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Die vier Phasen

von

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Reisende - Teil 1

Ja hej!
 

So viele Kommentare von Euch zum letzten Kapitel! Vielen, vielen Dank dafür!!
 

Dieses Kapitel habe ich zweimal angefangen und dann komplett wieder gelöscht, dies ist also der dritte Versuch.

Dafür ufert es jetzt ein wenig aus, aber damit Ihr nicht noch länger warten müsst und womöglich denkt, dass ich gar nicht weiter schreibe, stelle ich hiermit wenigstens die erste Hälfte schon online.

Ich hoffe, Ihr habt weiterhin so viel Geduld mit mir

und wünsche Euch viel Spaß beim Weiterlesen!
 

Eure Jin
 


 

Reisende
 

(ein halbes Jahr vorher, in Deutschland)
 

Das laute Pochen an seiner Zimmertür weckte ihn nicht, riss ihn nur aus dem halbschlafähnlichen Zustand, in dem er vor sich hin dämmerte. Wie jeden Morgen versuchte er den Zeitpunkt des Aufwachens und die damit verbundene Notwendigkeit des Aufstehens so lange wie möglich hinauszuzögern.

Es tat zu weh, immer noch. Wachsein tat weh.

Auch an Tagen, an denen er keinen Kater hatte.

Das Klopfen wiederholte sich, fordernder diesmal. „Schläfst du etwa noch? Es ist gleich vier Uhr!“

Er zog die Decke über den Kopf. Vier Uhr – na und? Egal um wie viel Uhr, jeden Tag brach aufs neue das Verlustgefühl über ihn herein. Und er wusste nicht, wie lange er das noch aushalten konnte. Eigentlich konnte er das jetzt schon nicht mehr aushalten. Deswegen hatte er sich auch angewöhnt, sich abends so richtig schön volllaufen zu lassen. Dann konnte er wenigstens einigermaßen einschlafen. Denn neben dem Aufwachen war das Einschlafen das Schlimmste, war er sich der Leere neben sich am meisten bewusst.

Die Tür wurde gnadenlos aufgestoßen.

„Tatsächlich! Los – aufstehen ... boah, stinkt das hier! Wie hältst du das aus?“

Scheppernd rollten die Jalousien hoch, und eine Welle frischer Luft wehte ins Zimmer, als das Fenster geöffnet wurde. Als nächstes war die Bettdecke dran. Ein Ruck und schutzlos war er dem neuen Tag ausgeliefert. Die Sonne schien ungehindert auf sein Bett und stach ihm unangenehm in den Augen. Nie wieder so viel Alkohol schwor er sich zu trinken.

„Muss das sein“, maulte er, drehte sich auf den Bauch und grub das Gesicht in das Kopfkissen. Ein Fehler, wie er sofort merkte, denn die plötzliche Bewegung verursachte ihm zu den Kopfschmerzen jetzt auch noch Übelkeit. „Lass mich doch einfach hier liegen ...“

... und sterben , fügte er in Gedanken hinzu.

„Nix da.“

Kleine Schwestern konnten echt nervig sein. Auch ohne sie zu sehen, wusste er, wie sie jetzt vor seinem Bett stand: breitbeinig und die Hände in die Hüften gestemmt. Er hörte, wie ihr Fuß ungeduldig auf den Teppich klopfte. Er kannte keinen Menschen, der so schnell und so oft ärgerlich wurde wie Karoline.

„Ich habe jemanden mitgebracht, extra für dich, eine Japanerin, eine echte diesmal, und die ist sogar nett und will uns helfen, sie wartet im Wohnzimmer, und darum stehst du jetzt auf und kommst gefälligst runter, sonst hab ich sie ganz umsonst mit deinen Problemen belästigt und – oh Gott, siehst du scheiße aus!“

Ächzend hatte er seinen alkoholvergifteten Körper in eine sitzende Position gebracht, was eine erneute Schwindelattacke auslöste. Schwankte er oder schwankte das Zimmer? Ihm war schlecht, und in seinem Kopf saß ein kleiner gemeiner Zwerg und hämmerte gegen seine Schädeldecke. Einzig, dass Karoline tatsächlich genau in der Pose da stand, wie er sich das vorgestellt hatte, bereite ihm eine gewisse Befriedigung.

„Okay. Du gehst am besten erst mal duschen, vielleicht macht das wieder einen Menschen aus dir, und ich koche dir in der Zwischenzeit einen megasuperstarken Mörderkaffee, wie findest du das?“

„Super“, stöhnte Patrick ergeben und war froh, als er wieder allein war.
 

Frisch geduscht und rasiert und mit zwei Aspirin im Magen fühlte er sich schon etwas besser. Zumindest gut genug, um nach unten zu gehen und sich zu vergewissern, ob er Karolines Redeschwall tatsächlich richtig verstanden hatte und sie wirklich jemand aus Japan angeschleppt hatte. Eigentlich wunderte ihn das, schließlich machte sie kein Geheimnis daraus, wie rücksichtslos und gemein sie Toshis Verhalten fand. Und wie wenig sie verstand, wieso Patrick ihn immer noch in Schutz nehmen konnte.

„Der hat dich eiskalt abserviert, wann kapierst du das endlich?“ hatte sie erst gestern geschimpft. Dabei hatte sie Toshi immer gern gemocht, sogar ein wenig für ihn geschwärmt, wie Patrick fand. „Irgendwo muss doch der Haken sein“, hatte sie früher oft scherzend über das Glück ihres Bruders gelästert, „bist du sicher, dass er dich nicht nur wegen der Staatsbürgerschaft heiraten will?“ Das war nach so einer Sendung über Scheinehen im Fernsehen eine Art Running Gag zwischen ihnen geworden. Natürlich nur, wenn Toshi nicht dabei war. Aber jetzt schien der Spaß für Karoline bittere Realität geworden zu sein.

