie Brynja Peinhild ihre Schritte die Straße entlang lenkte, dem westlichen Stadttor entgegen. Ihre Umhang flatterte leicht dabei, und selbst jetzt wirkte sie wie ein Schatten, der seiner wahren Heimat, der Nacht, entgegenschritt.

„Es war mir eine Ehre, mit einem solchen Knappen zu reisen!“ rief Hargfried, woraufhin Nadim erschrak. Dann schüttelte er die dargereichte Hand und empfing einen Schulterklopfer, der ihn fast zu Boden streckte.

„Was wollen Sie jetzt tun?“ rief Nadim nach kurzem Zögern dem jungen Ritter nach, der mit weiten, zuversichtlichen Schritten losmarschierte. Hargfried blieb stehen, wandte sich mit einer nachdenklichen Geste um und zog dabei die Nase kraus.

„In mein Herzogtum kann ich erst zurückkehren, wenn ich den Mörder meines Vaters gestellt habe. Bis dahin liegt wohl eine weite Reise vor mir.“

„Ich wünsche Ihnen viel Glück dabei“, sagte Nadim und winkte ihm.

Ein letztes Mal sahen sie noch Hargfrieds Lächeln, eine unbehagliche Mischung aus naiver Zuversicht und schleichendem Irrsinn, dann entschwand er ihrem Blick.
 

Dorian, Iria und Nadim gingen Seite an Seite die Straße entlang.

Sie steuerten die Sanderstraße an, in der sich bereits von weitem hörbar die Menge in Richtung des Palastes wälzte. Die Versammlung musste gleich beginnen, dachte er, und er erinnerte sich an die letzten Tage.

Nach ihrem Beinahe-Absturz mit dem Flugschiff hatte sich die Kunde von der Zerstörung des Maleficium und von Modestus‘ schwerer Verwundung schnell verbreitet. Largo Cotter hatte sich auf dem schnellsten Weg in die Hauptstadt gemacht, wo bereits der öffentliche Aufruhr aufgrund des Kriegsverlaufs und der Abwesenheit des Kaisers gedroht hatte.

Doch bevor noch das Chaos die Hauptstadt in Brand hatte setzen können, hatte Largo Cotter mit seinen Verbündeten, die im Untergrund schon von langer Hand einen Machtwechsel vorbereitet hatten, diesen endlich durchgeführt. Der Tod von Jan Gildenstern, das Verschwinden des Kaisers sowie die Flucht des Generalstabs angesichts der sich abzeichnenden Niederlage in diesem Krieg hatte das ermöglicht.

Und so gelang es ohne größeres Blutvergießen, eine provisorische Verwaltung einzusetzen, die unverzüglich mit den Friedensverhandlungen begonnen hatte. Mosarria, selbst des Krieges müde, der angesichts der Zerstörung des Maleficium seine Ursache verloren hatte, stimmte ein, und die Kampfhandlungen wurden unmittelbar und nur wenige Meilen von der galdorianischen Hauptstadt entfernt gestoppt.

Der Lärm der Menschenmenge wurde stärker, und Dorian wachte aus seinen Gedanken auf. Vor ihnen schob sich ein breiter Strom aufgeregter, rufender und feiernder Menschen in Richtung des Palastes. Dorian musste lächeln bei der Erinnerung an den Einzug des Maleficium, der damals ebenso gefeiert worden war. Nun waren die Menschen ähnlich zuversichtlich, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.

So standen sie nun vor der sich dahin wälzenden Menge, und die Aussicht, inmitten dieses Gedränges rechtzeitig zum Platz vor dem Palast zu kommen, schwand.

Alle drei sahen sich an, wobei ein verschmitztes Lächeln von einem zum Nächsten überging, als Dorian in Richtung der Dächer deutete.
 

Ein Meer aus Köpfen, Hüten, Perücken und Glatzen wogte bunt und lärmend unter ihnen.

Das Lachen und die angeregten Diskussionen, wie es mit dem Land wohl weitergehen werde, hallten zu ihnen herauf. Dorian, Nadim und Iria ließen ihre Beine von der Dachkante baumeln und überblickten den Platz vor dem Palast.

