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Blutrote Rosen

von

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Kapitel 7

Am nächsten Tag rief Chris nicht an. Auch am Übernächsten nicht. Dann begann die Schule wieder. Sie verlief wie immer:

Ich saß allein an meinem Tisch und lernte, während die anderen ihren Spaß hatten. In der großen Pause saß ich dann immer bei den Bäumen und las ein Buch.
 

Am dritten Schultag kam dann auf einmal Lena auf mich zugewatschelt. Lena war die große Klatschtante der Klasse. Sie war zwar etwas übergewichtig, aber lustig und sie kannte immer die neuesten Gerüchte.
 

Sie war die Einzige, die mich nicht mied, aber befreundet waren wir auch nicht. Sie kam nur hin und wieder mal vorbei um ihr großes Mitteilungsbedürfnis zu befriedigen. So war es auch heute wieder.
 

„Ey, Maurer!“, blökte sie und ich sah von meinem Buch auf.
 

„Ja?“
 

„Schon das Neueste gehört?“

Lena hievte ihren massigen Körper neben mir auf die Bank.
 

Ich klappte das Buch zu. „Nee“, antwortete ich. „Aber das wirst du mir gleich sagen, oder?“
 

Lena nickte, stopfte sich dann den Rest ihres Schokoriegels in den Mund und begann schmatzend zu berichten.
 

„Also“, mümmelte sie. „Wir ham’ nen Neuen inner’ Para-Klasse!“
 

„Und?“
 

„Ja, was und? Der ist soooo…“ Lena seufzte und klimperte ein paar Mal mit den Wimpern, was reichlich bescheuert aussah. Aber ich verstand was sie meinte.
 

„Gut aussehend?“, versuchte ich ihr auf die Sprünge zu helfen.
 

Lena schnaubte empört. „Das würdest du nicht sagen, wenn du ihn kennen würdest! Er ist mehr als nur– Oh guck mal, da ist er!“
 

Lena zuppelte nervös an meinem Ärmel. Ich riss meinen Arm mit einer entschiedenen Bewegung weg. „Wer?“
 

„Na der mit den dunkelbraunen Haaren da! Der Engel!“
 

„Ich sehe keinen Engel!“
 

„Na dieses bezaubernde Wesen da drüben! Guck dir mal seine Nase an, das ist doch wohl ein Traum! Oh mein Gott, ich glaube er kommt zu uns rüber!“
 

Ich glaubte, dass Lena dringend der Hilfe eines Psychiaters bedurfte.
 

Trotzdem blickte ich mich um. Und tatsächlich, da kam ein Kerl auf uns zugelaufen. Und diese Kerl war–
 

„Chris!“, rief ich und sprang auf. Er rannte mir entgegen und fiel mir um den Hals.

„Fabian!“ Er drückte ein bisschen fester. „Tut mir leid, dass ich nicht angerufen hab, ich war krank!“ Er ließ mich los und grinste mich an. „Du hast mich angesteckt.“
 

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte mich nicht vergessen! Meine schlimmsten Befürchtungen, dass er vielleicht doch nichts mit mir zu tun haben wollte, hatten sich nicht bewahrheitet!
 

Ein Husten sagte mir, dass Lena sich an ihrem Schokoriegel verschluckt hatte. Ich drehte mich zu ihr um. Jetzt bemerkte auch Chris ihre Anwesenheit.
 

„Verdammt, Fabian, woher kennst du den, seid ihr verwandt oder so?“, röchelte sie.
 

Chris trat auf sie zu und klopfte ihr hilfsbereit auf den Rücken. „Nein sind wir nicht, aber wir kennen uns ja vielleicht, weil wir uns irgendwann mal zufällig über den Weg gelaufen sind?“, nahm er mir das Wort ab. „So was soll ja angeblich mal vorkommen!“ Er grinste Lena an. Die wischte sich ein, zwei Tränen aus dem Augenwinkel, blinzelte verzückt und reichte Chris ihre Hand.
 

„Bin Lena! Schön dich kennen zu lernen!“
 

Chris ergriff ihre Flosse und lächelte sogar, als er sich vorstellte.
 