Und seit der Begegnung mit diesem Pascal Remarque in Toshis Wohnung begann auch in Patrick der Zweifel zu nagen. Vielleicht hatte er sich ja doch in Toshi getäuscht? Was wusste man schon wirklich davon, wie es in einem anderen Menschen aussah? Nur weil er geglaubt hatte, dass Toshi seine Liebe mit gleicher Intensität erwidert hatte, musste das nicht zwangsläufig auch so sein. Der Tropfen auf der Rückseite des Fotos konnte auch etwas anderes als eine Träne sein. Und dann war da ja auch noch das, was Toshis Kollege im Spotlight über ihn berichtet hatte – nach dem dritten Cocktail, den Patrick ihm ausgegeben hatte. Dass Toshi nämlich seinen kleinen verdammten Nebenverdienst wieder aufgenommen hatte. Aber war das verwunderlich, wenn das Geld so knapp war? Warum nur hatte Toshi nie über seine Probleme gesprochen, das war das eigentliche Problem!
 

Er hatte nicht vorgehabt sich anzuschleichen und zu lauschen, aber er setzte seine Schritte so vorsichtig, um jede unnötige Erschütterung in seinem Kopf zu vermeiden, dass Karoline ihn nicht die Treppe herunter kommen hörte und er ungewollt Zeuge ihrer Worte wurde. Die Tür war nur angelehnt, und er legte die Hand auf die Klinke.

„Vielleicht bringt ihn das ja wieder zur Vernunft“, sagte Karoline gerade. Der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee schwängerte die Luft. „Ich jedenfalls wäre fuchsteufelswild, wenn man mich so sitzen lassen würde!“

Patrick drückte die Tür auf. „Dann ist ja gut, dass dich die Sache nicht betrifft. Wie oft soll ich es noch sagen – ich wurde nicht sitzen gelassen.“

„Nenn es wie du willst, es ändert nichts an den Tatsachen“, konterte sie. „Und es betrifft uns alle, solange du hier mit uns wohnst!“

Sie warf der asiatischen Frau, die ihr gegenüber auf dem Sofa saß, einen Blick zu, in dem deutlich „Genau das meine ich“ geschrieben stand, wurde von dieser jedoch komplett ignoriert, was ihr bei Patrick sogleich die ersten Sympathiepunkte einbrachte.

Sie wirkte etwas verlegen und irgendwie auch einen kurzen Moment lang verwirrt, als sie aufstand und sich vor Patrick in einer automatisierten Bewegung zweimal verbeugte, bevor sie ihm nach deutscher Sitte die Hand entgegen streckte.

Toshi hat sich nie verbeugt, dachte Patrick und ergriff die Hand. Sie fühlte sich angenehm an, warm und trocken, und sie hatte einen festen Griff. Und genauso war ihr Blick, mit dem sie ihn musterte: fest, warm und aufmerksam. Sie war eine schlanke Person und einen guten Kopf kleiner als Patrick, aber sie strahlte mit jeder Faser ihres Körpers soviel Selbstbewusstsein aus, dass Patrick nicht das Gefühl hatte, größer zu sein als sie. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass sie sich so kerzengerade hielt (Toshi hatte das auch immer getan), während sich Patrick in letzter Zeit schlaff und schwermütig in vorgebeugter Haltung der Schwerkraft ergab.

„Das ist Patrick, mein Bruder“, ergriff Karoline wieder das Wort. „Und das ist Nami Midorawa aus Japan. Wir haben uns im Großen Garten ..., äh, getroffen.“ Jetzt war es an Karoline kurz verlegen zu sein, ein eher untypischer Zustand für sie.

„Nami Midorikawa“, korrigierte die Japanerin ihren Namen mit einem Lächeln und half Karoline aus der Verlegenheit heraus, indem sie gleich weiter redete: „Freue ich mich, Sie lernen zu kennen. Ihre Schwester erzählt mir, Sie Hilfe können mit japanischem Schriftstück?“

Sie sprach sorgsam und mit einem starken Akzent. Patrick fiel auf, dass sie überhaupt keinen Schmuck trug, und auch nicht geschminkt war, obwohl sie ansonsten ein elegantes Erscheinungsbild hatte. Sie trug eine schwarze, figurbetonende Stoffhose mit leichtem Schlag und dazu ein cremefarbenes tailliertes Hemd, das die Arme frei ließ. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung zeichneten sich unter der leicht gebräunten Haut deutlich die Muskeln ab, was Patrick an Toshi denken ließ und auf irgendeine regelmäßige sportliche Aktivität hinwies. Die Schuhe waren ohne Absatz aus braun glänzendem Leder. Das glatte schwarze Haar umrahmte kinnlang ihr Gesicht, das nicht die für viele Asiatinnen typische rundliche Form aufwies, sondern eher oval war mit einer hohen Stirn. Die Augen waren mandelförmig, aber nicht so schmal und auch nicht so schrägstehend wie Toshis. Ihr Gesicht besaß auch nicht die gleiche malerische Schönheit, dazu war der Mund mit den vollen Lippen vielleicht ein wenig zu klein, die schmalen Augenbrauen vielleicht einen Tick zu kurz und die Ohren standen etwas zu sehr ab. Dennoch fand Patrick sie hübsch.

Er kratzte sich am Kinn und stellte bei der Gelegenheit fest, dass er sich nicht gründlich rasiert hatte und ein paar Stoppeln stehen geblieben waren.

„Ja, ehm ... Wir können alle kein Japanisch, und ich möchte einfach verstehen, was geschehen ist“, sagte er. „Allerdings gibt es da ein Problem.“

„Und das wäre?“ fragte Karoline.

Beide Frauen sahen ihn erwartungsvoll an.

„Naja, ich habe es nicht mehr. Der ganze Schriftkram ist mit den anderen Sachen aus der Wohnung geräumt worden.“ Patrick drehte die Handflächen nach vorne und zuckte die Schultern. „Alles weg.“

„Nein. Ist es nicht“, entgegnete Karoline triumphierend. „Weil ich die Unterlagen gar nicht zurück gegeben habe!“

„Du hast sie noch?“

„Yes!“

„Ach ... Na, dann ... Dann ist ja gut.“

„Du könntest ruhig ein wenig mehr Begeisterung an den Tag legen.“

Patrick fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das feuchte Haar und zerwuschelte seine Frisur so noch mehr. Wenn er ehrlich war, wusste er gar nicht mehr, warum er so unbedingt hatte wissen wollen, was genau zu Toshis Geldproblemen geführt hatte. Was würde das schon ändern – Toshi brachte es ihm nicht wieder zurück.