Von weitem sahen sie Largo Cotter und einige seiner Leute, die sich auf die Ansprache vorbereiteten. Sie wurde nicht von dem Balkon des Kaiserpalastes abgehalten, stattdessen war eine Tribüne, die das Meer der Bürger von Galdoria nur knapp überragte, errichtet worden. Letztendlich schritt Largo Cotter in Begleitung seiner Getreuen die Tribüne hinauf. Er trat an das vorbereitete Mikrofon, und das schrille Pfeifen einer Rückkopplung erklang. Wie auf Befehl verstummten die Menschen, nur noch ihr unterschwelliges Gemurmel erfüllte die milde Frühlingsluft.

„Bürger dieser Stadt, und dieses Landes“, begann Largo Cotter. Durch die Verstärkung der Lautsprecher wirkte seine Stimme noch eindringlicher als Dorian sie in Erinnerung hatte. Zugleich aber schien sie an Rauheit eingebüßt zu haben, als hätten die Geschehnisse der letzten Zeit einige ihrer Kanten abgeschliffen. Dann schweifte sein Blick über die Menge, und es wirkte, als könnte er selbst nicht ganz glauben, hier zu sein.

„Ich spreche heute in Vertretung der Übergangsregierung. Es ist wahr, dass die Verhandlungen mit Mosarria begonnen haben, an deren Ende hoffentlich ein dauerhafter Frieden wird stehen.“ Applaus brandete auf, und Cotter wartete geduldig, bis dieser wieder abschwoll. „Es wird einige Veränderungen geben. Viele von euch werden es schon gehört haben, und ich kann es euch heute bestätigen: Modestus, unser früherer Kaiser, dankt aus gesundheitlichen Gründen ab, und verzichtet zugleich auf die Einsetzung eines Thronfolgers. Stattdessen werden in der nächsten Zeit Wahlen stattfinden, um eine Regierung aus Volksvertretern zu einzusetzen.“

Wieder brandete Applaus auf, wenngleich verhaltener als zuvor. Dorian überblickte die Menge: Ihn überkam die Vermutung, dass die Leute nicht recht wussten, warum sie jubelten, sich aber von ihrem Gefühl, dass heute etwas Bedeutendes passierte, leiten ließen.

„Ich freue mich ebenso wie ihr über diesen Tag; eine schwierige Zeit liegt hinter uns“, sprach er in den verstummenden Applaus hinein. „Ich kann euch aber nicht versprechen, dass die kommenden Zeiten viel leichter werden. Der Krieg hat seine Verluste gefordert, und die Wunden unseres Landes werden eine Weile brauchen, um zu heilen.“

Andächtige Stille kehrte auf dem Platz ein. Nicht einmal mehr Gemurmel war zu hören, und es schien Dorian, als würden sich die Leute von Cotters schwermütiger Stimmung anstecken lassen.

„Es kommt eine Menge Arbeit auf uns zu. Vieles, das über Jahrhunderte hinweg gegolten hat, ändert sich nun. Ich zähle darauf, dass ihr alle mithelft bei diesem neuen Galdoria, das entstehen wird.“ Cotters Blick richtete sich nun auf einen Punkt des Pultes vor ihm. Dann streifte er die abwesende Miene ab und sprach weiter.

„Ich möchte nun, dass wir zusammen gedenken. Und zwar all jenen, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben, sei es an der Front oder hier, im Herzen des Landes.“

Er neigte den Kopf, schloss die Augen und schwieg. Ebenso taten es viele andere in der Menschenmenge, wie Dorian sah. Sein Blick glitt über die Ansammlung der Bürger und verlor sich bald in einer unscharfen Entfernung. Er sah die Opfer dieses Krieges vor sich, die Toten bei dem Angriff auf den Zug, die Gefallenen unter den Rebellenkämpfern… und seine Freunde, die die Veränderungen in diesem Land, zwar unbewusst, aber ebenso mit dem Einsatz ihrer Leben in Gang gebracht hatten.

Damals ahnten sie nichts davon, doch dies schmälerte ihr Opfer nicht. Dorian dachte an sie, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
 

Nach der Rede zerstreute sich die Menge in alle Richtungen der Stadt.