Ich stand daneben und starrte beide an. Mein Blick wanderte über Chris’ Profil. Über seine Nase mit dem leichten Knick – die wirklich wunderschön war; Lena hatte Recht gehabt – , die Lippen (die Untere war ein wenig mehr ausgeprägt), bis hin zu seinem perfekten Kinn.
 

Und auf einmal wurde mir klar, dass Chris der hübscheste Mensch war, den ich je gesehen hatte. Er war perfekt.
 

Wie konnte Lena es nur wagen, diesen Gott anzufassen? Und wieso lies er sich das überhaupt gefallen?
 

Ich zog Chris am Arm, hinter mir her, in die Schule. „Was soll das?“, zischte ich, als wir auf dem Flur standen, auf dem sich unsere Klassenzimmer befanden.
 

„Was soll was?“
 

„Wieso bist du so nett zu der Tussi?“
 

„Wieso nicht? Sie hat mir doch nichts getan!“
 

„Aber…“
 

„Nichts, aber!“, er funkelte mich böse an. Dieses schlagartige Verändern des Ausdrucks in seinen Augen erschreckte mich. „Ich glaube so langsam kapier ich, was du meinst! Aber“, er tippte sich auf die Nase „Es gibt auch noch Andere! Ich gehöre nicht dir und ich darf mich sehr wohl auch mit anderen unterhalten! Das Gleiche gilt für Lena! Hör bloß auf mit deiner Eifersuchtsnummer!“
 

Ich errötete heftig. Er hatte mich durchschaut, hatte gemerkt, dass ich ihn für mich alleine haben wollte. Aber was hatte ich auch erwartet, er war perfekt und konnte jedem offen sein wahres Gesicht zeigen. Ich dagegen war im Vergleich zu ihm ein Krüppel.
 

Und die Angst, ihn wieder zu verlieren, ihn weggenommen zu bekommen, schnürte mir die Kehle zu. Trotzdem musste ich einsehen, dass er Recht hatte. Er würde nie mehr als ein Freund für mich sein. Schließlich waren wir beide Jungen. Die ganzen Eifersüchteleien waren also gar nicht nötig. Ich wusste selber nicht was mit mir los war.
 

„Das hab ich doch gar nicht so gemeint“, stammelte ich also. „Ich meine, immerhin findet Lena dich klasse und ich dachte nur, es wäre besser, wenn du nicht so nett zu ihr wärst, weil du sie sonst nicht mehr loswirst!“
 

Tolle Ausrede. Klang auch nicht sonderlich glaubhaft. Aber die Wahrheit sagen, das konnte ich nicht. Ich war eben ein verdammt feiges Huhn… Und ich hatte nie etwas dagegen unternommen. Jetzt hatte ich den Salat! Aber Chris schien mir zu glauben.
 

„Oh“, sagte er und lief ebenfalls puterrot an, sodass sein Kopf immer mehr und mehr einer reifen Tomate glich.
 

„Das… ich meine… Äh… Hoppla… Tut mir leid!“
 

Ich schüttelte den Kopf. „Schon okay“, nuschelte ich.
 

Das laute Gong der Pausenglocke ließ uns zusammenzucken.
 

„Ich… Ich muss jetzt…“
 

„Ja“
 

Chris drehte sich um und wollte in den angrenzenden Klassenraum verschwinden. Ich hielt ihn zurück – keine Ahnung woher ich den ganzen Mut nahm.
 

„Warte“, sagte ich.
 

Erstaunt drehte er sich um und sah mich fragend an. „Was denn?“
 

„Ich… ich wollte eigentlich nur fragen, wie viele Stunden du heute hast“
 

„Achso“, murmelte Chris. „Moment“
 

Er lief in seine Klasse und kam kurz darauf wieder heraus.
 

„Sechs Stunden nur“, strahlte er.
 

„Ah, ich auch, dann könnten wir ja“
 

„Nach der Schule zusammen laufen?“
 

„Ja“
 

„Super Idee! Bis nachher!“
 

Wir kehrten beide in unsere Klassen zurück. Ich hatte sehr gute Laune. Das änderte sich auch nicht, als Frau Ebert, meine Mathelehrerin, hereinstolziert kam und mich in gewohnt schrillem Ton an die Tafel rief um eine besonders kniffelige Aufgabe zu lösen. Die seltsamen Blicke, die mir meine Klassenkameraden zuwarfen, ignorierte ich.
 