„Ich komme nicht zurück“, hämmerten die Worte aus Toshis SMS immer wieder durch seine Gedanken. Aber was ist mit der Träne, fragte sein Herz. Und solange Piku bei ihm war, konnte er die Hoffnung einfach nicht aufgeben, Toshi wiederzusehen.

Wiederzusehen – schön. Und dann? Was, wenn Toshi mit seinem neuen Lover an der Hand nur wieder käme, um die Gegenstände, die Patrick ohne zu fragen an sich genommen hatte, einzufordern?

Aber seine ganzen Sachen sind doch auf dem Müll, dachte er dann wieder. Toshi weiß ja gar nicht, dass ich Piku hier habe!

Unvorstellbar, dass Toshi zugestimmt haben sollte, all die kleinen Dinge, die ihm so wichtig waren, einfach wegzuwerfen. Seine ersten Tanzschuhe. Die kleine Muschel von seinem ersten Freund. Und Piku. All das war unersetzbar!

„Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?“ fragte er ihren fremdländischen Gast.

„Ja gern, vielen Dank.“

„Der ist aber extra stark“, warnte Karoline.

„Das macht nichts. Ich bin gewohnt, zu trinken starken Kaffee.“

„Nehmen Sie Milch? Zucker?“ fragte Patrick.

„Nein, danke. Schwarz.“

„Gut. Ich bin gleich wieder da.“

„Und ich hole schnell die Briefe“, sagte Karoline.
 

Kurz darauf saßen sie alle drei um den niedrigen Couchtisch herum, und die Geschwister beobachteten gespannt, wie Midorikawa aufmerksam die Schriftstücke studierte. Genau wie bei der Frau vom Deutsch-Japanischen-Freundeskreis hatte Patrick das Gefühl, dass auch Midorikawa länger als nötig auf die Papiere blickte, bevor sie wieder aufsah. Aber wenigstens lächelte sie kein falsches Lächeln wie die andere Japanerin, deren Mimik sich gemeinsam mit ihrer Hilfsbereitschaft abgekühlt hatte. Midorikawa lächelte gar nicht.

„Es tut mir leid ...“, begann sie und schien dann erst nach den richtigen Worten suchen zu müssen.

„Das macht nichts“, sagte Patrick rasch. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, schließlich war es schon toll, dass sie überhaupt mit Karoline mitgekommen war und ihre Zeit für ihn opferte. „Aus den Schreiben geht einfach nicht hervor, warum sie ihm das Geld gestrichen haben.“

„Doch“, widersprach Midorikawa leise. „Ich glaube, ich weiß.“ Sie nahm einen vorsichtigen Schluck von dem heißen Kaffee und verzog keine Miene dabei. Entweder war sie wirklich gewohnt, ihn so stark zu trinken, oder ihre Selbstbeherrschung war bewundernswert. Patrick trank seinen mit Milch und hatte, nachdem er probiert hatte, noch einen Löffel Zucker extra genommen.

„Hier steht, dass der Fehler geschehen ist. Das ... ehm, das Geld hat nicht gegeben werden dürfen an ihn.“

„Das wissen wir bereits“, sagte Patrick. „Steht da auch, was das für ein Fehler gewesen sein soll?“ Er lehnte sich auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit einem Mal war er nicht mehr sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte. Was, wenn es Toshis Fehler gewesen war? Was, wenn Karoline nur so viel Energie in die Aufklärung dieses Rätsels investiert hatte, um ihm vorzuführen, dass Toshi nicht zu trauen war? Dass er von vorneherein Dreck am Stecken gehabt hatte, kriminelle Energie?

Midorikawa wählte ihre Worte mit Bedacht. „Hier steht, dass Tsuzuki-san hat bereits, wie heißt auf Deutsch? Scholarship?“

„Stipendium“, übersetzte Patrick.

„Danke. Stipendium er bekommen hat vorher, darum nicht weiteres bekommen kann. Sie nur geben Stipendium an solche, die noch keines bekommen. Er hätte sagen müssen. Aber weil sie hier das nicht geprüft haben, er nicht muss zurück zahlen Geld.“

„Also ein Betrugsversuch?“ fragte Karoline, und Patrick meinte Triumph in ihrer Stimme zu vernehmen.

„Das reicht mir jetzt“, sagte er und stand auf. Dabei stieß er an den Couchtisch und brauner und schwarzer Kaffee schwappte auf die Tischplatte. „Ist doch auch egal. Ich gehe jetzt eine rauchen.“

„Seit wann rauchst du denn wieder?“ Die Frage hätte sich Karoline auch schenken können.

„Hab ich denn aufgehört?“ fragte er gereizt zurück. Und überhaupt – was mischte die sich überhaupt überall ein?

Auf der Terrasse atmete er erst einmal tief ein und ließ sich auf einen der Gartenstühle fallen. Es war ein sonniger, freundlicher Tag, die Vögel zwitscherten, und zwischen den bunten Blumen, die in großen Keramikkübeln und in dem Beet, das die Terrasse umgab, wuchsen, summten fleißige Bienen. Die friedliche Stimmung passte so gar nicht zu der in seinem Inneren. Er nestelte eine zerdrückte Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche und zündete sich eine an. Gleich beim ersten Zug merkte er, dass das ein Fehler war. Ihm war trotz der Aspirin noch latent übel, und der Zigarettenrauch verstärkte das nur. Davon abgesehen schmeckte es beschissen. Aus reinem Trotz rauchte er weiter.

Er hatte das Rauchen aufgegeben, damals, für Toshi, weil Toshi den Geruch nicht mochte und weil er es ungesund fand. War es ja auch. Es hatte Patrick nicht gestört, damit aufzuhören, doch jetzt hatte er keinen Grund mehr dazu. Im Spotlight, wo er die letzten Abende verbracht hatte, hatte einer von Toshis (ehemaligen!) Kollegen eine Kippe angeboten, er hatte angenommen, und das war es dann gewesen mit Nichtrauchen.

„Ich glaube nicht, Betrug.“ Midorikawa stand in der Terrassentür, die zwei Kaffeebecher in der Hand. „Darf ich?“

„Natürlich.“ Patrick rückte mit dem Fuß einen Stuhl zurecht, und sie setzte sich zu ihm.

