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Die Farben der Welt

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Kurz nach Miras Tod Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
13 Jahre nach Miras' Tod Komplett anzeigen

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Kaikki ve Rien

Mit starken Schlägen meiner Schwingen fegte ich über den hellen Sand der Wüste.

Das Land unter mir verwandelte sich in rasender Schnelle. Je weiter ich nach Norden kam, desto grüner wurde die Landschaft.

Einem Knistern in der Luft folgte ein Blitz, der direkt unter mir in einen Baum einschlug, begleitet von schlagartig einsetzendem Regen und einem ohrenbetäubenden Donnern, das noch viele Meilen weit zu hören war.

Dann erhoben sich die Roten Berge unter mir, eine riesige Gebirgslandschaft, die die nördliche Grenze Arsems beschrieb und noch weit nach Iniust hineinragte.

Spielerisch jagte ich um die Gipfel, während unter mir aus stillen Gebirgsbächen reißende Ströme wurden und Fels und Gestein hinfort spülten.

Schließlich drehte ich ab Richtung Osten. Die Berge wurden flacher und verschwanden ganz. Erneut streifte ich über eine flache Ebene mit vereinzelten, kleinen Siedlungen.

Ich überquerte die Grenze von Iniust nach Trastas, dort, wo sich das Blaue Meer und das Tiefe Meer am nächsten kamen. Und wieder veränderte sich das Bild. Die Siedlungen wurden zahlreicher, aber auch kleiner, waren jedoch umgeben von endlosen Feldern.

Ich stieg höher in den Himmel, bis meine Schwingen die dichten schwarzen Wolken berührten. Entschlossen durchbrach ich sie und fand mich über ihnen umgeben von einem magischen Blau.

Doch auch in diesem Blau zuckten die Blitze. Dort waren langläufige, rötliche Blitze, die nicht Richtung Erde sondern weiter nach oben schossen, und auch blaue, kegelförmige Lichterscheinungen begleiteten meinen Flug.

Nach einer Weile stieß ich jedoch wieder hinab, raste auf einen Wald zu und bremste kaum, als ich durch die Bäume fuhr. Die hochgewachsenen Bäume neigten sich unter der Druckwelle, die ich verursachte, Äste brachen und flogen davon.

Ich setzte meine Füße auf den Boden und blieb stehen.

In meiner Nähe lag ein junger Vogel mit gebrochenen Flügeln. Während ich auf ihn zuging, spross unter jedem meiner Schritte neues, frisches Grün.

Vorsichtig nahm ich den Vogel in meine Hände. Er blieb ruhig und schaute mich an, bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben - dem Tod.

Einer Eingebung gehorchend sandte ich meine Macht aus und strich über seine Flügel. Die Knochen fügten sich zusammen und heilten. Gleichzeitig veränderte der Vogel sein Aussehen. Er wuchs und veränderte seine Farbe. Nach der abgeschlossenen Verwandlung war der ehemals unscheinbare, schwarz-braune Vogel nicht mehr wieder zu erkennen. Auf meiner geballten Faust hielt sich ein großer Vogel mit goldenem, geschwungenen Schnabel und einem langen Schweif mithilfe seiner imposanten Krallen fest und schaute mich verdutzt an, während er in allen Farben schillerte und die Umgebung in ein unheimliches Licht tauchte.

Wenn es das Schicksal so wollte, nahm sein Weg hier noch kein Ende, sondern nahm gerade erst seinen Anfang.

Lächelnd setzte ich ihn auf einen von Moos überwucherten, frisch entwurzelten Baum. Dann ließ ich mich auf alle Viere fallen und trabte im Zickzack durch das Dickicht bis ich eine Lichtung erreichte.

Dort bot sich mir ein allzu vertrauter Anblick: Im strömenden Regen erloschen gerade die letzten Flammen, die noch an den Ruinen einzelner Häuser leckten.

Was früher einmal eine bescheidene Siedlung gewesen war, war jetzt nur noch ein Haufen Asche und schwelender Balken. Und überall lagen, teils verbrannt, die sterblichen Überreste der einstiegen Bewohner des Ortes. Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen.

Ihre Seelen verharrten noch, getrennt von ihren Körpern.

