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Die Schandsage

Von Wahren Helden und anderen Halunken
von

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Vogelfrei

Wir sind frei wie die Vögel!

Wir sind vogelfrei!

Wir ziehen mit ihnen im Winde!

Wohin ist einerlei!
 

Man hatte sie nur halbherzig verfolgt, worüber die vier sich natürlich nicht beschwerten, im Gegenteil. Rhow machte sogar mehr als einmal deutlich, dass er etwas in der Art erwartet hatte. „Diese ganze Hexen-Sache ist doch sowieso nur Panikmacherei! Die hohen Herren brauchen nur etwas, womit sie ihr Volk beschäftigen können. Gib den Leuten Feinde und dein eigenes Tun ist ihnen egal. So sagt man doch, oder?“ „So oder so ähnlich“, stimmte Flint ihm zu und schob einige Zweige beiseite, die den Eingang zu einer schmalen Höhle verdeckten – Irima hatte sich dort versteckt und auf sie gewartet. Nun sprang sie auf und fiel Rhow seufzend um den Hals. „Gott sei Dank… sie sind rechtzeitig gekommen.“

Der Vagabund, zunächst reichlich überrascht von ihrem Ausbruch, tätschelte sanft ihren Rücken und meinte: „Was denn, so glücklich, mich zu sehen?“ Irima trat einen Schritt von ihm zurück und musterte ihn mit ernstem Gesicht. „Du hast mir das Leben gerettet! Ein bisschen Dankbarkeit werde ich wohl zeigen dürfen, oder?“ Rhow grinste und sagte: „Sehr gerne.“ Er beugte sich leicht vor und deutete auf seine linke Wange. „Bitte hier hin, ja?“ Als Irima ihn fragend anblinzelte, erklärte Rhow mit gespielter Überraschung: „Ich dachte, ich kriege jetzt einen Kuss?“ Als Antwort versetzte ihm die Frau einen Stoß gegen die Brust und knurrte: „Werd bloß nicht übermütig, so dankbar bin ich dann doch nicht.“ Rhow schnitt eine Grimasse. „Bin ich denn so abstoßend?“ Irima rümpfte die Nase. „Nun, auch, wenn ich natürlich weiß, dass ihr meinetwegen durch die Kanalisation getappt seid, muss ich dennoch eines loswerden… du stinkst ganz erbärmlich.“ Ein schiefes Grinsen huschte über das Gesicht des Vagabunden. „Ja, ein Bad wäre sicher nett… aber –“

Noch bevor er weiterreden konnte, ertönte irgendwo in nicht allzu weiter Ferne ein Hornstoß, der sie alle auffahren ließ. „Vielleicht sind sie doch nicht so halbherzig, wie ich gehofft hatte“, knurrte Rhow, worauf Irima mit nicht halb so viel Überzeugung wie geplant antwortete: „Vielleicht gilt es jemand anderem?“ Flint zuckte mit den Schultern. „Ich für meinen Teil werde nicht hier bleiben, um das herauszufinden…“
 

Gegen Abend erreichten sie den Rand eines Waldes, der sich über viele Meilen zu erstrecken schien. Rhow versuchte, seine Ausmaße abzuschätzen, doch die dunklen Tannen verloren sich irgendwo am Horizont, so dass er es schließlich aufgab. Als er einen Schritt hinein machen wollte, hielt Flint ihn zurück. „Nicht!“

Der Vagabund rollte genervt mit den Augen. „Bitte nicht schon wieder eine Geistergeschichte, Flint!“ „Nun…“, druckste der Riese rum. „Man erzählt sich so einiges über diesen Wald… irgendwelche namenlosen Schrecken treiben dort ihr Unwesen, es kehrt nie zurück, wer den Wald je betrat!“ Gerade wollte Rhow etwas erwidern, da sagte Irima: „Ich glaube nicht an Geister. Aber dieser Wald… man erzählt sich nicht nur Spukgeschichten über ihn.“ „Räuber“, vermutete Rhow und die Frau nickte. „Nun“, er zuckte mit den Schultern, „uns sieht und riecht man schon auf zehn Meilen gegen den Wind an, dass bei uns nichts zu holen ist. Und dank der Gruselmärchen wird uns in den Wald sehr wahrscheinlich niemand verfolgen. Klingt doch vielversprechend, oder?“ Niemand widersprach ihm, doch Flint war nicht der einzige, der den Wald mit sehr gemischten Gefühlen betrat.
 

