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Das Maleficium

von

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„Was heißt hier 'Kinder'?“ zischte Iria. Sie trat hinter Dorian hervor. Er als auch Nadim schauten ihr erstaunt hinterher, wie sie auf die Frau zu trat. Den Respekt, den Dorian und Nadim vor ihrer Erscheinung hatten, teilte Iria offenbar nur so weit, als dass sie einige Schritte vor Brynja stehenblieb und sie aus der Entfernung zornig anfunkelte. „Ich zumindest bin kein Kind“, fügte sie trotzig hinzu und verschränkte die Arme. Vor allem in Dorians Miene mischte sich Entrüstung über diese auch ihn betreffende Spitzfindigkeit.

Brynjas Blick richtete sich auf Iria, es lag darin aber keine Feindseligkeit. Eher ein nachsichtiges Bedauern. Dorian schien es, als käme dieser Frau eine wehmütige Erinnerung, ausgelöst durch das forsche, selbstbewusste Auftreten dieses Mädchens, das sie an die eigene Vergangenheit erinnern mochte.

„Also gut, dann bist du eben kein Kind mehr“, erwiderte sie seufzend. Iria trat unwillkürlich einen Schritt zurück, weniger wegen der Worte, die nichts Anrührendes an sich hatten, sondern wohl gerade wegen der Ruhe, mit der diese Frau ihrer unüberlegten Herausforderung entgegentrat.

„Ich bin kein Kind mehr“, bekräftige Iria in einem sanfteren Ton, „und es gibt keinen Grund, uns zu verfolgen.“

Nun erkannte Dorian auch auf Sariks Gesicht ein gewisses Erstaunen über diese markigen Worte, die doch einer gewissen Scheu nicht entbehrten, die Iria gegenüber dieser offenbar erfahrenen Kämpferin nicht verbergen konnte.

„Sie müssen uns in der Tat nicht verfolgen“, sagte Sarik und steckte als Symbol der Deeskalation sein Schwert weg. Dorian beobachtete diese Geste mit lindem Erstaunen, und die Tatsache, dass er sein eigenes Schwert nach wie vor offen in der Hand hielt, kam ihm nun sehr unpassend vor. „Sie können sich uns gern anschließen“, sprach er mit seiner gewohnt sanften Stimme weiter. Iria blickte ihn erschrocken an, und auch Dorian traute seinen Ohren nicht.
 

„Was!? Aber…“, stammelte Iria und bewegte sich von der Frau weg, die ihr offenbar immer noch nicht geheuer war. Dann baute sie sich vor Sarik auf, indem sie die Hände in die Hüften stützte und ihn herausfordernd ansah.

„Das kann er nicht ernst meinen…“, flüsterte Nadim an Dorians Schulter. Sarik blickte Iria abwartend an, während dieser rote Flecken ins Gesicht stiegen.

„Diese Person soll mit uns gehen?“ Sarik nickte gelassen. „Wer hat Sie eigentlich zum Anführer gemacht?“ fragte Iria mit zorniger Stimme. Dorian erkannte an ihrem gesenkten Kinn, ihren angewinkelten Armen und ihren unruhigen Füßen, dass sie mit dem Impuls kämpfte, vor diesem sie um einen ganzen Kopf überragenden Mann zurückzuweichen.

Doch anstatt auf diese mühsam hervorgebrachte Provokation einzusteigen, bedachte sie Sarik hingegen mit einem zugeneigten, fast fürsorglichen Blick.

„Wie ist dein Name, Mädchen?“

Die Zornesröte wich ihr allmählich aus dem Gesicht, und ihr einsetzendes Bestreben, seinem Blick auszuweichen, zeigte Dorian, dass sie ihren forschen Vorstoß zu bereuen begann.

„Ich heiße Iria Halloran“, sagte sie mit dem Ton eines Schülers, der sich nach erfolgtem Tadel durch seinen Lehrer nun unerwartetem Lob gegenüber sieht.

„Iria… denk an unsere Lage. Das Maleficium wurde aus dem Kaiserpalast gestohlen, und dieser Gegenstand ist für Kaiser Modestus im Moment wohl wertvoller als all seine Schatzkammern. Und er denkt jetzt, dass wir etwas damit zu tun haben. Wir sind in großer Gefahr, Iria.“

Dorian konnte sehen, wie aus ihrer Miene der anfängliche Widerstand gegen diese einleuchtenden Worte schwand, und wie sie nicht ohne Trotz, aber doch diese Tatsachen akzeptierte.

