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Das Maleficium

von

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Das Wesen namens Tiamat holte mit einer seiner gelblichen Klauen aus, hatte aber offensichtlich nicht mit Hargfrieds Unerschrockenheit und Schnelligkeit gerechnet. Dieser vollführte eine Drehung, nutzte sein mannshohes Schwert als Gegengewicht, schwang es mit beiden Händen und ließ sich seitlich zu Boden fallen.
 

Die zwei Schritte lange Klinge sauste wie das Blatt einer Guillotine herab und erwischte das Wesen an der Brust. Kreischend wich es zurück und ließ Hargfried langsam auf die Beine kommen. Dann schnellte es wieder nach vorne, um seinen in diesem Moment wehrlosen Gegner mit einem Klauenhieb zu spalten.

Hargfried sah die gebogenen Krallen bereits auf sich herabschnellen- als das Wesen plötzlich Inne hielt und zusammenzuckte. Hargfrieds Blick ging zwischen den Raubvogelbeinen hindurch; so erkannte Sarik sowie Brynja, die das Wesen von seiner Kehrseite nach Kräften attackierten.
 

Sarik schwang seine schlanke Klinge mit beiden Armen gegen den Leib der Kreatur. Federn stoben davon, und dunkles Blut triefte bald von seiner Klinge. Das Wesen krampfte sich zusammen unter den Hieben, sammelte aber nebenbei Kraft, um sich mit einer vernichtenden Attacke umzuwenden, wie Sarik spürte. Schon wich er zurück vor den herumwirbelnden Schwingen des Wesens. Brynja neben ihm jedoch sprang hoch und suchte Halt am Leib des zischenden und grollenden Wesens. Sarik traute seinen Augen nicht.

Mit einer Hand hielt sie sich an der Schulter des Wesens fest, mit der anderen rammte sie ihren Stachel direkt in die Brust des rossartigen Leibes. Ein Pfauchen, gleich dem eines Teekessels, entwich der Wunde. Die Kreatur schnappte mit einer Raubkatzenpfote nach Brynja, als sich diese mit dem Fuß von dem Leib abstieß. Ihre Absicht, einen Rückwärtssalto zu vollführen, wurde aber von der Klaue, die sie streifte, vereitelt. So stürzte sie unkontrolliert zu Boden und schlug hart auf.

Sarik eilte herbei und zog sie auf die Beine. Keinen Moment zu spät, denn das Wesen, das zwar schon aus mehreren Wunden blutete, dabei aber nichts seiner Geschwindigkeit eingebüßt hatte, setzte sofort nach. Mehr stolpernd als laufend entkamen sie den Krallenschlägen, die Funken vom Felsboden sprühen ließen, und retteten sich hinter einen der Apparate.

Tiamat brüllte und röhrte, dass ihnen die Ohren schmerzten, und dabei schlug und trampelte es gegen die Apparaturen in dem Schacht. Metall knirschte und zerbarst, Röhren wurden durchgerissen wie Grashalme, und die Schreie aus Wut und Schmerz hallten donnernd wider in dieser Arena, aus der die einzigen Fluchtwege Sieg oder Tod waren.

Sarik und Brynja drückten sich mit den Rücken gegen den Apparat, der unter dem Anstürmen Tiamats zitterte und schepperte. Metallteile flogen ihnen um die Ohren, und Sarik merkte, dass der Spalt zwischen dem Kampfdom und dem Apparat zu schmal für diese Kreatur war.

Zumindest solange der Apparat noch stand…
 

Jeder Schritt fühlte sich für Dorian an, als hinge je ein Mann an jedem Fuß. Das Schwert in seiner Hand hatte das Gewicht eines Baumstamms, und seine Augenlider bewegten sich nervös und unkontrollierbar, als er beobachtete, wie Sarik, Hargfried und Brynja ihren verzweifelten Kampf gegen die übermächtige Kreatur führten.

Sarik und Brynja verbargen sich hinter einem der am Rande des Schachts stehenden Raffinerie-Apparate. Hargfried attackierte das Wesen von seiner Rückseite, und dieses reagierte sofort. Mit ausschweifenden Bewegungen trieb es den jungen Ritter in die Enge und schlug ihm sein riesiges Schwert mühelos aus den Händen. Hargfried ergriff die Flucht und suchte Deckung hinter einem Stapel hoch aufgetürmter Kisten.

Tiamat schlug mit seinen Raubtierklauen auf die Kisten ein. Holz splitterte, Metall knirschte, der Stapel wurde immer kleiner. Dorians Blick sprang hektisch zwischen Sarik und Brynja, die sich immer noch versteckten, und Hargfried, der dem Ungeheuer gleich zum Opfer fallen würde, hin und her.