„Möchten Sie auch eine?“ fragte er und deutete auf die Zigarettenschachtel.

„Nein, vielen Dank.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein gerade eben. Karoline und ich verstehen uns eigentlich gut, aber manchmal können Geschwister einem furchtbar auf die Nerven gehen.“

„Ja“, entgegnete sie, und er sah, wie sich ihre Züge verhärteten, bevor sie ihr Gesicht abwandte. Ihr Blick ruhte auf dem kleinen Reihenhausgarten, der für japanische Gartenverhältnisse schrecklich ungepflegt erscheinen musste, aber Patrick hatte das Gefühl, dass sie eigentlich an etwas anderes dachte.

„Haben Sie auch Geschwister?“ fragte er.

„Nein.“

Sie schwiegen einen Moment. Patrick nahm noch einen letzten tapferen Zug von seiner Zigarette, dann drückte er sie in einem der Blumenkübel aus, mit dem festen Vorsatz, die Kippe wieder zu entfernen, bevor seine Eltern sie entdecken konnten. Sie würden zwar nichts dazu sagen, dass er wieder mit Rauchen angefangen hatte, aber eine Kippe in den Blumen würde zu einer leidigen Moralpredigt über Benimmregeln führen.

„Ich glaube auch nicht an Betrug“, brach er das Schweigen. „Toshi war immer ehrlich.“ Bis auf das, was er verschwiegen hat, fügte er still hinzu.

„Wie nah waren Sie befreundet?“ fragte sie.

„Sehr nah. Wir wollten nächstes Jahr heiraten.“

„Heiraten?“ vergewisserte sie sich, ob sie richtig verstanden hatte.

„Ja. Der Termin stand schon fest. Hat Lina Ihnen nicht erzählt, dass ich schwul bin? That is gay in English.“

Er wunderte sich über Karolines Diskretion in diesem Punkt und wusste doch gleichzeitig, dass er seiner Schwester unrecht damit tat – an ihrer Loyalität war eigentlich nichts zu zweifeln. Obwohl er kein Geheimnis aus seiner Homosexualität machte, hatte sie es in der Vergangenheit doch immer ihm überlassen, wann er sich wem gegenüber outen wollte.

Und wie immer, wenn er es tat, beobachtete er sein Gegenüber sehr genau dabei. Die junge Frau hatte sich allerdings bemerkenswert gut im Griff. Oder sie hatte tatsächlich überhaupt kein Problem damit, jedenfalls wirkte sie nach ihrer anfänglichen, kurzen Überraschung nicht verlegen oder peinlich berührt und auch nicht abgestoßen oder irritiert. Eher ein wenig nachdenklich, aber sie erwiderte offen seinen Blick.

„Oh, Entschuldigung. Nein, hat erzählte sie nicht. Nur, dass Sie in eine Wohnung wohnten gemeinsam.“

„Naja, das war Toshis Wohnung. Aber die ist jetzt ja auch weg.“ Der Schmerz stieg in Patrick auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Die Wohnung war Toshi so wichtig gewesen. Wie sehr, wurde noch deutlicher, als das Ausmaß seiner Geldsorgen zu Tage getreten war – warum hatte er nicht im Studentenwohnheim oder wenigstens in einer WG gewohnt? Stattdessen hatte er neben Studium und dem Tanzen zeitweise noch in einem Sushi-Laden gejobbt, um die Miete zusammen zu kriegen. Patrick hatte sich oft gefragt, wo er die Energie für das alles hergenommen hatte.

„Und er hat nichts gesagt, bevor gegangen?“ fragte Midorikawa mitfühlend.

Patrick schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist es ja gerade. Es war alles vollkommen in Ordnung.“ Naja, bis auf die Sachen, die eben nicht in Ordnung gewesen waren. Mahnungen. Nichtbezahlte Rechnungen. „Er ist nur einfach nicht nach Hause gekommen. Und spricht seitdem nicht mehr mit mir. Das passt alles gar nicht zu ihm.“

„Was sagt Polizei?“

„Gar nichts. Er hat sich per SMS bei mir gemeldet. Und seine Wohnung und alles ordnungsgemäß gekündigt. Er hat seine Schulden bezahlt. Für die Polizei ist der Fall erledigt. Sie können ihm ja nicht vorschreiben, mit mir zu reden.“

„Hat er denn mit Polizei geredet?“

„Nein. Soweit ich weiß. Das ist es ja gerade! Ich habe ein ungutes Gefühl. Jemand könnte ihn dazu gezwungen haben, die SMS zu schicken. Vielleicht hat er sie nicht mal selbst geschrieben.“ Er dachte an die Träne auf der Rückseite des Fotos.

„Und seine Schulden bezahlt? Wer?“

„Naja, sein neuer ... Freund.“ Irgendwie hatte sie eine freundlich interessierte Art, mit ihren Fragen das Gespräch in eine Richtung zu lenken, die sie eigentlich gar nichts anging. „Oder was auch immer der ist. Jedenfalls hat der Geld. Ein hohes Tier in der Wirtschaft ist der.“ Die Erinnerung an den großen blonden Mann mit den stahlblauen Augen ließ ihn frösteln. Toshi mit dem ? Freiwillig? Niemals! Patrick erinnerte sich noch zu gut daran, was Toshi für eine an Feindseligkeit grenzende Reserviertheit stets Menschen in Führungspositionen gegenüber an den Tag gelegt hatte. Es reichte schon, wenn jemand nur einen Anzug trug. Selbst zu Patricks Vater, der als hoher Angestellter in der Stadtverwaltung Hemd, Krawatte und Jackett als Arbeitskleidung trug, zeigte Toshi anfangs ein äußerst distanziertes Verhalten. Erst als sein Vater sich zum ersten Mal im Freizeitdress mit ihm unterhalten hatte, war er aufgetaut.