Nachdem sie eine knappe halbe Stunde durch den Wald gelaufen waren, bereute es Rhow, dies bei Nacht getan zu haben. Nicht etwa, weil er plötzlich doch an Geister zu glauben begann, sondern aus dem einfachen Grund, dass er schlicht und ergreifend nichts sah. Er fluchte nicht nur innerlich, sondern lautstark, wofür er mehrmals ein wütendes „Scht!“ von Flint erntete. Aber was sollte es noch bringen, leise zu sein? Sie brachen mit solchem Lärm durchs dichte Unterholz, dass jedes Tier im Umkreis von einer Meile aufschrecken und jeder Feind, ob Mensch oder Monster, auf sie aufmerksam werden musste.

Gerade wollte der Vagabund einen weiteren Fluch ausstoßen, als Cen unvermittelt stehen blieb und in einer fast befehlenden Geste die Hand hob. Sein Blick irrte unstet umher – Rhow fragte sich, ob er in der Dunkelheit tatsächlich etwas sah – und seine Hand glitt langsam an seinen Bogen.

Noch bevor er die Bewegung zu Ende geführt hatte, rauschte ein Pfeil nur Zentimeter an seiner Hand vorbei und bohrte sich mit einem schmatzenden Geräusch in den feuchten Waldboden. Cen verstand die Warnung und ließ den Arm wieder sinken. Rhow fand, dass er erstaunlich gelassen reagierte. Wäre es helllichter Tag gewesen, hätte er jedoch die Anspannung bemerkt, die Cen ins Gesicht geschrieben war; jeder einzelne Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt und er konzentrierte all seine Sinne auf ihre Umgebung.

Plötzlich teilte sich vor ihnen das Strauchwerk und ein Mann trat heraus. „Entweder seid ihr besonders mutig, oder besonders dumm, euch bei Nacht in den Wald zu trauen. Vielleicht ja sogar beides?“ Seine Finger glitten in einer sachten Bewegung über die Laute, die er in der Hand hielt, und sanfte Töne durchbrachen die nächtliche Stille. „Jedenfalls“, ein Lächeln breitete sich über seine Lippen aus, „endet eure Reise hier, es sei denn, ihr bezahlt den Wegzoll.“

Rhow trat einen Schritt vor. „Wegzoll, was denkst du –“ Er wurde jäh unterbrochen, denn ein weiterer Pfeil bohrte sich so dicht vor seinem Fuß in den Boden, dass er um ein Haar einen Zeh verloren hätte. Dem steilen Winkel nach zu urteilen, aus dem das Geschoss gekommen war, musste der Schütze über ihnen in den Bäumen sitzen. Wie schon zuvor bei Cen fragte sich Rhow erneut, wie man bei diesen Lichtverhältnissen überhaupt etwas sehen konnte, geschweige denn so gut, wie ihr unsichtbarer Gegner sehen musste um so schießen zu können.

Der Barde lachte leise. „Ich würde einfach bezahlen… das war der letzte Warnschuss. Der nächste trifft, das kann ich versichern.“ Flint wollte auffahren, doch Rhow hatte erkannt, dass sie definitiv in der schlechteren Position waren, und sagte: „Und was sollen wir bezahlen, guter Mann? Wir haben nur die Kleider, die wir am Leib tragen, und das schon seit viel zu langer Zeit. Ihr müsstet schon sehr verzweifelt sein, wenn Ihr die haben wollt.“ Der Barde musterte ihn einige Sekunden schweigend, dann antwortete er: „Sehr wohlhabend seht ihr wirklich nicht aus, das muss ich schon gestehen… andererseits…“ Sein Blick huschte abschätzend über Cens Bogen und er fuhr fort: „Das ist ein sehr schönes Stück, das Ihr da habt…“ Die plötzliche Höflichkeit in seiner Stimme war auch ohne das spöttische Glitzern in seinen Augen als blanker Hohn erkennbar und er streckte fordernd die Hand aus.