Dann hatten wir Französisch. Eine Welt für sich, wie ich fand, und ich gab mir auch nicht das kleinste bisschen Mühe um diese Welt zu verstehen.
 

Gelangweilt ließ ich meine Blicke aus dem Fenster schweifen. Unten auf dem Schulhof standen zwei Gestalten, die mir seltsam bekannt vorkamen. Aber aus meiner Perspektive lies sich nichts Genaueres erkennen. Plötzlich legte eine der Personen den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Und da erkannte ich das Gesicht, welches ich wohl nicht so schnell vergessen würde. Da unten standen Kalle und Fiddi!
 

Ein erschrockenes Gurgeln entrang sich meiner Kehle.
 

Meine Lehrerin sah auf, zog erstaunt die Augenbrauen hoch und rückte ihre Brille zurecht.

„Wie bitte?“, fragte sie mit ihrem starken Akzent. „Kann isch dem jungen Monsieur vielleischt be’ilflich sein?“
 

Jetzt oder nie!
 

„Äh… ja … Ich… Darf ich eben kurz auf Toilette?“
 

Madame Drouet fixierte mich aus zusammen gekniffenen Augen. „Wir ’aben in fünf Minuten Schluss! Kannst du disch so lange vielleischt noch zurück ’alten, Fabian“
 

„Äh… ich…“
 

„Das geht nicht, Madame Drouet!“
 

Erstaunt sah ich zu Tilo, der aufgestanden war und nun sichtlich nervös nach vorne schielte.
 

„Bitte was?“
 

„Naja“ Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. „Wenn er nicht pünktlich Schluss macht, dann verpasst er seine Straßenbahn!“
 

Madame Drouet musterte uns beide skeptisch. Der Rest der Klasse schwieg gespannt.
 

„Ist das wahr?!“, wandte sie sich an mich. Ich nickte hastig.
 

Es war eine Lüge. Ich musste immer mindestens eine dreiviertel Stunde auf meine Bahn warten.

Madame Drouet nickte. „Na gut, isch will mal nischt so sein! Aber ’err Maurer sollte sisch auf diese Weise nischt vor ’ausaufgaben drücken. Page quarante-trois, Nümmer deux!“ Sie schlug ihr Buch zu. „Damit seid ihr alle aus meinem Unterrischt entlassen! Bedankt eusch bei den zwei ’erren…! ’usch ’usch! Weg mit eusch!“
 

Begeistertes Murmeln erhob sich in der Klasse. Ein Ausruf, von wem auch immer: „Madame, sie sind die Beste!“
 

Madame Drouet lächelte verschmitzt. „Isch weiß“, sagte sie und entschwebte mit federndem Gang.
 

Ich beeilte mich, meine Sachen einzupacken und nach draußen zu gelangen. Warum hatte Tilo mir geholfen? Aber was noch wichtiger war: Was hatten Kalle und Fiddi hier zu suchen?
 

Ich lief zu ihnen hin. „Hey ihr zwei!“, rief ich. Sie wandten sich zu mir um, sagten aber nichts. Kalle drehte den Kopf weg, Fiddi schwieg einfach nur und mir wurde übel. Ich hatte sie Schwuchteln genannt…Stimmt ja! Ich hatte es ganz vergessen. Was wenn sie mir wirklich nicht verzeihen würden? Verübeln könnte ich es ihnen nicht.
 

„Ich“, begann ich und versuchte, meine Stimme nicht zittern zu lassen „Ich wollte mich bei euch entschuldigen! Ich meine, das mit den Schwuchteln tut mir Leid und ich weiß doch auch nicht was mit mir los war, ich hab ja eigentlich gar nichts gegen Schwule und “
 

„Schon gut“
 

Ich sah auf. Fiddi lächelte.
 

Fragend schwenkte mein Blick weiter zu Kalle. Der nickte.
 

Mir fiel ein Stein vom Herzen! „Danke“, krächzte ich mit belegter Stimme. Fiddi klopfte mir auf die Schulter. Mit gewaschenen, gekämmten Haaren und ordentlicher Kleidung sah er gar nicht mal so schlecht aus. „Find ich klasse, dass du dich entschuldigst. Macht nicht jeder!“
 

Genau in diesem Moment kam Chris.
 

