Zusammen betraten sie das Riesenrad. Vorsichtig setzte sich Nao Shou gegenüber, der ihn ernst anlächelte. Im fluoreszierenden Licht der Scheinwerfer musste Nao angestrengt nach Shous Schönheitsfehlern suchen, die ihm sonst vorher immer ins Auge gesprungen waren. Er fragte sich, wann es passiert war, dass ihm plötzlich wichtig war, Zeit mit seinem Gegenüber zu verbringen.
„Es tut mir Leid, dass ich mich nicht früher bei dir gemeldet habe, Naoyuki“, begann Shou, doch bevor er weiter sprechen konnte, stoppte Nao ihn, indem er eine Hand hob.
„Nenn‘ mich doch Nao“, bot er Shou an, der ihn leicht verwundert ansah.
„Okay... tut mir Leid, dass ich mich nicht früher bei dir melden konnte, Nao, aber ich war mit meinen Eltern außerhalb von Yokohama unterwegs... wie gesagt, tut mir Leid.“
„Wart... wart ihr im Urlaub?“, fragte Nao verunsichert.
„Nein, nicht direkt“, Shou zögerte, „Eigentlich auch nicht indirekt. Wir ziehen nach Saitama, weißt du.“
Nao dachte nach. Ideen schossen schnell durch seinen Kopf.
Saitama lag nur um die sechzig Kilometer von Yokohama entfernt. Eine, vielleicht anderthalb Stunden mit dem Auto und noch weniger mit dem Zug. Das war zu schaffen. Sie könnten sich noch treffen.
„Nao?“
Nao schreckte hoch.
„Hast du mich gehört?“
„Ja, wir können uns trotzdem sehen, nicht wahr?“
Shou sah Nao eindringlich an. Keiner von beiden sagte ein Wort, bis Nao von den Strahlen des Feuerwerks, die er durch das Fenster der Gondel sehen konnte, abgelenkt wurde.
„Shou, sieh mal, sieht da-“
„Naoyuki!“
Nao zuckte zusammen und wandte seinen Blick zu Shou.
„Wir können uns nicht sehen, nein. Du weißt auch genau, warum.“
Nao hatte Scheiße gebaut. Große Scheiße. Wie konnte er auch nur im Entferntesten daran glauben, dass Shou das nicht weiter beachten würde?
Kleiner Auszug aus Naos Blog
Ich bin so dummdummdumm!
Gestern hätte eine der besten Nächte meines Lebens sein können und ich hab‘ sie verspielt! Ich bin ein Vollidiot! Am Liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen. Am Liebsten würde ich alles ungeschehen machen. Am Liebsten würde ich aufhören zu denken!
Er. War. Da. Shou.
Auf Toras Party. Wer hätte gedacht, dass er dort auftauchen würde? Hätten Hiroto und Saga mir nicht unmissverständlich zu bedenken gegeben, dass Homosexualität nicht erstrebenswert wäre – hätte ich dann anders reagiert? Nein. Shou ist nun mal hässlich. Und ich stehe nicht auf Kerle. Davon mal ganz abgesehen.
Aber davon bin ich nun schon nicht mehr ganz so überzeugt.
Als Shou gestern Abend in Toras Keller kam, war alles wie weggeblasen. Die ganzen Zweifel an mir und ihm. ‚Mir und ihm‘? Das klingt unschön. Egal, wie lange es nun her ist, ich möchte mir einfach nur noch eingestehen, dass ich ihn liebe.
„Entschuldige bitte, Shou.“
„Ich bin dir gar nicht böse, Nao.“
Nao fiel ein Stein vom Herzen. Doch als er Shous Blick begegnete, verkrampfte sich sein Inneres wieder.
„Mir ist seit der Party bei Tora einfach klar, dass wir nicht zusammen gehören“, Shou lachte zwar, als er das sagte, klang dabei allerdings nicht so, als ob er das wirklich lustig finden würde.
„Nein, Shou“, Nao schüttelte den Kopf, „Das verstehst du falsch. Ich bin mir sicher, dass wir beide das regeln können.“
Hoffnungsvoll versuchte er seinen Blick aufzufangen, doch Shou wich ihm aus.
„Was sollen wir regeln, Nao? Es ist, als wäre eine Tür zwischen uns zugefallen“, während er das sagte, strich er sich ein paar Strähnen unter seine Mütze. Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu Nao durchgedrungen waren.
„Was ich damit sagen will, Nao, ist einfach, dass wir beide von Anfang keine guten Aussichten hatten.“
„S-sicher...“
„Hör zu, es ist schön mit dir zusammen zu sein. Auch jetzt noch. Aber, wenn ich mir die Umstände so ansehe – und dich – glaube ich, dass wir nicht zusammen passen.“
„Das klang vor ein paar Wochen aber noch ganz anders!“, Naos Ton war vorwurfsvoll.
„Da habe ich auch noch anders gedacht. Ich kannte dich nicht.“
„Du kannst mich kennen lernen, Shou“, im selben Moment verfluchte sich Nao dafür, dass er bettelte.