Langsam schritt ich durch die Zerstörung und sammelte diese verlorenen Seelen ein, dreiundfünfzig an der Zahl. Anschließend setzte ich meinen Weg durch die Lüfte gen Osten fort.

Einige Male schwebte ich noch hinab, die Seelen Verstorbener mit mir zu nehmen, bis ich schließlich das Endlose Meer erreichte.

Dort stieß ich von unter den Wolken bis hinab auf den Meeresgrund. Ich spielte mit den Wassern und glitt in südlicher Richtung, der Küste Trastas folgend, bis ins Blaue Meer. Ein letztes Mal wühlte ich das Wasser auf, schoss wieder an die Oberfläche und beobachtete über dem Wasser schwebend, wie die Wellen den nahen Strand überrannten und in einiger Entfernung gegen hohe Klippen schlugen.

Hoch oben auf der höchsten Klippe stand der Herrschaftssitz des Königs von Trastas, König Miras’, umgeben von der größten Stadt seines Landes, Aequelis.

Durch die Fenster gelangte ich ins Innere der Burg. Ich streifte durch die Gänge auf der Suche nach dem König, als mich plötzlich das laute Schlagen einer Glocke innehalten ließ.

Schlimme Vorahnungen befielen mich.

Schnell suchte ich den kürzesten Weg nach draußen, einen Kamin, und flog in Kreisen über der Burg.

In das Läuten der nahen Glocke mischten sich jetzt weitere, weiter entfernte, die die Nachricht immer weiter trugen.

Auf dem Innenhof der Anlage eilte eine aufgeregte Menschenmenge zusammen, beunruhigt durch das Schlagen der Glocke, die zuletzt vor über vierzehn Sommern geläutet wurde, und eigentlich nur eines bedeuten konnte.

Ich mischte mich unter die Menschen und bemerkte gerade noch, dass der engste Vertraute des Königs auf einen Balkon hinausgetreten war und zu dem Volk Trastas’ sprach.

Schrecken erfüllte mich, als ich seine Botschaft vernahm. Miras war tot, im Schlaf ermordet.

Und während er dies sagte, erschien am rabenschwarzen, wolkenverhangenen Himmel im strömenden Regen ein Vogel, der in allen Farben schillerte. Nur Wenige schauten auf und sahen ihn, bevor er über das Blaue Meer flog und verschwand, zu sehr waren sie mit ihrer Trauer über den Tod König Miras’ beschäftigt.

Die Wenigen, die diesen Vogel jedoch sahen, erzählten später verschiedene Geschichten.

Die einen sagten, der Vogel sei ein schlechtes Omen gewesen, dass er derjenige sei, der ihren König umgebracht und König Ferr so zum Sieg verholfen habe.

Andere erzählten, der Vogel sei erschienen um Trost zu spenden und um ihnen Hoffnung zu geben. Die Hoffnung, dass Ferrs Herrschaft nicht allzu lange anhalten würde.

Doch in Wahrheit war sein Auftauchen mehr ein Zufall gewesen. Der Vogel machte sich auf, um seinen Weg zu beschreiten. Und dieser Weg hatte wenig mit dem frühen Tod des Königs zu tun.

Während die Traster schwiegen, ging ich durch die labyrinthartigen Gänge der Burg zum Schlafgemach des Königs. Auch seine Seele würde ich in dieser Nacht in meine Obhut nehmen. Doch, wenn sie es wollte, dann würde seine Seele bald schon zurückkehren.

Mit all den verlorenen Seelen machte ich mich auf den Weg zurück in die Welt der Mitte, dorthin, wo kein Sterblicher je hingelangt ist, und wo über die Seelen der Verstorbenen gerichtet wird.

Denn ich bin Kaikki ve Rien.
 

Ich bin das Licht und die Dunkelheit, die Zeit und der Raum, der Anfang und das Ende.

Ich bin der Wind in den Bäumen, die Wellen des Meeres, der heiße Sommertag, die kühle Brise, das Rauschen des Waldes.

Ich bin die Wärme und die Kälte, der Berg und der Abgrund, der Blitz und der Donner, der Tag und die Nacht.

Ich bin das Wasser und das Land, das Feuer und das Eis, die Luft in euren Lungen.

Ich bin ein Wort, ein Gedanke.

Ich bin der Tod und das Leben.