„Kann sein…“, sagte sie leise und mit nur mehr schwachem Argwohn in der Stimme.

„Wir können jede Hilfe gebrauchen, und diese Frau sucht dasselbe wie wir, nehme ich an?“

Die letzten Worte führten seinen Blick auf die Frau namens Brynja Peinhild zurück; ihr sich verdüsternder Blick sagte ihnen mehr als genug. „Das ist nicht der Ort, um Feindseligkeiten auszutragen. Wenn uns erst die kaiserliche Armee auf den Fersen ist, gibt es Feinde genug für uns alle. Nicht wahr?“

Dorian sah, wie er diese Frage speziell an Brynja richtete, die als Antwort unmerklich nickte. Er sah ihr auch an, wie sie den Widerstand gegen diesen Gedanken überwand, nicht zuletzt mit Hilfe der düsteren Aussicht, die eine Verfolgung durch die Truppen des Kaisers Modestus bot.
 

„Das wäre dann so weit geklärt“, sagte Sarik mit zufriedener Stimme, und wandte sich zu gehen. Dorian sah ihm hinterher, ebenso wie Nadim, der alldem beigewohnt hatte. Iria kaute immer noch an ihrem Ärger, der ihren verbitterten Zügen anzusehen war. Doch ihr Blick zeigte, dass sie sich mit dieser Situation notgedrungener Weise arrangierte.
 

Brynja Peinhild schloss zu Sarik auf, dabei fühlte er ihren fragenden Blick auf sich.

„Sie wissen einiges über das Maleficium, nicht wahr?“

In ihrer Stimme konnte er zwar keinen Argwohn mehr heraushören, dafür aber nur mühsam zurückgehaltene Neugier.

„Sagen wir so: Ich weiß genug darüber.“

„Letzte Nacht, in der Kanalisation unter dem Palast… Ich bin diesem Mann noch einmal begegnet. Der, der auch schon in der Schatzkammer war.“

„Ich weiß schon… Hargfried, der Sohn von Fasolt von Lichtenfels.“

„Ja, und er griff mich an!“ schilderte sie mit lebhaften Worten und vollführte Gesten dabei. „Wir kämpften, ich konnte ihn austricksen… aber ich konnte ihn nicht töten! Genau, wie Sie es sagten… Woher kommt das?“

Ein Blick zur Seite während des Gehens zeigte ihm die nagende Ungewissheit auf ihrem Gesicht, die hinter dieser Frage steckte.

„Das Maleficium soll die Kraft der es umgebenden Truppen stärken, aber nicht für den Kampf gegeneinander. Die Macht in ihm war der Meinung, wir gehörten zu einer Armee…“, erklärte er. Der aufkeimende Ausdruck der Ungläubigkeit auf Brynjas Gesicht brachte ihn dabei zum Lächeln.

„Wir in einer Armee, als Verbündete? Ha! Das ist lächerlich!“ entgegnete sie spöttisch, was ihre Verunsicherung verbergen sollte, spürte Sarik.

„Aber fürs Erste eine Tatsache, wie Sie erlebt haben“, erwiderte Sarik. Er sah, wie sich ihre Augen zu Schlitzen verengten.

„Kann man diesen Fluch irgendwie aufheben?“

„Ich weiß einiges über das Maleficium, wie sie sagten“, begann er seufzend. „Aber so viel wieder auch nicht. Wenn ich es vor mir habe, kann ich mehr darüber sagen. Vorher nicht.“

Ihre Augen funkelten, wie er sah, und sie ballte ihre Fäuste. Es schien ihm, als wollte sie noch etwas entgegnen, doch die Worte drangen nicht über ihre Lippen. Stattdessen atmete sie zischend aus, um danach ihre Schritte zu beschleunigen.

„Ich werde den Weg erkunden, der vor uns liegt“, erklärte sie mit hörbarem Unbehagen in der Stimme, „es muss uns ja keiner schon aus der Entfernung durch den Wald trampeln hören. Ich werde den Pfad auskundschaften“, bekräftigte sie ihre Aussage, um dann den weiteren Weg in größerem Abstand, aber immer in Sichtweite der kleinen Gruppe um Sarik, zu verbringen.
 