Dabei bildeten sich immer wieder Anhäufungen von Bürgern, die lebhaft über die Zukunft des Landes diskutierten. Viele äußerten sich zufrieden über die Abschaffung der Monarchie, wenngleich sie diese Zufriedenheit einzig mit dem Ende des Krieges begründen konnten, der ohnehin schon so gut wie verloren war. Andere murrten mit bedeutsamen Gesten über ihr Ende, und beklagten zugleich die glorreiche Vergangenheit Galdorias, die nun endgültig hinter ihnen lag. Die meisten aber richteten sich mit dieser Veränderung ein, so wie sie auch im Winter wärmere Mäntel anziehen, anstatt über die Kälte zu schimpfen.

Dorian, Iria und Nadim kletterten von den Dächern herab und gingen wieder auf der Straße. Dorians Blick traf die Läden, die ihre gewohnten Geschäfte machten, die Leute, die feilschten, tratschten und lachten, und die Stadtwachen, die etwas orientierungslos angesichts des Machtwechsels, ansonsten aber mit der gleichen Selbstsicherheit wie sonst ihre polierten Harnische in der Öffentlichkeit spazieren trugen.

Ihre Schritte mochten auf einen Beobachter ziellos wirken, doch sie hatten eine bestimmte Richtung, ein Ziel, das Dorian bis jetzt zurückgestellt hatte. Er wusste aber, dass es sich nicht vermeiden ließ, und schließlich betraten sie eine Seitengasse, die in Richtung des Bucket-Weges führte.
 

Iria und Nadim blickten ihn scheu von der Seite an.

Beide hatten das Bedürfnis, ihre Anteilnahme auszudrücken, wenngleich sie wussten, dass sie ihm diese Last nicht abnehmen konnten. Dorian blickte an der Fassade empor. Um die Fenster herum prangten Schatten aus Ruß, die das Feuer hinterlassen hatte. Der Dachstuhl war vollkommen verbrannt, und so fiel das Licht der Sonne durch die Fenster ins Freie.

Dorian betrachtete das Haus, so wie man einen Verstorbenen ansieht, dessen friedliches Gesicht all die schönen Erinnerungen weckt, die man einst mit ihm geteilt hat. Er begann leise zu lachen. Iria und Nadim wunderten sich darüber und tauschten einen fragenden Blick miteinander. Sie wussten nicht, dass in dem Moment ein Strom aus den vielen Erinnerungen, die er an dieses Haus und seine Bewohner hatte, an seinem inneren Auge vorbeifloss und in ihm noch einmal das Gefühl eines Zuhauses, eines Orts, an dem man immer zurückkehren konnte, weckte.

Dieser Strom warmer, herzlicher Erinnerungen versiegte letztendlich, und übrig blieb die ausgebrannte Ruine ohne Leben darin. Dorians Lachen ging in ein Schluchzen über, und er sank in Irias Arme, die schon bereitstand, ihn aufzufangen.
 

Die Sonne war bereits im Sinken begriffen: Lange Schatten lösten sich von den Dächern Galdorias und zeichneten breite Streifen auf die Häuser, Fassaden und Giebel. In der Ferne glänzte das Meer unter ihren schwächer werdenden Strahlen und färbte es in eine Vielzahl warmer Rot- und Orangetöne.

Dorian saß auf dem brüchigen Sims des Uhrturms. Iria und Nadim saßen im Raum darunter und warteten geduldig. Es waren keine Schiffe auf dem Meer; wahrscheinlich wegen des eben erst zu Ende gegangenen Krieges, dachte Dorian. Er blinzelte. Seine Augen waren immer noch gerötet, sein Gesicht aber mittlerweile wieder trocken. Er blickte auf das Meer hinaus und erinnerte sich, dass er das vor ziemlich genau einer Woche auch getan hatte. Es war das gleiche Meer, derselbe Glanz auf seiner Oberfläche… Aber nicht mehr dieselbe Person, die hinausblickte.

Er schüttelte den Kopf und spürte neue Tränen in seine Augen steigen. Nein, dachte er, jemand anderer hat vor einer Woche hier gesessen und hinausgeblickt. Ich bin nicht mehr der, der damals hier saß.
 