„Ist das denn nicht möglich, dass er für Geld Sie verlassen hat?“ fragte sie vorsichtig. „Karoline-san scheint zu glauben das. Und Polizei.“

„Die Polizei kennt ihn nicht. Das passt überhaupt nicht zu ihm! Dieser Typ ... dieser Remarque passt überhaupt nicht zu ihm. Ich glaube, Toshi steckt mächtig in Schwierigkeiten, und es macht mich wahnsinnig, dass er nicht mit mir redet und dass ich ihm nicht helfen kann!“

Die junge Frau nickte mitfühlend. Und dann wechselte sie abrupt das Thema: „Hat er Ihnen erzählt, wo er Herkunft?“

„Ja. Natürlich. Er kommt aus Kamioka. Danach ist er nach Tokyo gezogen. Warum fragen Sie das?“

Sie antwortete mit einer Gegenfrage. „Nein, ich meinen, hat er gesagt, wie er hat gelebt? Wissen Sie, dass er kommt aus dowa-chiku? Zumindest ich glaube das.“

„Nein ... Er hat nicht viel von früher erzählt.“ Nervös spielten seine Finger mit der Zigarettenschachtel herum. „Was bedeutet das?“

Midorikawa zögerte. „Ich weiß nicht genau. Tsuzuki-san möchte sicher nicht, dass ich erzähle.“

„Tsuzuki-san ist aber nicht hier – und ich wollte auch nicht, dass er ohne ein Wort einfach verschwindet!“ entgegnete Patrick heftiger als beabsichtigt. Sofort zwang er sich wieder zu einem gemäßigteren Ton: „Ich mache mir fürchterliche Sorgen. Ich liebe ihn. Bitte ... erklären Sie es mir. Was ist dowa-chiku?“

Lange sah sie ihn an, zumindest kam es ihm so vor, und er erwiderte ihren Blick. Schließlich seufzte sie resigniert. „Ja, gut. Er ist nicht hier. Vielleicht es hilft Ihnen, zu verstehen. Vielleicht er hätte Ihnen selbst sagen sollen, aber es ist so, leider in Japan besser ist, nicht zu sagen, wenn kommt aus dowa-chiku. Darum er hat geschwiegen, ich denke. Das ist spezielles Gebiet, speziell Teil von Stadt. Menschen von dort sind oft arm, oft keine Arbeit, viele ohne Schulabschluss. Es ist dunkles Kapitel in japanischer Gesellschaft, es ist nicht gerecht. Niemand gerne darüber redet. Leute aus dowa-chiku haben schwer zu finden Arbeit, große Firmen haben solch verbotene Listen. Manchmal vor Heirat, Familien haben Privatdetektiv, ob andere Familie hat Vergangenheit in dowa-chiku. Ich schäme mich, zu sagen, aber es gibt noch viel ... wie sagen? It's descrimination in English. Entschuldigung bitte mein schlecht Deutsch, ich kann nicht besser erklären.“

Sie starrte auf seine Hand, und erst als er ihrem Blick folgte, bemerkte er, dass er die Zigarettenschachtel so fest umklammert hielt, dass er sie zerdrückt hatte. Ihm war schon wieder schlecht – oder immer noch? Er konnte sich seinen Toshi nur schwer in einer solchen Umgebung vorstellen, umgeben von Armut und Diskriminierung, abgelehnt von der Gesellschaft, und doch ergaben ihre Worte sofort einen erschütternden Sinn und erklärten viele von Toshis Merkwürdigkeiten. Die Abneigung seiner Heimat gegenüber und gegen Menschen in gehobenen Positionen. Seine arrogante Fassade. Die Geldprobleme und die Überweisungen nach Japan. Sein fast manischer Lerneifer, um nur ja gute Noten zu erzielen. Dass er so gut wie nie von seiner Familie sprach. Und so weiter. Es gab viele kleine Begebenheiten oder Äußerungen, die Patrick nun in neuem Licht sah.

Er erinnerte sich an eine Szene, als Toshi hier auf der Terrasse gesessen hatte, fast auf dem gleichen Platz wie Midorikawa gerade, und ihm beim Rasenmähen zugesehen hatte. Das Vokabelheft lag aufgeschlagen in seinen Händen, aber seine Augen ruhten voller Liebe auf Patrick, der schwitzend in der Sonne den elektrischen Rasenmäher vor sich her schob und ständig mit dem langen orangen Kabel zu kämpfen hatte, das irgendwie immer wieder im Weg lag. Patrick war stehen geblieben, um sich das T-Shirt auszuziehen, und als er es Richtung Terrasse warf, fing er Toshis Blick auf. Er lächelte und strich sich aufreizend über den nackten feuchten Oberkörper, während er sich langsam näherte.

„Na? Gefällt dir, was du siehst?“ fragte er, bemüht, seiner Stimme einen erotischen Klang zu geben.

Toshi bekam rote Wangen und versenkte sich in sein Vokabelheft. „Ich muss lernen“, murmelte er ausweichend.

„Das sah aber gerade eben noch ganz anders aus“, schäkerte Patrick und kam jetzt erst recht heran. So sexy Toshi sich beim Tanzen auch bewegen konnte, im Alltag war er manchmal unglaublich schüchtern. So wie jetzt. Patrick fand das so süß, dass er ihn einfach küssen musste. Er beugte sich zum ihm hinunter, doch Toshi wich zurück.

„Nicht … wenn uns jemand sieht!“

„Wer soll uns denn sehen? Wir sind allein zu Haus“, hauchte Patrick an Toshis Hals und biss leicht hinein. So schnell ließ er sich nicht abwimmeln.

Toshi schob ihn energisch weg und sah sich unruhig um. „Patrick! Die Nachbarn ...“

Ach so, darum ging es! Patrick richtete sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn. „Die wissen alle Bescheid, kein Problem. Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich schwul bin. Sie dürfen ruhig alle sehen, was für einen attraktiven Freund ich habe.“ Er griff nach Toshis Hand und drückte einen Kuss auf den Handrücken.

„Du bist so mutig“, sagte Toshi bewundernd und hielt seine Hand und seinen Blick fest. „Du bist das Beste, das mir im Leben passiert ist.“

Patricks Herz hatte Purzelbäume geschlagen. Er kam sich oft klein, linkisch und unscheinbar neben seinem Freund vor, der so viel ehrgeiziger, disziplinierter und dazu noch hübscher war als er selbst. Er hatte Toshi hoch gezogen und ihn leidenschaftlich geküsst, und diesmal hatte Toshi es zugelassen. Das Vokabelheft war auf die Steinplatten gefallen und hatte seitdem geknickte Seiten gehabt, die ihn immer wieder an diese kleine Begebenheit erinnert hatten.