Dorian, der sich zwischen der immer noch verstimmten Iria auf einer Seite, sowie Nadim, welcher nach wie vor seiner Verwirrtheit mit offen gezeigter gedanklicher Abwesenheit begegnete, auf der anderen fand, beschleunigte seine Schritte, bis er auf gleicher Höhe mit Sarik war.

Brynja verschwand vor ihnen zwischen den Bäumen, hielt dabei aber gerade den Abstand ein, der sie die Gruppe überblicken ließ.

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war.“
 

Sarik warf ihm einen fragenden Blick zu.

„Na ja, sie mit zu nehmen“, vervollständigte er sein Bedenken.

„Es kommen noch einige Gefahren auf uns zu, und ich bin mir nicht mal sicher, ob die Soldaten des Kaisers die Größere davon ist“, antwortete er. Ihm fiel der nun Dorians Gesicht überkommende Ausdruck der Furchtsamkeit auf, und er sprach weiter, bevor die Furcht zu viel Raum in seiner Vorstellung einnehmen konnte. „Aber es gibt noch einen anderen Grund.“

„Und der wäre…?“

„Sie ist eine Diebin, und außerdem eine Assassine“, erklärte er, während der abschätzende Blick seines gesunden Auges auf der Gestalt ruhte, die einen Steinwurf vor ihnen die Vorhut bildete, und deren Umrisse auf diese Entfernung weitgehend mit den Farben und Formen des Waldes verschwammen. „Sich anzuschleichen und aus dem Hinterhalt zu meucheln, ist ihr tägliches Geschäft.“ Er wandte sich Dorian zu, auf dessen Gesicht er eine Mischung aus Wissbegierde und Bangigkeit erkannte. „Ich möchte sie lieber in meiner Nähe, noch besser an meiner Seite, als in meinem Rücken wissen.“
 


 

Der Baumstamm schaukelte und schwankte in den Fluten des Flusses. Etwas glänzte silbrig an seiner Seite.

Nach der endlosen Irrfahrt stieß der Baumstamm endlich an eine Sandbank, und die Person, die sich die ganze Zeit an ihn geklammert hatte, öffnete den Griff ihrer verkrampften Hände und rutschte ins seichte Wasser.

Auf allen Vieren kroch sie ans Ufer, dabei floss aus allen Ritzen und Spalten ihrer Rüstung Wasser heraus. Unter verklebten Haaren zeigte sich ein blasses Gesicht, ausgezerrt von den Strapazen der letzten Stunden. Der Kampf gegen das Ertrinken und das erbarmungslose Gewicht der Rüstung, die ihren Träger die ganze Zeit versucht hatte, in die kalten Tiefen des Stromes zu ziehen, hatte Spuren auf diesem Gesicht hinterlassen.

Seine Bewegungen wurden immer langsamer, und außerhalb des Wassers, im feinen Kies der Sandbank, löste Hargfried die Halterung seines Schwertes, das er die ganze Zeit auf dem Rücken getragen hatte. Es plumpste in den Sand. Danach drehte er sich mit mühseligen Bewegungen auf den Rücken und verlor das Bewusstsein.
 

Die Sonne stand hoch am Himmel, wie er durch seine leicht geöffneten Augenlider erkannte. Ihre Wärme hatte mittlerweile die Kleider unter seiner Rüstung getrocknet und ihm neues Leben eingeflößt. Es fühlte sich richtig heiß an unter dem Metall seines Brustharnischs, und das Bedürfnis aufzustehen errang langsam, aber bestimmt den Sieg über seine Erschöpfung.

Seine schleppenden Schritte hinterließen tiefe Spuren im Sand, und als sie endlich auf festeren Waldboden trafen, spürte er die Erleichterung seiner Bewegungen augenblicklich. Das Schwert, das er bis dahin auf dem Boden nachgeschliffen hatte, hängte er wieder in den Mechanismus auf dem Rückenteil seiner Rüstung ein.

Die Bewegung seiner Beine gewann allmählich an Energie, sein Blick war aber nach wie vor zu Boden gerichtet. Büsche, Gräser und Farne zogen an seinem Blickfeld vorbei, doch er schenkte ihnen keinen seiner Gedanken. Diese waren ganz woanders; sie waren bei seinem Vater, dessen Schrei immer noch nachhallte in seinem Kopf, und bei dessen Mörder, dem er alle Racheschwüre dieser Welt geleistet hatte.