Cen jedoch rührte sich nicht um einen Zentimeter, sondern begnügte sich damit, den Mann finster anzustarren. Der wartete noch einige Sekunden vergebens auf irgendeine Reaktion, dann seufzte er und ließ die Hand sinken. „Ich hatte euch für klüger gehalten… ihr seid…“ Er blinzelte, sichtlich überrascht, und sagte, nachdem er sich wieder gefangen hatte: „Ihr seid eine Frau…“

Nicht nur Rhow brauchte einige Augenblicke, um zu merken, dass seine Worte Irima galten, die er erst jetzt erkannt hatte. Und irgendwie beunruhigten sie ihn.

Der Barde lachte und spielte erneut einige Klänge auf seiner Laute. „Nun… da ihr kein Geld bei euch tragt, werden wir uns mit dem Fräulein begnügen.“ Noch während er sprach, hatte Rhow Irima am Handgelenk gepackt und hinter sich gezogen. „Nur über meine Leiche!“, rief er, im selben Augenblick wie Flint, der drohend die Fäuste gehoben hatte. Der Mann schüttelte seufzend den Kopf. „Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“

Ein Pfeil, der sich in Rhows Brust hatte bohren sollen, hämmerte sich stattdessen tief in den Boden, da Cen den Vagabunden mit einem harten Stoß aus der Schusslinie katapultiert hatte und nun seinerseits einen Pfeil in die Sehne einlegte und praktisch in der gleichen Bewegung wieder fliegen ließ. Irgendwo über ihnen erklang ein gequälter Schrei, Sekunden bevor etwas in der Dunkelheit vor ihnen mit einem dumpfen Laut auf dem Boden aufschlug. Rhow, der sich mittlerweile wieder halbwegs aufgerichtet hatte, erkannte überrascht, dass Cen tatsächlich in der Finsternis, die sie umgab, den Schützen gesehen und sogar getroffen hatte.

Leider hatte das nicht genügt. Ein zweites Geschoss traf den Bogenschützen wie ein Hammerschlag in die Schulter und Cen wurde von der Wucht des Schlages zurückgeworfen, was ihm gleichzeitig das Leben rettete, denn dort, wo er eben noch gestanden hatte, peitschten gleich zwei weitere Pfeile durch die Luft. „Nicht!“, schrie Irima und wollte zu ihm eilen, doch Rhow zerrte sie gewaltsam zurück und machte seinerseits einen Satz nach vorne, auf den Barden zu. Der Mann hatte nicht einmal die Chance zu reagieren, so schnell hatte der Landstreicher ihn am Arm gepackt und zu Irima und Flint geschleudert. Der Riese verstand, was Rhow vorhatte und hielt den Barden so fest, dass er wie ein lebender Schutzschild zwischen ihnen und dem Schützen stand. „Ihr Narren!“, keuchte der Barde unter Flints Schraubstockgriff. „Ihr seid umzingelt! Ihr werdet diesen Wald nicht mehr leben verlassen!“

„Du aber auch nicht.“ Vier Worte, die den Barden zum Verstummen brachten. Die Tatsache, dass Cen mit gespanntem Bogen vor ihm stand, tat wohl auch ihren Teil dazu.

„Stellt das Feuer ein!“ Alle, außer Cen, dessen ungeteilte Aufmerksamkeit dem Barden galt, drehten sich erstaunt um. Aus dem Gebüsch, aus dem zuvor der Barde getreten war, schritt ein weiterer Mann, der einige Jahre älter als sein Vorgänger zu sein schien. „Es ist gut, ihr könnt ihn loslassen.“ Da Cen jedoch keinerlei Anstalten machte, seine Waffe zu senken, ließ auch Flint ihren Gefangenen nicht los, lockerte allerdings seinen Griff ein wenig, so dass der Mann wieder normal atmen konnte.