„Ich hatte nie das Gefühl, dass du das wolltest“, erwiderte Shou und ließ seinen Blick über das langsam verblassende Feuerwerk schweifen, „Im Gegenteil. Es erschien mir immer so, als ob du nicht wolltest, dass auch nur irgendjemand auf den Gedanken kommen könnte, dass wir uns kennen würden.“
„Ich bin seither anders...“
„Bist du nicht, Nao, glaub‘ mir. Du kümmerst dich viel zu sehr um das, was die anderen denken oder sagen. Nimm zum Beispiel Saga. Ist er nicht dein bester Freund? Sollte es ihm dann nicht egal sein, ob du schwul bist oder nicht? Oder ob du jemanden wie mich magst?“
Nao schaute betreten zu Boden, obwohl er sich sicher war, dass Shou seinen Blick noch nicht vom Feuerwerk abgewendet hatte.
„Natürlich tust das alles nichts mehr zur Sache. Ich hab‘ mich entschieden mit meinen Eltern wegzuziehen und damit können wir auch diese Sache hinter uns lassen, was dir in Anbetracht der ganzen Dinge, die passiert sind, wahrscheinlich eh lieber ist.“
Nao wollte den Kopf schütteln und Shou widersprechen. Ihm sagen, dass er sich wirklich verändert hatte, doch er brachte kein Wort heraus.
Kleiner Auszug aus Naos Blog
Shou stand draußen und rauchte eine Zigarette. Ich bin zu ihm gegangen. Es war unglaublich. Die einzigen Lichter im Vorgarten kamen von der Straßenlaterne und von Shous Zigarette. Ich sah seine Augen im Schein des aufleuchtenden Endes strahlen, als ich mich zu ihm gesellte.
Eigentlich wollte ich nur in Ruhe mit ihm reden. Über meine aufkeimenden Gefühle, vielleicht.
Eine von Shous Eigenschaften war, dass er ungezwungen anfangen konnte, ein lockeres Gespräch zu führen. Ich könnte das nicht. Schon gar nicht mit ihm.
Er bringt mich zum Lachen. Ich schätze das an ihm. Warum hab‘ ich mich hinreißen lassen?
Es fiel mir schwer herauszufinden, warum ich nicht viel eher mit ihm Zeit verbracht habe. Schemenhaft kamen die Erinnerungen an die Dinge, die Saga, Hiroto und Tora gesagt hatten. Je länger ich Shou betrachtete, desto schwerer fiel es mir, diese geschwungenen Lippen hässlich zu finden. Wenn er sprach. Wie sie sich bewegten. Seine Augen. Er war wirklich wunderschön.
Wir redeten ziemlich lange, auch wenn es mir nicht so vorkam. Aber Shou hatte seine Zigarette längst aufgeraucht, als mein bester Freund mit ein paar anderen zu uns stieß.
Im Nachhinein frage ich mich, ob Tora Shou absichtlich eingeladen hatte, nur um ihn zu demütigen.
Mein ganzes Verhalten veränderte sich, sobald Saga an meiner Seite stand. Es war schlimm, das selber zu merken. Plötzlich war Shou nicht mehr der, mit dem ich reden wollte, sondern der, von dem keiner wissen durfte, dass ich Spaß mit ihm haben konnte.
Ich sagte nichts zu dem, was Saga und die anderen an Bemerkungen über Shou raushauten. Ich ließ alles über ihn ergehen. Und Shou tat das auch.
„Aber du magst Nao, richtig? Würdest ihn am liebsten sicher mal mit zu einer deiner Homo-Partys mitnehmen, nicht wahr?“
Ich sehe noch Shous selbstgefälliges Grinsen, das ich wirklich mochte. Das alles Schlechte, was auch immer das war, an ihm entschuldigte.
„Wir werden doch nicht etwa eifersüchtig, oder, Saga?“
So wie ich Shou hätte in Schutz nehmen sollen, nahm ich nun Saga in Schutz. Warum? Warum eigentlich? Vielleicht wegen Sagas wütendem Blick in meine Richtung. Vielleicht aber auch nur, weil ich wusste, dass man das von mir erwartete. Saga und ich holten uns aus jeder Scheiße, das war jedem klar. Und Shou war doch nun mal Scheiße in den Augen meiner Clique.
„Aber ihr habt Recht. Naoyuki ist ein hübscher, junger Mann, den ich wirklich gerne mal mit in einen meiner Clubs nehmen würde.“
„Träum‘ weiter, Shou. Wäre ich schwul – ich würde auf hübsche Kerle stehen. Und so einer bist du sicher nicht.“
„Ich hab‘ dir noch gar nicht gesagt, wie schön du bist, Shou!“, platzte es aus Nao raus, woraufhin Shou ihn traurig anlächelte. Die Fahrt war so gut wie beendet.
„Es ist nett, dass du das sagst“, bedankte er sich, doch Nao wusste, dass Shou niemals glauben würde, dass Nao auch nur irgendetwas an ihm schön fand.