Mechanisch setzte er einen Schritt vor den anderen, und seine Arme schwangen gleichmäßig mit. Seinen Escutcheon, auf dessen Glasscheiben sich ein flackerndes Farbenspiel ereignete, beachtete er nicht. Seine Schultern, an das Gewicht der Rüstung gewöhnt, hingen trotzdem herab; er schien aus seinem nach vor gebeugten Oberkörper jene Bewegungsenergie zu gewinnen, die ihn vorantrieb.

Sein Körper bewegte sich wie von Fäden gelenkt; sein Geist aber war weit weg. Er suchte in den Tiefen seiner Erinnerungen, jetzt, wo sich betäubende Ruhe über seine Glieder legte, nach einer Spur, nach einer Erklärung für all das, was geschehen war. Er forschte und grub, er stöberte und schaffte schwere Brocken beiseite, die von der Ruine seines Verstandes abgebrochen waren und den Weg versperrten. Den Weg zu einer Erkenntnis, die gut verborgen lag und die selbst von den düsteren Tiefen aus, in denen sie verschüttet war, ihn mit lähmender Furcht erfüllte.

Er ging die mühsamen Schritte auf diesem Weg, entgegen allen Widerständen und Hindernissen, doch immer wieder schreckte er aufs Neue zurück. Es war wie der Schmerz einer frisch zugefügten Wunde, die noch keine Zeit zum Verheilen bekommen hatte, und die bei der leisesten Berührung aufzubrechen drohte. Und hinter diesem Schmerz drohte eine Erkenntnis, deren Aufdeckung die Wahrwerdung seines furchtbarsten Alptraums in Aussicht stellte.

Seine Schritte verloren wieder an Leichtigkeit, als würde ihm dieses innere Ringen körperliche Kraft entziehen. Er wurde immer langsamer in seinen Bewegungen, und das Bedürfnis, sich auszuruhen, die Augen zu schließen und alles zu vergessen, wurde übermächtig in ihm. An einem Baum, den der Blick seiner trüben Augen streifte, blieb er stehen, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und rutschte langsam zu Boden.
 

Er riss die Augen auf und rang nach Luft, als hätte er im Übergang zwischen Traum und Wirklichkeit einige Momente lang zu atmen vergessen.

Seine Augen blinzelten, denn das Licht der Sonne, die bereits an ihrem Zenit stand, kam ihm unangenehm hell vor. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Helligkeit des Tages gewöhnt hatten, und bis dahin genoss er die Klarheit in seinem Kopf.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Es mochte nur eine Stunde gewesen sein oder zwei, doch diese kurze Zeit hatte seinen Körper und vor allem seinen Verstand erfrischt wie ein Bad in kaltem, kristallklarem Wasser. Das Toben und Drängen, der Lärm von tausend Befürchtungen und Ahnungen- er war verstummt, und eine Erleichterung durchströmte ihn wie seit der Flucht aus der väterlichen Burg nicht mehr.

Mit überraschend wenig Kraftaufwand kam er auf die Beine. Er atmete tief durch, und die von der erstarkten Sonne erwärmte Waldluft schmeckte klar und erfrischend. Frohen Mutes ging er los; es gelang ihm sogar, zu lächeln.

Nun nahm er erst seine Umgebung wahr, die vorher nur verschwommen und undeutlich wie in einem Traum an ihm vorbeigezogen war. Er sah jetzt die Farne und Sträucher, deren fein verästelte Blätter sich sanft im leisen Wind wiegten, der wie eine zärtliche Hand durch den Wald strich. Er sah das Licht, das tanzende Farben auf den bunten Waldboden warf. Sein Blick hob sich und traf die Baumkronen, deren grüne Äste im Schein der hochstehenden Sonne glänzten. Er hörte das Gezwitscher der Bewohner dieser Baumkronen, die mit ihrem bunten Gefieder wie umherflatternde Juwelen zwischen den Ästen aufleuchteten.

Er ging schneller und streckte die Arme empor, wie um die Baumkronen zu berühren, und sein Herz, das bisher schwer wie ein Stein in seiner Brust saß, tat einen Sprung. Seine Vergangenheit, tief und dunkel wie ein Abgrund, kam ihm nun fern und bedeutungslos vor. Er wollte lachen, singen und seinen wieder erstarkten Lebensmut in die Welt hinausschreien. Bis ein durchdringendes Summen an sein Gehör drang.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2010-03-09T23:37:06+00:00 10.03.2010 00:37
Tolles Kapi!^^
Das wird richtig Dramatisch!^^


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