Der andere runzelte die Stirn und stieß einen lauten, an einen Vogelschrei erinnernden Ruf aus. Nur Sekundenbruchteile später hangelte sich ein gutes Dutzend Männer von den umherstehenden Bäumen herab und umzingelte sie. Flint blickte sich unsicher um, doch Cen schüttelte kaum merklich den Kopf. „Zumindest einen nehmen wir mit, was?“, murmelte der Riese leise und diesmal nickte Cen entschlossen. Doch der Mann, der augenscheinlich der Anführer der Räuber war, schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ihr könnt gehen. Richtet dem König aus, dass er dieses Mal gewonnen hat. Aber dafür bezahlt er beim nächsten Mal doppelt.“

Rhow blinzelte überrascht und Irima meinte: „Dem König?“ Der Mann warf ihr einen finsteren Blick zu und meinte dann an Rhow gewandt: „Du hast deinem Weib wohl nicht beigebracht, nicht ungefragt zu sprechen?“ „Ich spreche, wann es mir beliebt!“, fauchte Irima wütend und warf ihm einen Blick aus reinem Gift zu, während Rhow gleichzeitig seufzte: „Ganz davon abgesehen, dass sie nicht mein Weib ist. Gott bewahre…“ Nun richtete die Frau ihren Zorn gegen ihn: „Wenn dem so ist, warum hast du mich dann nicht im Hexenturm gelassen?!“ Der Vagabund rollte mit den Augen. „Hätte ich es bloß getan, dann wäre ich auch nicht um ein Haar gehenkt worden.“ „Nur weil du dich hast schnappen lassen!“

„Hey!“, unterbrach sie der Mann und sah unsicher zwischen den beiden hin und her. „Was soll dieses Theater?“ „Kein Theater“, machte Flint, „sondern bittere Realität, nicht erst, seit wir dieses Land betreten haben…“ Für einen Augenblick glaubte der Riese so etwas wie Verwirrung in seinem Blick zu sehen. „Wollt ihr mir weismachen, der König habe euch nicht geschickt?“ Rhow schüttelte den Kopf. „Wir wollen gar nichts weismachen. Es ist die Wahrheit. Wir sind nicht mal aus diesem Land. Wenn wir dem König unter die Augen treten würden, dann nur auf einem brennenden Scheiterhaufen.“ Der Mann musterte ihn einige Sekunden lang skeptisch, ehe sein Blick wieder über Irima glitt und schließlich erhellte sich seine Miene. „Eine Hexe samt Gefolgschaft! Und vermutlich auch noch unerlaubt im Lande! Seid uns gegrüßt, Brüder!“

Nun war es an Rhow und seinen Kameraden, überrascht und verwirrt zu sein. Die Männer, die ihnen bis vor wenigen Momenten noch nach dem Leben getrachtet hatten, stimmten nun in Freudengeheul aus und steckten ihre Waffen weg. „Folgt mir!“, machte der Räuberanführer mit einer herrischen, doch freundlichen Geste und ging voran. Rhow und die anderen folgten ihm – was hätten sie auch sonst tun sollen?
 

Das Lager der Räuber war größer, als sie erwartet hatten. Es lag versteckt im Herzen des Waldes und die Hütten – die wenigen, die sich am Boden und nicht in den Baumkronen befanden – passten sich perfekt in ihre Umgebung ein, so dass man sie erst auf den zweiten Blick erkannte. Der Mann, der sich ihnen als Salvain vorgestellt hatte, führte sie bis in die Mitte des Lagers, an einen Platz, der als einziger Ort im Versteck auf den ersten Blick als von Menschenhand gemacht zu erkennen war; in seiner Mitte war eine große Feuerstelle aufgebaut und drum herum lagen mehrere Baumstämme als Sitzgelegenheiten. „Adrian wird sich um euren verwundeten Freund kümmern.“ Er nickte dem Barden auffordernd zu und der führte Cen mit einem Stirnrunzeln fort. Flint folgte ihnen mit den Augen. „Ob das eine gute Idee ist?“, raunte er Rhow zu. „Immerhin hat er einen von ihnen vom Himmel geschossen…“

Salvain, der bessere Ohren zu haben schien, als Flint angenommen hatte, antwortete: „Sorgt euch nicht um euren Freund. Tevins Arm ist gebrochen, ansonsten hat euer Schütze ihn ebenso verwundet wie er ihn. Er wird es überleben.“ Er bedeutete ihnen, sich zu setzen, und tat es ihnen gleich.