Das Rauschen des Meeres klang wie der Gruß eines alten Bekannten, der ihn nach langer Reise wiedersah. In der Mitte zwischen Iria und Nadim ging Dorian. In einer Hand trug er einen kleinen Stoffsack. Seine andere hielt Irias Hand.

Manchmal warfen sie sich Blicke zu, die Nadim auffielen. Aus ihnen sprach mehr als nur der Wille, Trost zu spenden. Alle beide hatten sie sich verändert, wie ihm nicht entgangen war. Aber auch Nadim wusste, dass er nicht mehr der Angsthase war, der diese Stadt hier vor einer Woche für ein überaus kurioses Abenteuer verlassen hatte. Nun, nach all den überstandenen Gefahren und bewältigten Herausforderungen, war er wahrhaft Nadim Wenzelstein: Ein Angsthase, der doch manchmal mutig sein konnte. Und der sich nie mehr vor seinen Ahnen würde schämen müssen, auch wenn er nie ein so großartiger Dieb wie Johann Wenzelstein werden würde.

Am Pier, wo das dunkle Meerwasser an den Stein brandete, blieben sie stehen. Dorian kniete sich hin, und unter den Blicken seiner Begleiter öffnete er den Stoffsack. Darin war Asche von seinem Zuhause. Er entleerte sie in das Meer und sah, wie sie kurz auf den Wellen tanzte, bevor sie versank. Und er verstand, dass sein eigentliches Zuhause nicht von Feuer zerstört und nicht vom Tod geraubt werden konnte.

Sein eigentliches Zuhause war in seinem Herzen und in seinen Träumen, die entstanden waren im Glanz des Meeres unter der verblassenden Sonne, in dem Klang der Geschichten waghalsiger Vagabunden, zu denen er sich, wenn er wollte, nun ebenso zählen konnte, und in der Welt, von der er etwas kennengelernt hatte, was aufregender und wirklicher war als alle Geschichten und Träume. Weil es SEINE Geschichte war, die er erlebt hatte, und die nun untrennbarer Teil seiner Vergangenheit war.

Er sah mit an, wie die letzte Asche verschwand, und es war ihm, als würde mit ihr sein früheres Leben verschwinden und von einem neuen, anderen ersetzt werden. Dorian spürte, wie der Traum von einer großen Karriere als Abenteurer und Dieb sich wandelte, geradeso, als würde er feststellen, dass dieser Traum Wirklichkeit war. Nicht so, wie in seiner Fantasie, aber greifbar und unmittelbar, in all seiner Schönheit und seinem Schrecken.

Dorian stand wieder auf und spürte den frischen, salzigen Wind, der vom Meer herkam, und atmete ihn tief ein. Dann wandte er sich zu Nadim, dem er einen Blick der Freundschaft und des Vertrauens, das zwischen ihnen gewachsen war, zuwarf, sowie zu Iria, der er einen ähnlichen Blick zuwarf, der aber noch mehr in sich barg, und den sie mit der scheuen Gewissheit, ein neues Leben an seiner Seite zu beginnen, erwiderte.

Dann ging sein Blick über sie hinweg, woraufhin Dorian erstarrte.
 

Der Wind zerrte an den Bäumen um den Friedhof herum. Brynja schnallte ihren Mantel enger; es fror sie. Ihr Blick traf die Reihe verwitterter Steine, bis er an einem hängen blieb. Dort blieb sie stehen.

Eine Weile stand sie nur da, und der aufkommende Wind zerrte an ihrem Mantel. Ihr Blick war leer, nur eine einzelne Träne lief über ihr wettergegerbtes Gesicht. Schließlich atmete sie tief durch und straffte ihre Haltung.

„Ich habe diese Rache sosehr gewollt, dass ich dich fast vergessen hätte“, sagte sie leise und begann so die stille Unterredung mit dem einfachen, von Wiesenkräutern überwachsenen Grab. „Es hat dich aber nicht zurückgebracht… und ich war wohl ziemlich töricht“, sprach sie weiter und lachte leise dabei.