„Du bist das Beste, das mir im Leben passiert ist.“ Patrick hatte das für eine Floskel gehalten, was sich Liebende eben so sagen. Aber Toshi hatte das mit so viel Ernst gesagt, dass sich dieser Satz eingeprägt hatte. Und mit dem Wissen über dowa-chiku erfasste er jetzt erst seine tiefere Bedeutung. Wieviel von dem, was Patrick für kulturelle Unterschiede aufgrund ihrer verschiedenen Nationalität gehalten hatte, hatte seinen wahren Ursprung in der Armut, in der Toshi anscheinend aufgewachsen war?
 

Eine federleichte Berührung an seiner Hand brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Eine Wespe hatte sich auf seiner Haut niedergelassen, und Patrick wartete geduldig, bis sie sich von alleine wieder in die Luft erhob. Sie schien sich für den Kaffee zu interessieren, doch dieses starke Gebräu konnte er dem kleinen Tierchen trotz des vielen Zuckers nicht empfehlen. Mit einer ruhigen Bewegung schob er sie beiseite und trank die Tasse in einem Zug leer.

„Ihr Deutsch ist vollkommen in Ordnung, Midorikawa-san. Besser jedenfalls als mein Japanisch“, sagte er und versuchte ein kleines Grinsen, das sie nicht erwiderte. „Aber wenn Sie möchten, können wir auch in Englisch weiter sprechen“, bot er an.

„Oh ja, das ist nett“, antwortete sie erleichtert und in englischer Sprache. „Und ich weiß, dass mein Deutsch nicht in Ordnung ist. Ich lerne noch.“ Ihr Englisch jedenfalls war bis auf einen unüberhörbaren Akzent fehlerfrei.

„Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“ fragte sie nach einer kurzen Pause.

„Ja“, entgegnete Patrick knapp und schaute auf die Tischplatte. Schon wieder stiegen Tränen in seine Augen.

„Sie müssen ihm verzeihen, dass er mit Ihnen über all das nicht gesprochen hat“, sagte Midorikawa sanft. „Wahrscheinlich war er froh, dass man hier in Deutschland über diese Thematik kaum etwas weiß. Gut möglich, dass er überhaupt deswegen ins Ausland gegangen ist.“

„Aber dann hat ihn seine Vergangenheit doch wieder eingeholt. Darum geht es doch in diesem Schreiben? Oder woher wissen Sie das alles?“

„Ja, darum geht es. Sie erwähnen ein Stipendium, das er während der Schulzeit erhalten hat, ein Stipendium der BLL – das ist die buraku kaihô dômei, die Buraku-Befreiungsliga. Buraku werden die Menschen aus dowa-chiku genannt, politisch korrekt sagt man heute lieber „hisabetsu burakumin“. Die BLL setzt sich sehr vehement gegen die Diskriminierung ihrer Leute ein, und sie vergibt Stipendien nur an Burakumin – was wiederum andere Minderheiten diskriminiert, die Koreaner beispielsweise, aber das ist wieder ein anderes Thema.

Jedenfalls bin ich deswegen ziemlich sicher, dass Tsuzuki-san einen Burakumin-Hintergrund hat, und es ist leider gut möglich, dass die Stiftung, die ihm das Sprachstudium finanziert hat, ihm genau wegen dieses Hintergrunds die Gelder gestrichen hat, auch wenn sie das natürlich anders begründet. Dafür spricht auch, dass er das unrechtmäßig erhaltene Geld nicht zurück zu zahlen braucht – das scheint der Preis zu sein, den sie zu zahlen bereit sind, wenn Tsuzuki-san die Sache auf sich beruhen lässt. Niemand hat gern Ärger mit der BLL, die gehen nicht gerade zimperlich vor. Und auch wenn niemand hisabetsu burakumin in seiner Firma oder seiner Familie – oder eben von seiner Stiftung finanziert - haben möchte, will doch keiner öffentlich der Diskriminierung beschuldigt werden. Die Stiftungsgesellschaft hat sich gewiss rechtlich gut abgesichert, sonst hätten sie nie gewagt, die BLL in ihrem Schreiben zu erwähnen, so hat Tsuzuki-san sicherlich gut daran getan, auf ihr Angebot einzugehen.

Vielleicht ist er es auch nur leid, zu kämpfen. Wenn er es bis auf eine Universität geschafft hat, muss das ein sehr anstrengender Weg gewesen sein. Viele hisabetsu burkaumin brechen schon in der Oberschule ab, meist wegen Diskriminierungen oder mangelnder Perspektive. Selbst mit einer guten Ausbildung bleibt man immer Burakumin, das gesellschaftliche Ansehen steigt nur innerhalb der eigenen Gruppe.“

„Sie kennen sich ja gut aus“, sagte Patrick, der aufmerksam zugehört hatte. Warum nur hatte Toshi nie mit ihm darüber geredet? Vielleicht wäre dann jetzt alles anders!

Midorikawa lächelte ein freudloses Lächeln. „Ich interessiere mich eben auch für die Schattenseiten des menschlichen Daseins.“

„Sind Sie Sozialarbeiterin?“

Jetzt lachte sie kurz auf. „Nein, nein, ganz bestimmt nicht. Ich war auf der Polizeischule. Aber jetzt arbeite ich bei einem privaten Sicherheitsdienst.“

„Oh“, machte Patrick überrascht. „Das klingt spannend.“ Und der Besuch einer Polizeischule erklärte immerhin, warum sie ihn vorhin so geschickt ausgefragt hatte.