Ich bin die Macht der Welt.

Ich bin Alles und Nichts.

Ich bin Kaikki ve Rien.

Entscheidungen

Es herrschte reger Aufruhr im Schloss Trastas'.

Natürlich, der trastische König war gestern gestorben.

Ermordet. Über Ferr's Gesicht huschte ein vergnügtes Lächeln bei diesem Gedanken.

Aber er, Ferr, hatte sofort die Macht an sich genommen und klar gemacht, dass jedes Aufbegehren gegen ihn von seinen Soldaten hart und gnadenlos bestraft würde. Das Gleiche galt für jene, die weiterhin ihrem alten Glauben an Kaikki ve Rien und die drei Götter treu bleiben wollten.

Der Tod des Königs war auch nicht der Grund für den Aufruhr – zumindest nicht direkt.

Er hatte geglaubt, an alles gedacht zu haben, um seine Herrschaft zu sichern. Er war der von Danar, dem einzigen und wahren Gott, gesandte und eingesetzte König, wer seine Herrschaft nicht anerkannte, der wurde beseitigt, und zur zusätzlichen Festigung seiner Stellung wurde jeder andere Glaube als der seines Volkes verboten, als von den Hexen des Hochofens ausgestreuter Irrglaube deklariert, der die Seele der Anhänger verdarb und sie in die ewige Verdammnis stürzte.

Nur eines hatte er nicht bedacht.

Er fluchte.

Er hatte sich nicht vorstellen können, dass die Legenden wahr sein könnten. Dass der trastische König, also Miras, der so genannte "Farbenkönig" sei. Ferr schnaufte ungläubig bei dem Gedanken daran.

Es hatte aber auch abwegig geklungen und nach einer List, die das Gehorsam der Menschen garantieren sollte.

Ein Mensch, dessen Leben notwendig war, damit die Welt Farben hatte, und dessen Tod zum Verlust der Farben führte, wenn es keinen Nachfolger gab? Also bitte! Das klang nun wirklich nach einem Kindermärchen.

Und wenn nicht, so hatte er während der Vorbereitungen zu seinem Eroberungsfeldzug gescherzt, dann wäre er ja ohnehin der Nachfolger, sobald er Miras beseitigt und sich auf seinen Thron gesetzt haben würde.

Falsch gedacht.

Wütend schlug er mit der Faust gegen die Wand.

Aber es war passiert. Sie hatten es erst nicht gemerkt und ihren Sieg gefeiert. Doch dann hatten die Ersten berichtet, dass Teile des Schlosses die Farbe verlören, und mittlerweile hatte es sich über das ganze Schloss ausgebreitet und es schien so, als würde es sich tatsächlich immer weiter und unaufhaltsam ausbreiten.

Was sollte er bloß tun?

Ihn selbst störte es ja nicht sonderlich, dass die Farben verschwanden. Damit konnte er problemlos leben. Aber die Menschen waren verunsichert – selbst seine eigenen Leute. Er musste etwas unternehmen, sonst würde er nicht lange König bleiben.

Langsam stahl sich ein Lächeln auf seine Züge und seine Augen funkelten gefährlich.

Natürlich, es war doch eigentlich ganz einfach. Warum war er da nicht sofort drauf gekommen?

Seine Leute, und bald auch die Traster, glaubten, dass er das Bindeglied zwischen den Menschen und Danar war, dass Danar zu ihm sprechen würde.

Er würde einfach verkünden lassen, dass Farben Hexenwerk seien. Dass er natürlich gewusst habe, dass mit Miras die Farben verschwinden würden, dass er allerdings genau diesen Auftrag von Danar erhalten hatte, die Welt von diesem Hexenwerk zu befreien. Alles zum Wohle ihrer Seelen, denn wer die Farben bewunderte, der war verdammt.

Und – selbstverständlich zu ihrer eigenen Sicherheit – würde er jedes Wort über Farben unter Strafe stellen. Er würde jede Erinnerung an die Farben ausmerzen.

Warum war er da bloß nicht gleich drauf gekommen?
 

Eine Woche.

Eine Woche war vergangen seit Miras' Tod.

Lirka blickte zum Rand des Dorfes, dann auf ihren Sohn, der sich ängstlich an ihren Rock klammerte und ebenfalls zum Dorfrand starrte.