Rhow machte eine ausladende Geste und fragte: „Was ist das hier? Und warum bringst du uns her?“ Salvain antwortete ihm bereitwillig: „Dies ist unser Lager von Geächteten. Und wir bringen euch her, weil ihr genauso seid. Und ihr habt gezeigt, dass ihr kämpfen könnt.“ Als Rhow verstand, worauf er hinauswollte, schüttelte er entschlossen den Kopf. „Ich weiß, was du vorschlagen willst, aber ich muss ablehnen. Wir können nicht hier bleiben.“ Salvain zog eine Grimasse. „Wenn ihr den Wald verlasst, seid ihr des Todes. Nach dem, was ich aus eurem kleinen Streit herausgefunden habe, sucht man euch wegen Ketzerei und noch ein paar anderen Kleinigkeiten. Vermutlich hat man euch längst zum Abschuss freigegeben.“

Irima wandte sich an Flint, der plötzlich erbleicht war: „Was heißt das?“ Doch statt ihm antwortete der Vagabund: „Das heißt, dass wir ab jetzt frei sind wie die Vögel.“ „Vogelfrei…“, hauchte Irima erschrocken und sah auf ihre Hände herab. „Ja“, bestätigte Salvain. „Ihr könnt bei uns bleiben. Wir können immer eine helfende Hand gebrauchen.“

„Und was“, fragte Rhow mit einem spöttischen Unterton in der Stimme, „tut ihr hier? Spielt ihr Robin Hood, nehmt von den Reichen und gebt den Armen?“ Ein breites Grinsen zierte Salvains Gesicht. „Nicht direkt. Wir nehmen vom König und geben uns selbst.“ „Also doch nur Räuberpack!“, schnaubte Irima, was Salvain jedoch nicht weiter beachtete. „Ich habe ein Recht auf die Hälfte von allem, was dem König gehört.“ „Und wieso glaubst du das?“, fragte Flint und Salvains Gesicht wurde wieder ernst. „Weil er mein Zwillingsbruder ist.“
 

Salvain erzählte ihnen seine Geschichte. Eine Geschichte, die ohne Probleme mit den Märchen der wandernden Minnesänger mithalten konnte. Und doch wieder so wahrscheinlich, dass die Gefährten gar nicht anders konnten, als sie zu glauben. Und selbst, wenn Salvain nicht die Wahrheit erzählte, was änderte das schon? Ob er und der amtierende König nun wirklich bei der Geburt getrennt wurden, oder nicht? Ob das Kräuterweib, das ihn aufgezogen hatte, nun existierte, oder eben nicht? Ob sein Bruder von der Tat seines Vaters wusste und es stillschweigend hinnahm. Oder eben nicht?

Es änderte nichts. Ob Salvains Geschichte wahr war, ob er nur glaubte, dass sie es war, oder ob er sie sich ausgedacht hatte, was machte das? Er war ein Geächteter, der sich und eine große Gruppe anderer hier im Wald versteckt hielt, geschützt durch die Waldmär über das Monster, die sie vermutlich selbst in die Welt gesetzt hatten, das war der Kern der Geschichte, der zählte.

Und der Kern ihrer Geschichte war jener, dass sie nicht hier bleiben konnten, vogelfrei oder nicht, das spielte keine Rolle. Sie gehörten nicht hierher, weder in diesen Wald, noch in dieses Land und sobald sie ihren Auftrag erfüllt hatten, würden sie wieder in ihre Heimat zurückkehren und ihrer Wege gehen.

Und genau das erzählte Rhow auch Salvain.
 

