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Das Maleficium

von

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„Wenn ihr wollt, könnt ihr hier beim Fahrzeug bleiben“, sagte Sarik zu Nadim und Iria. Die beiden schüttelten zugleich die Köpfe, und ihre Mienen zeigten eine ähnliche Entschlossenheit.

„Wir gehen mit, was immer auch passiert“, antwortete Iria. Nadim warf ihr einen Blick zu, als könnte er am Klang ihrer Worte seine eigene Zuversicht stärken.

„Genau. Wir bleiben nicht zurück“, sagte er mit geschwellter Brust. Aus seiner Stimme klang das ruhige Gewissen, sich mit dieser Tat ein für alle Mal seinen Vorfahren würdig zu erweisen, sowie die Gewissheit, dass das Erreichen dieses Zieles mehr wert war als alles andere, das er noch besaß.

Das Lächeln, das sich dabei auf Sariks Gesicht abzeichnete, glich der Zufriedenheit eines Vaters, der feststellt, dass seine Kinder den schwierigen Weg des Erwachsenwerdens gegangen sind. Largo Cotter wartete schon ungeduldig, dann gingen sie mit Cotter und Sarik an der Spitze auf das hohe Tor zu, in dessen Angel ein schiefer Torflügel hing.

Nun, wo sich ihr endgültiges Ziel mit beruhigender Unausweichlichkeit näherte, empfand Dorian auch keine Verunsicherung darüber, dass keiner von Cotters Leuten sie begleitete. Der Gedanke, dass diese Menschen ihrer Sache bereits mehr als genug geopfert hatten, ermöglichte es ihm, ihnen die scheinbare Sicherheit, in der sie zurückgeblieben waren, zu vergönnen.
 

Gildensterns Augen wurden groß wie Seen voll mit siedendem Pech; ebenso schwarz leuchtete ein Abgrund von zur Erfüllung gelangtem Verlangen aus ihnen. Er ging auf das Maleficium zu. Seine Männer jedoch zögerten, wie er merkte.

„Was ist los mit euch?“ fragte er in einem ungehaltenen, beinahe enttäuschten Ton angesichts dieser Soldaten, die den Moment des Triumphs nur mit zaghaften, fast schon bangen Gesichtern würdigten. Die Säule aus zitternden Schatten und greifbarer Dunkelheit bewirkte tatsächlich das, was bei diesen abgebrühten Kämpfern undenkbar schien: Sie bekamen Angst. Angewidert von dieser zu Tage tretenden Schwäche, schüttelte Gildenstern nur den Kopf und ging weiter.

Wenige Schritte davor berührte der Rand des Wirbels aus flackernden Schatten und dunklem Licht fast sein Gesicht. Und einen kurzen Moment streifte ihn der Wunsch, vor dieser dämonischen Manifestation zurückzuweichen. Doch die Berührung mit dem Wirbel war nicht unangenehm. Im Gegenteil, ein Prickeln lief über seine Haut und ermutigte ihn, und so trat Gildenstern direkt vor das Maleficium.

Er ging davor in die Hocke und streckte die Hand aus. Die Lettern auf der aufgeschlagenen Seite flimmerten wie eine Luftspiegelung in heißer Luft; ihre Anzahl sowie Bedeutung schien sich ständig zu ändern. Hier, ganz nahe am Wirbel, war es wie im Auge eines Orkans: die Atmosphäre war ruhig, fast andächtig, und nichts war von dem Schrecken spürbar, der seine Soldaten hatte stoppen lassen.

Fast berührten seine Finger die aufgeschlagene Seite- als noch jemand den Tempel betrat.
 

Dorian zog sofort die Waffe, als er jene Soldaten erblickte, die in der vergangenen Nacht das Rebellenlager angegriffen hatten.

Ebenso taten es seine Begleiter. Schon standen sie kampfbereit der kleinen Gruppe aus kaiserlichen Soldaten gegenüber, die nun eine Verteidigungsformation vor ihrem Anführer einnahmen.