Nachdem Miras gestorben war, hatte es begonnen: Die Farben verschwanden. Zuerst waren sie, da war sich Lirka ziemlich sicher, vom Körper des Königs gewichen, dann aus seinem Gemach und schließlich aus der ganzen Burg. Was übrig blieb, war nur noch tristes Grau, ab und zu die Extremen Weiß oder Schwarz, aber hauptsächlich Grau.

Dieser Schwund breitete sich seitdem immer weiter und unaufhaltsam aus und nun... Nun hatte er auch Lirkas Dorf erreicht.

Die Nachricht hatte sich schnell herumgesprochen und eigentlich war es auch nicht anders zu erwarten gewesen. Jedes kleine Kind wusste vom Farbenkönig und davon, was geschah, wenn es keinen gab. Nur Ferr, dieser machthungrige Ignorant, der hatte es natürlich nicht wahr haben wollen.

Aber als er die Wahrheit erkannt hatte, hatte er schnell reagiert.

Auch hier war ein Abgesandter gewesen, der versucht hatte, den Leuten einzureden, dass Farben die Seelen verdarben und dass die Seelen derer, die Farben bewunderten verloren seien. Er hatte Ferr als den großen Erlöser dargestellt, der zu ihrer aller Seelenheil handelte.

Lirka schnaufte leise.

So ein Qutasch!

Doch sie hatten ihm alle nicht widersprochen, so getan, als würden sie ihm glauben. Sie wussten, dass Ferr unnachgiebig war und bereit alles zu tun, um seine Herrschaft zu sichern. Offener Widerspruch – und es wäre das letzte gewesen, was man in dieser Welt getan hätte.

Allerdings hatte Lirka den Verdacht, dass sich doch der eine oder andere einschüchtern ließ und zweifelte.

Für den Augenblick hielt das Leben im Dorf inne. Alle unterbrachen ihre momentane Tätigkeit und sahen zu, wie nach und nach, Haus für Haus seine Farben verlor.

Während Lirka diesen Vorgang beobachtete, fasste sie einen grimmigen Entschluss. Sie würde nicht zulassen, dass ihr Sohn die Farben, Kaikki ve Rien und die drei Götter vergaß. Sie würde ihm regelmäßig davon erzählen, in aller Heimlichkeit, und ihn über Ferrs verdorbenen Charakter aufklären.

Sie legte eine Hand sachte auf seinen Kopf, die andere auf ihren dicken, gewölbten Bauch, während das Grau ihre Beine hoch kroch und auch sie verschlang.

Auch dem Kind, das sie im Bauch trug, würde sie die Wahrheit erzählen.

Eine unruhige Nacht

Das kalte Licht des Mondes fiel auf ein heruntergekommenes Haus am Rande der Stadt. Der Putz bröckelte von den Wänden, auf dem Dach klafften einige Löcher, wo die Dachschindeln fehlten und einige Fensterrahmen enthielten statt Scheiben nur noch Scherben.

Dies war das Waisenhaus im ärmsten Teil der Hauptstadt.

Hinter einem der kaputten Fenster befand sich der Schlafraum von sechzehn Mädchen im Alter von vier bis zwölf Sommern. Sie schliefen in schlecht zusammen gezimmerten Betten auf piksenden Matratzen in zerschlissene Decken gehüllt, die die winterliche Kälte nicht abhalten konnten, die der Wind ins Zimmer trug, während er höhnisch mit den alten Gardinen spielte, die vors Fenster gezogen wurden. Dennoch schliefen die Mädchen ruhig, obgleich ihr gleichmäßiger Atem weiße Wolken in der Luft bildete.

Ein leises Stöhnen durchbrach die Stille. Es kam aus einer Ecke des Zimmers, wo sich ein Mädchen unruhig auf seinem Bett hin und her wälzte, während seine Augen unter den geschlossenen Lidern wie wild umher rollten. Sein Atem ging stoßweise. Die Decke hing halb übers Bett hinaus.

Plötzlich stieß das Mädchen einen leisen Schrei aus und saß augenblicklich mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen aufrecht im Bett. Es keuchte und rang nach Atem.