„Ach, hier bist du…“ Rhow sah auf. Nachdem er Salvain von ihrem Auftrag erzählt hatte, hatte der Anführer der Geächteten ihnen die Möglichkeit gegeben, sich zu waschen und ihre Kleider zu wechseln. Danach hatte Rhow sich etwas vom Lager entfernt und saß nun auf einer kleinen Lichtung auf dem feuchten Boden, in den nur hier sichtbaren Sternenhimmel starrend. Irima ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. „Ich hab’ dich gesucht…“, murmelte sie und schloss die Augen. „Ich… ich möchte dich was fragen.“ Als Rhow ihren Blick suchte, sah sie zu Boden. „Ich wollte es schon länger wissen… im Hexenturm… und vorhin im Wald… da hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt… nein, eigentlich hattest du es im Hexenturm schon fast für mich hingegeben… warum?“ Nun war es Rhow, der an ihr vorbeiblickte. „Ich…“ Er seufzte. „Ich habe schon einmal jemanden verloren, der mir sehr viel bedeutet hat… noch einmal passiert mir das nicht. Nie mehr.“

Einige Sekunden schwieg sie, dann meinte sie: „Melissa…“ Ein Schatten huschte über Rhows Gesicht und ihre Worte taten ihr schon wieder Leid. „Entschuldige… ich hätte nicht davon anfangen sollen…“ Sie wollte aufstehen, doch Rhow hielt sie zurück. „Nein… nein, es ist schon gut. Das ist lange her.“ Irima setzte sich wieder zu ihm und fragte nach einigem Zögern: „Was… was ist passiert?“ Ein trauriges Lächeln legte sich auf Rhows Gesicht. „Das, was immer passiert, wenn Menschen glücklich sind. Es gab Krieg.“ Wieder einmal suchte sein Blick einen Punkt in der Ferne, der für niemanden außer ihm erreichbar war und erzählte weiter: „Auch, wenn es dich vielleicht wundert… ich habe nicht immer auf der Straße gelebt. Vor zwanzig Jahren besaß ich sogar mal ein richtiges kleines Gutshaus. Ich war verheiratet mit der schönsten Frau der Stadt… vielleicht des Landes. Ich habe sie mehr geliebt als alles andere… dann brach der Krieg aus…“ Er maß sie mit einem kurzen, schätzenden Blick und fuhr fort: „Wenn du so jung bist, wie du aussiehst, hattest du damals vermutlich noch nicht einmal zehn Winter hinter dir… ich zog mit anderen Soldaten los, um unsere Heimat und das Glück, das ich mit ihr verband, zu beschützen. Wir kämpften fünf Jahre lang.“ Mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht sah er zum Himmel. „Ich weiß nicht einmal mehr, wer diesen verteufelten Krieg gewonnen hat. Ich war es jedenfalls nicht. Als ich zurückkehrte… hatte ich nichts mehr. Mein Haus war eine Ruine, niedergebrannt bis auf den letzten Stein. Und Melissa… sie war tot. Alles, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hatte, war dahin, ausgelöscht als hätte es nie existiert. Eine Weile lang wollte ich nur noch sterben… aber Gevatter Tod war nicht so gnädig, mich zu sich zu holen. Also bin ich weggegangen, habe alles hinter mir gelassen. Aber in letzter Zeit holt mich meine Vergangenheit immer öfter ein.“

Er warf ihr einen langen Blick zu, in dem Irima verschiedenste Gefühle lesen konnte, eines davon war eindeutig Zärtlichkeit. Sie zuckte kaum merklich zusammen, als Rhow ihr sanft über die Wange fuhr, ließ es aber geschehen. „Du bist ihr so ähnlich… so sehr, dass es wehtut. Nicht äußerlich, im Gegenteil. Aber du hast dasselbe Temperament…“

Eine fast greifbare Stille senkte sich über die kleine Lichtung, nur unterbrochen vom Wind, der Irimas Haar zerwühlte und es ihr ins Gesicht wehte. Mit einer zärtlichen Bewegung strich Rhow ihr einige Strähnen aus der Stirn und sah in ihre Augen. Für einen Augenblick war er wie gebannt und etwas in ihm wollte nie wieder gehen.