Sein Hals war trocken wie Sandpapier, und seine Hände, die immer noch das Schwert hielten, fühlten sich ebenso taub an wie seine Füße, von denen er sich nicht mehr sicher war, ob sie noch Kontakt mit dem Fels darunter hatten.

„Ich glaube, ich muss was tun…“, flüsterte er zitternd.
 

Nun war es soweit. Seine Freunde waren im Begriff, von einem mythischen Wesen zerrissen zu werden, und weit und breit war kein Held in Sicht, der sie retten würde. Nur Dorian war hier, der Dieb vom Bucket-Weg. Der Träumer und Kindskopf, der jetzt alle seine Fantasien zu Wirklichkeit werden sah. Bis auf die Tatsache, dass sie dabei waren, zu verlieren.

Eine Erinnerung hob sich aus dem Chaos, das in seinem Kopf herrschte. Er sah Sarik vor sich, auf der lieblichen Wiese bei Brimora, wie er ihm zeigte, auf was es im Kampf ankam und wo seine Stärken lagen. Dorian erinnerte sich, welche Position er ihm gelehrt hatte. Dabei schloss er für einen Moment die Augen und atmete tief durch, während ein scheinbar unbesiegbares Ungeheuer brüllte und tobte.

Dann öffnete er die Augen und wunderte sich über seinen eigenen Irrsinn, einen unschlagbaren Gegner frech herauszufordern.
 

Sarik blickte vorsichtig über die Ruine, die vom Schutz bietenden Apparat übrig geblieben war und sah Dorian, der das Wesen angriff.

„Er hat den Verstand verloren… oder seinen Mut gefunden“, flüsterte er und lächelte beinahe dabei.
 

Tiamat wuchs immer mehr in die Höhe vor ihm. Gleich würde er Hargfried erreichen und mit seinem bleichen Schnabel zerreißen- als ein schmächtiger Dieb vom Bucket-Weg ihn mit seinem Schwert traf.

Dorian schwang es mit einer Hand, nützte das Drehmoment, wirbelte herum und sah, wie schwarze Federn und dunkles Blut den Fels trafen. Die Beine weit auseinander, das Schwert gerade nach hinten haltend, kam er nach einer machtvollen Kombination zum Stehen. Die Schwere seiner Füße war weg, ebenso die Taubheit seiner Hände. Er fühlte sich richtig gut- bis er den Blick hob und den glühenden Augen Tiamats begegnete, der ungläubig auf den Winzling zu seinen Füßen hinabblickte.

„O-Oh…“, flüsterte Dorian. Seine Augen wurden immer größer, und nichts als eine Staubwolke blieb zurück, als er zur Seite sprang. Die Krallen Tiamats zogen tiefe Furchen im Fels. Dorian rannte um sein Leben.

Er blickte nur noch nach vorn. Die klatschenden Geräusche Tiamats, wenn seine Raubvogelklauen über den Felsboden schliffen, waren Beweis genug dafür, dass sein Verfolger ihm dicht auf den Fersen war. Wieder erinnerte er sich an Sarik, ohne es bewusst herbeigerufen zu haben. Er hörte seine Worte:

‚Wenn du mit jemandem deine Kraft misst, wirst du wahrscheinlich unterliegen. Stattdessen musst du deine Stärke einsetzen.‘

„Das glaube ich sofort!“ schrie er mit seinem verbliebenen Atem. Mehrmals schlug er Haken, gerade als würde er ahnen, von welchen Seiten die Klauen Tiamats auf ihn hernieder sausten. Schnell merkte er, dass dies nicht mehr lang gut gehen würde, und sein Blick ging weiter als nur geradeaus. Schließlich fiel er auf eine hölzerne Rampe, die sich korkenzieherförmig an den Schachtwänden emporwand.

Der hölzerne Aufgang klapperte unter seinen Schritten und kam dem Rand des Kampfdoms bedrohlich nahe. Doch dann wich er von selbst zurück, wie Dorian erstaunt merkte. Da sah er den Grund: Je mehr er an Höhe gewann, desto höher flatterte auch Tiamat, der sich in die Luft erhoben hatte. Im gleichen Maße folgte ihnen der Kampfdom, der bald wie eine volle Kugel aus blauglühenden Linien um sie rotierte.

Dorian warf hektische Blicke auf seinen Gegner, der mühelos die gleiche Höhe hielt. Dann richtete sich sein Augenmerk wieder auf die morschen Holzplanken des Rundgangs, der ihn beständig höher führte. Tiamat schien abzuwarten und machte jetzt keine Anstalten mehr für einen Angriff- da traf Dorians Blick das Ende des Rundgangs, das ein Stück über ihm lag und ins Leere führte.

