Sie war mir sofort aufgefallen. Ganz in schwarz gekleidet war sie in den Hörsaal geschwebt wie ein dunkler Engel. Wunderschön.
Natürlich wagte ich unwürdiger Sterblicher es nicht, mich neben sie zu setzen. Lieber nahm ich neben einer ganz normalen jungen Frau Platz. „Normal“ bedeutete hier: Ihr Zopf war im Zustand der Auflösung begriffen und ihr T-Shirt sah aus, als hätte es noch nie ein Bügeleisen gesehen.
Das störte mich nicht weiter. Ich sah sowieso nur meinen dunklen Engel an, und bekam von der Vorlesung nicht viel mit.
So ging das einige Wochen. Natürlich widmete ich den Worten des Professors irgendwann doch wieder mehr Aufmerksamkeit. Aber viel mehr noch beobachtete ich die unbekannte Schöne. Sie saß ganz vorne, ich sah nur den Vorhang aus schwarzem Haar, der offen über ihren Rücken floss. In der Sonne schimmerte es manchmal bläulich. Gelegentlich drehte sie den Kopf zu ihrem Sitznachbarn (ob das ihr Freund war? Er sah viel zu gewöhnlich aus, für so ein zauberhaftes Wesen), und ich konnte ihr Gesicht sehen. Hohe Wangenknochen, eine völlig gerade Nase, und schwarz geschminkte Lippen.
Eigentlich mag ich keine ausgefallenen Lippenstiftfarben. Aber bei ihr ist das etwas anderes. Bei ihr sieht es ganz natürlich aus. Sie ist kein Mensch. Zumindest kein gewöhnlicher Mensch.
Sie sieht aus wie einer wundervollen Traumwelt entsprungen.
Eines Tages roch es in der Mensa wie bei Oma zuhause. Meine Oma war zu diesem Zeitpunkt natürlich schon lange tot. Aber der Geruch ließ mich sofort an ihre kleine, mit Porzellanfiguren vollgestopfte Wohnung denken. Nein, an die Küche. Die Regale voller Gewürze und Kochbücher. Und den Topf mit Rosenkohl.
Das war es.
Es gab heute Rosenkohl in der Mensa. Und – mir blieb beinahe das Herz stehen – mein dunkler Engel hatte sich einen Teller damit vollgeladen. Das konnte kein Zufall sein. Niemand den ich bis dahin getroffen hatte, mochte Rosenkohl. Manche tolerierten ihn, andere hassten ihn leidenschaftlich, aber niemand mochte ihn wirklich.
Das war ein Zeichen. Musste es einfach sein.
Und es war nicht das einzige Zeichen. Als ich mein Tablett durch die Mensa balancierte und nach einem Platz Ausschau hielt, fiel mein Blick auf meine Sitznachbarin aus der Vorlesung. Die mit den unordentlichen Haaren. Heute hatte sie ihren Haargummi noch nicht verloren, aber es war nur eine Frage der Zeit, er hing schon etwas lose am unteren Ende ihres Zopfes.
Neben ihr war noch ein Platz frei, und ihr gegenüber saß mein dunkler Engel.
Erleichtert, dass ich nun ja irgendwie einen ganz harmlosen Grund hatte, mich der schönen Unbekannten zu nähern, stellte ich mein Tablett auf den Tisch.
„Ganz schön voll heute, hm?“
Meine Sitznachbarin nickte. „Dabei stinkt es nach Rosenkohl.“
Ich lächelte nachsichtig – in diesem Moment hätte mich nichts auf der Welt ernsthaft verärgern können - und begann zu essen.
Nach einer Weile fing ich an, mich unbehaglich zu führen. Mein dunkler Engel schien mich gar nicht bemerkt zu haben. Sie redete nur mit ihrem Sitznachbarn. Einem, so weit ich das beurteilen konnte, ziemlich gut aussehenden Typen.
Dafür sprach mich meine Sitznachbarin zwischen zwei Gabeln voll Kartoffeln an.
„Du studierst auch Medizin?“
Eine ziemlich dumme Frage, warum sonst sollte ich in derselben Anatomievorlesung sitzen wie sie, aber egal. Wenigstens beendete sie das peinliche Schweigen. „Ja, genau“ antwortete ich erleichtert. „Ist ziemlich schwer, mitzukommen.“
„Ja schon“ sie zupfte sich den Haargummi aus dem Zopf. „Aber man tut was man kann.“
Sie auf jeden Fall. Sie schrieb mindestens doppelt so viel mit wie ich.