„Danke, dass du gewartet hast Fabi und… Hey, was macht ihr denn hier?“ Er sah Kalle und Fiddi fragend an. In meinem Kopf explodierten die Gedanken. Rote Jacke, schrie mein Kopf.

Aber ich konnte es nicht einordnen.
 

„Wie, ihr kennt euch?“, fragte nun Kalle ungläubig. Chris musterte ihn irritiert.
 

„Eh… ihr kennt euch auch? Also… ihr… und du…?“ Er machte eine hilflose Handbewegung von Fiddi und Kalle zu mir. Sein ratloser Blick sprach Bände.
 

Kalle übernahm das Wort. „Jaaah, wir kennen uns! Er hat mich im Supermarkt mal beinahe umgerannt… Und ihr zwei seid wohl befreundet, hm?“
 

Ich nickte geistesabwesend. Warum hatte Kalle gelogen?
 

Wollte er, dass Chris nicht mitbekam, dass er in der Drogenszene aktiv war? Und was für eine Beziehung hatte er zu ihm? Und warum geisterte mir eine rote Jacke im Kopf herum?
 

„Und ihr?“, fragte ich zögerlich. „Woher kennt ihr euch?“
 

„Er“, sagte Chris und nickte in Kalles Richtung „Ist mein Bruder!“
 

Rote Jacke, ja klar! Wie verpeilt konnte ein Mensch eigentlich sein? Kalle hatte gesagt er hätte die gleiche Jacke gehabt wie ich und Chris, dass sein Bruder die gleiche Jacke hätte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit wohl, dass drei Leute aus einer Stadt die gleiche Jacke besaßen. Und dann die Geschichte mit den Drogen und dem Selbstmord. Ich war echt super blöd gewesen. Chris wandte sich Kalle zu.
 

„Noch mal, was macht ihr hier?“
 

Der zog eine Grimasse. „Unsere Mutter“, er zog die zwei Wörter extrem in die Länge „hat mich dazu verdonnert, dich von der Schule abzuholen!“
 

„Warum?“
 

„Weil ich heute frei hab!“
 

„Nein, ich meine, warum musst du mich abholen?“
 

Kalle zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung“, brummelte er. „Wahrscheinlich weil es dein erster Schultag oder so ist… Frag mich doch nicht…“
 

„Ah“, machte Chris, auch wenn er nicht so aussah, als hätte er irgendwas verstanden. „Können wir dann?“
 


 

Ich hatte nicht gedacht, dass ich Chris noch nach Hause begleiten würde, jetzt wo Kalle und Fiddi da waren, aber irgendwie ergab es sich so.
 

„Sag mal“, wandte sich Fiddi irgendwann an mich „Wohnst du eigentlich auch hier in der Nähe?“

Chris schüttelte energisch den Kopf. „Nee, er wohnt am anderen Ende der Stadt. Aber ich hab ihn darum gebeten, mich zu begleiten… Wieso?“
 

Fiddi schüttelte den Kopf. „Ach, nur so“, murmelte er.
 

Ich stieß Chris leicht in die Seite. „Danke“, murmelte ich.

Chris runzelte die Stirn. „Wieso? Ist doch wirklich so…“
 

Bevor ich noch irgendwas erwidern konnte, blieb er stehen.
 

„Hier wohne ich“, verkündete er.
 

„Ich weiß“, brummte Kalle, wofür er von Fiddi ein Grinsen und von Chris einen strafenden Blick erntete.
 

Chris’ Haus war groß – um nicht zu sagen, es war sehr groß!
 

Eigentlich war es nur durchschnittlich, aber mir kam es riesig vor. Und im Vergleich zu meiner Behausung war es das auch.
 

„Danke, dass du mitgekommen bist!“, sagte Chris und lächelte mich an. „Bis Morgen!“

Er drehte sich um und rannte quer über den Schneebedeckten Rasen zur Haustür. Kalle zog an meinem Arm. „Komm schnell!“, blökte er und riss mich mit sich.
 