Sein Herz blieb stehen und sein Atem stockte, als er die Ausweglosigkeit seiner Flucht realisierte. Doch seine Füße liefen weiter, als könnte sie nun nichts mehr bremsen. Die Ahnung zog an seinem Verstand vorbei, dass dieses Wesen genug Intelligenz hatte, um die Zwecklosigkeit seines Tuns zu erkennen.

Die Stelle, an der der Rundgang ins Nichts abbrach und nur die Umkehr oder der Sturz in die Tiefe übrig blieben, kam immer näher, und Dorian stoppte schließlich abrupt. Tiamat schien ebenso die Geduld zu verlieren und stieß zu.

Wenige Schritte vor Dorian schlug das Wesen seine Raubtierkrallen in das morsche Holz und riss ein breites Stück heraus. Holzsplitter und Bruchteile regneten in die Tiefe, der gesamte Rundgang erzitterte. Dorian rang nach Luft und machte kehrt, aber gerade jetzt kehrte die Schwere in seine Füße zurück. Die Bewegungen des Tiamat wurden dafür umso schneller. Dorian sah sich abermals zu einem plötzlichen Halt gezwungen.

Jetzt schlug das Wesen seine Klauen in den Steg hinter ihm, und auch hier riss es ihn mühelos auseinander. Das Holz unter Dorians Füßen ächzte wie ein sterbendes Tier. Heftiges Knirschen pflanzte sich durch den verbliebenen Steg fort.

Das verbliebene Stück, so ging es ihm durch Mark und Bein, war im Begriff, mangels tragender Teile aus der Wand zu brechen und in die Tiefe zu stürzen.
 

Dorian stand da, das Schwert in der Hand und den sicheren Tod vor Augen. Es blieb nur noch die Wahl, in die Tiefe zu stürzen oder von Tiamat, dessen rasselnder Atem durch den Schacht rollte, zerrissen zu werden. Es blieb ihm aber keine Besonnenheit mehr, eine Entscheidung zu treffen.

Alles um ihn herum wurde still; die Zeit schien stehen zu bleiben. Dann fühlte er, wie sich der verbliebene Bruchteil des Stegs zu neigen begann. Ganz langsam senkte sich sein Blick mit seiner Standfläche, und in der Tiefe, am Grund des Kampfdoms, glaubte er Sarik und die anderen zu erkennen, die zu ihm emporblickten.

Dann hob sich sein Blick, und Tiamats Schädel, eine Maske aus gelblichem Knochen, in dessen Tiefen feurige Augen loderten, kam auf ihn zu. Schon spürte er den Lufthauch seiner schlagenden Flügel. Schon sah er die Klauen sich heben, die seine Einzelteile in das fürchterliche Maul befördern würden, das sich öffnete und einen Schlund offenbarte, auf dessen Grund ein nie verlöschendes Feuer glühte-
 

Dorian tat einen Schritt. Dann noch einen, und dann sprang er. Er registrierte nicht mehr, wie die Plattform unter ihm knirschend zerbarst und in die Tiefe stürzte. Er registrierte nur ganz am Rande seines Bewusstseins, wie er das Schwert hob, es geradeaus richtete und damit auf Tiamats Schlund zu sprang.

Er glaubte, fliegen zu können, so langsam schwebte er Tiamat entgegen. Es kam ihm vor, als beobachtete er jemand anderen, dessen Schwert sich in den Schlund des mythischen Ungeheuers bohrte, um auf der anderen Seite des Schädels wieder auszutreten.
 

Die Realität nahm wieder ihre gewohnte Geschwindigkeit an; Dorian spürte, dass er fiel.

Er spürte ebenso, dass ihn zwei Klauen links und rechts hielten. Er fühlte, wie sich ihre Krallen durch seine Kleidung bohrten, und während des Fallens überkam ihn die Erkenntnis, dass sie gleich sein Fleisch würden erreichen- bis sie stoppten und ihr Griff sich lockerte.
 

„Das ist nicht möglich…!“ murmelte Sarik und ließ nach der letzten Silbe den Mund offen stehen.

Tiamat flatterte ruckartig und unkontrolliert, doch sein Tod setzte bereits ein. Der Körper landete krachend auf dem Boden, von den letzten Flügelschlägen nur wenig abgebremst. Ein junger Bursche wurde von der Wucht davon geschleudert, flog in ihre Richtung, überschlug sich mehrmals und blieb schließlich zu ihren Füßen liegen.

Es war Dorian Alberink, und er war blass wie eine Leiche.



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