„Schließlich will ich mal richtig gut werden…“
Und dann legte sie los. Sie wusste nämlich – ganz im Gegensatz zu mir – genau, was sie mit ihrem Medizinstudium mal vorhatte. Nach Afrika wollte sie gehen. Den Menschen helfen. Nicht nur einfach Geld spenden und hoffen, dass es am richtigen Ort landete, nein, selbst was tun.
Irgendwann dachte sie dann wieder an ihre Pellkartoffeln. Und in dem Moment sah mein dunkler Engel mich an.
„Und du, was hast du so vor?“
Sie konnte nicht mich gemeint haben. Unmöglich. Es war laut in der Mensa, ich hatte mich bestimmt verhört.
Und meine Sitznachbarin war noch lange nicht fertig. Ganz begeistert sprach sie von neuen Behandlungsmöglichkeiten für Tropenkrankheiten.
Dann spießte sie eine wässrige, holländische Tomate auf ihre Gabel.
„Und, was hast du so vor wenn du mit dem Studium fertig bist?“
Gut, ich hatte mich nicht verhört. Mein dunkler Engel wollte tatsächlich etwas über mich wissen. Wahrscheinlich dachte sie, ich fühlte mich nicht genügend beachtet bei dem Redeschwall meiner Sitznachbarin.
Aber dieser Traumfrau sagen, dass ich eigentlich gar nicht so genau wusste, was ich machen wollte? Erstmal weiterstudieren und sehen wollte, was mich am meisten interessierte?
Mich ihr präsentieren wie der unentschlossene, ziellose Langweiler der ich nun mal war?
Es war laut in der Mensa, und sie saß ja nur schräg gegenüber. Ziemlich weit weg. Ich hätte sie genauso gut nicht hören können, oder?
Ich wandte mich meiner Sitznachbarin zu, die gerade ihre Tomate hinunterschluckte. „Das ist ja der Wahnsinn – warum kaufen sich die nicht alle Moskitonetze?“
Sie ging dankbar auf meine Frage ein, und ich war froh, dass die Gefahr gebannt war, mein dunkler Engel könnte erfahren, wie langweilig ich in Wirklichkeit war.
Natürlich hätte ich mir danach in den Hintern beißen können. Schließlich war es die Gelegenheit gewesen, mal mit ihr ins Gespräch zu kommen. Und war das nicht eigentlich ganz schön unhöflich, jemanden einfach mal eben so zu ignorieren?
Normalerweise hätte ich das ja nie getan. War eben ein Notfall. Und sie war bestimmt auch nicht besonders beleidigt. Es störte ja niemanden sonderlich, wenn ein langweiliger, durchschnittlich aussehender Brillenträger kein Interesse an einem Gespräch hatte, oder?
Das schlechte Gewissen blieb.
Einige Tage später kam mir eine Idee, wie ich meinem dunklen Engel zeigen könnte, dass ich, obwohl nicht daran interessiert, über meine beruflichen Perspektiven zu reden, zeigen könnte, dass mein Desinteresse auf gar keinen Fall ihr als Person galt.
Mit ihrem Sitznachbarn in der Mensa hatte sie über den neuen Weltuntergangsfilm geredet. Den er schon gesehen hatte, sie aber nicht.
Er wollte wohl nicht mit ihr reingehen. Also war er vielleicht doch nicht ihr Freund. Ich meine, für so eine Frau würde man doch wohl alles tun, wenn man mit ihr zusammen wäre. Oder?
Es war nicht einfach, sie allein zu erwischen. Ihr weniger gut aussehender Freund – der aus der Vorlesung – schien sich gar nicht von ihr trennen zu können. Ich konnte es ihm nicht verübeln, ich an seiner Stelle hätte genauso gehandelt.
An der Bushaltestelle schließlich stieg er dann, nach einem belanglosen Gespräch darüber, dass sie beide noch nicht so genau wussten, was sie am Wochenende vorhatten, in den Bus, der eigentlich auch meiner gewesen wäre.
Mein Herz raste.
Ich blieb stehen, und beobachtete eine Weile, wie sie ihr makelloses, alabasterweißes Gesicht in die Wintersonne hielt. Sie hatte die Augen geschlossen, ich konnte sie also ganz gefahrlos anschauen.
Schließlich wagte ich es, sie anzusprechen.