Nach einem zweiminütigen Spurt, bei dem ich kurzweilig geglaubt hatte, meine Beine verlieren zu müssen, blieben Kalle und Fiddi endlich stehen.
 

„Was?“, japste ich. Meine Lungen brannten wie Feuer.
 

„Meine Mutter“ Kalle war mindestens so außer Puste, wie ich. „Sie hätte uns alle drei auf ne’ Tasse Kakao eingeladen!“
 

„Unwiderruflich“, nahm Fiddi ihm das Wort ab. „Du hättest nicht nein sagen können, glaub mir!“
 

Er lies sich auf eine Parkbank fallen. Kalle und ich taten es ihm gleich.
 

„Bist du gut mit Chris befreundet?“, fragte Kalle, als er wieder zu Atem gekommen war.
 

„Ja, ich weiß nicht…“, antwortete ich zögerlich. „Wir kennen uns noch nicht so lange.“
 

„Phu, das habe ich mir schon gedacht.“, murmelte Kalle. „Weil du ja gesagt hattest, du hättest keine Freunde…. Aber von mir und den Drogen hast du ihm nichts erzählt, oder?“
 

Ich überlegte. Ich hatte ihm viel erzählt. Aber ich hatte doch keine Namen erwähnt und außerdem glaubte Chris, dass ich Kalle im Supermarkt kennen gelernt hatte.
 

„Nee“, sagte ich also und schüttelte den Kopf. „Nee, davon weiß er nichts!“
 

Fiddi lachte kurz auf, Kalle lies sich seufzend zurück sinken und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er schien erleichtert zu sein.
 

„Wieso fragst du?“, fragte ich.
 

Fiddi seufzte, stand auf und drückte Kalle flüchtig einen Kuss auf den Mund. „Ich muss dann mal los. Wir sehen uns gleich noch Schatz. Viel Spaß!“
 

Er ging und ich saß mit Kalle allein auf der Bank.
 

„Wohin muss er?“, fragte ich neugierig.
 

„Arbeiten“, murmelte Kalle und steckte sich eine Zigarette an. Als er meinen fragenden Blick bemerkte, fügte er ein hastiges „Legal!“ hinzu.
 

Eine unangenehme Stille breitete sich über uns aus. Ich scharrte nervös mit einem Fuß in dem schlammigen Schnee am Boden.
 

Mir wurde langsam kalt. Dann fiel mir auf, dass er mir meine Frage noch gar nicht beantwortet hatte und das sagte ich ihm auch. Kalle drehte nervös seine Zigarette zwischen den Fingern.
 

„Weil… ach Fuck… weil… Darum eben!“ Er nahm einen erneuten Zug aus seinem Glimmstängel.
 

„Das ist ungesund, lass den Scheiß!“, ermahnte ich ihn. Mir brannte der Qualm in den Augen. Schuldbewusst drückte Kalle die Zigarette im Schnee aus. „Hast ja Recht“, murmelte er.
 

„Also, was ist Nu?“, hakte ich weiter nach.
 

Kalle schüttelte den Kopf „Ich will Chris nicht enttäuschen!“, sagte er.
 

„Achso“
 

„Nein, so simpel ist das nicht!“
 

Kalles Worte ließen mich aufschrecken. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass er nicht über die Sache reden wollte, aber dem schien nicht so zu sein.
 

„Weißt du“ Kalles Stimme glich einem Flüstern. „Ich war früher ganz dick drin in der Szene. Also, nicht nur Verkauf von Drogen, sondern auch eigener Konsum! Meine Familie wusste das, auch Chris… Das war in der Zeit kurz nach meinem Coming-Out… Ich dachte, ich zerbreche daran, aber Chris hat mir da raus geholfen und ich habe es geschafft Clean zu werden!“ Kalle ließ den Kopf hängen und spielte mit der Zigarettenpackung in seinen Händen. „Verdammt!“, zischte er. „Ich hab allen gesagt, ich wäre ganz draußen… GANZ, verstehst du? Auch kein dealen mehr und so“
 

Ich nickte.
 

