Rastlos zog Nao durch die Wohnung, die aussah, als wäre sie nur eingerichtet, jedoch niemals benutzt worden. Er kam hinter dem großen Sofa zum Stehen und ließ seine Hand über die Lehne gleiten. Immer und immer wieder war es für ihn erstaunlich, wieso Tora einfach fort gehen konnte. Er konnte es sich so oft fragen und niemals eine Antwort bekommen.
Diese Wohnung hätte ein Fluchtort, ein Platz zum Zurückziehen für seinen Freund sein sollen. Sie war es anscheinend nicht gewesen. Anscheinend war nichts so gewesen wie es zu sein schien. Nicht mal die Freundschaft, die ganze Beziehung von Nao zu Tora und von Tora zu Nao war so, wie Nao es sich ausgemalt hatte.
Nao hatte immer gedacht, Tora wäre sein bester Freund gewesen. Und Tora würde da sein, wenn er ihn brauchte. Aber vielleicht hatte er es einfach übertrieben. Vielleicht hätte er nicht mit jedem Problem zu ihm kommen sollen. Vielleicht hatte er sich einfach zu sehr auf Tora verlassen. Die Probleme anderer waren für Nao einfacher zu tragen, als seine eigenen, weshalb er immer ein offenes Ohr für Schwierigkeiten jeder Art gehabt hatte. Alle waren zu ihm gekommen.
Nur Tora nicht.
Auf Tora hatte Nao sich abgestützt, wenn alle anderen sich auf Nao abgestützt hatten. Die Probleme anderer waren aber für Tora wohl nicht einfacher zu tragen gewesen als dessen eigene. Nao hatte das nicht gesehen. Was war er als bester Freund wert, wenn er nicht mal das Innere Toras verstehen konnte?
Nao fühlte sich schuldig. Tora war gegangen und Nao hatte es nicht kommen sehen. Die Anderen mochten ihm keine Vorwürfe machen, aber er tat es und das war das Schlimmste. Vor sich selber da zu stehen, wie der letzte Trottel, der nicht mal die Menschen, die ihm wichtig waren, stützen konnte.
Aber hätte Nao was dagegen tun können, dass Tora verschwinden wollte? Sicherlich! Er redete es sich ein, obwohl er wusste, dass das die ganze Situation für ihn nur schlimmer machte. Und er wusste ebenso gut, dass Tora auch gegangen wäre, hätte er ihn angefleht zu bleiben. Denn so war Tora immer gewesen.
Unabhängig. Gegenüber Nao und gegenüber jedem anderen.
Nao dagegen brauchte Tora und das wurde ihm erst schmerzlich bewusst, nachdem dieser fort war. Er konnte kaum verstehen, wieso alles passierte, wie es passierte. Es war nicht zu begreifen. Zumindest nicht, solange ihm die Antworten fehlten, die er in Toras Wohnung suchte.
Die er jedoch nicht fand. Wie hätte er sie hier finden können, wenn Tora dieser Ort nichts bedeutet hatte? Was sollte hier schon sein, wenn Tora im Grunde geglaubt hatte, hier nichts verloren zu haben?
Jede Erinnerung, die Nao mit Tora verband, schien wertlos im Vergleich zu dem Schmerz, den er empfand, wenn er daran dachte, wie es war, als Tora bei ihm war. Nao hatte in ihm immer seinen Rettungsanker, seine Erlösung, gesehen.
Siehst du es mir an?
Was denn?
Dass ich nicht so bin, wie die anderen.
Die anderen waren Tora immer wichtig gewesen. So wichtig, dass er nicht als einer von ihnen abgestempelt werden wollte. Nao hatte das nie verstanden, aber jedes Mal verständnisvoll genickt. Hätte er sich darauf konzentrieren sollen? Hätte er...?
Es gab vieles, was Nao hätte tun müssen, um Tora davor zu bewahren, die Freiheit seines Lebens in die Uneingeschränktheit, die dem Sterben folgt, einzutauschen. Zumindest glaubte er das.
Tora war immer einfach er selbst gewesen und wenn Nao weiter darüber nachdachte, fand er, dass der Tod genau Toras Stil war. Nichts anderes hätte zu dem Bild von Tora gepasst, das er nun von ihm hatte. Erschreckenderweise.
Würde Nao Tora deswegen verurteilen? Sicherlich nicht.
Nao würde nur weiter nach Antworten suchen, die er in diesem Leben nicht finden konnte. Es half nichts sich umzusehen. Es half nicht durch Toras Wohnung zu gehen als wäre es das Einzige, was Nao für den Rest seines Daseins tun wollte. Und es würde auch nichts helfen die Lehne des Sofas zu umklammern, als wäre nun das Sofa statt Tora der Rettungsanker, der Nao davon abhielt in dem Müll zu versinken, der seine Trauer darstellte.
Mit zitternden Knien wankte Nao weiter vom Wohnzimmer aus in den Flur. Durch den Flur ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und wartete auf Toras Rückkehr, sowie auch Nao es tun wollte, der sich darauf nieder ließ. Den Kopf gesenkt, den Willen zum Weitermachen verloren, bemerkte er nicht, dass ein Post-it am Kissen klebte.
Würde Nao den Kopf ein Stück wenden, würde er wissen, dass er seinem besten Freund nicht egal gewesen war. Es würde die Trauer nicht lindern, aber die Erinnerungen weniger schmerzhaft machen. Zwei Sätze, die auf einem Post-it standen, konnten Naos ganzes Leben fruchtbarer und glücklicher machen, als es jetzt noch den Anschein hatte.
Du bist mein bester Freund. Es ist nicht deine Schuld.
Aber er las es nicht. Und beschloß statt dessen seinem Freund zu folgen.
Einmal wollte Nao auch er selbst sein. Und das würde er nur noch können, wenn Tora da war, um ihn zu vollenden. Das Meer ist der Tod und das Sterben die rauschenden Wellen darauf.
Jetzt war es an der Zeit, das zu überprüfen.