Eine weitere Träne löste sich aus ihren Augen, und sie zog sie durch die Nase auf. Dann löste sie mit geübten Bewegungen ihre Armschiene vom Unterarm. Eine Weile betrachtete sie seine abgenutzte Oberfläche und die Scheiben des Escutcheons, deren Grün wie der erwachende Frühling strahlte. Dann legte sie ihn auf das Grab.

Mit schnellen Schritten verließ sie den Friedhof. Die schmale Landstraße führte Richtung Horizont und verschwand dort zwischen dichten Wäldern und sanften Hügeln. Nun ging sie einem Ziel entgegen, das ebenso fern war wie ihre Gedanken, die bei ihrem verstorbenen Gefährten weilten.
 

Hargfried beschirmte sein Gesicht mit der Hand und blinzelte in Richtung der Ortschaft, die entlang der Straße lag.

Seine Füße schmerzten, und in seinen Knochen machte sich die Müdigkeit der letzten Tage breit. Er vermisste die Stadt, die er hinter sich gelassen hatte, er vermisste seinen Vater, dessen Mörder immer noch frei herumlief, und er vermisste sein Fahrzeug, von dem er nicht mehr wusste, wo er es damals abgestellt hatte.

Seufzend ging er die Böschung des kleinen Flusses hinab, der neben der Straße fröhlich dahin plätscherte. Es war noch weit bis zur Ortschaft, und sein Durst war übermächtig. Am Ufer kniete er sich hin und trank aus seinen hohlen Handflächen.

Er spürte, wie die Erfrischung ihn erfüllte, dann blinzelte er die sich kräuselnde Wasseroberfläche an. Ein Bild formte sich, das Bild eines verwirrt dreinschauenden jungen Mannes mit langen, blonden Haaren und einer auffälligen Narbe in der einen Gesichtshälfte.

Hargfried betrachtete das Bild eine Weile; es kam ihm bekannt vor. Schließlich erkannte er es wieder, und der Schrecken fuhr ihm durch alle Glieder.

„Bist du etwa…“ flüsterte er atemlos. „…der …der Mörder… meines Vaters!?“

Den Schrei konnte man bis zur nächsten Ortschaft hören.
 

Der Lärm der versammelten Menschenmenge sowie die Worte des Redners drangen nur schwach durch den Vorhang; aber Modestus der Dritte verstand jede Einzelheit.

Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch den Spalt zwischen den schweren Vorhängen aus rotem Samt und traf eine Gestalt, die zusammengesunken in einem Rollstuhl saß. Im Licht des feinen Strahls wirkte es fast wie ein Bündel Kleidung, das jemand unachtsam auf den Stuhl geworfen hatte. Aber in dem Bündel steckte ein Mensch, wenngleich er kaum noch jener Erscheinung glich, die selbst eine Rede von dem Balkon hier aus gehalten hatte.

Die eine Seite des Körpers war seltsam eingesunken. Es schien, als würde der Gestalt ein Arm fehlen. Der restliche Körper war ausgemergelt, und auch die prächtige Kleidung mit den darüber ausgebreiteten Decken konnte das kaum verbergen. In dem Gesicht lagen zwischen Falten blasser Haut Augen in tiefen Höhlen. Das Gesicht wirkte wie das eines Greises, obwohl die Person in Wahrheit noch nicht einmal die Vierzig erreicht hatte.

Die Augen tasteten im Raum umher, und in ihnen schimmerte ein Glanz, der wie eingebrannt in die ansonsten leeren Augen waren. Als hätten diese Augen unsagbares Grauen gesehen, in das sie zulange aus Neugier und Torheit gestarrt hatten, so wirkten sie einerseits gebrochen und leer, andererseits aber auch von einem kränklichen Glanz erfüllt.

Irgendwann trat jemand an diesen Rollstuhl heran, schob ihn aus dem Raum und weiter in das Innere des Palastes, wo noch weniger Licht war, das in diesen verdüsterten Augen schmerzen konnte. Dabei bewegten sich die Lippen der Gestalt in dem Rollstuhl ganz leicht. Ein Flüstern entrang sich ihnen, in dem heruntergebrannter Zorn und zu Asche zerfallener Hass herausklangen.