„Lass die Zeit stehen…“, murmelte er, ehe er sich plötzlich vorbeugte und sie küsste. Nicht sehr lange und auch nicht besonders innig und doch löste es in Irima einen solch intensiven Sturm an Gefühlen aus, dass sie fast enttäuscht seufzte, als er sich von ihr löste. Sie schluckte und suchte seinen Blick. „Was… was war das?“, flüsterte sie und Rhow stand mit einem leichten Lächeln auf. Statt ihr eine wirkliche Antwort zu geben, entfernte er sich einige Schritte von ihr und begann leise zu singen. „Ich habe dir ’nen Kuss gestohl’n…“, er drehte sich um und zwinkerte ihr neckisch zu, „du musst schon kommen und ihn dir wiederhol’n…“ Er ging bis zum Rand der Lichtung, hielt sich an einem Baum fest und drehte sich einmal um den Stamm herum. „Hab deine Lippen süß erwischt! Dein Lächeln war einfach verführerisch…“ Er machte mit den Fingern eine lockende Bewegung und lächelte ihr auffordernd zu. „Lass meine Blicke ziellos wandern… du hast zu Hause wohl ’nen andern…“ Sein Blick löste sich von ihrem und er trat mit einem Schritt in die Dunkelheit hinein. „Soll ich, oder soll ich nicht?“

Ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, stand Irima auf und folgte ihm mit langsamen, zögerlichen Schritten. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Finsternis, die jetzt, da der Mond über ihnen schien, nicht mehr so absolut war, wie zuvor, dennoch konnte sie Rhow nur dank seiner Bewegung vor sich ausmachen. Und dank seiner Stimme, denn er sang noch immer.
 

„Die Nacht verrinnt, danke dir für diesen Augenblick.

Du musst zurück, nie vergesse ich, und ich habe noch ein Stück von dir

ganz tief in meinem Herzen werde ich es bewahren.

Auf meinen Lippen noch der Hauch von einem Schluck verbotenen Weines,

und ein gar süßes… Geheimnis…
 

Ich habe dir ´nen Kuss gestohlen,

Du musst schon kommen und ihn dir wiederholen.

Hab´ deine Lippen süß erwischt,

Dein Lächeln war einfach verführerisch.

Lass meine Blicke ziellos wandern,

Du hast zu Hause einen andern –“
 

„Nein!“ Sie konnte nicht sagen, warum sie wollte, dass er das wusste, doch als sie Rhow eingeholt hatte, packte sie ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum. „Ich habe niemanden, der auf mich wartet… nicht mehr. Bitte… geh nicht.“ Die letzten Worte hatte sie kaum noch geflüstert und ihr Blick war dabei unentwegt über Rhows Gesicht gewandert, hatte sich jedes Fältchen, jede Narbe eingeprägt und war schließlich an seinen Lippen hängen geblieben. „Geh nicht…“, wiederholte sie noch einmal und trat einen Schritt näher an ihn heran. Sanft hob Rhow seine Hand an ihre Wangen und zog ihr Gesicht zärtlich an seins heran. „Du willst dir deinen Kuss wohl wiederholen…“, flüsterte er leise und Irimas Reaktion bestand darin, ihn an sich zu ziehen und seine Lippen mit einem innigen Kuss zu verschließen. Als sie sich schließlich wieder zurückzog, um Luft zu holen, sang Rhow leise weiter: „Du hast mir den Kuss gestohl’n… jetzt komme ich, werd’ ich ihn mir wiederhol’n! Lass meine Finger ziellos wandern… du hast zu Hause keinen andern… soll ich, oder soll ich nicht?“ Irima lächelte. „Hör schon auf zu singen und küss mich endlich…“
 

Lieder:

- Zwei Brüder

- Vogelfrei

- Waldmär

- Verbotener Kuss



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  UrrSharrador
2010-12-13T20:46:11+00:00 13.12.2010 21:46
Sorry erstmal, dass ich erst jetzt weitergelesen hab^^
Also, muss schon sagen, du schreibst wirklich professionell :)
Scheint direkt aus einem Fantasy-Buch entnommen zu sein (bis auf die Fantasy halt^^ Find ich übrigens gut, wie du das mit der Waldmär gelöst hast, indem die Räuber das nur alles erfunden haben und so). Die Szene, wo sie im Wald von den Bogenschützen bedroht werden, und wie dann die Pfeile fliegen, ist wirklich spannend und gut beschrieben.

Noch was? Ach ja, deine Namen hören sich alle so cool an^^ Passen wirklich gut dazu.

lg
Urr

(und bis zum nächsten Mal, heute leider nicht mehr, aber ich lese garantiert die FF fertig ;) )


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