„Ich werde dich töten, du Hund!“ schrie Dorian, der über die Köpfe der Soldaten die Gestalt Gildensterns erkannte. Dieser wandte sich zu ihnen um und machte ein ebenso überraschtes wie auch geringschätziges Gesicht. Dorian, von seiner forschen Behauptung selbst etwas erstaunt, wiederholte den Satz leiser, wie um ihn gegen aufkommende Zweifel zu bekräftigen.

„Ich werde dich töten…“
 

„Die auch noch“, murmelte Gildenstern. Dann fiel sein Blick auf das Maleficium, als er die Veränderung bemerkte. Ein leises Zittern pflanzte sich durch den Boden fort, wo seine Füße standen, und das Maleficium schien die Quelle zu sein.

Sein Blick tauchte ein in das Zentrum des Wirbels, der sich vor ihm öffnete wie ein bodenloser Schlund. Und aus der Tiefe dieses Schlundes, aus einem Reich, das sich jeder Vorstellung und Ausmalung entzog, tauchte ein Gesicht auf. Ein Gesicht wie ein bleicher Schädel: Mit weit geöffneten Kiefern, drohenden, leeren Augenhöhlen und einer Stimme, die zwischen den bleichen Zahnreihen wie ein Geysir heraufstieg.

„Ich… werde… frei!“ tönte die Stimme. Und eine plötzliche Panik bemächtigte sich Gildenstern. Von einem jähen Schrecken ergriffen, streckte er seine Hände nach dem Maleficium aus und hob es vom Boden auf.

Dabei schien es ein enormes Gewicht zu haben; nur mit Mühe, so fühlte er es in seinen Armen, konnte er es halten. Das Gesicht, das aus dem Wirbel hervor wuchs, schien seinen Blick zu erwidern. Obwohl keine Augen in den leeren Höhlen waren, so spürte er doch einen uralten, wissenden Blick auf sich.

„Niemals!“ schrie Gildenstern und widerstand dem Blick. Alles um ihn herum schwand, nur noch diese beiden Abgründe, schwärzer als die Nacht, füllten sein Blickfeld aus. Und tatsächlich hielt die Bewegung an: Es war Gildenstern, als würde er die Empörung einer gottgleichen Macht spüren, die sich von einem Hindernis in der Dimension einer Fliege gehindert sah.

„Jan, die Messdaten, sie- sie übersteigen alle Skalen! Was geschieht bei euch da drin?“

Gildenstern hörte nicht mehr die Stimme seines Freundes, zu tief war er versunken in den Abgründen, die drohten, verfluchten und zugleich lockten, mit endloser Macht und dem Herrschwillen eines Gottes.

„Jan! Jan… Sie sind da!“ Immer noch reagierte Gildenstern auf keinen Reiz seiner Umgebung, viel weniger noch auf das Funkgerät an seinem Harnisch. „Jan! Kaiser Modestus… Er ist da.“
 

Nun schreckte er hoch.

Sein Blick, verschwommen und entzunden von den Visionen, tastete hektisch durch den Raum. Er sah die Rücken seiner Soldaten, die ihn schützten, die kleine Gruppe dahergelaufener Diebe, die ebenfalls hierher gefunden hatten… und den Kaiser von Galdoria, Modestus der Dritte, der mit einer kleinen Gruppe Palastwachen diesen Ort betrat.
 

Inmitten der ihn schützenden Schar betrat Modestus der Dritte den Tempel.

Dorian und seine Begleiter wandten sich um, und Bestürzung zeichnete ihre Mienen. Modestus, der im Gegensatz zu ihnen kein Erstaunen zeigte, schritt an ihnen vorbei, praktisch ohne ihnen nähere Beachtung zu schenken. Er warf den wie erstarrt dastehenden Anwesenden einen Blick zu, der etwas Dankbares in sich zu haben schien.

„Gut gemacht, Gildenstern. Jetzt schließe das Maleficium, und händige es meinen Leuten aus“, sprach Modestus mit fester, befehlsgewohnter Stimme. Gildenstern blinzelte ungläubig, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben zeigte er aufrichtige Verwirrung.

„Das- Was hat das zu bedeuten…“

„Verliere keine Zeit, Gildenstern. Schließe das Maleficium, sonst war alles umsonst.“ Modestus‘ Stimme gewann an Dringlichkeit.