„Es klingt spannender als es ist“, wehrte sie ab. Dann neigte sie sich ein wenig zu ihm hinüber und sah ihm ernst in die Augen. „Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Auch ich habe kürzlich jemanden verloren, den ich sehr gern gehabt habe. Es tut weh. Aber nach dem, was ich Ihnen erzählt habe – wenn ich Sie jetzt noch einmal frage, ob es nicht doch möglich ist, dass er wegen des Geldes zu diesem anderen Mann gegangen ist, was würden Sie dann jetzt antworten?“

„Ich ...“ Patrick unterbrach sich, denn er wusste gar nicht genau, was er sagen wollte. In seinem Kopf drehte sich alles. Natürlich wirkte das alles jetzt relativ harmlos: Armer, junger Mann trifft auf reichen Geliebten und ergreift die Chance, ein unbeschwertes Leben im Luxus zu führen. Dramatisch nur für Patrick, der die Rolle des verlassenen Liebhabers inne hatte. Aber warum dann weigerte sich Toshi, mit ihm zu reden? Doch vielleicht hatte auch das eine ganz einfache Erklärung, schließlich hatte Patrick keine Ahnung, wie Toshi seine Beziehungen zu beenden pflegte.

Er atmete tief durch, schloss die Augen und stellte sich Toshi neben diesem reichen Industriellen im Anzug vor, stellte sich vor, wie dieser Remarque seine muskulösen Arme um Toshis schlanken Körper schlang … Nein, nein, nein, irgendetwas daran war ganz und gar nicht in Ordnung! Er weigerte sich, das zu akzeptieren!

„Okay“, sagte er leise, und sah Midorikawa dabei direkt an. „Möglich, dass er nicht im klassischen Sinne entführt worden ist. Aber selbst wenn er für Geld bei diesem Typ lebt, ist das noch lange nicht freiwillig. So oder so ist er in Not, und er hat mir Hinweise darauf hinterlassen.“ Er dachte an die Träne auf dem Foto und an Piku, der oben in Patricks Bett lag, obwohl er doch zu Toshi gehörte. „Sie kennen ihn überhaupt nicht. Kann es nicht sein, dass Sie aufgrund seiner Herkunft die Situation verharmlosen – weil er hisabetsu Burakumin ist? Kann es nicht sein, dass Sie Vorurteile haben?“

Die Frage traf sie, und er bereute sofort seinen bissigen Ton, zu dem er sich hatte hinreißen lassen.

„Ich wollte nur ...“, setzte sie an, doch in diesem Moment wurde mit einem schnaufenden Geräusch die Terrassentür aufgedrückt, und ein schneeweißer, mittelgroßer Hund stürmte auf sie zu und umkreiste sie beide hechelnd und wedelnd. Er war hochbeinig und schlank und hatte einen schmalen, intelligenten Kopf. Sein kurzes Fell war am Schwanz, den Beinen und um die dreieckigen Ohren herum länger, was ihm ein etwas struppiges und freches Aussehen gab.

„Hallo Kimba ...“, sagte Patrick überrascht und konnte dem Tier gerade eben zur Begrüßung über den Kopf streichen, da war er auch schon wieder weg, schnüffelte kurz an Midorikawas Hosenbein, rannte dann auf die Wiese und hob das Bein am Johannisbeerstrauch. Gut, dass Patrick sowieso keine Johannisbeeren mochte. Er stand auf. „Das ist der Hund von ...“

Er wurde unterbrochen durch ein schrilles Kreischen aus dem oberen Stockwerk des Hauses: „Kimba!“ Das war Karoline.

Der Hund antwortete mit einem ebenso schrillen Jaulen und raste ins Haus zurück.

„Hey, nicht so stürmisch, junger Mann“, beschwerte sich jemand im Wohnzimmer, dessen Stimme Patrick sofort erkannte, und dann trat auch schon sein älterer Bruder Oliver in den Sonnenschein auf der Terrasse. Geblendet kniff er die Augen zusammen, und ehe er sich versah, hatte er Patrick am Hals hängen.

„Noch so ein stürmischer junger Mann“, sagte er lachend, obwohl er nur fünf Jahre älter war, und erwiderte die Umarmung.

„Was machst du denn hier?“ fragte Patrick und erhaschte kurz den vertrauten Duft nach Wind und Sonne und Räucherstäbchen, der seinem Bruder seit jeher anhaftete. Diesmal allerdings vermischt mit einer leicht ungepflegten muffigen Unternote.

„Ein lieblich Vögelein hat die Kunde an mich bis in die Tiefen des bayrischen Waldes getragen, dass mein holder Bruder mich zu sprechen wünscht, und schon eilte ich herbei, denn siehe, dein Wunsch mir stets Befehl ist.“

„Ach“, machte Patrick und fragte, da er seinem Bruder fast alles Übernatürliche zutraute: „Was denn für ein Vogel?“

„Das lieblich Vögelein war Tandavi“, klärte Elin grinsend auf, die hinter Oliver aus dem Haus gekommen war. Sie strich sich eine ihrer langen und eigensinnigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Elin und Tandavi waren zwei der drei Musiker, die mit Oliver zusammen vor fast zehn Jahren die Gruppe „Pans Lieder“ gegründet hatten und die auch privat sehr eng miteinander befreundet waren, so dass sie praktisch schon zur Familie gehörten.

Patrick löste sich von seinem Bruder, um Elin zu begrüßen. Sie umarmten sich herzlich.

„Tandavi sagte, du hättest so dringend geklungen, dass wir beschlossen haben, gar nicht erst nach München zu fahren, sondern gleich zu dir“, erklärte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als würde Hannover auf dem Weg liegen und nicht einen Umweg von ungefähr sechshundert Kilometern ausmachen.

Oliver hatte sich inzwischen schon Midorikawa zugewandt, die aufgestanden war und ein wenig so aussah, als würde sie am liebsten jetzt gehen.

„Ich bin Oliver, Patricks Bruder“, stellte sich Oliver vor und hielt ihr die Hand hin.

Die junge Frau ergriff sie und verneigte sich. „Nami Midorikawa.“

„Hallo Nami“, sagte Elin und nahm zwar die entgegengestreckte Hand, zog die Japanerin aber gleich darauf ebenfalls in eine kurze Begrüßungsumarmung, ehe diese dazu kam, sich wieder förmlich zu verbeugen. „Ich heiße Elin. Bist du eine Freundin von Toshi?“

„Ich ... Nein. Eigentlich ich zufällig hier.“

Elin lächelte. „Es gibt keine Zufälle im Leben.“

„Das glaube ich auch“, entgegnete Nami leise und erwiderte das Lächeln, allerdings ein wenig gezwungen, wie Patrick fand.