„Naja“, fuhr Kalle fort. „Sie waren alle so stolz auf mich. Aber es ist halt nicht so einfach, weißt du?“, er seufzte. „Man kann nicht mal eben so aussteigen. Das geht nicht!“
 

„Wieso?“
 

„Tja, das ist halt ein bisschen wie bei der Mafia“ Kalle lachte leise, aber freudlos. „Das Aussteigen bei Dealern ist gefährlich für die, von denen sie den Stoff beziehen. Es geht zwar um mehrere Ecken, aber wenn ich was ausplaudern würde, dann hätten die ein Problem! Ich hatte halt Angst, okay?“
 

Er drehte den Kopf weg. „Klingt unlogisch, hm?“, fragte er leise. „Ich, der ich mehrere Selbstmordversuche hinter mir hab, hab auf einmal Angst davor umgebracht zu werden…“
 

Er hatte es mehr zu sich selbst, als zu mir gesagt, aber ich verstand es.

Verstand es nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen.
 

„Nein“, sagte ich. „Ich finde, das klingt gar nicht unlogisch!“
 

Kalle sah mich an und auf einmal begann er zu weinen. Es war ein seltsames Gefühl, einen jungen Mann weinen zu sehen. Ich hatte Chris weinen gesehen. Aber das war etwas Anderes gewesen. Chris war so zart, so zerbrechlich und sein Weinen hatte etwas selbstverständliches. Niemand hätte ihn dafür ausgelacht, nur weil er ein Junge war und weinte. Bei Kalle war es anders. Kalle, den ich kaum kannte und dem ich trotzdem vertraute. Kalle, der so stark schien, aber doch sehr verletzlich war, es nur nicht zeigen wollte.
 

Ein Gedanke schlich sich in meinen Kopf. Hatte ich nicht ähnliches durchgemacht?
 

Natürlich, ich konnte nicht beurteilen, wie es sein musste, anders zu sein als die Anderen. Zumindest nicht von diesem Ausmaß – ich war ja schließlich nicht schwul. Aber ich hatte das Gefühl zu wissen, wie es sich anfühlen musste. Und als Kalle nun weinend vor mir saß, konnte auch ich nicht anders, als die Tränen laufen lassen. Und so saßen wir uns auf der Parkbank gegenüber und weinten.
 

Die wenigen Menschen, die bei diesem Wetter vorbei kamen, warfen uns seltsame Blicke zu, aber mir war das egal.
 

Irgendwann rutschte ich näher an Kalle heran und nahm ihn vorsichtig in den Arm. Er erwiderte die Umarmung und es fühlte sich gut an. Es war mir egal, dass Kalle auf Jungen stand. Kalle war Kalle, egal welche sexuelle Orientierung er haben mochte. Und dieser Umarmung haftete nichts anderes als Freundschaft an – Und dessen war ich mir sicher! Es war Freundschaft! Ein schönes Gefühl…
 

Irgendwann löste sich Kalle von mir. Sichtlich peinlich berührt wischte er sich die letzten Tränen aus den rot verquollenen Augen. „Sorry“, murmelte er.
 

„Schon okay“, schniefte ich und zog die Nase hoch. Ich zitterte noch wie Espenlaub.
 


 

Kalle bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Dankend nahm ich sein Angebot an.

Dort angekommen setzte ich mich erst einmal an den Schreibtisch und kramte in meiner Schublade. Zum Vorschein kam ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch.
 

Ich hatte es von meiner Oma bekommen, als diese noch kerngesund gewesen war.
 

Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie sie mir damals lächelnd über den Kopf gestrichen hatte, als ich mich darüber wunderte, dass es leer war.
 

„Wenn du mal großen Kummer hast, oder große Freude, dann schreib es in dieses Buch!“, hatte sie gesagt. „Vielleicht wird es dir mal helfen!“
 

Ich hatte damals noch nicht schreiben können, also hatte ich es in der untersten Schreibtischschublade versteckt. Und dort war es vergessen worden.
 

Warum ich mich jetzt wieder daran erinnerte, wusste ich nicht.

Ich strich andächtig über den Einband, dann schlug ich es auf und begann – zum ersten Mal in meinem Leben – Tagebuch zu schreiben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  ReinaDoreen
2011-09-17T19:20:18+00:00 17.09.2011 21:20
Toles Kapitel, sehr aufschlussreich.
Ich bin froh, das die Geschichte ein neues Kapitel bekommen hat.
reni


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