„Was soll das heißen, zum Teufel nochmal!?“ brüllte Gildenstern, nun völlig außer sich. Angesichts dieses für ihn völlig unüblichen Gefühlsausbruchs blickten sich sogar seine eigenen Männer erstaunt um. „Ihr habt den Diebstahl des Maleficium ermöglicht! Ihr habt seine Diebe davonkommen lassen! Erklärt mir das alles, Eure Hoheit!“ schrie er voller Zorn. Vor allem die letzten beiden Wörter trieften vor Verachtung und gerechtem Zorn.

„Mein lieber Gildenstern“, sagte Modestus und seufzte dabei voller Bedauern. „Seit langem bist du mein engster Berater, und ich habe beinahe alles mit dir geteilt. Aber manche Dinge kannst du nicht verstehen, und es ist besser, sie geschehen zu lassen, ohne dass du es weißt.“
 

Dorians Blick sprang zwischen Gildenstern mit dem Maleficium, seinen Soldaten und dem Kaiser hin und her. Dabei lauschte er wie gebannt, unfähig, etwas zu unternehmen. Um sich herum spürte er keine Bewegung. Daraus schloss er, dass es seinen Mitstreitern nicht anders ging.
 

„Vielleicht noch nicht heute, aber eines Tages werdet ihr es verstehen. Ich konnte nicht zulassen, dass die Zukunft unseres Landes von engstirnigen Leuten bedroht wird, zu denen… Nun, zu denen auch du gehörst.“

Gildenstern, der immer noch das Maleficium in Händen hielt, hörte seinen Kaiser sprechen, und ihm, der immer so stolz auf die Klugheit und Präzision seiner Worte gewesen war, ihm fehlten diese Worte nun.

„Ohne dein oder das Wissen eines anderen Beraters am Hof habe ich mit dem ‚Dieb‘ des Maleficium Kontakt aufgenommen. Ein junger, aber sehr ehrgeiziger Gelehrter aus Mosarria, bei dem ich mir sicher sein konnte, er würde nur aus Liebe zu seiner Wissenschaft handeln, und nicht aus kleinlichen Beweggründen. Dass in jener Nacht noch andere Diebe in den Palast fanden, nun, das war eine wenig glückliche Fügung. Aber letztendlich lief doch alles nach Plan.“

„Aber… Wieso?“ rief Gildenstern, der nun hilflos klang.

„Das Maleficium mag mächtig sein, es war aber in seiner ursprünglichen Form nicht mächtig genug, um für dauerhaften Frieden zwischen den Ländern zu sorgen. Um seine ganze Macht zu entfesseln ist ein besonderes Ritual nötig, das nur Gelehrte mit dem besonderen Wissen, weit entfernt von unserem Wissensstand über das Maleficium, ausführen können.“

Modestus schien die entgeisterte Miene seines engsten Beraters richtig zu deuten, als er weitersprach.

„Der Plan war nicht ohne Risiko, das gebe ich zu; aber schwierige Zeiten erfordern beherztes Handeln. Etwas, das du mir in letzter Zeit nicht mehr zugetraut hättest, nicht wahr?“

Modestus machte ein erheitertes Gesicht. Gildensterns Miene wandelte sich von bestürzt zu empört, und verfiel dabei immer mehr.

„Du hättest diesem Plan niemals zugestimmt. Du hättest jemanden aus Mosarria nie über das Maleficium verfügen lassen, und nicht anders hätten meine Berater und Generäle es gesehen. Letztendlich wäre alles an der Bürokratie gescheitert, und bevor wir eine Entscheidung getroffen hätten, wären die Truppen Mosarrias vor dem Stadttor gestanden.

Ihr hättet in eurer kleinlichen Denkweise das Maleficium ganz einfach auf dem Schlachtfeld eingesetzt; mir geht es aber nicht nur um eine Schlacht, mir geht es um den ganzen Krieg. Wie auch um das Wohl des Volkes, hier sowie auch in Mosarria.

Nein, mein lieber Gildenstern: Nur in seiner vollen Entfaltung kann das Maleficium dauerhaften Frieden für alle Länder bringen, und über diese verfügt es nun. Und jetzt übergib es meinen Leuten, damit sie es kundigeren Gelehrten überreichen können.“
 

Eine unheimliche Stille legte sich über den Tempel.