„Gildenstern… Gildenstern…“, flüsterten sie, und der Rollstuhl mitsamt seinem Insassen verschwand im Dunkel des weitläufigen Palastes.
 

Dorian erstarrte. Er schaute an Iria vorbei, die einen Moment lang seinem fassungslosen Blick begegnete, bevor sie in dieselbe Richtung blickte. Dann verstand sie sein maßloses Erstaunen.

„Gaubert! Ludowig! Nikodemus!“ schrie Dorian aus vollem Halse und lief los. Iria und Nadim blickten ihm hinterher, folgten ihm aber nicht. Sie wussten, dass dieser Moment nur ihm und seinen Freunden gehörte.
 

Ein Jauchzen und ein Weinen, Rufe der Freude und des Erstaunens gingen von der kleinen Schar aus, die sich gegenseitig um den Hals fiel, abwechselnd lachte und in Tränen ausbrach. Nadim und Iria kamen langsam näher und betrachteten diese Szene mit feuchten Augen, die keinen Hehl aus ihrer Rührung machten.

„Es tut… mir so… leid“, stammelte Dorian schluchzend vor seinen Freunden. Diese rangen selbst mit den Tränen, wischten sie sich aber schnell wieder ab und schnaubten ihre Rührung durch die Nasen hinaus.
 

Inmitten von Gaubert, Nikodemus und Ludowig spazierten Dorian nun am Hafen entlang. Ohne Ziel, ohne Plan, einfach nur aus Freude über dieses Wunder, das keiner von ihnen für möglich gehalten hatte.

Iria ging mit Nadim ein Stück hinter ihnen. Sie sah diese drei Burschen, die sie kurze Zeit erst kannte. Sie sah den schlaksigen, immer etwas tollpatschig wirkenden Ludowig, der während des Erzählens mit seinen zu lang geratenen Armen gestikulierte. Sie sah den rundlichen, stämmigen Nikodemus, der seinen Freund immer wieder ins Wort fiel und ausbesserte, wo dieser seiner Ansicht nach übertrieben oder auch nicht genug ausgeschmückt hatte. Und sie sah den schon etwas älteren Gaubert, der die beiden immer wieder mit ernster Stimme berichtigte, um dann doch wieder in ihr allgemeines Gelächter einzustimmen.

Sie hörte die Geschichte von dem Überfall auf ihr Haus am Bucket-Weg, bei dem ihnen der selbstlose Einsatz ihres Meisters Yannick die Flucht vor den Soldaten des Kaisers ermöglicht hatte. Und auch, dass sie nach dem Verlust von allem, das sie noch an diese Stadt band, ein Schiff hatten nehmen wollen, welches sie weit weggebracht hätte, und sie deshalb sich beim Hafen aufgehalten hatten.

Bei dieser Erzählung wurden sie alle ganz still, nur das Rauschen des Meeres untermalte ihre gemeinsame Trauer. Sie alle gedachten ihres Meisters, der nicht ohne seine neugewonnene Familie hatte leben wollen, und der so lieber eine Erinnerung zwischen ihnen hatte bleiben wollen denn der einsame Mann, der er in seiner Vergangenheit gewesen war.

Aber bald übertönte die Wiedersehensfreude zwischen ihnen die Vergangenheit, die erst in einer anderen Zeit, in der Zukunft, würde verheilen können. Und so lachten sie und freuten sich über das Leben, das sie nun miteinander teilen konnten. Sie lachten und sie scherzten, und die Wunden, die ihnen das Leben beigebracht hatte, bekamen Luft zu verheilen. Zugleich aber formten sie auch die Persönlichkeiten dieser jungen Burschen, die in ihrem Leben weiterschritten, ohne das Vergangene zu vergessen, aber auch ohne die Zukunft zu fürchten.

Denn für sie gab es einen Ort, an dem sie immer würden zurückkehren können, ein wahres Zuhause: Die Freundschaft zwischen ihnen.
 


 

ENDE

~ 12.11.2008 ~ 14.02.2009 ~



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fahnm
2011-03-02T23:35:10+00:00 03.03.2011 00:35
Die Story war genial.
Schön das es am Ende noch was gutes gab.
Und was wird dein nächstes Projekt sein?


Zurück