Niemand schien es bemerkt zu haben. Nur ein Mädchen, das Kopf an Kopf mit dem ersten schlief, rieb sich verschlafen die Augen, zog sich auf die Ellbogen hoch und blickte zu dem aufgeschreckten Mädchen.

"Seph?", flüsterte es besorgt, doch Seph schien sie nicht wahrzunehmen.

Es glitt aus seinem Bett zu ihr hinüber und griff nach einer ihrer verkrampften Hände. Im gleichen Augenblick drang der Ruf einer Eule von draußen herein und Seph zuckte zusammen. Mit immer noch geweiteten Augen blickte es auf ihre Hand hinunter und dann zu dem Mädchen. Als sich ihre Blicke begegneten, entspannten sich Sephs Züge ein wenig und sie stieß einen leisen, erleichterten Seufzer aus. Langsam ließ sie sich zurück auf ihre Matratze sinken, während das andere Mädchen sie immer noch besorgt musterte.

"Du siehst blass aus, Seph", meinte es. "Was ist denn passiert? Hattest du wieder einen Alptraum?"

Seph drehte sich zu ihr und nickte. Dabei drückte sie Halt suchend seine Hand, die noch immer in ihrer lag.

"Mach mal ein wenig Platz", forderte sie das Mädchen auf und während Seph soweit wie möglich an die Wand rutschte, holte das Mädchen seine Decke. Dann legte sie sich neben Seph auf das ohnehin schon schmale Bett und nahm sie in die Arme.

"Danke, Vi", hauchte Seph erschöpft. Die Gegenwart ihrer Freundin beruhigte sie und ihr Atem normalisierte sich.

"Erzählst du mir diesmal von deinem Alptraum?", fragte Vi sie. Doch Seph schüttelte ihren Kopf und Vi fragte auch nicht weiter nach. Das schätzte Seph sehr an ihrer Freundin. Sie hatte oft Alpträume, ihrer Freundin aber noch nie von ihnen erzählt, zu sehr fürchtete sie sich für Vis Reaktion.

Außerdem, nüchtern betrachtet hatte sie keine Alpträume. Jedenfalls keine gewöhnlichen. Sie waren eigentlich nicht von schrecklichen Gefahren erfüllt, da war kein steiler Abhang, den sie entlang ging, kein blutrünstiges Untier, das ihr zu Leibe rückte, niemand wollte ihr Schmerzen zufügen, niemand zwang sie Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte. Niemand verging sich an ihr.

Seph blickte zu Vi, die ihre Augen geschlossen hatte und wieder schlief. Vi hatte ihr nie erzählt, was ihr passiert war, bevor sie hierher ins Waisenhaus kam. Doch auch sie hatte anfangs Alpträume gehabt, von denen sie hoffte, dass niemand sie bemerkte. Sie wusste nicht, dass sie dann im Schlaf sprach, doch Seph hatte sich im Laufe der Zeit so viel zusammenreimen können, dass sich Vis Vater ihr in einer ihr unangenehmen und angsterregenden Art und Weise genähert hatte. Wie sie dort schließlich weggekommen und was mit ihrem Vater passiert war, das hatte Seph nie in Erfahrung bringen können. Sie spürte, dass Vi nicht über das Thema reden wollte, und da sie zu Seph ins Waisenhaus gekommen war, war zumindest klar, dass es den Vater wohl nicht mehr gab.

Seph drehte die Augen in Richtung Fenster und sah den wehenden Gardinen zu. Vi hatte echte Albträume – und ich? Ich komme nicht einmal in meinen so genannten Alpträumen vor, auch keiner den ich kenne, niemand ist in Gefahr. Nur... Seph schloss für einen Moment erschöpft die Augen.

Diese Träume hatte sie schon ihr Leben lang. Allerdings hatte sie früher keine Angst vor ihnen, manche hatte sie sogar genossen. Natürlich hatte sie sie den anderen Kindern erzählt und natürlich hatte es irgendwann die Leiterin vom Waisenhaus mitbekommen. Und dann war sie fuchsteufelswild geworden.

Sie hatte Seph zur Seite genommen und mit ihr geschimpft. Sie meinte, sie würde den anderen Kindern Flausen in den Kopf setzen, gar ihre Seelen mit ihren Geschichten aufs Spiel setzen.