Alle Anwesenden, von Gildensterns Elite, über Dorian und seine Begleiter, bis hin zu den Palastwachen des Kaisers, alle harrten gespannt den Geschehnissen zwischen diesen beiden Personen, die sich mit so großer Zwiespältigkeit gegenüberstanden. Nur das unterschwellige Brausen des Maleficium war zu hören, und für diesen bedeutsamen Moment traten für alle Anwesenden die eigenen Beweggründe in den Hintergrund.

Gildensterns Gesicht, eben noch eine Maske größten Erstaunens und auch maßloser Wut, setzte sich nun in Bewegung. Er begann, hinter der Phalanx seiner Elitesoldaten auf und ab zu gehen, und dabei hielt er das Maleficium vor sich, als wäre er in der Lektüre eines alltäglichen Buchs unterbrochen worden.

„Immerhin: Ihr seid endlich ehrlich gewesen, Euer Hoheit. Dann will ich es ebenso sein!“

Seine Stimme gewann die frühere Sicherheit zurück, und irgendetwas ließ alle Anwesenden erschaudern. Selbst Modestus‘ Miene verriet leises Unbehagen.

„Zu allererst: In tausend Jahren werde ich weder Euch noch einem Eurer Leute das Maleficium geben!“

Ein empörtes Raunen ging durch die Mitglieder der Palastwache angesichts dieses offenen Ungehorsams. Modestus machte ein geduldiges Gesicht, als wäre er der Meinung, er müsste nur diesen Anfall von Trotzigkeit abwarten, bis alles wieder den gewünschten Gang ginge.

„Ihr seid bei weitem ein zu schwacher Herrscher, um über eine solche Macht zu verfügen. Ihr, Ihr… Ihr seid nicht besser als euer Vater. Ein unentschlossener, sentimentaler Schwächling, nichts weiter seid Ihr!“

Nun schauderte es sogar seine Elitesoldaten sichtlich, als er diese Beleidigungen seinem Kaiser an den Kopf warf. Dieser nahm sie hingegen unbewegt hin, und es schien, als gelänge es ihm beinahe, Verständnis dafür aufzubringen.

„Ihr seid wie Euer Vater, nein, noch schlimmer! Ihn habe ich durch Gift aus dem Weg geräumt, aber wenn ich gewusst hätte, dass ihr ein ähnlicher Narr werdet, ich hätte euch noch in der Wiege erwürgt!“

Ein entsetztes Aufstöhnen lief durch die Reihen der kaiserlichen Soldaten, auf welcher Seite sie auch standen. Modestus zuckte zusammen. Sein Mund öffnete sich, seine Augen glänzten ungläubig, und er schüttelte ganz langsam den Kopf, als sähe er diese Mordtat in dem Augenblick vor eigenen Augen.

„Du hast…! Gildenstern“, ächzte er mit zittriger Stimme.

„Wer sonst hätte noch nach seinem Vorkoster Zugang zu seinen Mahlzeiten gehabt? Aber glaubt mir, Galdoria ist dadurch einiges erspart geblieben. Ich habe dafür gesorgt, dass der Friede mit Mosarria bestehen blieb, ich habe dafür gesorgt, dass unser Land wieder Wohlstand erfahren durfte, ich habe euch alle Schwierigkeiten vom Hals gehalten! Und als Dank habt ihr diese Schmierenkomödie, diese Farce inszeniert!“

Modestus, nun völlig seiner Fassung beraubt, blickte sich wie ein gehetztes Tier um, um sich dann hinter seine Palastwachen zu stellen. Dabei deutete er mit dem Zeigefinger drohend auf Gildenstern und schrie mit nervöser Stimme:

„Ergreift ihn! Gildenstern, du… du Monster! Heute noch, ich verspreche es dir, wirst du auf dem höchsten Masten der Hauptstadt aufgeknüpft!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2011-02-17T23:11:50+00:00 18.02.2011 00:11
Wow.
Gildenstern ist ja sehr heftig.
Hätte nicht gedacht das er so drauf ist.
Bin mal gespannt was noch rauskommen wird.^^


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