„Hi“
Ich war nichtmal sicher, ob sie es gehört hatte.
„Hi“ erwiderte sie, ohne auch nur die Augen zu öffnen.
„Wir haben neulich in der Mensa am selben Tisch gesessen, und…“
Sie wartete ab. Natürlich. Ich hatte ja auch noch gar keinen vernünftigen Satz zustandegebracht.
„…da hab ich mitbekommen, dass du 2012 noch nicht gesehen hast…stimmt doch?“
„Ja“
„Und da dachte ich, wir könnten ja…nur wenn du willst, natürlich…zusammen reingehen?“
So, jetzt hatte ich es gewagt. Gleich würde sie meine Hoffnungen zerschmettern. Mich am Boden zerstört zurücklassen.
Ich würde die Scherben meines Herzens aufsammeln müssen.
„Ja, könnten wir.“
Wow, sie hatte nicht „Nein“ gesagt!
„Wann hättest du denn Zeit?“
„Ich bin gerade ganz schön im Stress mit dem Lernen…“ murmelte sie.
Okay, sie wollte, dass ich, der Mann, die Richtung vorgab. Hätte ich ihr nicht zugetraut, sie wirkte so unwirklich, so surreal, so erhaben über derartige Klischees…aber gut.
„Dieses Wochenende?“ Gerade eben hatte sie gesagt, dass sie da noch nichts vorhatte. Ich hätte es gleich vorschlagen sollen.
„Wie gesagt, ich muss lernen…“
„Nächsten Monat?“
„Ich hab den Kopf nicht so wirklich frei, die ganze Lernerei…“
War das nur mein Pessimismus, oder gab sie wirklich ausweichende Antworten?
„In den Semesterferien?“ Da würde der Film zwar nicht mehr laufen, aber wenn sie mich kennen lernen wollte, würde sie trotzdem darauf eingehen, oder?
„Naja…“
Ein Bus kam, nicht der, in den sie sonst immer stieg, aber jetzt stieg sie ein. „Bis dann“ rief sie mir zu, bevor sich die Tür zwischen uns schloss.
Vielleicht musste sie ja noch ganz dringend was einkaufen.
Ein Jahr später.
Ich schaue aus dem Fenster. Kein dreckiger Hinterhof wie in meinem WG-Zimmer, in dem ich letztes Jahr noch wohnte. Goldene Ginkgobäume.
Und es riecht nach Rosenkohl, wie damals bei Oma immer.
„Essen ist fertig!“
Ich drehe mich um und gehe in die Küche. Der Tisch ist schon gedeckt, die Teller schon gefüllt. Ich setze mich hin, schaue mein Essen an.
„Gut so?“
„Genau so wie ich ihn am liebsten habe“ versichere ich Svenja. Sie lächelt zufrieden. „Danke“
Ich habe nicht gelogen, der Rosenkohl ist wirklich köstlich. Deswegen bin ich auch schon lange fertig, als mir auffällt, dass sich Svenjas Haargummi mal wieder löst. Ich springe auf, bewahre den Gummi vor einem Fall in die Bratkartoffeln mit Rührei, und kämme mit den Fingern durch den ohnehin schon fast aufgelösten Zopf.
„Iss ruhig weiter“ Inzwischen bin ich ziemlich gut im Flechten. Nicht so gut, dass die Frisur in den freiheitsliebenden Haaren meiner Liebsten lange halten würde, aber immerhin merkt man nicht, ob sie sich den Zopf selbst gemacht hat, oder ob ich es war.
„Danke Schatz.“ Sie küsst mich flüchtig auf den Mund, dann schnappt sie sich ihre Tasche und rennt los.
Erst als sie wahrscheinlich schon die Uni erreicht hat, fällt mir wieder ein, dass ich vergessen habe ihr zu sagen, dass sie sich wieder mal beim Zuknöpfen ihrer Bluse vertan hat. Was solls. Süß findet das wahrscheinlich niemand außer mir, aber ertragen werden sie es.
Immerhin sieht sie insgesamt viel ordentlicher aus, seit wir zusammenwohnen.
Ich summe vor mich hin, während ich mir den Rest der Bügelwäsche vornehme. Als Erstes kommt Svenjas Lieblings-T-Shirt dran, das vor einem halben Jahr endlich mal die Bekanntschaft meines Dampfbügeleisens gemacht hat.
Die beiden scheinen sich zu mögen.