Seph verstand kein Wort, sie verstand ja nicht mal, was genau das Besondere an ihren Träumen war, genauso wenig begriffen es die Kinder. Seph sah fremde Leute bei ganz alltäglichen Beschäftigungen: Eine Mutter, die Essen zubereitete, Kinder, die mit einem Hund spielten, einen Mann bei der Arbeit auf dem Feld schwitzen. Das einzig Besondere an manchen dieser Träume war das Schwarz-Grau-Weiß-Gemisch. Seph wusste nicht, wie sie es beschreiben konnte, sie kannte keine Worte, die bezeichneten, was sie sah. Denn manche Träume waren nicht schwarz-weiß-grau – jedenfalls nicht in der Art, wie sie es kannte. Sie waren irgendwie.. anders... und freundlicher.

Aber die Leiterin redete sich immer weiter in Rage und irgendwann sagte sie etwas, dass für Seph den Anfang der Angst vor diesen Träumen bedeutete. Sie meinte, Seph sei besessen. Die Hexen hätten sie verhext und wahrscheinlich vollkommen im Griff, für ihre Seele gebe es keine Rettung, Gott nehme keine besudelten Seelen auf. Für sie bliebe nur der Hochofen.

Die anderen Kinder hatten nicht alles mitbekommen, aber so einiges, da die Leiterin ihre Stimme nicht unter Kontrolle hatte und schließlich laut schrie. Das genügte, dass sie sich von da an von Seph fern hielten und sie nur noch misstrauisch und ängstlich beäugten. Sie war zur Außenseiterin geworden und die Erwachsenen, die vorbei kamen und sich die Kinder ansahen, erkannten wohl auch immer, das etwas mit ihr nicht stimmte, dass sie eine unrettbar befleckte Seele hatte.

Acht Sommer waren seitdem vergangen und die anderen Kinder waren inzwischen alle weg, nur Seph war geblieben. Und obwohl keins der derzeitigen Kinder den Vorfall damals mitbekommen hatte, behielt Seph doch ihre Außenseiterrolle bei.

Erst als Vi kam, hatte sie eine neue Freundin gefunden. Anfangs hielt sich Vi von den anderen Kindern fern, doch irgendwie, Seph wusste auch nicht wie, fanden die beiden zusammen. Und obgleich Vi ihr Trauma inzwischen wohl weitestgehend überwunden und inzwischen unter den Kindern weitere Freunde gefunden hatte, waren Seph, die Außenseiterin, und Vi immer noch beste Freundinnen.

Seph blickte ihr Freundin ins Gesicht, hob eine Hand und streichelte ihr sacht über die Wange. „Danke“, flüsterte sie dabei und über Vis Gesicht huschte ein kurzes Lächeln.

Vi hatte inzwischen keine Alpträume mehr und Seph hoffte, dass es auch ihr irgendwann gelingen würde, sich von den ihren zu befreien. Vielleicht würde dann doch noch Rettung für ihre Seele bestehen. Und vielleicht würde sie es mit Vis Hilfe schaffen.

In Vis Armen fühlte sie sich stark und zuversichtlich genug dafür. Und tatsächlich hatte sie noch nie einen ihrer Träume gehabt, wenn Vi dicht bei ihr war.

Mit einem Lächeln um den Mund und einem warmen Gefühl im Herzen schlief Seph wieder ein.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  Nara_x3
2010-08-19T15:08:36+00:00 19.08.2010 17:08
Hay Ho Ilju X3

STELL dir vor!! - Ich habe es endlich geschafft, deinen Prolog zu lesen!! XDDDD
Und er gefällt mir ^^ Obwohl ich sagen muss, dass ich das mit Kaikki nicht wirklich verstanden hab oO Können dir Menschen ihn sehen? Und was ist er überhaupt für ein Wesen, wenn er fliegen und auf allen vieren laufen kann und anscheinend auch menschliche Hände hat? oO
Nyaa~ Aber vllt sollte ich einfach auf die Kapitel warten, du wirst ihn / sie (weiß nicht, was Kaikki ist /D) bestimmt nochmal genauer beschreiben X3

Ich wünsche dir jedenfalls viiiiiel Spaß beim Weiterschreiben, hoffe, deine kreaTiefs fliegen bald ab :3 Du schaffst das ;3 *knuff*


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