Er fragte sich, wie die beiden bunten Gestalten wohl auf die Japanerin wirken mochten. Genau wie sie selbst schienen sie in diesem gutbürgerlichen deutschen Reihenhausgarten wie Besucher aus einer fremden Welt in ihren flatterigen Klamotten und den nackten Füßen in den staubigen Trekkingsandalen. Beide waren braungebrannt mit einem leichten Sonnenbrand auf Nase und Wangen, beide hatten vom Wind zerzauste Haare. Olivers waren rötlichbraun wie Patricks, nur eine Nuance heller, weil von der Sonne gebleicht, und länger, zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden, aus dem genauso viele Haare heraushingen wie im Gummiband zusammengehalten wurden. Elins Haar fiel ihr in Korkenzieherlocken blond den Rücken hinunter bis fast zu den Hüften. Beide sahen etwas schmuddelig und ungepflegt aus – kein Wunder nach ungefähr zwei Wochen Aufenthalt im Wald.

„Sie hat mir geholfen, ein japanisches Schreiben zu übersetzen“, erklärte Patrick.

„Aha“, machte Oliver. „Wo ist denn Toshi?“

„Toshi ...“ Patrick musste schlucken. „Toshi ist weg. Er hat mich verlassen.“ Dann brach er in Tränen aus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  me-luna
2014-03-08T11:46:09+00:00 08.03.2014 12:46
Wieder ein fesselndes Kapitel, aufreibend, überraschend und jedes Mal aufs Neue unter die Haut gehend. Einerseits war es "schön" von Patrick zu lesen, andererseits war dessen Verzweiflung und Ahnungslosigkeit wieder so real und nahe gehend geschrieben. Drücke Toshio noch immer alle Daumen und man hofft und fiebert mit den Beiden mit. Das mystische Element hat ebenfalls sehr gut gefallen, du platzierst es unerwartet und alles behält seinen "realistischen" Touch. Schleiche mich ganz verschämt für einen sehr verspäteten Kommi herein und bin noch ganz mitgenommen- deine Geschichte flasht auch beim wiederholten Lesen.
Liebe Grüße und alles Liebe wünscht Luna
Von: abgemeldet
2012-06-19T14:23:50+00:00 19.06.2012 16:23
Juhuu... jetzt bin ich auch endlich durch mit allen Kapiteln!!
Och menno, wie kannst du denn SO aufhören? Da hätte ich lieber länger gewartet und das Kapitel komplett gelesen!! ;D
Eigentlich würde es mir auch reichen, wenn du erstmal nur mit Nami und Elin weiterschreiben würdest! :)) Schön, dass die endlich da sind!!
Und sonst... was soll ich sonst sagen? Deine Fan-Gemeinde überschüttet Dich ja die ganze Zeit mit Komplimenten, die Du sehr wohl alle verdient hast. Ich bin auch total dafür, dass die Geschichte als Buch veröffentlicht wird - das habe ich Dir ja auch schon öfter gesagt!!! Ich möchte das nämlich dann auch in meinem Regal haben!!
Weiter so, meine Liebe! Du schreibst einfach total toll. Und die Art und Weise, wie du Nebensächlichkeiten beschreibst, gibt dem Beschriebenen immer noch eine ganz besondere Lebendigkeit. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung! Lass uns nicht so lange warten! :-*
Alles Liebe und knuddel xxx

Von:  -Koto-
2012-06-04T22:49:54+00:00 05.06.2012 00:49
Ich mag deine Geschichte und deinen Schreibstiel sehr gerne und freue mich immer wenn es weiter geht ^^ hast du mal daran gedacht das als Roman raus zu bringen? Ich würde es kaufen ^^ Ist mal was ganz anderes als immer diese Blümchen Sex Gewäch was man sonst hier zu lesen bekommt
Ich wuste garnicht das man in Japan so große Unterschiede in den eigenen Reihen hat mit Eto und so das war mir echt neu ^^
Von:  Tesla
2012-06-02T06:10:02+00:00 02.06.2012 08:10
Das ist so traurig. Ob Patrick auch nach so langer Zeit seine Suche nciht aufgegeben hat. Jetzt hat er ja schon sowas wie einen Quasie Bullen zur Hand. Ich hoffe es so für Toshi... Der arme Kleine. Aber ich werd jetzt erstmal brav sitz machen und warten das ein neues kapi mehr klarheit bringt. ist doch wohl auch schwer was zu beweisen wenn man nur ein ungutes gefühl hat. Die situation kenn ich leider nur zu gut.

Schreib schnell weiter neugierig war

LG Tesla
Von:  kmolcki
2012-06-01T18:06:44+00:00 01.06.2012 20:06
Juhu kann mich nur anschließen,endlich ein neues Kapitel!!!
Ich hatte auch einen anderen Inhalt erhofft, vlt. etwas mehr über Pascals Innenleben, obwohl es natürlich interessant ist einen zweiten Handlungstrang am Charakter Patrick in Deutschland weiterzuführen.
Ich hoffe aber deine Leser erfahren auch wie es mit Toshio, mit dem alle so mitleiden (bei Ricardo) weitergeht.
Gut, dass du nicht nur bei FF.de bist !!!
GLG aus Nordniedersachsen KMOLCKI
Von:  SakuraxChazz
2012-05-31T14:59:26+00:00 31.05.2012 16:59
Juhuuu! Ein neues Kapitel!
Wenn auch nicht mit dem erhofften Inhalt. Aber ist ja auch mal ganz nett zu erfahren, wie es Patrick so geht. Der kommt ja wirklich nicht gut damit klar, das Toshi so plötzlich verschwunden ist. Und seine Art es zu versuchen, es zu verkraften ist nicht wirklich effektiv.
Immerhin hat Karoline endlich jemanden gefunden, der sich mit dem Schreiben auseinandersetz und es auch erklären will, warum es zu der Absage kam des Stipendiums. Ich finde das noch immer ungeheuerlich.
Und es ist richtig schön auch mal etwas aus Toshios so naher Vergangenheit zu erfahren. Aus seiner noch schönen Zeit. Wirklich wundervoll.
Oh und der große Bruder samt Ehegesponst ist auch nicht übel^^ Die gefallen mir.
Ich bin gespannt auf den zweiten Teil!

LG Saku^^


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